1962 - Die Oberhausener gegen Edgar Wallace

17.09.2012 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Abschied von gestern
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Ihr seid unzufrieden mit der deutschen Kinolandschaft? Habt ihr es schon mal mit einem Manifest versucht? Nehmt euch ein Beispiel an der Oberhausener Gruppe!

„Papas Kino ist tot“, skandierten 1962 sechsundzwanzig deutsche Filmemacher auf den 8. Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen. In einem Manifest richteten sie sich gegen das verstaubte Kino Westdeutschlands und forderten eine radikale Wandlung der Filmproduktion.

Mach dir ein paar schöne Stunden – geh ins Kino
So lautete ein Slogan in den späten Fünfziger Jahren, und er steht emblematisch für das Programm, mit dem das Publikum zumeist berieselt wurde. Während in Ländern wie Frankreich, Brasilien und Großbritannien neue Gegenbewegungen zum herkömmlichen Kino geboren wurden und unter vielsagenden Schlagwörtern wie Nouvelle Vague, Cinema Novo oder Free Cinema Erfolge feierten, steckte das deutsche Kino noch immer in einer Art Schockstarre fest. Aber wie genau sah “Papas Kino” aus, gegen das plötzlich so aufbegehrt wurde?

Zum einen waren da die Heimatfilme. In Schinken wie Die Sennerin von St. Kathrein oder Die Christel von der Post spazierten junge Frauen im Dirndl mit ihren Angebeteten durch das idyllische Alpenvorland und retteten heimelige Gasthöfe vor der Modernisierung durch raffgierige Preußen. In der harten Nachkriegszeit und den folgenden Jahren waren diese vorhersehbaren, seichten Filme mit dem unausweichlichen Happy End für viele Kinobesucher Gold wert.

Hallo, hier spricht Edgar Wallace
Eine andere verlässliche Konstante in der deutschen Kinolandschaft waren die Edgar Wallace -Filme. Streifen wie Der Hexer oder Der Mönch mit der Peitsche standen ganz im Zeichen des Whodunit, und lockten die Menschen zuhauf in die Lichtspielhäuser. Um den kommerziellen Erfolg aufrecht zu erhalten, distanzierten sich Regisseure wie Alfred Vohrer mit der Zeit zunehmend von den ursprünglichen Romanvorlagen, und langsam sank so auch das inhaltliche und dramaturgische Niveau des Filme.

Blieben noch die Karl May -Filme, die mit Der Schatz im Silbersee ebenfalls 1962 ihre Renaissance feierten. Was dem deutschen Kino dabei dringend fehlte, waren wirkliche Originalität und der Mut zum Risiko. Künstlerisch hochwertige Werke wie die von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte wurden immer seltener und auch der offiziellen Filmförderung drohten die Füße einzuschlafen.

Alles für die Kunst!
Die 8. Westdeutschen Kurzfilmtage in Oberhausen nahm eine Gruppe junger Filmschaffender aus dem Dokumentar- und Kurzfilmbereich deswegen zum Anlass, um gegen die verkrusteten Strukturen aufzubegehren. Regisseure wie Haro Senft und Herbert Vesely hatten sich zu diesem Zweck schon einige Jahre zuvor als DOC 59 – Gruppe für Filmgestaltung zusammengetan, und einen Aufruf namens filmform – das dritte Programm veröffentlicht.

Forderungen aus dieser Schrift flossen nun auch in das pressewirksame Manifest: Die Unterzeichner sprachen sich vor allem für künstlerische Freiheit und den Autorenfilm aus. Kino sollte nicht mehr nur eine unterhaltende Illusion, den schönen Schein bieten. Es sollte den Realismus in den Vordergrund rücken, gesellschaftliche Konflikte skizzieren und Figuren mit psychologischem Tiefgang kreieren. Der individuell künstlerische Ausdruck sollte populäre Genres und Kommerz ablösen, um die Welt zu hinterfragen und sie letztlich zu verändern.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten
All das wurde zuerst einmal nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Die Spielfilmbranche sah sich angegriffen und reagierte geschlossen mit Ablehnung auf die sogenannten „Obermünchhausener“, die „Bubis Kino“ propagierten. Die Rebellen ließen sich jedoch auch von der medialen Häme nicht abhalten und gründeten flugs die Stiftung junger deutscher Film, um den kulturellen Wandel zu fördern. Die finanzielle Knappheit blieb natürlich trotzdem bestehen, und so waren die Regisseure wie Edgar Reitz, Peter Schamoni, Peter Zadek oder Volker Schlöndorff oft auch gleichzeitig Drehbuchautoren und Produzenten.

Schnell machte das Stichwort Autorenfilm die Runde, und so ebnete die Oberhausener Gruppe schließlich dem Neuen Deutschen Film den Weg. Regisseure wie Wim Wenders, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluge (einer der prominentesten Unterzeichner) machten sich über die Landesgrenzen hinaus einen Namen und gaben Anlass zu vielen ‚Deutschen Filmwochen‘ rund um den Globus. Die gebührende Anerkennung kam spät, aber sie kam: 1982 wurde der Oberhauser Gruppe nachträglich der Deutsche Filmpreis verliehen.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1962 bewegte:

Drei Filmleute, die geboren sind
03. Juli 1962 – Tom Cruise, der Typ aus Top Gun – Sie fürchten weder Tod noch Teufel
17. September 1962 – Baz Luhrmann, Regisseur von Moulin Rouge
19. November 1962 – Jodie Foster, die kleine Iris aus Taxi Driver

Drei Filmleute, die gestorben sind
10. April 1962 – Michael Curtiz, Regisseur von Casablanca
20. Juli 1962 – Erna Morena, Schauspielerin aus Jud Süß
05. August 1962 – Marilyn Monroe, Objekt der Begierde in Manche mögen’s heiß

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – Lawrence von Arabien von David Lean (Bester Film, Bester Regisseur)
Étoile de Cristal – Jules und Jim von François Truffaut
Goldener Bär – Nur ein Hauch Glückseligkeit von John Schlesinger

Drei Ereignisse der deutschen Filmwelt
15. Januar 1962 – Spoiler-Skandal um das sechsteilige Fernsehspiel Das Halstuch von Francis Durbridge
1962 – Mit James Bond 007 jagt Dr. No beginnt das legendäre Agenten-Franchise
12. Dezember 1962 – Der Schatz im Silbersee, erster Film der erfolgreichen Karl May-Serie feiert Premiere

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
12. Juli 1962 – Brian Jones, Mick Jagger und Keith Richards gründen die Rolling Stones
14.-28. Oktober 1962 – Kubakrise
22. Oktober 1962 – Beginn der Spiegel-Affäre

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