Freier Medienzugang - Was Deutschland von den USA lernen kann

09.07.2018 - 08:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
Was Deutschland von den USA lernen kann
Warner Bros. / Concorde / Tobis
Was Deutschland von den USA lernen kann
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Das US-amerikanische Altersempfehlungssystem hat viele Macken, von denen auch die Filmproduktion selbst betroffen ist. Staatliche Eingriffe in die Verfügbarkeit einzelner Titel gibt es dafür keine. Und generell herrscht ein freierer Umgang mit Filmen als hierzulande.

Erste Kinobesuche ohne volljährige Begleitung machen nur halb so viel Spaß, wenn dabei nicht auch die filmische Erfahrung selbst zum Teil einer vorübergehenden Befreiung von Autoritäten wird. Besonders prägend kann jenes Bemühen um Einlass in vorgeblich ungeeignete Filme sein, das für gewöhnlich eine breite Palette einfallsreicher Nervtöterei erforderlich macht: Modifizierte Schülerausweise, Weichquatschen der Mitarbeiter und heimliche Saalwechsel bilde(te)n den theoretischen Grundstock - nur im schlimmsten praktischen Fall braucht es erwachsene Hilfe durch Eltern oder gänzlich Fremde, die ihrerseits einfallsreich und notwendigerweise nervtötend ist. Jeder Jugendliche möchte Filme sehen, die nicht für sein Alter freigegeben sind. Aus gutem Grund gelingt ihm das in der Regel nicht. Und aus gutem Grund ist es wichtig, wenn er es doch schafft.

Unverbindliche Altersempfehlungen

Nicht zum Mythos filmischer Sozialisation taugt der verbotene erste Kinobesuch in den USA. Begleiteten Kindern und Jugendlichen ist es dort erlaubt, den Großteil der von der Motion Picture Association of America (MPAA) bzw. der Classification and Rating Administration (CARA) geprüften Filme zu sehen - auch die überwiegend an Erwachsene gerichteten Produktionen mit R-Rating (siehe Altersfreigaben und Jugendschutz in den USA). Überhaupt handelt es sich bei diesen Ratings, anders als bei deutschen Freigaben, um rechtsunverbindliche Empfehlungen, deren Nichtbeachtung weder für Betreiber noch Schutzbefohlene eine Konsequenz hat. Das Wall Street Journal  beschreibt die eigenverantwortliche Einhaltung der MPAA-Vorgaben durch US-Kinos als Zugeständnis an Eltern und Regierungsvertreter gleichermaßen. Die einen sollen auf sorgfältige Filmtheater vertrauen, die anderen keine Verbindlichkeiten schaffenden Gesetze erlassen.

Mehr: FSK - Index - Zensur: Ist das noch zeitgemäß?

Dem Selbstverpflichtungsmodell der in der National Association of Theatre Owners (NATO) organisierten Ketten steht die tatsächlich freiwillige Missachtung von Altersempfehlungen durch unabhängige Kinos gegenüber. Das New Yorker IFC Center  beispielsweise gestattete Jugendlichen den Zutritt in Vorstellungen des laut MPAA nicht für Personen unter 18 Jahren geeigneten Films Blau ist eine warme Farbe, dessen höchstmögliche Einstufung ein größeres Publikum von vornherein ausschloss. Produktionen nämlich, die das kommerziell unlukrative NC-17-Rating erhalten, werden von Mitliedern der NATO gar nicht erst ins Programm genommen - und viele Medienanbieter weigern sich, für sie zu werben. Der bis heute erfolgreichste NC-17-Film, Paul Verhoevens Showgirls, spielte im Kino 20 Millionen Dollar ein und galt damit zunächst als finanzielles Debakel. Kaum ein Hollywoodstudio möchte das Risiko einer solchen Veröffentlichung eingehen, die Filme werden deshalb meist zurechtgestutzt.

Blau ist eine warme Farbe

Viele der zahlenmäßig überschaubaren Titel , die in den USA ohne Zugeständnisse mit NC-17-Rating erschienen sind, erhielten hierzulande eine Alterskennzeichnung ab 16 Jahren. Umgekehrt tragen jene Filme, die von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) sogar für Erwachsene keine Freigabe erhalten, in ihrer Heimat oftmals das mildere R-Rating-Siegel. Diese Diskrepanz lässt sich durch einen bewertungsphilosophisch simplen, kulturell hingegen deutlich komplexeren Unterschied in der Gewichtung von Sex- und Gewaltdarstellungen erklären. Mehr oder weniger explizite Erotik bescherte FSK-16-Filmen wie Showgirls, Die Träumer und Shame eine NC-17-Einstufung. Und mehr oder weniger krasse Brutalitäten führten bei Rated-R-Titeln wie John Rambo, Evil Dead oder Hostel 2 zur Ablehnung der FSK-Freigabe.

