Overacting – Zuviel Schauspiel für den Oscar?

23.01.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Daniel Day-Lewis in There Will Be Blood
Buena Vista International
Daniel Day-Lewis in There Will Be Blood
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Wenn Schauspiel als übertrieben empfunden wird, ist das Overacting-Urteil schnell gefällt. Doch handelt es sich dabei nicht lediglich um einen Abwehrmechanismus des Zuschauers, um einen reinen Reflex? Einige lose Gedanken zum Overacting.

Ob ich Daniel Day-Lewis denn für einen Over-Actor halten würde, fragte mich letzte Woche eine geschätzte moviepilot-Kollegin. Ich entgegnete ihr, dass das von den entsprechenden Filmemachern abhinge und fügte hinzu, dass zumindest seine Performance in There Will Be Blood nicht mehr mit Kategorien wie Overacting zu fassen, sondern es schlicht eine Leistung jenseits herkömmlicher Maßstäbe sei. „Ja, jenseits von gut und böse“, hieß es daraufhin, was ich nur entsprechend schockiert zur Kenntnis nehmen konnte. Darüber, dass eine solche schauspielerische, nahezu beängstigende Jahrhundertarbeit schnell mit Overacting, mit unfreiwilligem Humor und offenbar als unangemessen empfundener Intensität in Verbindung gebracht wird, machte ich mir anschließend so meine Gedanken. Immerhin startet mit Lincoln von Steven Spielberg morgen ein neuer Film in den deutschen Kinos, der von Daniel Day-Lewis’ Leinwand füllender Schauspielgewalt lebt – und die ihm Ende Februar mit hoher Wahrscheinlichkeit den dritten Oscar einbringen wird.

Overacting als Abwehrmechanismus des Zuschauers
Wenn das Werturteil Overacting als eine Art Abwehrmechanismus des Zuschauers begriffen werden will, dann erscheint es mir nachvollziehbar, eine mit Konventionen brechende Darstellung wie die des Öl-Magnaten Daniel Plainview entsprechend abzukanzeln. Dass Daniel Day-Lewis in There Will Be Blood einer mehrfach überhöhten, geradezu monströsen und so auch nur im Kino denkbaren Figur Gestalt verleiht, sie mit einer (im Original) unwirklich anmutenden Sprache und unberechenbaren Bewegungen verkörpert, kann so gesehen wohl leicht als übertriebenes Schauspiel wahrgenommen werden. Gekoppelt ist eine solche Abgrenzung dabei wohl jedoch immer an das subjektive Empfinden: Overacting als Geschmacksurteil beschreibt letztlich lediglich einen ästhetischen Bruch mit der eigenen Vorstellung und der Frage, welche Form des Schauspiels (im jeweiligen Fall) als angemessen erachtet und welche eben als überambitioniert, darüber hinausgehend oder befremdlich empfunden wird.

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Da es aber, und darüber legen bestimmte Diskussionen auf moviepilot stets Zeugnis ab, eine Art Vereinbarung darüber zu geben scheint, wie gutes und wie schlechtes Schauspiel auszusehen habe, kann Overacting auch als trügerische Normabweichung beschrieben werden. Wenn Overacting maßloses, sich von etablierten Erfahrungen der Filmrezeption absetzendes Schauspiel bedeutet, dann ist es letztlich nichts anderes als der Versuch, eine neue sinnliche Erfahrungen schaffende Darstellung als unangemessen zu werten – als eine Art Reflex wohlmöglich, Diskrepanzen gegenüber gewohntem Schauspiel zu markieren. Overacting kann also eine Herausforderung sein für auf konditionierten Vorstellungen von normal, gut oder überzeugend basierende Zuschauererwartungen.

Der Method- und Overacting-Kanon
Diese theoretischen Gedanken indes werden Lügen gestraft, wenn ich mir überlege, welche Schauspielerinnen und Schauspieler fest im allgemeinen Kanon verankert sind. So wird der einstige Berufshysteriker Klaus Kinski für seine eskalierenden Darbietungen in den frühen und mittleren Filmen von Werner Herzog ebenso vergöttert wie das auf sich selbst verweisende Method-Acting eines Robert De Niro im Hauptwerk von Martin Scorsese. Werden die anfallsartigen und weit über Gebühr erträglichen Darstellungseruptionen eines Al Pacino in Scarface mindestens so gefeiert wie die auf ständige Selbstgeißelung abzielenden Leinwandausbrüche von Mel Gibson in Braveheart. Mit ausgesuchten Beispielen von Jack Nicholson, Sean Penn oder Christian Bale ließe sich das munter fortsetzen. Und vermutlich würde niemand, der ernst genommen werden will, den Schlüsselrollen eines Marlon Brando ein negativ verstandenes Overacting-Etikett anheften. Zumal das „übertriebene“ Spiel als Stilmittel, als Eigenschaft einer bestimmten (filmischen) Welt oder auch als Erkennungsmerkmal ganz bewusst eingesetzt zu werden scheint, etwas bei Quentin Tarantino, der einem Konzept gleich auch in Django Unchained seine Darsteller wieder zur kollektiven Zügellosigkeit animiert.

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Natürlich ließe sich dabei diskutieren, wo Overacting überhaupt beginnt, ob es nicht von der jeweiligen Rolle und bestimmten Intentionen abhängt, wenn nicht genau das auch nur wieder zum subjektiven, rein geschmacklichen Empfinden führen würde. Oder eben zu den Gewohnheiten, vor allem den kulturellen – was manchenorts als Overacting wahrgenommen wird, ist anderswo nur allzu gewöhnlich und umgekehrt. Ganz zu schweigen von der Wandlung des Darstellungsverständnisses im Laufe der Filmgeschichte. Mir ist dann eben, ganz geschmäcklerisch, ganz hier und jetzt, das zurückhaltende Spiel einer Kristen Stewart jederzeit lieber als das mechanische Vorzeigewollen einer Meryl Streep. Der Overacting so gesehen durchdringende Hyperausdruck eines Daniel Day-Lewis angenehmer als das ausgestellte Schauspielmüssen eines Denzel Washington. Im Zweifelsfall sind es ja ohnehin immer nur die leisen Töne, die wirklich bewegen – großes Tamtam mag lärmenden Eindruck schinden, aber außer strapazierten Nerven bleibt nicht viel über. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob es so etwas wie Overacting eigentlich überhaupt gibt.

Als Mr. Vincent Vega polemisiert sich Rajko Burchardt seit Jahren durch die virtuelle Filmlandschaft, immer auf der Suche nach dem kleinstmöglichen Konsens. Denn “interessant ist lediglich Übertreibung und das Pathos – alles andere ist langweilig, leider.” (Christian Kracht). Wenn er nicht gerade auf Moviepilot aneckt, bloggt Rajko für die 5 Filmfreunde und sammelt Filmkritiken auf From Beyond.

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