Wir sind die Welle von Netflix ist plump wie eine Facebook-Kommentarspalte

01.11.2019 - 14:45 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Wir sind die WelleNetflix
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In Wir sind die Welle starten systemkritische Teenager eine Revolte. Die Netflix-Serie trifft den Zeitgeist, doch reicht das? Erfahrt es in unserem Serien-Check.

Netflix ist mittlerweile nicht nur bei deutschen Konsumenten, sondern auch bei den hiesigen Produzenten angekommen. Nach Dark, Dogs of Berlin, How to Sell Drugs Online (Fast), Criminal: Deutschland und Skylines ist Wir sind die Welle bereits die sechste Netflix-Eigenproduktion aus Deutschland. Sie fängt die politische Stimmung im Land ein und strickt daraus ein Narrativ, dass vor allem die junge Generation ansprechen soll.

Club der roten Bänder-Star Luise Befort und Ludwig Simon spielen die Drahtzieher einer Revolution, die unsere kapitalistische Grundordnung radikal hinterfragt und gegen all das protestiert, was ihnen gegen den Strich geht. Wir sind die Welle ist eine Netflix-Serie, die...

  • ...den Zeitgeist trifft und ein Spiegelbild der politischen Stimmung in Deutschland darstellt.
  • ...unglaublich plump vorgeht und sich anfühlt, als lese man eine Facebook-Kommentarspalte.
  • ...trotz ihrer Schwächen wohl dennoch ein großer Hit wird.

Darum geht's in Wir sind die Welle

Wir sind die Welle basiert nur sehr lose auf seiner Vorlage. US-Autor Morton Rhue nahm sich 1981 das gefährliche Schulexperiment eines Geschichtslehrers zum Anlass, um den Roman Die Welle zu schreiben. Im Jahr 2008 wurde daraus eine deutsche Verfilmung mit Jürgen Vogel. Doch die Netflix-Serie hat (außer eine aus dem Ruder laufende Schülerbewegung namens Die Welle) kaum etwas damit zu tun.

In Die Welle von 2008 drillt Jürgen Vogel als Lehrer seine Schüler zu Faschisten.

Im Film Die Welle wendet ein Lehrer autoritäre Methoden in seiner Klasse an, die irgendwann zum faschistischen Selbstläufer mutieren. In der Serie Wir sind die Welle beschwört ein Freigänger aus der Jugendstrafanstalt eine antikapitalistische Protestbewegung herauf, die sich auf der linken anstelle der rechten Seite des politischen Spektrums positioniert.

Tristan Broch (Ludwig Simon) heißt der Querdenker, der mit dem rebellischen Charisma eines Anführers schnell die sittsame Lea Herst (Luise Befort) auf seine Seite zieht und sich außerdem mit den Außenseitern seiner Klasse anfreundet. Gemeinsam mit Lea, dem Longboarder Rahim (Mohamed Issa), dem Bauernburschen Hagen (Daniel Friedl) und der introvertierten Zazie (Michelle Barthel) gründet er die Welle.

Ob Nazis, Umweltverschmutzer oder Waffenfabrikanten: Mit aufsehenerregenden Aktionen stellt die Welle all jene an den Pranger, die ihrer Meinung nach für die Probleme im Land verantwortlich sind. Ihre Aktionen filmen sie und stellen sie ins Internet. Die fünf Teenager entfachen damit eine Revolte, die weit über die Grenzen ihrer Kleinstadt Meppersfeld hinausgeht.

Mit Wir sind die Welle trifft Netflix den Zeitgeist

Statt an der Vorlage orientiert sich die Netflix-Version viel mehr an der realen politischen Stimmung, die derzeit in Deutschland herrscht. Gleich die erste Szene führt uns auf eine Wahlveranstaltung der NfD, einer fiktiven Partei mit dem gleichen Logo wie die AfD. Der Bürgermeisterkandidat namens Herr Berndt (womöglich eine Stichelei gegen AfD-Politiker Björn Höcke, scherzhaft Bernd genannt) keift völkisch-nationalistische Parolen in sein Mikro. Subtiler wird die Serie auch im weiteren Verlauf eher selten.

Tristan, Zazie, Hagen, Lea und Rahim aus Wir sind die Welle

Dabei stellt das Aufmucken von rechts gar nicht mal die Hauptströmung dar, an die die Netflix-Serie erinnert. Jugendliche, die gegen ein System rebellieren, dass ihnen ihre Zukunft kaputt macht? Die Gemeinsamkeiten mit Klimaschutz-Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion sind offenkundig.

