Mattscheibenvorfall - Kommentare

Alle Kommentare von Mattscheibenvorfall

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    über X

    Amerika braucht Jesus! Stattdessen bekommt es mit Maxine Minx den nächsten aufstrebenden Star. Mit X geht Regisseur und Drehbuchautor Ti West ein wenig mehr zurück zu seinen Wurzeln, wenn sich sein jüngstes Werk wieder deutlich spürbar an den Retro-Horror eines The House of the Devil (2009) anlehnt. Doch statt dem Okkultismus-Thriller widmet er sich nun sowohl dem ganz klassischen Slasher wie auch gleichermaßen dem Pornofilm. Zwei Genre, welche sich schon immer recht ähnlich waren. Ein Kino voller Körperlichkeit, Lust und Blicken. Immerzu Blicke. Blutige Moneyshots. Ein Film über das Filmemachen selbst sowie einer Industrie der Stimulation. Eine Liebeserklätung an das Kino und auch an die Kunst im Abseitigen.

    Aber X ist smarter als bloß das und West versteht es gekonnt, in seinem oberflächlich betrachtet eher simplen Plot den einen oder anderen Widerhaken zu platzieren. Mal ganz abgesehen von seinem feinen Gespür für Details und einem profundem Wissen über das 70er-Genrekino. Wer andere Filme von Ti West kennt, der könnte durchaus erahnen, dass er sich auch bei X bewusst Zeit nimmt und ein eher gemächliches Erzähltempo anschlägt, um eine drückende, unterschwellig bedrohliche Atmosphäre sorgsam aufzubauen, bevor sie sich entladen darf.

    Irgendwo zwischen Selbstermächtigung und Doppelmoral, Jugend und Alter, Schönheit und Vergänglichkeit und vor allem Sexualität entfesselt West in wunderschönen, grobkörnigen Bildern letztlich ein Blutbad in der sengenden Hitze des amerikanischen Hinterlandes. Immerzu konterkariert vom blechernen, vermeintlich religiösen Geseier aus dem Fernseher.

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    • 8

      Was sich hier hübsch als koreanischer Horrorfilm der eher leisen Gangart tarnt, das entpuppt sich als tief erschütterndes und feinsinnig psychologisches Familiendrama, in dem schnell verschiedene Wahrnehmungen verschwimmen und zu einem diffusen Zerrbild ihrer selbst werden. Schon der Einstieg in den Film gestaltet sich geradezu märchenhaft und sieht einfach wunderschön aus mit all seinen hellen Farben und dem vielen Licht, aber verlagert sich die Handlung erst einmal in das Elternhaus von Soo-yeon und Soo-mi, dann dominieren fortan sehr dunkle Farben und eher die Abwesenheit von Licht.

      Schnell spürt man, dass da irgendetwas nicht zu stimmen scheint in dieser eigenartig angespannten Familienkonstellation zwischen den beiden Mädchen, ihrem Vater und der Stiefmutter. Etwas scheint unausgesprochen im Raum zu stehen und die Figuren zu trennen, irgendetwas scheint geschehen zu sein, das diese vier Menschen am Esstisch entzweit hat. Anfangs bedient sich Regisseur Kim Jee-Woon noch zahlreicher klassischer Motive aus diversen Bereichen des Horrors und spielt mit Elementen aus dem Haunted House-Genre sowie einigen für das asiatische Horrorkino bekannte Bilder, doch mit zunehmender Handlung wird schnell deutlich, dass all diese Dinge die eigentliche Handlung nur verdecken und es offenbart sich ein zuweilen surreal anmutendes Drama.

      Das Erzähltempo ist eher ruhig, denn Kim Jee-woon lässt sich viel Zeit mit dem Aufbau der Handlungsstrukturen, aber da ist stets auch eine knisternde, angespannte Atmosphäre gegeben, die selbst alltäglichen Dingen etwas Unheilvolles gibt. Hier gehen Schrecken und Melancholie, Horror und Familiendrama Hand in Hand und werden in eleganter Optik und teils überraschenden Kameraeinstellungen transportiert. Es gibt einige sehr relevante Twists innerhalb der Handlung von A Tale of Two Sisters, welche an dieser Stelle selbstverständlich nicht verraten werden, die aber – so viel kann ich im Vorfeld sagen – sehr, sehr sorgfältig vorbereitet und aufgebaut werden, so dass eine Zweitsichtung definitiv Sinn macht. Kim Jee-woon führt den geneigten Betrachter ab einem gewissen Punkt geradezu unaufhörlich in die Irre und zerstört immer wieder sehr geschickt alle Erklärungen und Lösungen, welche man sich nach und nach für den rätselhaften Plot zu Recht gelegt hat.

      A Tale of Two Sisters ist zweifellos einer der eindrücklichsten Horrorfilme, welche ich in den letzten paar Jahren zu sehen bekommen habe, auch wenn ich ihn gar nicht so sehr in das Genre einordnen würde, bedient er sich dessen Strukturen und Mechanismen eher nur auf der rein formalen Ebene. Stattdessen erzählt Kim Jee-woon von einem psychologisch ganz hervorragend ausgearbeitetem Familiendrama und die tatsächliche Tragik, welche dem Ganzen innewohnt, hat mich letztlich sehr berührt. Es ist einer dieser Filme, welche sich still und leise klammheimlich unter die Haut schleichen und einen gruseligen Schauer nach dem anderen auslösen, sich im Kopf einnisten und dort auch bleiben und noch lange nachhallen.

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      • 10

        Sorcerer ist für William Friedkin das, was Fitzcarraldo für Werner Herzog und was Apocalypse Now für Francis Ford Coppola war, nämlich ein gnadenloser Trip ins Herz der Finsternis, kämpfend mit allerhand Problemen wie Ärger mit Teilen der Crew, Krankheiten, einem aus dem Ruder laufendem Budget oder plötzlichen Wetteränderungen, vor allem aber mit dem kostspieligen Perfektionismus seines akribischen Regisseurs.

        Mit French Connection (1971) und The Exorcist (1973) hatte Friedkin zwei Knüller an den Kinokassen hingelegt, konnte sich sein nächstes Projekt quasi aussuchen und versuchte sich an seiner ganz eigenen Vision von Le salaire de la peur (Wages of Fear, 1953) von Henri-Georges Clouzot. Und an den Kinokassen war Sorcerer dann ein handfester Flop. Ob es nun daran lag, dass der Film zeitgleich mit Star Wars in die Kinos kam, daran, dass Roy Scheider im Gegensatz zum ursprünglich geplanten Hauptdarsteller Steve McQueen weniger Starpower zu bieten hatte, oder vielleicht daran, dass Friedkin einfach an einem Publikum vorbei zielte, welches sich im Saal nebenan in märchenhafte Weltraumwelten entführen lassen wollte – genau lässt sich das nie sagen.

