Ihr irrt euch: Der Junge und der Reiher ist nicht nur der beste Fantasy-Film des Jahres, sondern einer der besten Studio Ghibli-Animes

24.12.2024 - 14:02 Uhr
Der Junge und der Reiher
Leonine
Der Junge und der Reiher
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Der als Hayao Miyazakis Abschlusswerk angekündigte Fantasy-Anime Der Junge und der Reiher wurde eher lauwarm vom Publikum aufgenommen. Dabei ist der Film ein Karriere-Highlight des Altmeisters.

Heiligabend verbinden viele Anime-Fans seit Jahren mit Prinzessin Mononoke aus dem Studio Ghibli, das gewissermaßen Das letzte Einhorn als Feiertags-Animationsfilm abgelöst hat. Auch heute habt ihr erneut die Gelegenheit, euch den 24. Dezember mit San und Ashitaka zu versüßen, die ab 20:15 Uhr im Programm von ProSieben Maxx zu finden sind.

Vorher habe ich aber noch ein Anime-Hühnchen mit euch zu rupfen. Nein, niemand bestreitet, dass Prinzessin Mononoke ein absolutes Meisterwerk ist. Aber über die stiefmütterliche Fan-Rezeption von Hayao Miyazakis vermeintlichem Abschlusswerk Der Junge und der Reiher müssen wir noch mal reden. Mit 7,1 ist es der von der Moviepilot-Community am schlechtesten bewertete Film des Regisseurs. Geht's noch?

Der Junge und der Reiher: Das verkannte Magnum Opus von Anime-Meister Hayao Miyazaki

Auf Japanisch heißt der Anime-Film Kimi-tachi wa do ikiru ka? (Wie lebt ihr?) und bezieht sich auf ein prägendes Buch aus Miyazakis Kindheit. Mit dem unbändigen Fantasiegewitter aus Der Junge und der Reiher hat der Bildungsroman aber nur den Verlust eines Elternteils gemeinsam. Viel verwandter ist der Film mit dem episodenhaften Anime-Klassiker Night on the Galactic Railroad, in dem zwei Katzenjungen mit einer Eisenbahn durch das Universum reisen und sich am Ende voneinander verabschieden müssen. Dass darüber hinaus eine tiefere Bedeutung in Der Junge und der Reiher steckt, müsste für alle ersichtlich sein, die den Film gesehen haben.

In Der Junge und der Reiher verliert Mahito (Originalstimme: Soma Santoki) seine Mutter bei einem Brand im Zweiten Weltkrieg. Später zieht der ruhige Junge mit seinem Vater und dessen neuer Frau Natsuko aufs Land, wo ein mysteriöser Reiher (Masaki Suda) ihn triezend zu einem noch mysteriöserem Turm lockt. Durch diesen betritt Mahito eine ebenso bunte wie von Melancholie erfüllte Fantasiewelt in der Hoffnung, seine verstorbene Mutter wiederzusehen. Eine Welt, die verdächtige Parallelen zu unserer Welt aufwirft und in Mahito einen neuen Verwalter gefunden haben könnte.

Während die atemberaubende Animation abermals die lebenslange Erfahrung Miyazakis unter Beweis stellt und der Soundtrack von Haus- und Hofkomponist Joe Hisaishi wie immer die perfekte Ergänzung erklingen lässt, kann man der Story eine Angelegenheit ankreiden: Sie züchtet eine emotionale Steilvorlage mit dem Wiedersehen der toten Mutter heran, die am Ende nicht ganz so tränenreich abgeerntet wird, wie manche es sich wohl gewünscht hätten.

Seht hier den deutschen Trailer zu Der Junge und der Reiher:

Der Junge und der Reiher - Trailer (Deutsch) HD
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Die Ergriffenheit des Publikums muss daher aus der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Stoff kommen. Dafür ist ein wenig Hintergrundwissen notwendig, denn es ist nicht unbedingt ein Auspack-und-geht-schon-Film. Vielleicht ist direkte Zugänglichkeit aber auch nicht das Maß, an dem wir die Qualität dieses Meisterwerks messen sollten.

Ein anderer Fantasy-Maestro, Guillermo del Toro (Pans Labyrinth), hatte ganz Recht, als er laut Deadline  während der internationalen Premiere von Der Junge und der Reiher in Toronto folgendes sagte:

Wir haben das Privileg, in einer Zeit zu leben, in der Mozart Sinfonien komponierte.

Der Junge und der Reiher: Die existentialistische Miyazaki-Retrospektive

Der Junge und der Reiher als Hardcore-Fan von Hayao Miyazaki zu sehen, ist wie eine bunte Reise durch eine jahrzehntelange Filmographie, eine Karriere, ein Lebenswerk. Während es immer schon visuelle Parallelen in seinen Animes gab, die oft dem identifizierbaren Stil des Animationskünstlers zuzuschreiben sind, fühlt sich das hier anders an. Zu eindeutig scheinen einige visuelle Echos zu seinen zwölf Filmen und sogar seinem Regie-Debüt, der klassischen Serie Future Boy Conan, zu sein.

