Warum ich zum Weinen gerne ins Kino gehe

06.09.2019 - 08:50 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Weinen in Cake, Get Out und Call me by your name
Warner / Universal / Sony
Weinen in Cake, Get Out und Call me by your name
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Das Kino ist ein Ort, an dem der Zuschauer seinen Tränen freien Lauf lassen kann - und dafür sogar noch Geld bezahlt. Denn nirgends flennt es sich so gut wie im Dunkeln vor der großen Leinwand.

Ich gestehe: Als Kind war ich eine waschechte Heulsuse. Mittlerweile sind meine Tränendrüsen aber eher unterbeschäftigt. Mit einer Ausnahme: dem Kinobesuch. Im Kino darf geheult werden, was das Zeug hält.

Normalerweise ist das allzu offene Zurschaustellen extremer Emotionen in unserer Gesellschaft eher verpönt - insbesondere das Zeigen trauriger Gefühle, bei denen sich das eigene Gesicht in ein rotäugig aufgedunsenes Trauergemälde verwandelt. Dabei kann eine gute Flenn-Session sehr reinigend sein. Und wenn wir dann nicht mal über die eigenen Leiden heulen: Umso besser!

Das Dunkel des Kinosaals ist der perfekte Ort für diese therapeutischen Sitzung. Hier kann ich still und heimlich plärren, bis der Arzt eben nicht kommt. Und dabei auch noch Freude daran haben. Denn ja, so paradox das klingt: Weinen im Kino kann Spaß machen.

Die Gefühle im Kino einfach mal (unauffällig) rauslassen

Heul' doch! -- Tobey Maguire in Spider-Man 3 (2007)
Spider-Man Tobey Maguire heult

Im Kino sieht dich niemand weinen. Es ist dunkel. Alle blicken nach vorn. Die Kinolautsprecher übertönen die meisten Geräusche im Zuschauerraum. Dass ich eher ein Leise-Tränen-Vergießer als ein Laut-Aufschluchzer bin, kommt mir hier zugute. Unbemerkt lasse ich das Salzwasser bei Drei Schritte zu Dir herabtropfen, um es später unauffällig wieder abzuwischen.

Manchmal fallen mir die unregelmäßige Atmung meiner Sitznachbarn und die gelegentlichen Taschentuchschnäuzer in nächster Nähe auf: Doch dann ist das gemeinsame Weinen mit Fremden oder Freunden eine verbindende Erfahrung. Auch andere werden offenbar vom Leinwandgeschehen und Darstellern wie dem immer wieder meine Tränen einfordernden Heul-Profi  Michael Fassbender bewegt. Wir machen das zusammen durch. Und spätestens, wenn nach dem Ende des Abspanns das Licht wieder angeht, hatte jeder Zeit, die eigenen Wangen wieder zu trocknen.

Shame: Kaum einer weint so schön (und viel) vor der Kamera wie Michael Fassbender

Natürlich kann ich auch Zuhause auf dem Sofa beim Filmegucken weinen, aber der Aufführort des Kinos macht die "großen Gefühle" auf der großen Leinwand viel besser erfahrbar. Eben ganz ohne Ablenkungen und als volle Dröhnung mit Surround-Sound.

Das merke ich häufig erst im Nachhinein: Filme, die mir beim Kinobesuch Rotz und Wasser abverlangt haben, können beim erneuten Schauen zu Hause häufig nicht dieselbe intensive Wirkung entfalten. (Nur bei Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs funktioniert die Wasserversorgung natürlich immer.)

Wir sollten im Kino stolz zu unseren Tränen stehen

Chantal, heul' leise! -- Elyas M'Barek in Fack ju Göhte (2013)
Tom Hanks weint in Terminal

Schon früh wurden Tränenzieher-Genre wie Melodramen in Übersee abfällig als "Weepie"  (von "weep", weinen) oder "Tearjerker" (Schnulze oder buchstäblich: "Tränenreißer") bezeichnet. Bis heute sehen viele die bewusste Provokation von Tränen beim Publikum eher als niedere Kunst an. Wenn wir weinen, dann weil wir in Filmen wie Cake vom Schauspiel, der fiktiven Story, der Lichtsetzung und allen voran der Musik manipuliert wurden.