        Dabei ist Friedkin mit Sorcerer ein wahrlich atemberaubend spannendes und ungemein packendes Stück Abenteuerkino gelungen, welches eine enorme Dringlichkeit entwickelt und sich dabei nahezu vollkommen auf die Kraft seiner Bilder verlässt. Sorcerer ist eine Lehrstunde in Sachen Spannungsaufbau, erzählerischer Ökonomie und Präzision sowie Atmosphäre. Gesprochen wird wenig und Sorcerer als dialogarm zu bezeichnen, das kommt beinahe schon einer Untertreibung gleich. Aber das gesprochene Wort ist in Friedkins Meisterwerk der Spannung auch kaum von Nöten, wenn das Geschehen auf der Leinwand von ganz allein in seinen Bann zieht und zu fesseln vermag. Allein die Überquerung einer maroden Hängebrücke inmitten eines tosenden Tropensturmes ist perfekt inszenierte Spannung in ihrer reinsten Form, presst den Zuschauer förmlich in den Sitz und ist darüber hinaus noch fantastisch gefilmt. Und das ist bei weitem nicht der einzige Höhepunkt dieser beschwerlichen Fahrt 200 Meilen durch den unwegsamen Dschungel mit hochgradig empfindlichem Nitroglycerin im Gepäck.

        Und dann ist da noch Friedkins oberflächlich betrachtet flüchtig anmutende, elliptische Figurenzeichnung dieser vier Männer von überaus fragwürdiger Moral: ein Berufsverbrecher, ein Auftragsmörder, ein palästinensischer Terrorist und ein Wirtschaftsbetrüger treffen in diesem Höllenloch irgendwo im absoluten Nirgendwo zwischen Dreck, Armut, Krankheiten und unerträglicher Hitze aufeinander, jeder ist aus ganz bestimmten Gründen dort, ohne Ausweg, ohne Perspektive, ohne Hoffnung auf sein altes Leben. Quasi ihre ganz persönliche Hölle, vielleicht als eine Form der Wiedergutmachung ihrer Verfehlungen. Und so kommt ihnen die Suche eines US-Ölkonzerns nach Freiwilligen für ein Himmelfahrtskommando gerade recht, aber weniger als Hoffnung auf ein Entkommen, sondern vielmehr als tiefsitzendes Verlangen nach wenigstens irgendeiner Form der Abbitte, welche es für ihre alten Leben vielleicht zu leisten gibt – notfalls bis in den Tod.

        William Friedkin hat mit Sorcerer eine dieser seltenen Filmperlen erschaffen, welche heute unbedingt wieder entdeckt gehören. Zu Unrecht seiner Zeit untergegangen und ohnehin eben jener Zeit weit voraus, ist Friedkins Inszenierung von Leidenschaft geprägt und schenkt uns einen rauen, drückenden und hochgradig spannenden Abenteuerfilm voller unvergesslicher Bilder. Und am Ende bleibt der Zuschauer allein mit der bitteren Erkenntnis, dass die Mission zwar gemeistert ist, es aber absolut keinen Unterschied macht, denn das Unausweichliche wird lediglich etwas hinausgezögert.

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        • 8

          "Where's the mystery that makes everything worthwhile? We crave mystery, 'cause there's none left."

          Inhaltlich wie visuell könnte David Robert Mitchells dritter Film Under the Silver Lake von dessen Vorgänger It Follows kaum weiter weg sein, wenn nun der paranoide Horror der Vorstadt einem entrückten Los Angeles voller Geheimnissen weichen muss. Oberflächlich betrachtet breitet sich ein wilder Flickenteppich aus Versatzstücken der Popkultur, Anspielungen und Referenzen vor dem Zuschauer aus und Under the Silver Lake treibt lakonisch irgendwo zwischen den Eckpunkten Hitchcock, Polanski, Lynch und Anderson.

          Sam – dessen Namen wir erst durch den Abspann erfahren – begibt sich geradezu traumwandlerisch auf eine versponnene Odyssee durch eine Stadt voller Sackgassen, doppelten Böden und falschen Fährten. Ein sanfter wie gleichermaßen angenehm zielloser Trip ins Absurde ist das, eine geheimnisvolle Schnitzeljagd voller schräger Gestalten, Geheimcodes, Verschwörungstheorien, Rätsel, Mysterien und Paranoia, bei der Sam hilflos von einer kruden Episode in die nächste stolpert. Ein wenig wie Alice im Wunderland, nur folgen wir keinem Hasen, sondern einem Coyoten, und Alice verirrt sich in dessen Bau.

          Alles bleibt seltsam nebulös, wenn sich die Texturen der Jahrzehnte beginnen zu überlagern, und sinnhaft ist hier wenig zwischen Pizzakartons, Stinktier-Plagen, Comics, Super Mario, Frühstücksflocken, Stummfilm-Diven und Jalousien. Das alles ist großartig bebildertes Atmosphären-Kino mit einem grandiosen Score (abermals aus der Feder von Rich Vreeland), erhebt aber keinen allzu großen Anspruch auf Deutungshoheit, denn Under the Silver Lake will gar nicht erst dechiffriert werden und führt viel lieber ganz bewusst in die Irre.

          Vielleicht ist auch nichts davon real, vielleicht eine Art Wahn, wer weiß das schon so genau, doch für Sam wird die Suche nach dem Engel, der die Stadt der Engel scheinbar verlassen hat, zum einzigen Antrieb. Nur die finale Auflösung, welche es eigentlich gar nicht gebraucht hätte, die ist leider wenig gelungen und wird in ihrer Einfachheit dem ganzen Aufwand zuvor kaum gerecht. Das ist zwar schade, trübt für mich aber das Gesamtwerk Under the Silver Lake letzten Endes kaum: ein verspulter (Neo?) Noir, auf dessen seltsam verschlungenen Pfade ich mich sicherlich nicht zuletzt begeben habe.

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          • 8

            Zwölf Jahre lang hatte sich Robert Altman nach seinen desaströsen Erfahrungen rund um seinen Film Popeye von Hollywood mehr oder weniger abgewandt und fand im Mainstream kaum bis gar nicht mehr statt, als er 1992 mit The Player doch noch ins Haifischbecken zurückkehrte. Eine bissige wie ätzende Abrechnung mit dem System Hollywood und zynisch-befreiende Bewältigung seiner eigenen Erfahrungen sollte es werden und eine herrlichere Lehrstunde über Arbeitsprozesse beim Filmemachen habe ich seit The Stuntman von Richard Rush nicht mehr gesehen. Dem Vernehmen nach nahm er diesmal so einiges selbst in die Hand: jeden Schauspieler, den er kannte, rief er persönlich an und die allermeisten sagten bereitwillig zu.