Sex und Gewalt - die Mentalitätsunterschiede der Prüforgane

Alle in Deutschland breit ausgewerteten US-Produktionen unterliegen somit einer doppelten Prüfung. Sie durchlaufen im Herstellungsland die Selbstregulierung der MPAA sowie das deutsche Verfahren der FSK - und manche Filme, die schon im MPAA-Prozess Federn lassen mussten, werden von den Rechteinhabern hierzulande zusätzlich gekürzt, um das für kommerziellen Erfolg und rechtliche Sicherheit unentbehrliche FSK-Kennzeichen zu erhalten. In den USA werden die intakten Originalfassungen dann meist auf DVD und Blu-ray nachgereicht, die Veröffentlichung von Unrated-Versionen ist sogar ein eigener Geschäftszweig. Bei uns verhält es sich genau andersrum: Das mildere Urteil der Kinoprüfungen wird durch strengere Einschätzungen für Heimkinomedien ersetzt, weil Minderjährige leichter Zugang zu ihnen hätten. In deutschen Kaufhausregalen stapeln sich ab 18 Jahren freigegebene Rumpffassungen zahlreicher Genrefilme.

Die amerikanische Kritik an der Kennzeichnungspraxis der MPAA überschneidet sich demzufolge kaum bis gar nicht mit deutschen Einwänden gegen das FSK-Verfahren, die Kriminalisierung von Kunstwerken oder langwierige Debatten um Horrorfilme als Feindbild. Vielmehr steht einerseits die untransparente personelle Struktur der MPAA bzw. CARA im Fokus: Über Altersempfehlungen entscheidet eine anonyme Gruppe von Eltern, die nach Aussagen ehemaliger Mitarbeiter auch Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben müssen. Zum anderen geht es um unterschiedliche Maßstäbe nicht nur bei der Bewertung von Sex- und Gewaltdarstellungen. In der Dokumentation Zensur unter der Gürtellinie - Hollywoods Moralhüter beklagen US-Filmschaffende, die Prüfer der MPAA würden sowohl Independent- und Studioproduktionen als auch homo- und heterosexuelle Inhalte ungleichwertig behandeln.

American Psycho

So berichtet Kimberly Peirce, deren später oscarprämierter Film Boys Don't Cry ursprünglich ein NC-17-Rating erhielt, vom kuriosen Prüfergebnis der MPAA-Vorlage: Statt detailliert gezeigter Prügeleien und Kopfschüsse sei der "zu lange Orgasmus" während einer queeren Sexszene beanstandet worden. Regisseurin Mary Harron stützt die These vom Ungleichgewicht. Ihre Verfilmung des Skandalromans American Psycho habe erst nach Entfernung eines 18-sekündigen Dreiers das gewünschte R-Rating bekommen – offenbar sei in den Augen der MPAA nicht uferlose Gewalt, sondern harmloser Sex geeignet, die Gesellschaft zu spalten, heißt es. Natürlich kommt auch John Waters zu Wort, an dessen Kleinstadtsatire A Dirty Shame das NC-17-Siegel geheftet wurde. Alle Kinder und Jugendlichen, sagt der schwule Kultfilmemacher, hätten im Internet heute mehr Pornographie gesehen als ihre Eltern.

MPAA-Ratings als systemischer Faktor

Die MPAA-Prüfer scheinen strichlistenartig vorzugehen. Es werden Kraftausdrücke und angeblich sogar die körperlichen Stoßbewegungen bei Sexszenen gezählt – zwei Mal "Fuck" sagen genügt, damit ein sonst zurückhaltender Film das R-Rating erhält. Solche ländertypischen Eigenheiten gibt es auch in Europa. Die britische Freigabebehörde BBFC stieß sich jahrzehntelang an der Darstellung von Kopfnüssen, Nunchakus und Wurfsternen, die oft aus Filmen aller Altersklassen entfernt werden mussten. Bei der FSK geht es eher um eine Orientierung an Kontexten. In Spielfilmhandlungen eingebundener Sex ist selbst als Hardcore-Variante kein Problem für die Erteilung einer Jugendfreigabe. Und bestimmte gewalttätige Szenen werden geduldet, wenn auflockernder Humor oder die Vermittlung einer positiv empfundenen Botschaft sie abschwächt (FSK-Sprecher Stefan Linz im Interview: "entscheidend ist die damit verbundene Aussage").