Dabei war die Serie schon in Arbeit, da hatte Greta Thunberg noch keinen einzigen Freitag mit ihrem Schild auf der Straße gestanden. Die Serie hat also durchaus prophetischen Charakter, auch wenn die Erderwärmung selbst nie direkt erwähnt wird. Leider wird aus der hochaktuellen Thematik nicht viel gemacht.

Wir sind die Welle ist so plump wie der politische Diskurs im Internet

Sich Wir sind die Welle anzusehen, fühlt sich an, als würde man durch Kommentare auf Facebook scrollen. Die Figuren in der Serie sind alle enorm politisch, teilen ihre Überzeugungen bei jeder noch so kleinen Gelegenheit und mit solcher Offenheit, wie es die meisten realen Menschen außerhalb der Komfortzone des Internets niemals machen würden. Jede Figur lässt sich sofort in eine Schublade stecken und fungiert eher als Stichwortgeber, denn als dreidimensionaler Charakter.

Tristan (r.) in Wir sind die Welle

Im echten Leben, aber noch viel mehr in sozialen Medien finden sich oft Menschen, die ein starres Weltbild haben und andere von ihrer Ideologie überzeugen wollen. Sie versuchen Unterhaltungen mit Andersdenkenden in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dafür reagieren sie auf einstudierte Reizwörter und rattern dann ihre auswendig gelernten Argumente herunter. Diese Menschen sind nicht an einer konstruktiven Diskussion interessiert, sondern wollen ihr Gegenüber mit aller Macht auf ihre Seite ziehen.

Die Autoren von Wir sind die Welle gehen ähnlich vor. Statt die gesellschaftliche Diskussion in Deutschland mit eigenen Gedanken zu bereichern, geben sie nur abgedroschene Phrasen wieder. Unzählige Themen schneiden sie nur an, doch auf die wenigsten gehen sie wirklich ein. Die Netflix-Serie bietet einige gute Beobachtungen, sie tut aber nicht den nächsten Schritt.

Wir sind die Welle wird für Netflix wohl dennoch ein Erfolg

Trotz aller Schwächen wird Wir sind die Welle für Netflix wohl doch eine Erfolgswelle. Denn die Serie bietet sich vor allem jungen Menschen an, die sich (spätestens seit Fridays for Future) leichter für politischen Idealismus begeistern lassen als Erwachsene, denen die Naivität ihrer Jugend schon lange durch eben das System ausgetrieben wurde, das die Welle so sehr kritisiert.

Mit den jugendlichen Revoluzzern Tristan, Lea, Rahim, Zazie und Hagen verbindet Netflix die aktuellen Themen mit gerade genug sympathischen Coming-of-Age-Momenten, spannenden Heistsequenzen und romantischem Beziehungsdrama, um selbst die unpolitischen Netflix-Nutzer abzuholen und ihnen leicht verdauliche Kost zu bieten. Auch die Titelmelodie, die sehr an die pulsierenden Klänge von Stranger Things erinnert, zeigt, dass Wir sind die Welle ein sehr kalkuliertes Produkt ist.

Hagen, Rahim, Lea, Zazie und Tristan in Wir sind die Welle

Trotz all der Kritik an dieser Stelle zur Oberflächlichkeit von Wir sind die Welle, soll hier aber auch noch ein kleines Lob fallen. Die jungen Schauspieler entwickeln gemeinsam eine tolle Chemie und unter all den grobschlächtigen Charakterzeichnungen verbirgt sich dann doch der ein oder anderer authentische Moment mit Herz. Über das verschwendete Potential von Wir sind die Welle können aber auch sie nicht hinwegtäuschen.

Wer sich von Wir sind die Welle tiefgreifende Erkenntnisse über den Zustand unserer Gesellschaft erhofft, kann sich die Netflix-Produktion sparen. Junge und junggebliebene Idealisten könnten an der Serie aber durchaus ihre Freude haben.

Wir sind die Welle besteht aus 6 Episoden à 50 Minuten und läuft ab dem 1. November 2019 bei Netflix. Als Grundlage für diesen Seriencheck dient die gesamte 1. Staffel.

Werdet ihr euch Wir sind die Welle auf Netflix ansehen?

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