            Einige spielen Rollen, die meisten allerdings sich selbst – und diese Besetzung sucht buchstäblich ihres gleichen mit solch illustren Namen wie Bruce Willis, Julia Roberts, John Cusack, Harry Belafonte, Cher, James Coburn, Burt Reynolds, Jeff Goldblum, Peter Falk, Susan Sarandon, Anjelica Huston, Andie MacDowell, Malcolm McDowell, Nick Nolte, Jack Lemmon, Mimi Rogers, Rod Steiger, Fred Ward, Vincent D´Onofrio, Peter Gallagher, Tim Robbins, Whoopi Goldberg, Greta Scacchi, Dean Stockwell, Richard E. Grant, Gary Busey, Scott Glenn und noch vielen anderen.

            So realisierte er The Player an vielen Strukturen Hollywoods vorbei und das ist dann letztlich auch das wahrlich Meisterhafte an Altmans Film: einige der größten Stars jener Zeit für die Entlarvung des eigenen Geschäftes einzuspannen, das ist zweifellos die bemerkenswerteste Pointe in dieser ironisch-selbstreflexiven Abrechnung. Bei der bitterbösen Konsequenz, mit der uns Altman diese Marionetten vorführt, liegt die Versuchung nahe, seinen Film als verbitterten Beißreflex zu betrachten, aber das wird dem leichtfüßig wie elegant in Szene gesetzten The Player nicht gerecht.

            Altman betont ganz bewusst die oberflächlichen Reize, schlägt einen lockeren Rhythmus an und ignoriert zugleich die gängige Hollywood-Dramaturgie. Weder gibt es am Ende eine reinigende Erkenntnis oder eine Wende zum Guten – ganz im Gegenteil: statt von sympathischen Figuren ist The Player beinahe durchgängig von lauter rückgratlosen Speichelleckern, eiskalten Opportunisten und selbstverliebten, karrieregeilen Egomanen bevölkert. Wenn der moralisch korrupte Griffin Mill am Ende der Geschichte überhaupt etwas lernt, dann, dass Gewissensbisse mit der Zeit nachlassen und man in der richtigen Position und den richtigen Verbindungen auch mit einem Mord davon kommen kann.

            Aber The Player überzeugt auf der formalen Ebene ebenso wie auf der inhaltlichen: allein die etwa acht minütige, den Film eröffnende Plansequenz ist meisterhaft inszeniert, beginnt sie doch mit dem Schlagen einer Klappe (genaues Hinsehen lohnt an dieser Stelle) und folgt fortan dem Gewusel diverser Angestellter auf dem Gelände eines Filmstudios und deren Gespräche, welche sich immer irgendwie um Filme drehen – und eben auch um meisterhafte Plansequenzen der Filmgeschichte wie etwa in Touch of Evil von Orson Welles. Überhaupt ist The Player voller Meta-Ebenen und das zu einer Zeit, als derartiges noch nicht zum inflationär missbrauchten Stilmittel degradiert wurde.

            The Player ist natürlich auch nur einer von so vielen Filmen über das Kino selbst, über das Filmemachen und über Hollywood, aber nur sehr wenige beleuchten dieses Business so sehr voller Bitterkeit und Zynismus. Altman entblößt die funktionalen Strukturen der vermeintlichen Traumfabrik, er deckt sie auf, die Lügen und Abgründe dieser Scheinwelt, hält ihr den Spiegel vor, wohl wissend, ein Teil von ihr zu sein. Letztlich ist auch er nur ein Rädchen in diesem gigantischen Getriebe, aber wenigstens eines, das hin und wieder versucht, das System aus dem Takt zu bringen.

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            • 8

              „Es gibt nichts Besseres als eine Uniform, um junge Männer schön zu machen. Macht sie schön und pervers, immer nah am Tod.“

              Was habe ich nicht alles gelesen, was habe ich nicht alles gehört über den einzigen Italo-Western von Giulio Questi. Rau, brutal, nihilistisch, gar menschenverachtend soll er sein und voller moralischer Ambivalenz. Zweifellos ist Se sei vivo spara deutlich mehr als nur eine weitere, oftmals schnell und billig runter gekurbelte Pferdeoper voller Blut, Blei, Dreck und fiesen Gestalten wie so viele andere Vertreter dieses Genres. Tatsächlich mochte Questi Western nicht einmal, aber er erkannte die Möglichkeit einer Allegorie. So bedient er sich vordergründig zwar den gängigen Strukturen und Mechanismen des Italo-Western, erzählt unter der Oberfläche aber von ganz anderen Dingen.

              Vieles davon geht auf die Zeit zurück, als er zwei Jahre seines noch jungen Lebens Teil des Partisanenkrieges in Italien gegen den Faschismus war, eine Phase, die nicht nur seine Sicht auf die Welt sondern vor allem auch sein künstlerisches Schaffen immens prägen sollte. Wenn Oaks und seine Männer zu Beginn des Filmes in die kleine Stadt kommen, welche von den Indianern nur „Feld des Schreckens“ (The Unhappy Place) genannt wird, bietet sich ihnen ein kaum zu fassendes Bild aus Kindesmissbrauch, Tierquälerei, häuslicher Gewalt und vor allem Gier, Hass, Erniedrigung und Sadismus. Questi lässt sehr schnell keinerlei zweifel daran aufkommen, dass – ausgenommen die beiden Indianer, welche den Fremden pflegen – nicht eine einzige Figur in seinem Film wirklich positiv behaftet ist. Stattdessen regieren Doppelmoral, Bigotterie und Egoismus an jeder Ecke und auch der vermeintliche Antiheld ist keineswegs frei von Schuld.

              Selbst die Figur des Evan, der einzige moralische Lichtblick und halbwegs unbefleckt in seiner jugendlichen Zartheit, wird letztlich von den schwarz gekleideten und uniformierten Schergen des brutalen Großgrundbesitzers gebrochen – eine homosexuelle Vergewaltigung wird zumindest angedeutet – und schließlich in den Selbstmord getrieben. Es ist eine bedrückende Atmosphäre, in der sich Se sei vivo spara regelrecht suhlt, und indem Questi sich geschickt bestimmter Techniken der Inszenierung aus Horrorfilmen bedient, verdichtet er all das nur noch weiter. Es gibt reichlich Genre-atypische Kameraeinstellungen zu bestaunen, gern kombiniert mit einer experimentellen Schnittfolge, und der Score von Ivan Vandor gibt sich abwechselnd ganz bewusst gewollt konventionell für einen Italo-Western, wird jedoch durch seltsam atonale Einschübe immer wieder konterkariert und überschlägt sich im entfesselten Finale geradezu, bei dem all der Wahnsinn, all der Hass und all die Gier im „Unhappy Place“ gnadenlos eskalieren.