Es dürfte recht unwahrscheinlich oder höchstens in Einzelfällen denkbar sein, dass deutsche Filme auf eine bestimmte FSK-Freigabe hin produziert werden, die gewünschte Kennzeichnung also gestalterischen Einfluss nimmt. In den USA sind freiwillige Beschränkungen dagegen historisch gewachsen, vom Hays Code und der Selbstzensur bis zur problematischen Allianz zwischen Hollywood und China. Das MPAA-Rating gilt als systemischer Faktor, der alle Bild- und Tonebenen bestimmen kann. Gedreht werden Filme, die von, aber nicht mit Gewalt erzählen, und die in unheimlichen Milieus verortet sind, aber diese Milieus schon sprachlich nicht angemessen wiedergeben dürfen. Plötzlich beginnen finsterste Gesellen höflich zu fluchen, brüllen PG-13-kompatibel "freaking douchebag" statt "fucking moron". Im Kino laufen Comicspektakel als klinisch saubere Zerstörungsorgien und Erotikthriller mit hochgezogenen Bettdecken vor schummrigem Kaminfeuer.

Showgirls

Dennoch gibt es nicht den geringsten Grund für Paternalismus. US-amerikanische Produzenten haben genau wie deutsche Anbieter die Möglichkeit, Filme ungeprüft zu veröffentlichen, da hier wie dort keine gesetzliche Vorlagepflicht besteht. Im Gegensatz zur deutschen Rechtslage allerdings, die Vertriebsbeschränkungen und schlimmstenfalls -verbote für angeblich gewaltverherrlichende und strafrechtlich relevante Filme vorsieht, können US-Verleiher ihre Titel auf dem heimischen Markt problemlos anbieten. Indizierungen und landesweite Beschlagnahmungen von Filmen sind in den USA ebenso undenkbar wie die individuelle strafrechtliche Verfolgung eines Programmanbieters, der nach Paragraph 131 des Strafgesetzbuches eingezogene Unterhaltungsfilme zuvor nicht der FSK oder Juristenkommission der SPIO vorlegte.

Der staatliche Schutz des Films

Auch in manchen US-Bundesstaaten gab es früher Aufführungsverbote für einzelne Filme, im Vordergrund standen dabei scheinbare Verletzungen des religiösen Empfindens, die mit regionalen Gesetzen in Konflikt traten. Der zum geflügelten Wort avancierte Satz "banned in Boston" beschreibt wiederum eine vergangene Sittenwachtpraxis, die auf Zensurbestrebungen einer im späten 19. Jahrhundert gegründeten Aktivistengruppe zurückgeht und sich auf Bücher und Theaterstücke beschränkte. Beides ist selbstredend nicht mit der systematischen Medienbeschlagnahmungswelle bundesdeutscher Gerichte zu vergleichen. Weder gibt es in den USA ein Pendant zur Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) noch prüft die MPAA nach jugendschutzrechtlichen Kriterien (wie es die FSK tut, die übrigens nach ihrem Vorbild errichtet wurde).

Allerdings muss ein gesetzlich unreglementierter Medienkonsum bzw. -zugang kein Einfallstor für mangelhaften Jugendmedienschutz sein. Erstens überträgt der Staat den Eltern die Verantwortlichkeit - zahlreiche Orientierungshilfen stehen in den USA zur Verfügung, allen voran die 65 Millionen Mitglieder umfassende Non-Profit-Organisation Common Sense Media , die unter anderem Filme, Bücher und Videospiele auf Eignung für Kinder und Jugendliche prüft. Zweitens handelt die für Major-Filmstudios Lobbyarbeit betreibende MPAA ohnehin in vorauseilendem Gehorsam, weil sie ein großes Interesse daran hat, Kundschaft und Gesetzgeber zufrieden zu stellen. Klarer formuliert: Dass der Rede- und Pressefreiheit garantierende 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten seit 1952  auch Anwendung auf die Kunst des Films findet, ist nichts anderes als eine zivilisatorische Errungenschaft.

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