Spoilerfreier Ersteindruck zum Marvel-Film Thunderbolts*: Kommt für die Action, bleibt für die Existenzkrise

30.04.2025 - 12:05 UhrVor 9 Stunden aktualisiert
Thunderbolts*
Disney
Thunderbolts*
0
2
Sind sie die neuen Avengers oder Marvels Suicide Squad? Mit Thunderbolts* startet diese Woche der jüngste Film aus dem Marvel Cinematic Universe im Kino und der ist vor allem eines: unerwartet berührend.

Wie fühlt es sich an, am Abgrund zu stehen? Wenn sich eine unheimliche Leere in einem ausbreitet? Wenn Einsamkeit und Dunkelheit die Welt übernehmen? Und plötzlich nichts anderes mehr da ist als dieses Gefühl von Gleichgültigkeit, das einen verschlingt und immer näher an diesen Abgrund bringt? Für einen Film aus dem Marvel Cinematic Universe beginnt Thunderbolts* mit extrem düsteren Gedanken.

Sollten hier nicht eigentlich Superheld:innen in bunten Kostümen durch die Lüfte fliegen und mit flotten Sprüchen das Universum retten? Von einem gut gelaunten Avengers-Team fehlt jedoch jegliche Spur. Stattdessen skizziert Thunderbolts* ein Bild verlorener Figuren, die sich wortwörtlich in einem Schredder befinden, der sie zerlegt, bis ihnen keine andere Wahl mehr bleibt, als ihr tiefstes Inneres zu offenbaren.

Thunderbolts* versammelt die Ausgestoßenen des MCU für einen existenziellen Roadtrip in den Abgrund

Sie sind die Überreste des MCU, die niemals ihren eigenen Film erhalten werden, weil sie nicht das strahlende (und zugkräftige) Profil von Iron Man, Captain America und Co. besitzen. Genau genommen bekommen wir es in Thunderbolts* mit Ausgestoßenen zu tun, die verwerfliche Dinge getan haben und sich in moralischen Grauzonen bewegen. Doch der Reihe nach: Von wem reden wir hier überhaupt genau?

Dreh- und Angelpunkt des neuen Marvel-Films ist Yelena Belova (Florence Pugh), die sich zuletzt in der Hawkeye-Serie am bogenschießenden Titelhelden für den Tod ihrer Schwester rächen wollte. Nun führt sie Aufträge für die zwielichtige Valentina Allegra de Fontaine (Julia Louis-Dreyfus) aus und ist damit nicht sehr glücklich. Die nächste Mission soll die letzte sein – Valentina nimmt sie beim Wort und schickt sie in eine Falle.

Ehe sich Yelena versieht, wird sie von Taskmaster (Olga Kurylenko), Ghost (Hannah John-Kamen) und John Walker (Wyatt Russell) ins Visier genommen, obwohl sie eigentlich nur von ihrem Vater, Red Guardian (David Harbour), gesehen werden will. Der zeigt sich aber mehr von dem mächtigen Winter Soldier (Sebastian Stan) beeindruckt, der wiederum versucht, Valentina das Handwerk zu legen – als Politiker in Washington.

Es ist ... verzwickt.

Dysfunktionale Comic-Familien haben wir in den vergangenen Jahren mehrere im Kino gesehen. Die beiden Suicide Squads, die das DC-Universum zerlegten, dürften sich am ehesten mit den Thunderbolts vergleichen lassen. Niemand will mit seinem Gegenüber zusammenarbeiten. Vielmehr wird das Team aus der Not heraus geboren, denn der unscheinbarste Mensch auf dem Planeten wird zur größten Gefahr.

Plötzlich ist er einfach da: Bob (Lewis Pullman). Eben noch wirkte er komplett harmlos und unbeholfen. Jetzt schwebt er in Form einer gesichtslosen Silhouette über New York und verschlingt mit seinem Schatten die Stadt. Menschen verschwinden in einem Nichts, das sich schneller ausbreitet als die Leere, die Yelena sich nicht eingestehen will, wenn sie zu Beginn des Films allein auf dem Dach eines Wolkenkratzers steht.

Thunderbolts* interessiert sich mehr für die verborgenen Gefühle seiner Figuren als für den Bombast

Schnell wird klar, dass Bob kein Bösewicht, sondern ein verletzter Teil der Familie ist, die sich gerade erst formt, obwohl das keines der Mitglieder jemals zugeben würde. Zwar reden die Figuren in Thunderbolts* sehr viel miteinander, meistens geht es dabei allerdings um schlechte Witze und Beleidigungen. Niemand will den wahren Kern seiner Frustration offenlegen und Einblick in seine verletzte Seele geben.