              Es ist wahrlich kein sonderlich bejahendes Menschenbild, welches Questi uns in Se sei vivo spara präsentiert, sondern vielmehr sein ganz persönlicher Abgesang auf sämtliche zivilisatorischen Werte. Der Film bebildert eine gnadenlose Abwärtsspirale des Wahnsinns mit phasenweise surrealen Szenarien und mäandert zwischen dem traditionellen Italo-Western sowie den Werken von Pasolini und Jodorowsky. Se sei vivo spara ist ein sehr eigenwilliger Film geworden, zu Weilen durchaus verstörend und ein schwer zu schluckender Brocken, aber eben auch ein faszinierender wie sehenswerter und vor allem enorm ungewöhnlicher Beitrag zu seinem Genre.

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              • 7

                Auch die nach Amer (2009) und L'Étrange Couleur des larmes de ton corps (2013) nun mehr dritte Regiearbeit des belgisch-französischen Duos Hélène Cattet und Bruno Forzani versteht sich als Hommage an das europäische Genrekino der 60er und 70er Jahre, widmet sich nun allerdings weniger dem Giallo und wendet sich lieber dem Poliziottesco und dem Italowestern zu. Im direkten Vergleich zeigt sich Laissez bronzer les cadavres jedoch deutlich weniger düster und mysteriös, hat dafür aber im Gegenzug eine zumindest rudimentäre Story vorzuweisen. Die ohnehin schon knappe Handlung der Romanvorlage von Jean-Patrick Manchette und Jean-Pierre Bastid wird von Cattet und Forzani nur noch weiter auf ein absolutes Minimum heruntergebrochen, denn abermals liegt ihr Hauptaugenmerk deutlich stärker auf den audiovisuellen Aspekten als auf den inhaltlichen.

                Und hier toben sich die beiden erneut hemmungslos aus, finden zu einer formvollendeten Bildsprache, zelebrieren meisterhaft den bildlichen Exzess und erschaffen eine geradezu rauschhafte Sinnlichkeit. Ausufernd spielen sie mit Farben, kunstvoller Ausleuchtung, Großaufnahmen von Gesichtern, Augen und Mündern, scharfen Zooms sowie cleveren Überblendungen, wechselnden Perspektiven und überbetonten Geräuschen, so dass sich eine beinahe schon erregende Atmosphäre aufbaut. Die inhaltlich sehr flache und formelhafte Story wird von Cattet und Forzani dennoch staubtrocken und pointiert in Szene gesetzt und das überaus filmisch denkende Regieduo entfaltet ein betörendes, eher assoziativ erzähltes und virtuos orchestriertes Konstrukt aus Blei, Blut und Sex, bei dem vor allem Zeit von großer Bedeutung und fester Bestandteil der narrativen Struktur ist.

                Auch die Figuren sind weniger menschlich begreifbare Wesen als vielmehr lose Rückverweise auf bestimmte filmische Archetypen und so gerät Laissez bronzer les cadavres zu einem sehr speziellen Erlebnis, welches sicherlich nicht Jedermanns Geschmack treffen wird, mich aber vorzüglich unterhalten konnte. Explosives, rauschhaftes, hemmungsloses, wildes, fiebriges und surreal überhöhtes Genrekino, welches wenig über Worte, dafür aber viel über seine Bildsprache erzählt. Style over substance im tobenden Kugelhagel.

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                • 8

                  Bet low, lose low.

                  Gefängnisse können unterschiedlichster Natur sein. Und manchmal sind sie selbst gewählt. Ein Leben voller Struktur und Klarheit, geprägt von Wiederholung und Routine. Immer und immer wieder. Dem Militär nicht unähnlich. William Tell hat ein solches Leben für sich gewählt, immerzu auf der Straße, auf dem Weg von einem Casino zum nächsten, einsame Nächte in kargen Motelzimmern, immerzu auf der Flucht vor den Dämonen seiner Vergangenheit. Unter seiner aufgeräumten, von Regeln bestimmter Oberfläche wird schnell deutlich, das dort etwas lauert, abgründig, quälend, wartend.

                  Schon mit First Reformed (2017) vermochte Paul Schrader eindrucksvoll unter Beweis zu stellen, dass er keineswegs zum alten Eisen (New) Hollywoods gehört und nach wie vor ein ausgeprägtes Gespür für seine Figuren und für Stimmungen hat. Für The Card Counter übernimmt er abermals sowohl Regie als auch Drehbuch und versteht es seine Stärken erneut geschickt auszuspielen. Ein psychologisch ausgefeiltes Kammerspiel in großen, weiten Räumen. Die Kamera von Alexander Dynan (First Reformed) folgt Tell präzise, aber distanziert in teils langen Einstellungen auf seinem Weg durch schmucklose Casinos und trostlose Motels und zeichnet ohne allzu viele Worte das Bild eines Mannes, der keine Aufmerksamkeit erregen möchte.

                  So spielt er auch nicht getrieben von Sucht oder wegen des Nervenkitzels, er spielt kontrolliert, analytisch, kennt seine Grenzen, verzichtet auf zu große Gewinne, bleibt unter dem Radar und verdient damit seinen Lebensunterhalt. Glamourös ist daran jedenfalls nichts. Überhaupt steht das Spiel nicht im Fokus, denn The Card Counter versteht sich vielmehr als Charakterstudie dieses traumatisierten Ex-Soldaten mit dunkler Vergangenheit, welchen Oscar Isaac intensiv und mit präzise kontrollierter Wucht interpretiert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn jemals zuvor so stark habe spielen sehen.

                  Den glanzlosen Zocker-Alltag konterkariert Schrader immer wieder mit kurzen, unvermittelt aufblitzenden, verzerrten Rückgriffen in Tells von Folter, Misshandlung und Demütigung bestimmter Zeit in Abu Ghraib. Sein Kontrollverlust, der Spaß, welchen er irgendwann dabei empfand, wie er letztlich auch nur instrumentalisiert wurde und dennoch Erregung und Freude verspürte, diese Stachel sitzen tief. Seine Haftstrafe jedenfalls verhieß keine Läuterung oder gar Erlösung.

                  Aber Paul Schrader wäre nicht Paul Schrader, wenn ihn bestimmte erzählerische Strukturen wenig bis gar nicht interessieren würden und somit nicht unbedingt jeder Handlungsstrang in The Card Counter auch so verläuft wie man es vielleicht erwarten würde. Ohnehin ist hier mehr der Weg das Ziel, eine Katharsis wird uns vorenthalten. Sein Film gewährt Einblicke in traumatisierte Seelen, verspricht aber keine Heilung. Ganz im Gegenteil.

