Es passiert schon mal, dass in Berlin eine Straße gesperrt wird, weil mal wieder ein Filmteam anrückt. Der Verkehr wird dann vorschriftsgemäß umgeleitet, die Stars geben höflicherweise eine Handvoll Autogramme, und die pflichtbewussten Regieassistenten geben acht, dass die Schaulustigen sich nicht zu penetrant aufführen. Als John Woo in Hongkong The Killer drehte, ging es nicht ganz so gesittet zu.
Nicht nur, dass während des Drehs zehntausende Kugeln aus echten Waffen abgeschossen wurden, das Ganze wirkte auch noch so realistisch, dass Passanten einer Straßenbahn dachten, es handele sich um einen tatsächlichen Raub. Hongkong stand einen Tag lang Kopf, und bald darauf auch die Filmwelt, denn was da über die Leinwände flackerte, setzte Maßstäbe in Sachen Actionfilm.
Werd‘ ich nicht Priester, werd‘ ich eben Regisseur
Ein Priesterseminar lehnte John Woo ab, und so ging der Verschmähte eben zum Film. Nach einer Ausbildung als Regieassistenz bei dem großen Chang Che drehte er seinen Debütfilm The Young Dragons mit Kampf-Choreografien des noch unbeleckten Jackie Chan und legte sich nach diversen Komödien schließlich auf das düstere Gangstergenre fest. Das war eigentlich – ähnlich wie der Western – schon lange totgesagt, aber mit City Wolf – A Better Tomorrow und spätestens mit The Killer schaffte es der junge Chinese, wieder frisches Blut durch seine Adern zu pumpen.
Oder viel eher aus seinen Adern, denn was an den Filmen von John Woo von Anfang an besonders auffiel, war seine ästhetisierte Gewaltdarstellung, derer sich heute Regisseure wie Quentin Tarantino ungeniert bedienen. Woos Vorgehen war dabei durchaus plausibel, denn statt einfach nur stupide draufzuhauen, verband er in seinen Werken die Ästhetik der eleganten Schwertkampffilme aus seiner Heimat mit westlichen Gangsterepen à la Martin Scorsese, dem er The Killer auch gleich widmete.
Surreale Halluzinationen eines besseren Lebens
In dem Klassiker des Hongkong-Gangsterdramas blendet der selbstzweifelnde Profikiller Jeff versehentlich eine schöne Sängerin, deren Augenoperation er daraufhin finanzieren will. Die Geschichte, die irgendwo zwischen Die wunderbare Macht (Douglas Sirk) und Der eiskalte Engel (Jean-Pierre Melville) changiert, verhandelt in erster Linie düstere Themen wie Verrat, Pflichtgefühl versus Gewissensbisse und die ewige Schuldfrage.
Aber in den Filmen von John Woo gibt es auch immer noch die andere Seite. Moralische Werte kommen bei ihm nicht zu kurz, und immer wieder symbolisieren geradezu poetisch flatternde Tauben Reinheit und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Das würdigte auch die Jury von Venedig 2010, die den Regisseur mit einem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk auszeichnete, und seinen Werken das Gefühl von „surrealen Halluzinationen“ unterstellte.
Actionszenen wie Ballettchoreografien
Bevor John Woo aber in die Staaten ging und dort den Studios zu kommerziellen Erfolgen wie Im Körper des Feindes oder Mission: Impossible 2 verhalf, definierte er in seiner Heimat maßgeblich die Strukturen des Heroic Bloodshed. Der chinesische Originaltitel von The Killer, der übersetzt Blutvergießen zweier Helden lautet, beschreibt das opernhafte Action-Subgenre geradezu umfassend.
Stilisierte Gewalt in beinahe ballettartig auschoreografierten Actionszenen verbindet sich mit einer sentimentalen Story, massenweise Statisten werden vom Helden umgemäht. Und wenn dann im Laufe des Showdowns der weiß gekleidete Gegner stirbt und hoffentlich auch die Opfer Rettung erfahren – dann, ja dann ist die Hongkong-Blutoper perfekt.
Mit Eigenwillen zum Erfolg
Aber zurück zu The Killer. Der bekennende Musical-Fan John Woo nahm den Schnitt seines Werkes selbst vor und montierte die Actionsequenzen im Rhythmus der Musik. Der einzige, der mit dem Resultat so gar nicht zufrieden war, war Produzent Hark Tsui, selbst Regisseur bedeutender Werke der Hongkong New Wave wie Wir kommen und werden euch fressen. Die Zeit, um persönlich noch ein wenig an dem Film herumzuschnippeln war knapp, und als die von ihm geächtete Version doch noch große Erfolge feierte, war Hark Tsui angeblich so wütend, dass er seine halbe Büroeinrichtung aus dem Fenster warf.
Die künstlerische Selfmade-Attitüde hat sich für John Woo letztlich auf jeden Fall gelohnt. Selbst wer The Killer nicht gesehen hat, hat aber zumindest schon einmal etwas von ihm gehört. Zum Beispiel in Jackie Brown von Kultregisseur Tarantino: „Zeig diese Wumme nur einmal im Kino und jedes Arschloch will eine haben, das ist ’ne todsichere Sache. Als dieser Hong Kong – Streifen raus kam, wollte jeder Nigger auf der Welt ’ne 45er und die wollten nicht bloß eine – die wollten zwei. Weil jeder THE KILLER sein wollte.“
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1989 bewegte:
Drei Filmleute, die geboren sind
21. Juli 1989 – Juno Temple, Holly Robinson-Verschnitt aus The Dark Knight Rises
23. Juli 1989 – Daniel Radcliffe, berühmter Zauberlehrling aus Harry Potter und der Stein der Weisen
14. Oktober 1989 – Mia Wasikowska, Alice aus Alice im Wunderland
Drei Filmleute, die gestorben sind
30. April 1989 – Sergio Leone, Regisseur von Für eine Handvoll Dollar
11. Juli 1989 – Laurence Olivier, Shakespeare-Darsteller, z.B. Hamlet
06. Oktober 1989 – Bette Davis, die Gouvernante aus Hölle, wo ist dein Sieg
Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – Rain Man von Barry Levinson
Goldene Palme – Sex, Lügen und Video von Steven Soderbergh
Goldener Löwe – Die Stadt der Traurigkeit von Hsiao-hsien Hou
Die kommerziell erfolgreichsten Filme waren
Indiana Jones und der letzte Kreuzzug von Steven Spielberg
Batman von Tim Burton
Zurück in die Zukunft II von Robert Zemeckis
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
24. März 1989 – Der Öltanker Exxon Valdez löst vor Alaska die schlimmste Umweltkatastrophe der Seefahrt aus
04. Juni 1989 – Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, China
09. November 1989 – in Berlin fällt die Mauer