Ein Tag mit Nicole Kidman und dem bisher besten Film in Cannes

23.05.2017 - 10:25 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
How to Talk to Girls at Parties
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Nicole Kidman ist die Königin von Cannes, auch im Familienhorror The Killing of a Sacred Deer und How to Talk to Girls at Parties. Der bisher beste Film des Festivals ist ein anderer: The Florida Project.

Es gibt Lebenskrisen, die dauern fünf Minuten. Fünf Minuten zum Beispiel im Café im Marché du Film, wo die Filmkäufer und -verkäufer sich täglich stärken, bevor sie wieder an ihre teuer erkauften Stände auf dem Marktgelände zurückkehren. Da stehe ich mit einem abgepackt schmeckenden Caesar's Salad und einer dreiviertel aufgewärmten Quiche und stelle meine Lebensentscheidungen und - wichtiger - die Programmplanung in Frage. Weil mein Blick hier, im kommerziellen Herzen des Festival Cannes, über einen anderen Tisch schweift, und da liegt in einschüchternder Selbstverständlichkeit eine frische Brokkoli-Blume, eine Büchse Thunfisch (mindestens 300 Gramm) und eine einzelne, ideal gereifte Avocado. "Mache ich Cannes falsch? Habe ich es immer falsch gemacht? Und isst dieser Typ wirklich diese mächtige Büchse Thunfisch?", schießt es mir durch den Kopf, als ich mich aufmache in den zweiten Nicole Kidman-Film des Tages: How to Talk to Girls at Parties nach einer Science-Fiction-Kurzgeschichte von Neil Gaiman. Der Morgen hatte mit dem familiären Horror in The Killing of a Sacred Deer begonnen, in dem Giorgos Lanthimos die Eltern Kidman und Colin Farrell vor eine unmögliche Entscheidung stellt.

Lanthimos kreiert mit Ko-Autor Efthymis Filippou eigene Universen mit sonderbaren Gesetzen, ähnlich den Eltern in Dogtooth, die ihren eingesperrten Kindern Wörter mit falschen Bedeutungen beibringen. Das in The Killing of a Sacred Deer ähnelt unserem etwas mehr als die Anti-Tierverwandlungs-Dating-Studie The Lobster, ebenfalls mit Colin Farrell, die 2015 in Cannes lief. Farrell spielt Steven, einen erfolgreichen Herzchirurgen in den Staaten. Seine Ehefrau Anna (Nicole Kidman), Augenärztin, führt eine Klinik. Die Kinder Bob (Sunny Suljic) und Kim (Raffey Cassidy) sind artig. Die einzige Irritation bildet der junge Martin (Barry Keoghan, der irgendwann mal als junger Joel Edgerton gecastet werden muss), mit dem sich Steven heimlich während der Arbeit trifft und dem er teure Geschenke macht. Nun erwartet der erprobte Lanthimos-Zuschauer bei der geringsten Andeutung das Schlimmste. Zu den Talenten des Griechen gehört es allerdings auch, mit Erwartungen zu brechen und sie gleichzeitig zu toppen. Erst versucht Martin, Steven in die Rolle des Ersatzvaters neben seiner von Alicia Silverstone gespielten Mutter zu drängen. Dann offenbart er einen dunklen Plan. Steven hat eine Schuld auf sich geladen und nur eine archaische Opfergabe kann diese begleichen. Sonst drohen noch schrecklichere Konsequenzen.

Aufs wesentliche heruntergekocht, besitzt The Killing of a Sacred Deer den Plot eines Horrorfilms. Eigentlich fehlt nur Patrick Wilson für einen Blumhouse-Schocker über die Missetat eines Vaters, deren Folgen seine Familie in Angst und Schrecken versetzen. Im Universum Lanthimos' sind Colin Farrell und Nicole Kidman nun genau die richtigen, um den gewohnten, ausdruckslosen Singsang der Dialoge vorzutragen (Auf die Frage eines Kollegen, wie's der Familie geht, antwortet Steven einmal: "Our daughter started menstruating last week"). Wenn in Gesprächen aufs Absurdeste mit den Normen sozialen Umgangs gebrochen wird, sind die Filme von Lanthimos und Filippou ganz bei sich. Diese gestelzte Awkwardness gilt es zu ertragen oder zu genießen. In The Killing of a Sacred Deer fügt sie sich recht gut in den sich langsam (sehr langsam) ausbreitenden Horror ein, in dem ein Mann der Ratio mit dem wissenschaftlich Unerklärlichen konfrontiert wird. Daraus entwickelt sich eine griechische Tragödie der Marke Lanthimos, das heißt erdrückende Opern-Arien und dissonante Streicher begleiten das emotional komödiantisch unterkühlte Geschehen. Das wird in teils strengen Bildkompositionen eingefangen, die sich mit einer paranoiden Fischaugen-Optik abwechseln. Irgendjemand schaut von oben zu auf dieses Drama und wenn es ein Lanthimos-Fan ist, lacht er.

