Am Samstagabend wurde dem iranischen Regisseur Jafar Panahi in Cannes die Goldene Palme überreicht und das kam nicht überraschend. Der Wettbewerb des Jahrgangs 2025 bot ein paar würdige Palmen-Gewinner, aber ein Panahi-Sieg war schon vorher absehbar. Zum einen, weil It Was Just an Accident als wütender Rache-Thriller mit einem brillant zugespitzten Finale überzeugte und zum anderen wegen des unverkennbaren politischen Symbolgehalts.
Die diesjährige Jury-Präsidentin Juliette Binoche hatte bereits bei der Preisverleihung 2010 Solidarität mit dem damals inhaftierten Filmemacher bekundet. Nach der Aufhebung seiner Haftstrafe, seines Berufs- und Ausreiseverbots kam Panahi nun zum ersten Mal seit 2003 persönlich an die Croisette, um einen Film vorzustellen.
Die Geschichte des Rache-Thrillers beginnt mit einem verdächtigen Quietschen
Eine Familie fährt Abends über eine Landstraße und rammt mit ihrem Auto ein Tier. Der Vater, Eghbal (Ebrahim Azizi), sucht danach eine Autowerkstatt auf. Dort horcht ein Mechaniker namens Vahid (Vahid Mobasseri) auf, der Schrecken steht ihm für kurze Zeit ins Gesicht geschrieben. Als Eghbal die Werkstatt betritt, hört Vahid das charakteristische Quietschen einer Beinprothese, das ihn bis in seine Albträume verfolgt hat. Denn Vahid war ein politischer Häftling in einem iranischen Gefängnis. Der Aufenthalt hat ihm Familie und Job gekostet, sein Leben zerstört, wie er einmal erklärt.
Der Mechaniker ist sich sicher, dass es sich bei Eghbal in Wirklichkeit um einen Folterknecht mit dem Spitznamen "Peg Leg" handelt. Am nächsten Tag überrumpelt er den Mann, sperrt ihn in eine Holzkiste in seinem Kleintransporter und fährt hinaus aufs Land. Dort will er ihn lebendig begraben. Der Mann liegt schon in seinem zukünftigen Grab, als die Zweifel aufkeimen. Vahid hat Peg Leg in Haft nicht mit eigenen Augen gesehen. Die waren stets verbunden. Also zwängt er ihn wieder in die Kiste und fährt zu einem Bekannten, der ebenfalls inhaftiert war, um die Identität des Täters zu bestätigen.
Nun beginnt eine teils skurrile und stets von Wut getriebene Irrfahrt, in der Vahid eher zufällig weitere mögliche Zeugen einsammelt, die allesamt von einem Wunsch beseelt sind: Peg Leg muss für seine Taten bezahlen. Eine Braut (Hadis Pakbaten) in strahlend weißer Hochzeitsgarderobe ist ebenso dabei wie ihre Fotografin (Mariam Afshari) und der potenziell gewalttätige Hamid (Mohamad Ali Elyasmehr), der von allen am meisten Blutdurst in sich trägt.
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Der Fokus von It Was Just An Accident liegt auf den Opfern
Vergangenes Jahr widmete sich Mohammad Rasoulofs späterer Oscar-Kandidat Die Saat des heiligen Feigenbaums den Tätern des Regimes im Iran. In Jafar Panahis neuem Film ist der mutmaßliche Täter über weite Strecken kaum mehr als ein unhandliches Objekt, eine wesentlich weniger witzige Version der Leiche in Immer Ärger mit Harry, die die Pläne der Entführer ab und zu durcheinander wirft.
Der Fokus liegt ganz klar auf den Opfern des Regimes. Es sind Fremde und Freunde unterschiedlicher sozialer Hintergründe, die durch das geteilte Trauma zusammen geworfen werden. Es ist keine quasi-therapeutische Zufallsgemeinschaft, sondern eine, die von Schmerz und Rachefantasien zusammengehalten wird, was Panahi in langen, bitteren Streitgesprächen wirkungsvoll zum Ausdruck findet. Von Sentimentalität fehlt weit und breit jede Spur.
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Das furiose Finale dieses Thrillers muss man gesehen haben
Wie es sich für einen Rache-Thriller gehört, beschäftigt sich Panahis Drehbuch damit, was der Wunsch nach Vergeltung aus den Opfern von Gewalt macht. Kann man die Freiheitsberaubung und Misshandlung der einen mit der Freiheitsberaubung und Misshandlung des anderen aufwiegen? Hier weicht das Drehbuch glücklicherweise den einfachen Antworten aus. Aufgeheizt wird der Film zusätzlich durch die schwelende Frage, ob da überhaupt der Richtige in der Kiste liegt oder ein Unschuldiger. Denn einige von Vahids Beifahrern wollen sich schlicht an irgendjemanden für ihr Leid rächen, egal an wem.
Anhand von der Mitfahrgemeinschaft wird scharf beobachtet, wie die Gewalt des Regimes sich in den Opfern festbeißt und das alltägliche Leben vergiftet. Im furiosen Finale brechen sich dann die in dem Van angestauten Gefühle Bahn. Es sind die wahrscheinlich wütendsten Minuten während dieser 78. Filmfestspiele von Cannes. Die Mörder sind unter uns – scheint der Film mit einem Blick auf eine mögliche Zukunft nach dem Regime zu fragen – und was nun?
Wir haben It Was Just an Accident bei den Filmfestspielen in Cannes gesehen, wo er mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Der neue Film von Jafar Panahi hat noch keinen deutschen Kinostart, aber Mubi hat sich hierzulande die Rechte gesichert.