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                  • 7 .5
                    über Spartan

                    David Mamet ist vor allem als Drehbuchautor bekannt für einen ganz eigenen sprachlichen Stil voller schneller, kraftvoller Dialoge, die eher selten einfach nur Informationen geben, sondern vielmehr Figuren charakterisieren und Atmosphäre erschaffen. Ausufernde Beschreibungen und ausgedehnte Erklärungen sucht man bei ihm vergeblich, er schreibt wahnsinnig präzise und pointiert und wirft nur zu gern ins kalte Wasser ohne sich groß mit Expositionen aufzuhalten.

                    So beginnt Spartan mehr oder weniger unvermittelt in der Handlung, wenn Robert Scott bereits als Problemlöser hinzugezogen wird, doch was genau zuvor geschah, das muss man sich anhand des weiteren Storyverlaufs schon selbst zusammen reimen. So verschwendet Mamet in seinem Drehbuch nicht eine Sekunde dafür zu erklären, wer genau die entführte Laura Newton eigentlich ist und lässt nie explizit darauf hinweisen, dass sie die Tochter des Präsidenten ist, aber allein die Art, wie andere Figuren agieren und über sie sprechen macht es nur überdeutlich.

                    Das mag ein wenig eigenartig anmuten in Anbetracht des Genres, welchem sich Spartan widmet, spielt dort doch meist eher Bewegung die Hauptrolle und nicht das gesprochene Wort, doch dieser Ansatz funktioniert in seinem speziellen Kontext ganz hervorragend. Eine besonders große Leistung in seiner Inszenierung ist es, wie geschickt es Mamet versteht dem Zuschauer entscheidende Informationen vorzuenthalten und präzise dosiert im Unklaren zu lassen, ohne dass man sich betrogen fühlt.

                    Im Gegenteil, Spartan ist seinem Zuschauer selbst dann noch immer einen Schritt voraus, wenn man schon längst glaubt, den Plot durchschaut zu haben. Zudem unterscheidet sich Mamets Film wohltuend von so vielen anderen seiner Art, wenn zur Abwechslung mal nicht jedes noch so kleine Detail auserzählt werden muss, Dinge auch mal unausgesprochen in Grauzonen bleiben dürfen und moralische Schattierungen außerhalb der üblichen Klischees zugelassen werden.

                    Keine Frage, allzu leicht macht es David Mamet mit Spartan seinen Zuschauern nicht. Auch die Action selbst im Film ist zwar zweifellos ungemein effizient, zugleich aber auch angenehm zurückhaltend und hübsch geerdet im Vergleich zu manch anderem Actionthriller, kompetent inszeniert, spürbar druckvoll und trotzdem bodenständig. Robert Scott ist durch und durch Profi auf seinem Gebiet, aber er ist kein großer Denker und Entscheider, der strategische Pläne entwirft, er ist vielmehr ein Macher, der dorthin geht, wohin man ihn schickt, kaum mehr als eine weitere Schachfigur im Spiel viel mächtigerer Männer im Hintergrund. Sich selbst bezeichnet er mehrfach im Film als working bee, er sieht sich als Drohne, die präzise ihre Aufträge erfüllt.

                    Ein Job, auf den er nicht stolz ist, aber einer, der erledigt werden muss und in dem er verdammt gut ist. Scott ist kein Held und erst recht kein Sympathieträger: er tut was nötig ist, wendet Gewalt an um Geständnisse aus Kollegen zu pressen, einem Verdächtigen bricht er ohne mit der Wimper zu zucken erstmal den Arm und befragt ihn erst dann, einen Mord nimmt er eiskalt in Kauf, um sich das Vertrauen eines weiteren Verdächtigen zu erschleichen. Was er tut zu hinterfragen, das beginnt er erst, als er sich plötzlich inmitten eines Netzes aus Lügen und Intrigen wiederfindet und auf der falschen Seite steht.

                    Es ist wahnsinnig schade, dass David Mamets Film so sträflich unterbewertet wird, hat er doch so manches zu bieten, was ihn erfrischend abhebt vom sonst so oft üblichen Genre-Einerlei. Das Drehbuch ist intelligenter geschrieben, als man auf den ersten Blick vermuten würde und serviert dem Zuschauer nicht jedes kleine Fitzelchen mundgerecht auf dem Silbertablett, behält aber gleichzeitig wichtige Informationen so geschickt für sich, dass man sich nicht beleidigt fühlt, und platziert seine Wendungen im Storyverlauf sehr punktgenau. Spartan ist vielleicht maßlos unterschätzt und das ist verdammt schade. Wenn man einen geradlinigen wie schnörkellosen Actionkracher sucht, dann ist man mit Spartan sicherlich falsch beraten, denn dem üblichen Genre-Größenwahn verweigert sich der Film und punktet lieber an anderen Stellen.

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                    • 8

                      "Sunrises and sunsets. Some things are just beautiful no matter what. And a constant reminder that you only get so many, so you gotta fuckin' enjoy them."

                      Ausnahmsweise lügt der Klappentext mal nicht: Spring bewegt sich tatsächlich im diffusen Spannungsfeld zwischen Lovecraft und Linklater, zwischen Body-Horror und dem schwebendem Gefühl der Before-Trilogie. Dabei gilt für Spring ebenso wie für Resolution und The Endless, dass sie KEINE Horrorfilme sind und auch gar nicht sein wollen, wenn Moorhead & Benson vielmehr daran interessiert sind, eine ungewöhnliche wie tragisch-schöne, geradezu surreale Liebesgeschichte zu erzählen. Ein modernes Märchen, welches in seiner Schlichtheit zutiefst poetisch vom Leben, der Liebe, dem Tod, Verlust und Vergänglichkeit handelt und uns lehrt, die großen Momente zu schätzen, die kleinen jedoch zu lieben.

                      Spring ist ruhig und langsam gehalten in seiner Erzählstruktur und nicht viele Filmemacher dieser Tage nehmen sich so viel Zeit, ihre Geschichte derart auszubreiten und ihre Figuren zu etablieren. Erst lernen wir Evan kennen, der dann später in einem kleinen italienischen Fischerdorf Louise trifft. Spring nimmt seine Figuren und deren jeweiligen Konflikte angenehm ernst, ist stark Charakter getrieben, verzichtet weitest gehend auf Effekthascherei und ist ausnehmend schön gefilmt und fantastisch bebildert. Man kann zwar die oben erwähnten Einflüsse erkennen, aber Moorhead & Benson gelingt es mühelos, ihre eigene Handschrift beizubehalten und ihre Eigenständigkeit zu bewahren.

                      Selbst nach dem Evan das Geheimnis von Louise erfährt, da bleiben die beiden Regisseure selbstbewusst genug, jetzt eben gerade nicht in reißerisches Getöse zu verfallen, sondern bleiben ihrem eigenwilligen Stil treu und beschreiten stattdessen viel lieber Road Movie-artige Wege, wenn wir zwei Menschen dabei folgen einem ungewissen Schicksal entgegenzugehen. Evan und Louise sind von Lou Taylor Pucci und Nadia Hilker nicht nur wunderbar authentisch wie sympathisch gespielt, sie sind auch herrlich realitätsnah und glaubwürdig geschrieben, so dass man den beiden trotz des fantastischen Überbaus auf ihrem Weg liebend gern folgt, mitleidet und hofft, sie würden ihr Glück finden.

