Ein fliegendes Auge im fesselnden Tatort - Kaltstart

27.04.2014 - 20:15 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Tatort - Kaltstart
NDR/ARD
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Etwa eine Milliarde Euro hat der Bau des Tiefwasserhafens Jade-Weser-Port verschlungen. Das umstrittene Projekt steht im Zentrum des neuen Tatorts mit Wotan Wilke Möhring, der zudem Überwachungsparanoia, Waffenhandel und Flüchtlinge für einen ansprechenden Thriller-Mix nutzt.

“Hat das irgendwas mit dem Mordfall zu tun?”, wundert sich eine Figur im Verlauf des neuen Tatorts nicht zu Unrecht. Denn Regisseur Marvin Kren (Rammbock, Blutgletscher) sowie die Autoren Volker Krappen und Raimund Maessen (Lapislazuli – im Auge des Bären) belassen es nicht beim Schauplatz Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven und dessen Misserfolgsgeschichte. Für Tatort: Kaltstart halten außerdem der internationale Waffenhandel, allgegenwärtige Überwachung, Drohnenboom und Flüchtlingsmisere her, um Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) knapp 90 Minuten Beschäftigungstherapie zu verschaffen. Der trauert nämlich um eine kürzlich verstorbene Affäre. Seien wir also ehrlich: Es ist ein Wunder, dass das Tatort-Schiff unter dieser Last nicht sinkt.

Falke und seine Kollegin Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) arbeiten von nun an für die Bundespolizei. Deswegen werden die beiden hinzugezogen, als in Wilhelmshaven ein Polizeieinsatz gegen Schleuser schiefgeht. Während in einem Container im Hafen Flüchtlinge aufgefunden werden, sterben zwei Polizisten beim Zugriff auf den Verantwortlichen durch eine Explosion. Für Falke ein besonderer Schock, denn mit der verstorbenen Kollegin Rita Kovic (Andrea Wenzl) hatte er eine Affäre. Bei ihren Untersuchungen des Menschenhändlerrings treffen die Kommissare auf verzweifelte Flüchtlinge, psychisch nicht ganz rund laufende Geschäftsmänner und mörderische Phantome, nichtsahnend, dass die Drahtzieher jeden ihrer Schritte beobachten.

2,7 Millionen Container sollten jährlich über den Jade-Weser-Port umgeschlagen werden, doch 2013 erreichte das Prestigeprojekt nicht einmal 100.000. Die Kulisse – hochtechnisiert, modern, menschenleer – dominiert diesen Tatort, der immer dann an Wirkung verliert, wenn er sich woanders herumtreibt. Am Boden riesige Hallen und ihre zurückgelassenen Bewohner (ein toller Andreas Patton als Tennisfan Dreyer), ist der Hafen von der Luft aus eine künstliche Welt, als hätte jemand eine Leiterplatte in den Sand gestampft. Dabei vermischen Kren und Kameramann Moritz Schultheiß zunehmend die Perspektiven, wenn die harmlose Aufsicht plötzlich in den Blick einer Überwachungsdrohne übergeht, sodass ein Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung entsteht, die bis ins Private reicht. Auch sonst beeindruckt das Tatort-Debüt des Horrorregisseurs visuell, zumindest an den Konventionenen des Sonntagabendkrimis gemessen. Dabei sind die vielen erdrückend leeren Drehorte, die uns von der Containerwüste zum Einsatzzentrum in einer Turnhalle, zu einer verlassenen Villa und wieder zurückführen, dankbare Kulissen eines Krimis, in dem es kein geborgenes Heim gibt.

Jeder Ort liegt in diesem Tatort gegenüber dem allsehenden Auge offen. Intimität bleibt vor allem für Falke eine vertane Chance. Der beziehungsscheue Cop, zwischen Wut und Verletzlichkeit von Möhring berührend gespielt, merkt zu spät, was er an der Verstorbenen hatte. Hoffen wir nur, dass die Autoren ihm in kommenden Tatorten keine Liebelei mit Kollegin Lorenz unterschieben. Die Ermittlerin hat auch nach drei Fällen noch kein Eigenleben entwickelt. Abseits der klischeehaften Zeichnung als sensible Beschützerin von Witwen und Waisen agiert sie in der Tradition von NDR-Kollegin Sarah Brandt für den altmodischen Kommissar als Reiseleiterin in der digitalen Welt.

Einprägsamer fällt das übrige Personal aus. Marvin Kren, an Genrefilmen geschult, hat ein Auge für die kantigen und hier primär männlichen Charakterköpfe, die in einem Thriller keine komplexe Hintergrundgeschichte benötigen, um dessen Welt glaubhaft auszufüllen. Dazu zählen in diesem Fall André Hennicke, wie geboren für schwarztragende Übeltäter, und Scarface Jimmy Jean-Louis. Die beiden wortkargen Phantome deuten an, wofür das Herz dieses Tatorts pocht. Nicht die komplexen Details und Hintergründe all der tatorttypischen Problemzonen, durch die der Krimi navigiert. Als paranoider Thriller, mehr Der Staatsfeind Nr. 1 als Der Dialog, bietet Tatort – Kaltstart eine Erfrischung am von Zeigefingern bevölkerten Sonntag. Den Abstecher ins Finale von Heat am Ende hätte es bei aller Liebe zum Kino aber wirklich nicht gebraucht.

Zitat des Sonntags: “You have to say ‘Asyl’.”

Mord des Sonntags: Tod durch den Tennisstrang.

Marvin Kren gibt ein überzeugendes Tatort-Debüt oder was meint ihr?

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