1964 - Andy Warhol perfektioniert die Langeweile

18.02.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Empire
Andy Warhol Factory
Empire
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Im Kino habt ihr euch erst letztens schrecklich gelangweilt? Ach, dann habt ihr Empire noch nicht gesehen. Der Film von Andy Warhol zeigt acht Stunden lang das Empire State Building. In einer einzigen Einstellung.

Welcher ist der langweiligste Film, den ihr je sehen musstet? Mir fällt da spontan ein grusiger Kinobesuch von vor ein paar Jahren ein, als Trennung mit Hindernissen mit Jennifer Aniston und Vince Vaughn partout nicht zum Ende kommen wollte. Nach fünf Minuten war der Ausgang der Story klar und der dümmliche Witz ausgelutscht. Aber es ist eben auch leicht, auf eine x-beliebige 08/15-RomCom einzudreschen. Was allerdings, wenn ein anerkannter und bedeutender Avantgardefilm zu nichts als tiefstem REM-Schlaf verführt?

Beste Voraussetzungen für eine Underground-Karriere
Kaum ein Künstler der Moderne hat sich wohl so sehr im kollektiven Gedächtnis verankert wie der in New York City ansässige, ursprüngliche Werbegrafiker Andy Warhol. Hören wir seinen Namen, denken wir automatisch an seine geschickt mit dem Kommerz spielende Pop Art. Seine plakativen Siebdrucke von Marilyn Monroe und Mao, Abbildungen der ikonischen Campbell-Suppendosen oder einer leuchtend neongelben Banane auf dem Plattencover von The Velvet Underground. Seine filmischen Werke hingegen sind schon einem weit kleineren Publikum bekannt.

Dabei unterschieden sich Warhols Filme so sehr von gängigen Streifen der Zeit, wie auch seine Siebdrucke von den damals sehr expressiven Malereien berühmter Künstler wie Jackson Pollock. Alles begann wohl mit der berühmten Factory von Andy Warhol. Um eine besondere Arbeitsatmosphäre zu schaffen, verwandelte er sein riesiges New Yorker Loft mithilfe silberner Farbe in eine Art irdisches Ufo und versammelte die Kunstszene des Big Apple um sich.

Eher Stillies als Movies
Die vielen interessanten Menschen einfach nur zu fotografieren, reichte Andy Warhol nicht aus, und so entwickelte er ein ganz eigenes Verfahren: er legte eine Filmrolle in seine Kamera, ließ jemanden davor Platz nehmen und ging aus dem Raum. Was dabei entstand, waren über 400 wunderbar bewegte und bewegende Portraits beeindruckender Persönlichkeiten, genannt Screentest. Der Surrealist Salvador Dalí nahm vor der Kamera genauso Platz wie die Essayistin Susan Sontag, Warhols Muse Edie Sedgwick, oder die schwermütige Velvet Underground-Sängerin Nico.

Auf diese ersten Gehversuche im Medium Film folgten bald weitere Werke mit neuen Motiven, aufgenommen jedoch mit der gleichen statischen Kamera. Sleep zeigte Warhols Freund John Giorno 321 Minuten lang beim Schlafen, in EatRobert Indiana einen Pilz, in Mario Banana der Transvestit Mario Montez betont lasziv eine Banane, und in *Blowjob*… nun ja.

Eine Ikone filmt eine Ikone
1964 hatte der androgyn erscheinende Künstler schließlich eine ganz besonders ungewöhnliche Idee: er baute seine Kamera auf und filmte das berühmte Empire State Building. In einer einzigen Einstellung. Acht Stunden lang. Plötzlich wurden solche Dinge hochinteressant wie das Vorbeifliegen eines Flugzeuges oder das Erleuchten der Fenster bei einsetzender Dämmerung. Einzig eine blinkende Fernsehantenne kündete stetig vom Verstreichen der Zeit, und beim Wechseln der Filmrollen spiegelte sich für kurze Momente das Gesicht des Künstlers in der gegenüberliegenden Glasscheibe.

Es drängt sich die Frage während der Sichtung von Empire beinahe auf: Was tue ich hier eigentlich? Und schon hat uns Warhol mitten hineingezogen, in eine Reflexion über den eigenen Medienkonsum. Der bekennende Fernsehsüchtige verlangsamte das Geschehen, indem er seine Filme mit 16 FPS projizierte, und den Zuschauer so zurückwarf in das Zeitalter des Stummfilms. Schon 1896 hatte William Heise einfach einen 47 Sekunden langen Kuss gezeigt – Andy Warhol wiederholte das mit seinem Kiss. Die deutlich sichtbaren Filmrollenenden mit ihrer abstrakt anmutenden Perforierung zerlegten das Werk wiederum in seine Bestandteile – Zeit, Licht, Filmmaterial und Subjekt.

Die totale Reizüberflutung
Umso erstaunlicher erscheinen Warhols Stillies im Kontext seiner anderen Werke. Nicht nur die bunten Siebdrucke schreien einen förmlich an, sondern auch seine Filmvorführungen. Was sich im Doublescreen vom episodischen Chelsea Girls bereits ankündigte, wurde in seiner Happening-artigen Show The Exploding Plastic Inevitable perfektioniert: die totale Reizüberflutung. Andy Warhol wollte seine Filme nicht einfach so im Kino zeigen.

In seinem erweiterten Kino projizierte er deswegen mehrere seiner Filme gleichzeitig, entwickelte dazu eine Lichtshow, ließ The Velvet Underground auftreten und spielte gleichzeitig Platten mit Rocksongs ab, seine Superstars nahmen in aller Öffentlichkeit Drogen, während ihre psychedelischen Schatten an den Wänden tanzten. Mittendrin der Künstler, vielleicht für einen kurzen Moment zufrieden mit sich selbst.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1964 bewegte:

Drei Filmleute, die geboren sind
07. Januar 1964 – Nicolas Cage, verfluchter Kopfgeldjäger aus Ghost Rider
05. Februar 1964 – Laura Linney, hinterhältige Ehefrau aus Die Truman Show
09. März 1964 – Juliette Binoche, flatterhafte Süßwarenproduzentin aus Chocolate

Drei Filmleute, die gestorben sind
23. März 1964 – Peter Lorre, pfeifender Verbrecher aus M – Eine Stadt sucht einen Mörder
13. April 1964 – Veit Harlan, umstrittener Regisseur von Jud Süß
15. Oktober 1964 – Cole Porter, gespielt von Cary Grant in Tag und Nacht denk’ ich an dich

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – Tom Jones von Tony Richardson (Bester Film, Regisseur)
Goldene Palme – Die Regenschirme von Cherbourg von Jacques Demy
Goldener Löwe – Die rote Wüste von Michelangelo Antonioni

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
My Fair Lady von George Cukor
James Bond 007 – Goldfinger von Guy Hamilton
Mary Poppins von Robert Stevenson

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
27. März 1964 – Das Karfreitagsbeben in Alaska ist das bisher stärkste Erdbeben in der Geschichte der USA
12. Juni 1964 – Nelson Mandela, Anführer des African National Congress wird wegen Subversion und Sabotage zu lebenslänglicher Haft verurteilt
10. Dezember 1964 – Martin Luther King erhält in Oslo den Friedensnobelpreis

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