                      Spring ist eine als Grusel-Mär getarnte, zutiefst empathische, ehrliche, einfühlsame und wunderschön erzählte Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die sich einander annähern in dem Wissen, dass ihnen eine gemeinsame Zukunft möglicherweise nicht bestimmt ist. Emotional hat mich das alles in jeglicher Hinsicht sehr abgeholt und aufrichtig berührt.

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                      • 8

                        Ein solch selbstbewusst inszeniertes Regiedebüt wie Hard Eight gibt es nicht oft zu bestaunen. Blood Simple von den Coens, Reservoir Dogs, Bound von den Wachowskis vielleicht. Paul Thomas Anderson scheint mit seinen damals erst 26 Jahren schon mehr gewusst zu haben als viele andere, nämlich ganz genau, was er will. Sein ausgeprägtes Stilbewusstsein jedenfalls lässt sich bereits hier kaum leugnen. Hard Eight ist inhaltlich eher schlicht gehalten, aber zugleich von großer Klarheit und Präzision geprägt und klug und bedächtig erzählt. Das große Spektakel sucht man hier vergeblich, findet stattdessen aber viel Feingefühl, aufrichtiges Verständnis für die Figuren und die dichte Atmosphäre einer lakonischen, aber nie zynischen Geschichte voller zärtlicher Melancholie.

                        Zweifellos gibt es Parallelen zum alternativen US-Kino jener Zeit, da ist diese ausgestellte Coolness, die Liebe zum klassischen amerikanischen aber auch europäischen Gangsterfilm und natürlich die Einflüsse des Film Noir, doch PTA findet dennoch seinen ganz eigenen Weg. Die elegant geführte Kamera von Robert Elswit harmoniert hervorragend mit der Bildsprache von Anderson und gemeinsam fangen sie die unglaublich starke und würdevolle Präsenz von Philip Baker Hall ein. Allein die Eröffnungssequenz, in der sein Sydney kaum mehr tut als eine Straße zu überqueren, sagt durch ihre Art der Inszenierung bereits alles, was wir wissen müssen. Oder die wunderbar anzusehenden, regelrecht schwebenden Kamerafahrten durch die Casinos.

                        Überhaupt setzt Anderson mit seinem klugen Drehbuch weniger auf Exposition und mehr auf Dialoge und vor allem Schauspiel. Wie Hall in der Szene im Motel reagiert, ruhig, besonnen, abgeklärt, wie er beruhigend einwirkt, versucht, die Situation zu lösen, das verrät sehr viel über seine Figur und deren Hintergründe. Dazu ist der Cast rund um Hall, John C. Reilly, Gwyneth Paltrow, Samuel L. Jackson und in einer Nebenrolle Philip Seymour Hoffman hervorragend besetzt und weiß zu glänzen. Reilly halte ich in ernsteren Rollen ohnehin für unterschätzt und sein Spiel in Hard Eight beweist eindrucksvoll, dass er mehr kann als nur die platte Comedy-Schiene rund um Will Ferrell und Adam McKay.

                        Am Ende erweist sich Hard Eight mehr als Drama denn als Thriller, beeindruckt durch die selbstbewusste, ruhige Inszenierung seines Regisseurs, eine dichte Atmosphäre und starkem Schauspiel. Sicherlich gerade an noch folgenden Großtaten von Paul Thomas Anderson gemessen noch nicht der ganz große Wurf, doch dieser Vergleich ist ohnehin unfair. Ein verdammt starkes Regiedebüt ist Hard Eight allerdings ohne jeden Zweifel.

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                          Mattscheibenvorfall 25.08.2022, 21:04 Geändert 25.08.2022, 23:29

                          Eigentlich mag ich das Wörtchen „Kult“ nicht sonderlich, wird es doch nur allzu oft leidlich bemüht wie inflationär gebraucht, allem halbwegs „kultverdächtigem“ vorschnell wie ein vermeintlich bedeutsamer Stempel aufgedrückt und ist letztlich kaum mehr als eine leere Phrase. Aber ob nun Kult hin oder her, zweifellos ist der Dude inzwischen zu einer Ikone der Popkultur geworden, die Film gewordene Alternative für all diejenigen, welche sich den Anforderungen des modernen Lebens nur bedingt gewachsen fühlen. Oder sich ihnen einfach nicht anpassen wollen.

                          Dem Dude jedoch wäre diese Form der Verehrung und Anerkennung wohl eher unangenehm, denn er macht ja nichts, ist einfach so wie er ist, lebt sein kleines Leben so vor sich hin… Bowling, White Russians, ein bisschen Gras, ein heißes Bad und Walgesänge. Und doch: vielleicht sollte jeder von uns hin und wieder mal den ganz persönlichen Dude in sich entdecken. Wir können nämlich viel von ihm lernen.

                          Die Geschichte rund um die scheinbare Entführung einer untreuen Ehefrau und dem nicht weniger vorgetäuschten Versuch des Ehemannes, sie mit Hilfe eines scheinbar völlig Ahnungslosen aus den Fängen ihrer Entführer wieder zu befreien, ist letztlich (wie oft im Film Noir) kaum mehr als Nebensache und weniger von Bedeutung, wird aber dennoch von den Coens kunstvoll ausufernd, mit zahlreichen Wendungen und einem kaum zu überschauenden Figureninventar erzählt, nur um sich am Ende einfach in Luft aufzulösen.

                          Es erfordert großes erzählerisches Können, eine solch komplexe Story zu entwickeln, dabei aber zugleich etwas völlig anderes zu erzählen und am Ende den Zuschauer trotz eines geradezu aufreizend kurzen wie knappen Finales nicht zu verlieren. Und als würde das nicht schon reichen, schöpfen die Coens aus ihrem scheinbar unendlich großen Fundus an Ideen und reichern all das mit musicalartigen Traumsequenzen an, etablieren mit Sam Elliot (ganz wunderbar!) einen Cowboy als geisterhaften Erzähler und zelebrieren ganz viel Bowlingromantik.

                          Überhaupt ist die Bowlingbahn ein ganz zentraler Ort für The Big Lebowski und wie die Coens das dortige Treiben einfangen, wie Roger Deakins und seine Kamera all diese großen kleinen Leute einfangen, sie beinahe schon stilisiert, wie sie an ihren Gesichtern vorbei fährt, das ist ganz großes Kino und in der Winzigkeit all dieser Details annähernd perfekt. Hier kommen dann auch wieder die Faszination und Liebe der Coens für den amerikanischen Durchschnittstypen zum Tragen, welche sich als Motiv immer wieder durch ihre Filme zieht, aber nie zu einem zynischen Herabblicken verkommt.