Regisseur Jake Schreier, der das letzte Mal vor einer Dekade mit einem Film – der tollen Coming-of-Age-Geschichte Margos Spuren – auf der großen Leinwand vertreten war, interessiert sich mehr für das chaotische Innenleben seiner Figuren als den üblichen Action-Bombast, wie man ihn in einem Marvel-Blockbuster erwartet. Gerade am Ende wirkt sein Film wie der in sich gekehrte Gegenentwurf zu Marvel's The Avengers.

Wieder befinden wir uns in New York. Wieder ist die Metropole dem Untergang geweiht. Statt einer endlosen Schlacht mit Aliens tauchen wir dieses Mal jedoch in die Psyche der Figuren ein und tragen die härtesten Kämpfe in einem metaphysischen Kinderzimmer voller traumatischen Erinnerungen aus, sodass Thunderbolts* mehr an die großartige Marvel-Serie Legion erinnert als an ein beliebiges Avengers-Abenteuer.

An die tiefgründigen Tauchgänge in das Unterbewusstsein von David Haller (Dan Stevens) reicht Thunderbolts* zwar nicht heran. Trotz starker Bilder wie Bobs ungeheuerlicher Silhouette geht Schreier auf visueller Ebene kaum Wagnisse ein, um an die eigenartigen Bilderwelten anzuschließen, die die von Noah Hawley geschaffene Serie in eines der bis heute außergewöhnlichsten Marvel-Projekte verwandeln.

Dennoch ist Thunderbolts* ein Marvel-Film, den man nicht unterschätzen sollte, nur, weil er zu dieser großen Franchise-Maschinerie gehört. Im Drehbuch von Eric Pearson (Black Widow) und Joanna Calo (The Bear), das später von Beef-Schöpfer Lee Sung Jin überarbeitet wurde, stecken einige Ideen, die in einem Blockbuster dieser Größenordnung selten ausgesprochen, geschweige denn ausformuliert werden.

Thunderbolts* macht dort weiter, wo WandaVision und Guardians of the Galaxy Vol. 3 aufgehört haben

Genauso wie sich Florence Pugh beim Eröffnungsstunt des Films vom zweithöchsten Wolkenkratzer der Welt stürzt, taucht Thunderbolts* unerschrocken in die Depression seiner Figuren ein, ohne sich mit der ersten Antwort auf ihren Schmerz zufriedenzugeben. Schreiers Inszenierung ist nicht gewagt, aber sie ist aufrichtig und schafft Raum für den Verarbeitungsprozess, den die Figuren durchlaufen.

Besonders zwischen Yelena und Bob finden viele feinfühlige Momente des Zuhörens und des Aufeinander-Zugehens statt, die Thunderbolts* auf emotionaler Ebene in die Nähe von WandaVision und den Guardians of the Galaxy-Filmen rücken. Zudem denkt der Film seine Themen mit einem Blick auf das große MCU-Bild weiter und fragt, ob eine Öffentlichkeit den gebrochenen Superheld:innen überhaupt noch vertrauen kann.

Die erste Avengers-Generation scheint komplett aus dem MCU verschwunden zu sein – sowohl für uns Zuschauende als auch für die Menschen im Film. Sie können sich nicht mehr auf ein klar definiertes Team berufen, das zur Rettung eilt. Stattdessen ragt der Körper eines gigantischen Aliens aus der Erde und der Präsident mutiert zum roten Wutmonster. Was soll diese Öffentlichkeit über die Thunderbolts denken?

Thunderbolts* verhandelt überraschend einfühlsam und eloquent die Angst, dass die eigenen Gefühle zur Last für andere werden könnten und man in dem Schredder landet, in dem Valentina die Thunderbolts am liebsten direkt in den ersten Minuten versenken würde, um sich dieser Belastung zu entledigen. Die Beweise von Verletzlichkeit sollen verschwinden, doch Schreiers Film erzählt genau von diesem Sichtbarmachen.

Fazit: Kommt für die kurzweilige Chaos-Action, bleibt für den Sturz in den existenziellen Abgrund. Seit Guardians of the Galaxy Vol. 3 hat es keinen MCU-Film mehr gegeben, der das offensichtliche Spektakel so gut mit dem Schicksal seiner Figuren verbindet. Florence Pugh ist eine Wucht und auch der Rest des Ensembles funktioniert erstaunlich gut, obwohl die meisten Figuren noch nie miteinander interagiert haben.

Diese Thunderbolts dürfen gerne häufiger das MCU aufmischen.

Thunderbolts* läuft ab dem 1. Mai 2025 in den deutschen Kinos.

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News