Warum der Horrorfilm jetzt das profitabelste Genre ist

18.04.2018 - 12:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
A Quiet Place
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A Quiet Place
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Die Erfolgssträhne des Horrorkinos reißt auch 2018 nicht ab – an den Kassen bringen vergleichsweise kleine Genrefilme weiterhin große Blockbuster in Bedrängnis. Was steckt hinter Überraschungserfolgen wie A Quiet Place?

Ständig abrufbare Kinogeschichten über das Erwachsenwerden lauern im Verweissystem von Ready Player One, die virtuoseste Sequenz jedoch greift auf einen fast 40 Jahre alten Horrorfilm zurück: Buchstäblich tauchen die jungen Protagonisten in jene unheilvolle Handlung aus The Shining ein, deren Eskalationsverlauf sie erfassen und für ihre Schnitzeljagd nutzbar machen müssen. Trotz oder gerade wegen des katalogisierten Popkulturwissens aller Figuren sind einige Teilnehmer nicht mit den ikonischen Albtraumbildern von Stanley Kubrick und Stephen King vertraut. Sie stolpern über Blutfontänen und Badezimmerbegegnungen, werden überrascht von unheimlichen Zwillingen und musikalischen Verlockungen. Steven Spielberg kostet diesen Moment freudig aus. Das sehnsüchtige Nostalgieerlebnis gerinnt zur gefährlichen Heimsuchung, das kindgerechte Virtual-Reality-Abenteuer zum Echo eines gar nicht kindgerechten Horrorfilms.

In den USA musste Ready Player One die Spitzenposition der Kinocharts schon nach sieben Tagen wieder abgeben. Entthront wurde der laute Science-Fiction-Film vom leisen Horrorthriller A Quiet Place, der weniger als ein Zehntel des mutmaßlich 175 Millionen Dollar teuren Spielberg-Blockbusters kostete und dennoch das bessere Startwochenende hinlegte: Auf dem heimischen Kinomarkt wird er am Ende seiner Laufzeit nicht nur mehr Geld eingespielt haben, sondern das profitablere Geschäft sein. Zu Beginn der dritten Spielwoche war Ready Player One fast abgehängt. Neben A Quiet Place zog mit Wahrheit oder Pflicht ein weiterer Gruselfilm aus der Portokasse des irrsinnig rentablen Unternehmens Blumhouse in die jetzt von der Videospielverfilmung Rampage angeführte Top 3 der Kinocharts – das neueste Starvehikel für Dwayne "The Rock" Johnson bemüht mit riesigen Gorillas, Krokodilen und Wölfen seinerseits Insignien des Horrorkinos.

Hereditary – Das Vermächtnis: sehr wahrscheinlich der nächste Horrorhit

Ein Ende ist derzeit nicht in Sicht. Vom klassischen Gothic-Grusel (Winchester, Das Haus der geheimnisvollen Uhren) zum postmodernen Genremythos (Slender Man, Unfriended: Dark Web), vom Omnibus-Format (Ghost Stories) zur Home Invasion (The Strangers 2 – Opfernacht, Ghostland, The Purge 4: The First Purge), von Geistern und Dämonen (Insidious – The Last Key, The Nun) zur Reaktivierung des Serienkillers Michael Myers (produziert von Blumhouse) fährt der Horrorfilm 2018 so ziemlich alles auf – und mit Hereditary - Das Vermächtnis scheint sich bereits der nächste aktuelle Kritikerliebling gefunden zu haben. Nicht jeder dieser Titel muss ein Hit werden, um Gewinne abzuwerfen. Wenn Blockbuster floppen, bringen sie Studios ins Wanken. Ein hinter den Erwartungen zurückbleibender Horrorfilm aber lohnt sich in der Regel trotzdem: Statt 250 kostet er meist nicht mal 25 Millionen Dollar – und kann dennoch Blockbuster abhängen.