                          Und dann sind da noch all diese wundervolle und sich immerzu im Kreis drehenden und dennoch nicht weniger brillanten Dialoge: zum Niederknien. Beinahe jeder Satz ist zitierfähig und in der Popkultur aufgegangen. Das liest jetzt vielleicht nicht jeder gern, aber ich frage mich schon länger, warum ein Quentin Tarantino immerzu für seine Dialoge so verehrt wird, wo doch die Coens diese Disziplin annähernd perfektioniert haben.

                          Der Dude, Walter und Donny sind die drei vielleicht schönsten Figuren, welche die Coens jemals entwickelt haben. Jeff Bridges hält als ruhender Pol alles zusammen und John Goodman poltert von einem Ausbruch zum nächsten, wirkt aber dennoch mehr wie liebenswerter Elefant, der seine Kraft nicht einzuschätzen weiß.Und dann ist da noch Donny: wir wissen so gut wie nichts über ihn – wo er herkommt, was ihn antreibt, woher er den Dude und Walter kennt und was ihn bei ihnen bleiben lässt – und dennoch gelingt es Steve Buscemi mit lauter Kleinigkeiten und ganz wenigen Blicken und Gesten in seinem Schauspiel diese tragische Figur mit Leben zu füllen.

                          Ein seltsam eigenschaftsloser Mitläufer, der dennoch ein wichtiger Teil dieses schrägen Trios ist, obwohl niemand so recht weiß, warum eigentlich. Er wirkt etwa dümmlich, hat nicht wirklich etwas zu erzählen oder gar beizutragen, gibt insgesamt eine eher traurige Gestalt ab und schaut oft etwas ziellos ins Nichts, als könne er dem Geschehen gerade nicht so recht folgen.

                          Gewalt und deren Ausübung sind oftmals integrale Bestandteile ihrer Filme, doch in The Big Lebowski gibt es meist nur die bloße Androhung von Gewalt und tatsächlich nicht einen einzigen Mord. Dennoch gibt es einen Tod, einen besonders unglücklichen wie tragischen, auf einem Parkplatz vor einem Bowlingcenter, ohne Fremdeinwirkung durch einen Herzanfall. Donny ist weg, einfach so. Das ist bitter und macht einem bewusst, dass es Menschen gibt, die nicht so viel Glück im Leben haben wie manch andere, Menschen die einfach nur da sind, auch wenn sich nicht immer ganz erschließt, warum. All die Donnies dieser Welt: erst, wenn sie nicht mehr da sind, dann fällt auf, dass sie da waren, wenn sie plötzlich schmerzhaft fehlen.

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                            Sea Fever ist das Regiedebüt der Britin Neasa Hardiman, welche zugleich auch das Drehbuch verfasst hat. Es ist ein kleiner, kompakt erzählter Film irgendwo zwischen Öko -und Bodyhorror pendelnd. Die Story mag zwar eher wenig orginell anmuten, ist aber kompetent und spannend inszeniert, wenn Hardiman gekonnt mit bekannten Genre-Motiven spielt. Zwar steigen wir schnell und ohne groß Zeit zu vergeuden in die Handlung ein, doch Sea Fever setzt lange mehr auf Atmosphäre, wenn sich erst nach und nach das Grauen Bahn bricht, bloß um im letzten Drittel zu eskalieren.

                            Hier trifft die klaustrophobische Enge des Schifferbootes auf reichlich Paranoia und vor allem eine unbekannte Bedrohung. Die Enge der Räume wirkt unangenehm beklemmend und wird effektiv genutzt. Es gibt keine Möglichkeit zur Flucht, die Situation erscheint ausweglos und die Crew fühlt sich zunehmend ausgeliefert. Bald wird es immer schwerer zu erkennen, wer mit diesem fremdartigen Parasiten infiziert sein könnte und wer nicht. Das schmale Budget ist offensichtlich, aber Hardiman und ihr Team verstehen es damit gut umzugehen. Die Effekte sind zwar eher spärlich gesät, dafür aber präzise gesetzt und überwiegend hübsch schleimig anzusehen.

                            Wie bereits erwähnt, inhaltlich Neues vermag Sea Fever sicherlich nicht bieten, aber auf der inszenatorischen Ebene ist das Debüt von Neasa Hardiman zweifellos gelungen und setzt mehr auf eine dichte Atmosphäre statt auf übermäßige Schockeffekte. Für eine solch eher kleine Produktion durchaus sehenswert.

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                              über Prey

                              This is as far as you go. No more. This is it.

                              So ehrlich muss ich sein: zwar gefiel mir der Trailer zu Prey eher gut, meine Erwartungshaltung jedoch war gering, zumal die Reihe nach Upgrade tot zu sein schien. Um so größer war dann meine Überraschung darüber, dass es Regisseur Dan Trachtenberg (10 Cloverfield Lane) mit Prey gelungen ist, den vielleicht stärksten Beitrag des Franchises seit dessen Ursprung abzuliefern. Indem er erstmal ordentlich Ballast abwirft, sich auf die Wurzeln besinnt und ein entschlacktes Action-Abenteuer im überschaubaren Rahmen inszeniert, welches sich seiner Einfachheit nicht nur vollkommen bewusst ist, sondern diese auch effektiv zu nutzen weiß. Vielleicht genau der Impuls, welchen die Reihe dringend nötig hatte, zumal auf überflüssigen Fanservice überwiegend verzichtet wird.

                              Zugegeben, auf der inhaltlichen Ebene möglicherweise der Weg des geringsten Widerstandes, aber zumindest versucht man nicht, das Franchise neu zu erfinden oder gar die Mythologie auf Gedeih und Verderb aufzubrechen. Die Handlung jedoch rund 300 Jahre in die Vergangenheit zu verlegen ist ein kluger Schachzug, können so doch zwei archaisch geprägte Kulturen aufeinander prallen. Zudem bieten die Northern Great Plains des Jahres 1719 ein angenehm erfrischendes und unverbrauchtes Setting, welches auf der visuellen Ebene durchaus abwechslungsreich präsentiert wird.

                              Überhaupt sehen gerade die Landschaftsaufnahmen von Kameramann Jeff Cutter (Orphan, 10 Cloverfield Lane) toll aus und liefern teils wunderschöne Bilder. Was man von den Effekten leider nicht behaupten kann. Viele Momente wirken durch das CGI zu glatt, sauber und buchstäblich künstlich. Gerade die animierten Tiere können kaum überzeugen und rütteln ordentlich an der Immersion. Und obwohl Prey nicht unbedingt mit Blut geizt und ein paar hübsch kreative Kills für sich verbuchen kann, so hätten mehr praktische Effekte in den Actionszenen vielleicht eine nochmals andere Wirkung entfalten können. Der Predator selbst hingegen hat mir mit seiner wuchtigen Präsenz und dem herrlich fiesen Design ausgesprochen gut gefallen.