Der Pavillon des Urgroßonkels, der aus Porco Rosso gestohlen scheint, das Buntglasfenster, das Erinnerungen an die Location-wechselnde Zauberscheibe aus Das wandelnde Schloss weckt, oder wie Mahito auf dem Weg ins Zauberland genau wie Mai aus Mein Nachbar Totoro durch die Büsche und Gräser staucht. Doch es sind nicht nur eitle Referenzen der Selbstreferenz willen.

Das letzte Mal, dass ich das überaus persönliche Abschlusswerk eines Meisterregisseurs erlebte, der mir unendlich am Herzen liegt, war 2017. Da wurde das 18-stündige Twin Peaks: The Return von David Lynch veröffentlicht, der nicht nur seine enigmatische TV-Serie 25 Jahre später zurückbrachte, sondern seine gesamte Karriere Revue passieren ließ. Dabei hielt er uns wie damals schon den Spiegel vor, was Fernsehgewohnheiten angeht und unterstrich auf drastische Weise, wie unmöglich Reboots und Revivals sind, die zu einem Ort zurückkehren wollen, den es so nicht mehr gibt.

Miyazaki hingegen hat ganz andere künstlerische Sorgen. Der 83-jährige Altmeister, den man für das (aus dem Kontext gerissene) Meme-Zitat "Anime war ein Fehler" kennt, schuf mit dem Studio Ghibli ein unvergleichliches Fantasy-Imperium, das nach dem Teilverkauf an Nippon TV (via Hollywood Reporter ) und spätestens mit dem (erneut verschobenen?) Renteneintritt von Miyazaki dem Ende seiner goldenen Ära bevorsteht. Eine Fantasy-Institution, die ohne einen würdigen Verwalter dem Untergang geweiht scheint? Moment mal ...

Fantasy-Vermächtnis: 13 Bausteine der Anime-Schöpfung

Im Interview mit Shukan Bunshun  offenbarte Studio Ghibli-Produzent Toshio Suzuki, dass die Charaktere aus Der Junge und der Reiher für Schlüsselfiguren des legendären Animationsstudios stehen. Der Urgroßvater sei der mittlerweile verstorbene Co-Gründer Isao Takahata (Die letzten Glühwürmchen, Die Legende der Prinzessin Kaguya), Mahito sei Miyazaki und der Reiher Suzuki selbst. Fragt sich nur, ob die gierigen Paradiesvögel für andere Anime-Producer oder das unersättliche Otaku-Publikum stehen.

Nach dem Tod Takahatas soll es einige Änderungen am Drehbuch gegeben haben, deren Details uns nicht vorliegen. So oder so hat Miyazaki aber vielmehr einen Film über die eigenen Anspannungen bezüglich seines Vermächtnisses gemacht. Er selbst ist der alte Mann mit dem Fantasy-Reich und 13 Bausteinen der Schöpfung, die für seine zwölf Anime-Spielfilme plus Conan-Serie stehen könnten. Oder steht der 13. Stein, den Mahito am Ende behält, für die Hoffnung der kreativen Zukunft über sein Werk hinaus?

Vielleicht ist die Message aber noch eine Stück persönlicher. Sagt er seinem eigenen Sohn Goro Miyazaki (Die Chroniken von Erdsee), dessen Anime-Versuche (natürlich) nicht an die Qualität des Vaters herankamen, dass es in Ordnung ist? Dass "seinen eigenen Turm zu bauen" nicht bedeuten muss, den gleichen Weg wie der deifizierte Vorfahre einzuschlagen? Warum nicht alles zusammen ...

Japanische Filme sind der japanischen Sprache ähnlich. Zumindest insofern, dass sie unheimlich gut mit Ambivalenz umgehen. (Auch ein Grund, warum Twin Peaks in Japan so beliebt war). So ist Der Junge und der Reiher eine bewegende Coming-of-Age-Geschichte über Abschiede und Resilienz, ein vor Kreativität überkochendes Fantasy-Abenteuer mit einer Wunderwelt, die der aus Chihiros Reise ins Zauberland in nichts nachsteht – und gleichzeitig eine mehrschichtige Allegorie über den Schöpfungsakt und das eigene Vermächtnis.

Belohnt wurde diese Offenlegung der Animationskünstlerseele unter anderem mit dem Oscar der amerikanischen Academy, die ausnahmsweise korrekt entschieden hat. So ging der Goldjunge nicht an das Superheldenspektakel Spider-Man: Across the Spider-Verse, sondern zum ersten Mal seit Chihiro an Miyazaki, der uns mit Der Junge und der Reiher einen seiner brillantesten Bausteine vermacht hat. Einen, über den wir noch lange reden, spekulieren und diskutieren werden.

Streamen könnt ihr den Film seit Oktober dieses Jahres bei Netflix, wo auch die meisten anderen Miyazaki-Filme vorliegen.

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