Jump-Scares, die große Plage heutiger Horrorfilme

26.10.2018 - 08:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
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Den Unterschied zwischen Grusel und Schockeffekt scheinen viele Horrorfilmemacher nicht mehr zu kennen. Ihr inflationärer Einsatz von Jump-Scares ist eines der plastischen Beispiele für den inneren Bedeutungsverlust des Genres.

Obwohl alle Zeichen auf Erfolg standen, überraschte die kommerzielle Zugkraft der vergangenes Jahr erschienenen Neuauflage von Stephen Kings Es selbst Branchenkenner. Mit Einnahmen um die 700 Millionen Dollar am internationalen Box Office ist es der umsatzstärkste Horrorfilm der Kinogeschichte, zumindest ohne Abzug der Inflationsrate. Irgendwas musste Es anders gemacht haben. Weder das neu entfachte Interesse an den 1980er-Jahren noch die zeitlose Effektivität unheilvoller Clowns kann erklären, weshalb der Film nicht manche, sondern offenbar alle Nerven des Publikums traf. Meine eigene, ziemlich unberührt gebliebene Perspektive bringt mich auch nicht weiter. Darin nämlich fand sich keine Spur von der an Urängsten rührenden Verunsicherung, die einst Stephen Kings Roman und auch die übel beleumundete Miniserie aus dem Jahr 1990 bei mir hinterließen. Anlässlich unseres Themenspecials Angst, Schrecken, Panik - Horror-Monat 2018 stellt sich also die Frage, wie leises Unbehagen aus Horrorfilmen verschwinden konnte.

Jump-Scares versus moderne Schockeffekte

Zunächst mache ich dafür eine Haltung zeitgenössischer Genreproduktionen verantwortlich, die sich nicht problemlos auf ästhetische Nenner bringen oder einzelne Stilfragen reduzieren lässt. Gestalt nimmt sie am ehesten in Form einer bestimmten Technik an, deren Ursprung bis in die Anfangsjahre des Kinos zurückreicht, und die für den Horrorfilm von so entscheidender Bedeutung ist, dass ihr Verzicht vielleicht seinen Charakter infrage stellen würde. Gemeint sind damit vormalige Schockmomente, die jetzt als sogenannte Jump-Scares ein standardisiertes Werkzeug des Horrorkinos beschreiben, das (seltener) auf der Bild- sowie (häufiger) der Tonebene verschreckte Zuschauer garantieren soll. Wenn sie allzu durchschaubar oder leichtfertig zum Einsatz kommen, werden die Jump- auch als Cheap-Scares bezeichnet, im Sinne einer Abwertung des nicht automatisch negativ konnotierten Begriffs. Ein erfolgreicher Horrorfilm setzt in der Regel großzügig auf Jump-Scares. Ohne sie ist das gegenwärtige Mainstream-Genrekino kaum noch denkbar.

Redundanz des Schockeffekts: Clown Pennywise in der Neuauflage von Es

Tatsächlich werden beim neuen Es alle Auftritte des Illusionen erzeugenden Monsters mit einem solchen Schockeffekt verknüpft, wobei die Intervalle so kurz gehalten sind, dass sich der Schrecken in beinahe jeder zweiten Szene darstellt. Längere Verschnaufpausen gibt es also nicht. Der Film möchte seine (An-)Spannung augenscheinlich durch eine Gliederung konstant halten, die den Horror auf die immer gleiche wellenförmige Art streut (Schock, Ruhemoment, nächster Schock), vergleichbar mit Jack-in-the-Box-Spielzeugen, die ununterbrochen irgendwelche Fratzen aus der Kiste hüpfen lassen. Bei mir sorgt diese ständige Verbildlichung des Grauens mittlerweile für jene Passivität, auf die mich das Horrorkino der letzten 10 bis 15 Jahre soweit konditioniert hat, dass eine Gruselwirkung schon im Ansatz verunmöglicht wird. Jump-Scares lassen mich nicht aufspringen, sondern machen mich komplett regungslos. Besonders ihre ohrenbetäubende Lautstärke, bei der manche trotz des zu erwartenden Einsatzes zusammenzucken, ödet mich an.

