Tote Mädchen lügen nicht - Wie Band 4 mich fast zum Aufhören brachte

22.06.2017 - 09:05 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Tote Mädchen lügen nicht
Netflix
Tote Mädchen lügen nicht
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Tote Mädchen lügen nicht handelt vom Selbstmord eines heranwachsenden Mädchens. Eine Serie mit einem sensiblen Thema, aus der Folge 4 heraussticht. Sie dreht sich um Voyeurismus.

Zu Beginn der 1. Folge von Tote Mädchen lügen nicht lebt Hannah Baker (Katherine Langford) nicht mehr. Sie ist in Erinnerungssequenzen zu sehen und ihre Stimme leitet den Protagonisten Clay (Dylan Minnette) wie den Zuschauer durch die Episoden. Das Mädchen hat nämlich 13 Kassettenbänder besprochen, die an einer Highschool in einer Gruppe von Jugendlichen die Runde machen. Hannah nennt in den Aufnahmen die Gründe für ihren Selbstmord. Die Netflix-Produktion ist Gegenstand intensiver Diskussionen, weil ihr vorgeworfen wird, das Thema Selbstmord zu verherrlichen. Ob das der Fall ist, muss jeder Zuschauer für sich selbst beantworten. Dass sie aber gesellschaftliche Relevanz besitzt und sich auf der Höhe der Zeit befindet, ist unbestreitbar. Deswegen schreibe ich in meinem Herz für Serie über die Folge, die mir den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Spoiler lassen sich nicht vermeiden.

Wer beobachtet hier wen?

Schon das erste gesprochene Wort von Episode 4 (Titel: Kassette 2, Seite B) macht klar, dass es in den Bereich des Verbotenen geht: Hannahs "Sch!" stellt Clay und uns darauf ein, dass wir vorsichtig sein sollen. Die Erzählerin führt Clay als Zuhörer und uns als Zuschauer zu einem Haus, von dem sie behauptet, dass dort ihr ehemaliger Stalker wohnt. Der entpuppt sich wenig später als Tyler (Devin Druid), der Schulfotograf. Im Verlauf der Folge kommt heraus, dass er sich nachts mit seinem Objektiv vor Hannahs Fenster setzte, um sie zu beobachten. Seine Anwesenheit blieb nicht unbemerkt, sodass Hannah einen Plan schmiedet, um den Störenfried auf frischer Tat zu ertappen. Dass dieses Vorhaben nicht so abläuft wie vorgesehen, ist ein weiterer Baustein der Handlung, ich möchte an dieser Stelle aber auf einen anderen Aspekt eingehen: Durch die ganze Folge zieht sich als roter Faden das Thema Voyeurismus. Das Motiv des Fotografen als Beobachter, der möglichst unerkannt bleiben will, schaute sich die Serie von Werken wie dem Hitchcock-Klassiker Das Fenster zum Hof oder Michelangelo Antonionis Blow Up ab. Sie überträgt das ständige Gesehenwerden in die heutige Zeit mit ihren sogenannten "sozialen" Netzwerken und verleiht dem Thema eine moderne Note.

Brüder im Geiste

Es wäre allerdings zu einfach, (nur) Tyler des Stalkings und Beobachtens anderer Menschen zu beschuldigen. Dadurch, dass Hannah all die Personen, denen sie die Tonaufnahmen widmet, zu Tylers Haus führt, machen diese sich selbst des Voyeurismus schuldig. Hannah gibt zu Beginn der Episode selbst zu, den "Einblick in ein anderes Leben aufregend" zu finden. Mit dieser Folge treibt Tote Mädchen lügen nicht den Zuschauer noch weiter in das Gefühl der Machtlosigkeit, welches sich von Anfang an einstellt. So wie die Figuren angesichts des bereits geschehenen Suizids von Hannah bloß re-agieren können, indem sie egoistische Schadensbegrenzung versuchen, so bleibt auch dem Zuschauer nichts anderes übrig, als dem Strudel der Katastrophe zuzusehen. Wobei, eine Möglichkeit gäbe es schon: Das Zusehen abzubrechen. Bei Folge 4 war ich tatsächlich mehrmals kurz davor, weil ich die gnadenlose Zurschaustellung der menschlichen Schwächen nahezu unerträglich fand. Mit der Verhandlung dieses Zwiespalts war ich mittendrin im Geschehen und spürte die Ausweglosigkeit am eigenen Leib. Als Clay von Marcus dazu aufgefordert wird, einen Stein durchs Fenster von Tylers Zimmer zu werfen, bekommt die Handlung biblische Ausmaße: "Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein." Von den Charakteren kommt da niemand in Frage.

Der Voyeur im Fokus

Ich bin mir bewusst, dass ich auf eine abgedroschene Phrase zurückgreife, wenn ich sage, dass eine Serie mich länger beschäftigt. Bei Tote Mädchen lügen nicht ist das absolut der Fall. Die Serie hat zugegebenermaßen ihre Schwächen: Nicht alle Folgen sind gleich spannend und stringent erzählt wie die hier vorgestellte, manche Wendungen wirken bewusst hinausgezögert und die Handlungsmotivation der Figuren ist nicht immer schlüssig. Was die Serie aber sehens- und dringend empfehlenswert macht, ist ihre inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstmord. Es ist klar, dass darüber niemand gerne spricht. Es nehmen sich aber viel zu viele Menschen das Leben, als dass es nicht der Rede wert wäre. Die Angelegenheit hat den Stempel eines Tabus. Hoffentlich trägt diese Serie dazu bei, dass die Tatsache von täglichen begangenen Suiziden Gegenstand von Diskussionen wird. Verbote helfen da meiner Meinung nach nicht - im Gegenteil. Genau so wird Voyeurismus auch erst durch den Reiz des Verbotenen interessant für die, die ihn ausüben. Zum Schluss noch eine Leseempfehlung, die ich voll und ganz unterschreibe.

Wenn ihr euch von der Thematik betroffen fühlt, kontaktiert umgehend die Telefonseelsorge . Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110-111 oder 0800-1110-222 erhaltet ihr Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus scheinbar aussichtslosen Situationen aufzeigen konnten.

Was ist eure Meinung zu den Diskussionen um Tote Mädchen lügen nicht?

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