Nicole Kidman spielt wie geschaffen für Lanthimos' Deadpan und sie spielt wie geschaffen für John Cameron Mitchells extrovertierte Punk-Romanze How to Talk to Girls at Parties. 2017 gehört Kidman schon jetzt. Für ihre Rolle als Ehefrau eines gewalttätigen Skarsgårds in der HBO-Serie Big Little Lies erhielt sie ihre besten Kritiken seit langem. Beim Festival Cannes ist sie in Top Of The Lake: China Girl, Sofia Coppolas Die Verführten, dem Lanthimos und der Neil Gaiman-Verfilmung zu sehen. Vier Tage hintereinander Kidman pur. How to Talk to Girls at Parties zeigt sie von ihrer spaßigen Seite, ähnlich wie ihre vergnügliche Schurkenrolle in Paddington. Queen Boadicea heißt sie diesmal, sieht aus wie Vivienne Westwoods jüngere Schwester, ist aber keines der Aliens, die es 1977 ins graue Croydon verschlägt. Eines davon, Zan (Elle Fanning), begnügt sich nicht damit, in einer Pop Art-Villa Krautrock von einem anderen Stern zu hören. Sie will ihre 48 Stunden auf Erden nutzen. Also folgt sie Enn (Alex Sharp), der sich sogleich in das extraterrestrische Wesen verliebt. Wie auch nicht, entzückt Zan doch selbst, wenn sie dem jungen Mann beim ersten Kuss in den Mund kotzt. Zans Alien-Ältere haben etwas gegen diesen Ausbruch aus ihrer knallbunten Konformität und so ist das Aufeinandertreffen von Punks und Aliens unvermeidlich.

Im Vergleich zu Shortbus und Hedwig and the Angry Inch wirkt der neue Film von John Cameron Mitchell etwas zahm. Als jugendliches Abenteuer besticht er dafür mit einem grundanständigen Sympathiefaktor. Der kann aus jedem Detail des Production Designs und jedem Latex-Millimeter von Sandy Powells Kostümen abgelesen werden, vor allem aber der Instant-Chemie von Elle Fanning und Alex Sharp. Als Loblied auf kreative und sexuelle Vielfalt und Individualität bildete How to Talk to Girls at Parties das ideale Gegenmittel zur griechischen Horror-Tragödie. Wobei sich Fanning mit ihrem weltfremden, analytischen Alien-Duktus ("We engaged in incomplete sexual activity") für das Lanthimos-Universum empfiehlt.

The Florida Project

Der beste Film des bisherigen Festivals, der Film, der mich nach einer okayen, aber nicht überwältigenden ersten Festivalwoche aus der Programmplanungskrise rettete, heißt The Florida Project. Der Nachfolger von Tangerine L.A. führt mit 35mm-Film in den Sunshine State an der Ostküste. Millionen Touristen besuchen dort jedes Jahr Disney World in Orlando. Manche davon stranden dank einer Verwechslung im Magic Castle Inn, das es schon lange nicht mehr mit den komfortablen Resorts rund um den "glücklichsten Platz auf Erden" aufnehmen kann. Einst wurden die Motels den Parkattraktionen nachempfunden. Bröckelnde Pastellschlösser reihen sich am Highway aneinander. Mittlerweile bieten sie Familien Unterkunft, die aus dem sozialen Netz gefallen sind. Verschuldet oder arbeitslos, haben sie ihr Heim verloren oder nie besessen, kommen für Sozialbauten aber nicht in Frage. Die junge Halley (Bria Vinaite, die die Filmemacher bei Instagram entdeckt hatten) lebt mit ihrer aufgeweckten Tochter Moonee (Brooklynn Prince) in einem dieser Motelzimmer und zahlt 35 Dollar die Nacht. Tagein, tagaus streifen Moonee, ihre neue beste Freundin Jancey (Valeria Cotto) und andere Kinder übers Hotelgelände. Sie trampeln Manager Bobby (Willem Dafoe) auf den Nerven herum, bespucken Autos oder beobachten das skurrile Treiben am Pool. Der Themenpark nebenan spielt für die Kinder keine Rolle, ihr Zauberschloss haben sie ja schon.

Tatsächlich dominieren die Motels, Eisstände und Supermärkte die Weitwinkel-Aufnahmen als Hinterlassenschaften aus Alices Wunderland. Dieser Disney-Brutalismus scheint fast aus dem Bild zu platzen, so groß ist er, so klein sind wir, die sie mit Kinderaugen betrachten. Moonee, Jancey und ihre Freunde stellen sich als umwerfende Stärke von The Florida Project heraus, der von den Improvisationen seiner jüngsten Darsteller lebt, die offensichtlich viel zu viel Reality-TV geschaut haben. Die Geschichte ist spärlich gesät, sie spielt sich unter den Erwachsenen ab, als es Halley immer schwerer fällt, die Miete mit legalen Methoden zu finanzieren. Für die widerspenstigen Kleinen, die süßen Disney-Kids fremder kaum sein könnten, eröffnet sich dafür alle zehn Minuten ein neues Abenteuer, dem sie nachscheuchen. The Florida Project verfällt glücklicherweise nicht in die Romantisierung der Armut oder, auf der anderen Seite, ihrer Ausschlachtung fürs wohlig in den Sessel gekuschelte Kinopublikum. Es ist vielmehr eine furiose Momentaufnahme der Freundschaft, die magisch hervorsprießt, egal wie widrig die Umstände. Es bleibt nur noch zu sagen: Merkt euch diesen Film vor.

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