Allerdings geht es nicht um zeitgemäßen Lärm. Entscheidender sind die Unterschiede zu klassischen und modernen Schockeffekten, vom "Lewton Bus" genannten Tropus einer schreckhaft platzierten, aber harmlosen Sache (siehe Jacques Tourneurs Film Katzenmenschen) bis zum "Last Scare", dem zumindest früher einmal unerwarteten letzten Aufbegehren des Antagonisten (beispielsweise am Ende von Carrie oder Freitag, der 13.). Die berühmten visuellen Schockeffekte des modernen Horrorfilms – der aus dem Wasser schnellende weiße Hai, das im dunklen Schacht um sich greifende Alien oder die im Taschenlampenlicht aufblitzende Kettensäge von Leatherface – waren jeweils von langer Hand vorbereitet. Ihre perfideste Variante, der Einsatz subliminaler Bilder wie in Rosemaries Baby von Roman Polanski oder Der Exorzist von William Friedkin, kommt ohne jegliche Geräusche aus. Statt lediglich zu erschrecken, führen die unterschwelligen und meist nur Millisekunden langen Einstellungen von Teufelsaugen und Dämonengesichtern zur unbemerkten Veränderung der Wahrnehmung.

Jump Scares als Prank: Wie Der Exorzist zum Meme wurde

Jump-Scares als vorschnelle Erlösung

Es liegt eine gewisse Ironie in der Wiederauflebung ebendieser Technik als Online-Streich, mit dem das urplötzlich aufscheinende Bild des besessenen Mädchens Regan aus Der Exorzist genutzt wird, um ahnungslose Menschen vor Computerbildschirmen zu ängstigen. Diese "Internet-Screamer" veranschaulichen sowohl den inflationären Einsatz des Jump-Scares als auch seinen Bedeutungswandel durch Eingliederung in Meme-Kulturen, und sie stellen das absolute Gegenteil des Referenzobjektes und der ursprünglichen Wirkmechanismen dar. Mehr oder weniger geht es um ein beliebiges Erschrecken ohne Kontext, das nichts mit einem anstellt, außer kurzzeitig den Puls in die Höhe zu treiben. Eine Zeit lang waren Screamer ein Mördergag (heißt es), bevor sie redundant wurden und sich allmählich abnutzten. Wann es den Jump-Scares des heutigen Horrorkinos wie ihrem virtuellen Gegenstück ergehen wird, hängt vom Durchhaltevermögen der Zuschauer ab. Noch laufen Filme, die ihnen alle zwei Minuten einen Schockeffekt an den Kopf knallen, sehr gut. Auch in diesem Jahr ist der Horrorfilm hochprofitabel.

Natürlich hat das alles mit Präferenzen zu tun. Mir bereitet der suggestive Horror eines Ti West schlaflose Nächte, andere gruseln sich lieber bei James Wan. Die schiere Masse an willkürlichen Jump-Scares in The Conjuring oder Insidious finde ich enervierend, der nächste nennt sie wieder gut dosiert. Zweifelsfrei feststellen lässt sich allerdings, dass Jump-Scares in Mainstream-Horrorfilmen zur Struktur selbst geworden sind, als bewusstes dramaturgisches Surrogat oder Ausdruck diffuser Furcht vor einem möglicherweise gelangweilten Publikum. Ich bin überzeugt, dass es in diesen Filmen kaum noch Geheimnisse zu entdecken gibt. Dass sie weniger verstörend sind. Und dass sie Erwartungen aufbauen wollen, aber sich nicht trauen, sie auszuhalten. Der Jump-Scare ist immer auch eine Erlösung von der Verunsicherung, ein schnelles Entladen jenes Unbehagens, das dorthin führt, wo wahrer Horror erst beginnt. Anders gesagt: Jeder Jump-Scare ist eine voreilige Reinigung des Affekts. Im Kino lässt sich derzeit nur erahnen, wie beunruhigend Stille in Horrorfilmen sein kann.

Stören euch Jump-Scares oder haltet ihr sie für unverzichtbar?

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