Lange handhabten die etablierten Studios derartige Stoffe nur verschämt. Horrorfilme wurden Independents überlassen, in namensungleiche Subdivisionen ausgelagert oder pflichtschuldig in die Kinos gebracht. New Line Cinema verdiente ein Vermögen mit Freddy Krueger, bevor es Paramount auch noch die Rechte am Nestbeschmutzer Jason Vorhees abluchste. Eher perplex reagierten Hollywoodstudios deshalb auf jene unerwarteten Erfolge von Scream (1996, Dimension Films) und The Blair Witch Project (1999, Haxan Films), die wesentliche Grundsteine des jüngeren Horrorkinos legten. Von der neu entfachten Teenage Angst schien bald jedes kurzlebige Genrephänomen (J-Horror, "Torture Porn") ergriffen. Und im kostengünstigen Found-Footage-Format ließen sich auch die ältesten Genretopoi neu variiert auftischen. Ohne die Innovationsarmut und Imagepanik amerikanischer Majors würde es heute vermutlich keinen Jason Blum geben.

Großen Anteil hatten dessen Produktionen Get Out und Split sowie die Neuverfilmung von Stephen Kings Es am 2017 ausgerufenen Jahr des Horrors. Mit kruden Zahlenspielen und vermeintlichen Bestmarken sollte die Wiedergeburt eines Genres gefeiert werden, das weder tot noch ins Abseits gerückt, sondern dem Reputationswandel der Zeit unterzogen war: Horrortitel großer Studios wie Warner und Universal gelten nunmehr als Prestigeware (A Quiet Place wird Paramount das beste US-Einspielergebnis seit Star Trek Beyond bescheren), und mit Filmen über Monster und Körperfresser lassen sich sogar begehrte Preise gewinnen. Möglicherweise wurden wir bei den Academy Awards 2018 tatsächlich Zeuge einer historischen Umarmung des Phantastischen, als The Shape of Water und Get Out mit viel Branchenliebe im Rücken den von William Friedkin geebneten Oscarweg der gleichermaßen kommerziellen wie künstlerischen Anerkennung übel beleumundeter Genres beschritten.

Get Out: schon im Kino setzte der Blumhouse-Film das 55-fache seines Budgets um

Vielleicht kann es also Ironie genannt werden, dass Horrorfilme die aktuell sicherste Hollywoodbank sind. Schließlich braucht es mehr denn je Geschick und Glück, um finanziell überveranschlagte Produktionen über die erste Kinowoche hinauszutragen: Nie zuvor buhlten am US-amerikanischen Box Office so viele Blockbuster um so wenig Aufmerksamkeit. Statt auf anhaltenden Erfolg zu hoffen, müssen sie sich in kurzen Zeitfenstern schnell amortisieren – der längst strukturalisierte (und bekanntlich von Spielberg kritisch vorhergesehene) Kampf der Giganten führte beinahe zum Wegbruch eines ganzen Markts. Während die Tentpoles genannten Zeltstangen-Blockbuster ihrer ursprünglichen Funktion, der Stützung von Filmen des mittleren Sektors, enthoben scheinen, sind es in Mid- und Micro-Budget-Preisklassen verbliebene Horrorfilme, die sich als ungleich profitabler erweisen. Sie bewahren das Gerüst milliardenschwerer Franchise-Verhebungen vor dem Zusammenbruch.

Kinobesuchern mögen solche Systemverschiebungen egal sein. Bestimmt aber spüren sie, dass die immer teureren Filme einen zunehmend ärmlicheren Eindruck machen. Wenn ausgerechnet jene Spielart des Kinos, die ihr Überleben vor allem durch Reproduktionsmechanismen und Formeln sicherte, als Alternative zur Übersättigung vom ewig Gleichen wahrgenommen wird, liegt darin nur ein scheinbarer Widerspruch – der Horrorfilm ist ein sich ständig wiederholendes wie eben auch erneuerndes Genre. Er kann Affekte schaffen und zugleich aufgreifen, kann auf die Nerven gehen und Nerven treffen. Die große Publikumsresonanz von Get Out bestätigte diese genreeigenen Fähigkeiten, indem auch sorgloseste Unterhaltung suchende Zuschauer sich zu den Thesen des Films positionieren mussten. Niemand verließ das Multiplex mit der gewohnten, nämlich von den Abfallprodukten der Tentpole-Industrie anerzogenen Gleichgültigkeit. Horrorkino führt ins Ungewisse. Das können momentan weder Superhelden- noch Sternenkriegsfilme von sich behaupten.

Auf welchen Horrorfilm freut ihr euch 2018?

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