Da Clint Eastwood mittlerweile ein stattliches Alter von 94 Jahren erreicht hat, vermuten viele, dass Juror #2 seine letzte Regiearbeit sein könnte. Das bedeutet allerdings nicht, dass sein Gerichtsthriller behäbig oder angestaubt daherkommt. Ganz im Gegenteil: Die Moralfabel, die am 16. Januar 2025 im Kino gestartet ist, prescht gleich zu Beginn los und konfrontiert ihr Publikum anschließend mit einer düsteren Zwickmühle.
Juror #2 legt in den ersten 20 Minuten alle Karten auf den Tisch
Clint Eastwoods titelgebender Juror Nummer 2 heißt Justin Kemp (Nicholas Hoult). Als einer von zwölf Geschworenen muss er, wie im amerikanischen Justizsystem üblich, seiner Bürgerpflicht vor Gericht nachgehen: als Anwältin Faith Killebrew (Toni Collette) und Verteidiger Eric Resnick (Chris Messina) ihn als geeigneten Kandidaten auswählen, um über einen Mordprozess zu urteilen. Und das, obwohl Justin und seine Frau Allison (Zoey Deutch) bald ihr erstes Kind erwarten. Noch heikler wird die Angelegenheit, als Justin erkennt, dass nicht der Angeklagte James Michael Sythe (Gabriel Basso), sondern er selbst für den verhandelten Todesfall verantwortlich sein könnte.
Ob als alteingesessener Western-Schauspieler oder als Regisseur: Clint Eastwood fackelt nicht lange. Nach den ersten 20 Minuten von Juror #2 hat man alle nötigen Fakten: Justin muss als Jury-Mitglied über das Schicksal eines unschuldigen Mannes entscheiden, dessen vermeintliches Opfer er wohl selbst (bis dahin unwissentlich) bei einem Unfall getötet hat. Nur kann er gleichzeitig den Angeklagten und seine eigene Haut retten?
Weil Eastwood in Juror #2 überraschend früh alle Karten der Filmhandlung auf den Tisch legt, bleibt anschließend genügend Zeit, sich genüsslich in den moralischen Teil seiner Erzählung zu stürzen – die Verhandlung menschlicher Abgründe zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz, die dem Publikum unweigerlich selbst die Frage stellt: "Was würdest du tun?"
Juror #2 beschwört dabei das fast vergessene Genre der Gerichtsthriller der 1990er (Die Jury) und frühen 2000er (Das Urteil - Jeder ist käuflich) herauf. Auch der Klassiker Die 12 Geschworenen drängt sich als Filmvergleich förmlich auf, wenn im Hinterzimmer diskutierend über das Leben eines Mannes entschieden wird. Insofern haftet dem Film in seiner holzgetäfelten und marmornen Kulisse ehrwürdiger Gerichtsgebäude ein Hauch von Vergangenheit an. Diese Aura zerrt Drehbuchautor Jonathan Abrams mit True-Crime-begeisterten Juroren und moderner Technik allerdings effektiv in die Gegenwart.
Clint Eastwood beweist in Juror #2 ein Auge für seine Besetzung
Dass Juror #2 selbst dann weiter bei Stange hält, wenn Handlungsenthüllungen von moralischen Twists abgelöst werden, verdankt der Thriller vor allem seiner überzeugenden Besetzung. Wem anderen als J.K. Simmons könnte man einen zum Blumenhändler umgeschulten Ex-Polizisten abnehmen? Von Netflix' Night Agent Gabriel Basso als angeklagter Straftäter bis zu Kiefer Sutherland als AA-Sponsor: der Cast triumphiert.
Die Wiedervereinigung von Toni Collette und Nicholas Hoult als Anwältin und Geschworener, über 20 Jahre nachdem sie in About a Boy Mutter und Sohn gespielt haben, ist da nur noch das Sahnehäubchen.
Hauptdarsteller Nicholas Hoult (parallel gerade in Nosferatu im Kino zu sehen) beweist ohnehin schon länger, dass wir ihm einen Durchschnittstypen wie Justin aus Juror #2 ebenso abkaufen, wie den durchgeknallten Nux aus Mad Max: Fury Road. Dass er den nervtötenden The Menu-Foodie ebenso überzeugend spielt, wie das liebenswerte Biest in X-Men empfiehlt ihn als idealen schauspielerischen Grenzgänger zwischen Abneigung und Sympathie. Denn durch ihn erhält Eastwoods Gewissenskonflikt einen ungewissen Ausgang.
Juror #2 verwandelt das Kino in einen Gerichtssaal
Bei einem derart gut aufgelegten Cast verwundert es fast, dass die etwas zu flache Gefühlstiefe dem Thriller als kleiner Abstrich angelastet werden muss. Bei allen Hochglanzbildern und punktgenau besetzten Figuren bleibt die Anteilnahme inmitten moralisch erwogener Schlupflöcher zuweilen auf der Strecke. Statt kalkulierender Berechnung hätte Justins Geschichte etwas mehr Herz vertragen können, damit der Schluss noch stärker widerhallt.
Nichtsdestotrotz glückt Juror #2 ein fesselnder Thriller. Hier dürfen wir originäres Unterhaltungskino ganz ohne Franchise- oder Remake-Anbindung erleben, und das, nachdem der Film fast nicht ins Kino gekommen wäre. Schon allein dafür ist es wert, ein Ticket zu lösen.
Am Ende muss ohnehin jeder und jede ein eigenes Urteil fällen – was in einem Lichtspiel- statt Gerichtssaal, Seite an Seite mit anderen Kinosessel-Geschworenen, beim Abspann gern ausdiskutiert werden darf. Nur eines ist sicher: Clint Eastwood hat es mit 94 Jahren immer noch drauf.