Als der Kannibalenfilm Raw vor neun Jahren in Cannes Premiere feierte, stand sofort fest, dass es sich bei der Regisseurin Julia Ducournau um ein großes Talent handeln musste. So selbstsicher und konsequent verband die Regisseurin in dem Horrorfilm Ekel-Effekte mit der spezifisch weiblichen Entdeckung der eigenen Gelüste. Fünf Jahre später folgte die frühe Einladung in den Film-Olymp mit Titane. Der nicht weniger verstörende Psycho-Trip über die grenzenlose Liebe zu Autos wurde 2021 mit dem Hauptpreis von Cannes ausgezeichnet, der Goldenen Palme.
Mit ihren ersten beiden Filmen hatte die Französin mal eben zwei der verstörendsten Horrorfilme der letzten zehn Jahre abgeliefert. Folgerichtig war ihr dritter Spielfilm Alpha der am meisten erwartete Beitrag des diesjährigen Festivals – und verwandelte sich in seine größte Enttäuschung.
In Alpha trifft ein Virus-Thriller auf ein Familiendrama
Julia Ducournaus Karriere ist noch vergleichsweise jung, aber ihr Markenzeichen wird jede:r nach nur wenigen Minuten eines ihrer Filme erkennen: Es ist der Körperhorror. Wenig macht ihren filmischen Blick so neugierig wie Verletzungen und Anomalien des menschlichen Körpers. Haut, Fleisch und Knochen sind so etwas wie der Rohstoff, aus denen ihre bisherigen Filme Identitätskonflikte und -wandlungen formen.
In Alpha fällt dieser Interessenkreis schon im Auftakt auf. Da schaut die Kamera auf einen rötlich-staubigen Erdboden herab, der von Rissen durchzogen ist, und landet darüber in den Einstichwunden der Armbeuge eines Süchtigen (Tahar Rahim, der dank Madame Web nun offiziell ein "Marvel-Bösewicht" ist). Von da reist der Film direkt zu einer groben Tattoo-Nadel weiter, die den Oberarm der 13-jährigen Alpha (Mélissa Boros) malträtiert. Ein großes "A" wird ins Fleisch geschnitzt. Das versetzt Alphas Mutter (Golshifteh Farahani) in Aufregung.
In diesem Frankreich der späten 1980er geht ein Virus um, der die Körper der Kranken langsam zu Marmor kalsifiziert. Für die bemühte AIDS-Metapher und den Körperhorror ist also gesorgt. Über dem ausgemergelten Tahar Rahim, der Alphas Onkel Amin spielt, wird zudem die Heroin-Epidemie aufgegriffen, die französische Vorstädte in den 80er Jahren heimsuchte (mehr dazu beim Guardian ). Züchteten Ducournaus frühere Filme den Horror organisch aus ihren Charaktergeschichten, wirkt der Virus-Thriller in Alpha wie ein verzweifelter Versuch, das Familiendrama aufzupeppen. Ein Versuch, der misslingt.
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Der Körperhorror wird unter einem Berg Metaphern begraben
Alpha mäandert durch das Drama einer übervorsichtigen Mutter, ihrer experimentierfreudigen Tochter und des Onkels, der sich mit jedem Einstich weiter zerstört. Abstecher ins Krankenhaus, wo Alphas Mutter sich für die Infizierten aufopfert, laben an deren marmornen Adern und Muskeln. Das wirft unangenehme Fragen über die Fetischisierung von AIDS-Kranken zugunsten eines unterdurchschnittlichen Festivalfilms auf.
Mehr Leben und Empathie steckt im Porträt des Onkels Amin, dessen Tragik Tahar Rahim unter dem Metaphern-Geröll herauszuschlagen vermag. Alpha ist anfangs von dem Fremden abgestoßen, aber entdeckt in ihm ein Ventil für jene freiheitlichen Impulse, die ihre Mutter auf die Palme bringen.
In Einzelmomenten zeigt auch Alpha die Gründe, warum Julia Ducournau dermaßen hohe Wellen in der (europäischen) Filmwelt geschlagen hat: der energetische Stil, die Popsongs, der unerschrockene Blick aufs (weibliche) Erwachsenwerden. Es überwiegt jedoch ein Film, der zu groß für seine Geschichte und die erzählerischen Fähigkeiten seiner Regisseurin geraten ist. So eine Goldene Palme bringt eben nicht nur Glück, sondern auch viel Druck mit sich. Dieser Druck ist in Alpha dermaßen allgegenwärtig, dass der Film darunter selbst versteinert.
Wir haben Alpha bei den Filmfestspielen in Cannes gesehen, wo er im Wettbewerb um die Goldene Palme seine Weltpremiere gefeiert hat. Es gibt noch keinen deutschen Kinostart für den Film.