Doch abseits von Einordnungen wie Kitsch oder ehrlichen Gefühlen, steht für mich dabei an erster Stelle die Beobachtung: Wenn ich weine, hat ein Film für mich emotional funktioniert. Dafür sollte sich niemand schämen.

Vielleicht wurde ich ja manipuliert, aber ich habe etwas empfunden. Das Kunststück - echte Empfindungen beim Schauen einer fiktiven Geschichte hervorzurufen - kreide ich jedem Film hoch an, der es vollbringt.

Kate Winslet weint in Liebe braucht keine Ferien

Überhaupt: Warum ist das Weinen als starke Emotion weniger akzeptiert als der herzrasende Adrenalinschub im Actionfilm, das angstvolle Erschrecken im Horrorfilm oder die Empörung über die Ungerechtigkeit in einem Drama. Auch das sind fiktiv erzeugte Gefühle. Ich denke, die meisten von uns gehen ins Kino, um auf die eine oder andere Weise unterhalten zu werden. Manche wollen dabei lachen, andere eher weinen. Doch wir bezahlen für die Unterhaltung und die damit verbundenen Empfindungen.

Ich bezahle im Kino meine eigenen Gefühle

Ich weine Süßigkeiten. Probier die Karamellbonbons, die sind lecker. -- Bing Bong in Alles steht Kopf

Während meines Studiums bin ich bei der Nebenlektüre für eine Hausarbeit über einen Satz von Richard Maltby  gestolpert, der mich bis heute nicht losgelassen hat: "Audiences go to the movies to consume their own emotions": Zuschauer gehen ins Kino, um die eigenen Gefühle zu konsumieren.

Matthew McConaughey weint in Interstellar

Sich die Wahrheit dieser Aussage einzugestehen, mag nicht jedem leicht fallen. Vielleicht sage ich mir ja auch, dass ich von einem Film intellektuell herausgefordert werden will. Doch auch der Genuss von Filmen abseits des Mainstreams, streichelt das emotionale Ego: Ich darf mich beim Schauen intelligent fühlen. Womit wir wieder beim Gefühl wären.

Doch ganz egal, mit welcher gefühlsgeladenen Erfahrung du das Kino verlasst: berührt, verärgert, erheitert, gelangweilt, verstört, beseelt ... irgendetwas hast du mit Sicherheit empfunden. Für mich gilt: Trauer ist eine der stärksten Emotionen, die ein Kinofilm erzeugen kann. Da ist es völlig in Ordnung, wenn ich am Ende von Call Me by Your Name fast wegschwimme in der Pfütze meiner Tränen (und denen von Timothée Chalamet).

Trauer weint in Pixars Alles steht Kopf

Für zwei Stunden habe ich fremde Gefühle zu meinen eigenen gemacht. Ich habe sie am eigenen Leib erfahren, kann sie danach befriedigt und befreit wieder hinter mir lassen - und später vielleicht sogar zugeben, bei Avengers: Endgame geweint zu haben. Schon Alles steht Kopf hat uns schließlich gelehrt: Es ist okay, hin und wieder zu weinen.

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Eine Heulsuse bin ich nicht mehr, aber dass ein Kinofilm mich zum Weinen bringt, führt mir vor Augen, dass ich immer noch zur mitfühlenden Spezies namens Mensch gehöre - ganz ohne ein Trauma selbst erfahren zu müssen. Dadurch sind Tränen keine negative, sondern eine positive intensive Erfahrung, für die ich auch gerne Eintritt zahle und die ich beim "Konsumieren" durchaus genieße. Denn ganz egal, welcher Film dich bewegt - Hauptsache, du lässt dich bewegen. Aber bitte nicht in den Popcorn-Eimer des Nachbarn weinen.

Gehst du auch gern zum Weinen ins Kino?

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