                              Der Plot rund um die weibliche Hauptfigur und deren Wunsch sich beweisen zu dürfen, ist smart genug aufgebaut um gerade nicht in die Falle zu tappen, welche bestimmte Kreise versuchen dem Film anzukreiden. Im Gegenteil, wir können dem Predator selbst ebenso bei seinem Lernprozess zuschauen wie Naru, wodurch eine interessante Spiegelung von Protagonistin und Antagonist entsteht. Wobei Prey darüber hinaus auch die Frage andeutet, wer hier eigentlich der wirkliche Bösewicht ist. Letztlich hat Naru einfach nur ein Auge für Details, vermag ihre ganz eigenen Schlüsse aus ihren Beobachtungen zu ziehen und daraus Handlungen abzuleiten. Dazu versteht sie es, das Terrain als Heimvorteil für sich zu nutzen.

                              Unterm Strich hat mir Prey viel Spaß gemacht. Kompakte Laufzeit, ein gutes Auge für Details, tolle Bilder, unverbrauchte Darsteller, ein erfrischend anderes Setting, fiese Gadgets und ein trotz CGI knackiger Härtegrad mit kreativen Kills... mit vor allem Upgrade und in weiten Teilen auch Predators wischt Prey den Boden, mit Predator 2 hingegen liefert man sich ein spannendes Duell auf Augenhöhe.

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                                "The oldest and strongest emotion of mankind is fear, and the oldest and strongest kind of fear is fear of the Unknown."

                                Mit diesem Lovecraft-Zitat beginnt The Endless und gibt zugleich ein klein wenig die Richtung vor. Wie auch schon bei Resolution stammen erneut Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt und visuelle Effekte allein aus der Feder von Aaron Moorhead und Justin Benson und dieses Mal spielen sie auch gleich beide Hauptrollen. Wo Resolution buchstäblich noch eine Low-Low-Budget-Produktion war, da ist The Endless nur noch Low-Budget und eine merkliche Steigerung in allen Bereichen. Man könnte den Film vielleicht als eine Art Quasi-Fortsetzung zu Resolution bezeichnen, aber so ganz trifft das nicht den eigentlichen Kern. Eher ist es eine Rückkehr in das von Resolution etablierte Universum, die auch dessen Mythologie aufgreift und weiter ausbaut, wenn es zu Überschneidungen kommt und bestimmte Elemente auch hier eine Rolle spielen.

                                Erneut ist die Inszenierung von Moorhead und Benson äußerst stark geraten und The Endless ist auf der erzählerischen, visuellen und akustischen Ebene absolut fantastisch, unglaublich kreativ, enorm einfallsreich und zeugt abermals von großem Selbstbewusstsein. Sie haben eine klare künstlerische Vision und wissen diese auch gekonnt umzusetzen. Zwar ist The Endless zugänglicher und strukturierter als Resolution, deswegen aber keineswegs weniger faszinierend oder packend und setzt einen potentiellen Schlusspunkt, welchen der Vorgänger noch konsequent verweigerte.

                                Die Atmosphäre ist enorm dicht und die Geschichte entfaltet schnell einen stark einnehmenden Sog, wenn Stück für Stück das rätselhafte Geheimnis rund um Camp Arcadia entschlüsselt wird. Zunächst erweckt es noch den Anschein, als würden Moorhead und Benson kaum mehr als eine weitere Geschichte rund um eine Sekte erzählen wollen. Die falsche Fährte ist zwar eher schnell entlarvt, so ganz lässt The Endless die Katze jedoch erst im letzten Drittel aus dem Sack, dreht dann allerdings dafür nochmals so richtig auf, suhlt sich genüsslich im unerklärlich Übernatürlichen und spielt unheilvoll mit der diffusen Angst vor dem Unbekannten.

                                Der famose Score stammt aus der Feder von Jimmy LaValle und dessen Projekt The Album Leaf und unterstreicht zusammen mit einem tollen Sounddesign ganz wunderbar diese schwammige, rätselhafte und permanent unterschwellig bedrohliche Atmosphäre, welche The Endless auszeichnet. Auch das Schauspiel von Moorhead und Benson ist überraschend gelungen und intensiv geraten, wenn diverse Konflikte glaubwürdig dargeboten werden. Die besonders im Finale jedoch eher dürftigen Spezialeffekte sollte man den beiden jungen Filmemachern dann aber vielleicht etwas nachsehen, arbeiten sie immerhin mit extrem niedrigen Budgets und beweisen Film um Film aufs Neue ihr unglaubliches Talent, immer wieder Beachtenswertes daraus zu erschaffen.

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                                  "I want you to hurt them."

                                  Hammertime! Für ihre Verfilmung des gleichnamigen Buches von Jonathan Ames hat die schottische Regisseurin Lynne Ramsay die ohnehin schon recht überschaubare Handlung geradezu radikal auf das absolut Nötigste heruntergebrochen und lässt kaum mehr als ein skelettartiges Handlungsgerüst bestehen. Irgendwo zwischen hartem Thriller und düsterem Drama irrlichtert You Were Never Really Here immerzu hin und her, lediglich unterbrochen durch fragmentarisch aufblitzende Erinnerungsfetzen aus Joes kaputtem Geist und dessen ganz eigenem Wahnsinn. Auf der erzählerischen Ebene ist ihre vierte Regiearbeit stark elliptisch angelegt und arbeitet sehr viel mit Auslassungen, doch auf der visuellen Ebene entwickelt ihr Film eine schier unglaubliche, manchmal geradezu poetische Strahlkraft. Filme wie Drive oder Taxi Driver hallen durch die Bilder, manchmal auch die neon grelle Stilistik eines Michael Mann, doch Ramsay entwickelt mühelos ihre ganz eigene Bildsprache.

                                  Der herrlich elektronisch schwebende, immer wieder in sich kollabierende Score aus der Feder des Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood vermag die Bilderflut brillant zu unterstreichen und geht Hand in Hand mit einem schneidenden, sägenden Sounddesign, während das alles von einem rhythmisch herausragenden Schnitt und einer pointierten Kamera zusammen gehalten wird. Die rohe Gewalt, meist ausgehend von Joe und seinem Hammer, wird jedoch nie explizit ausgestellt und ergeht sich oft nur in Andeutungen, geschieht am Bildrand oder zeigt lieber gleich vollendete Tatsachen. Reißerisch oder gar voyeuristisch wird You Were Never Really Here nie, zu sehr achtet Ramsay darauf, nicht in exploitative Genre-Gefilde abzudriften und die Gewalt zu exponieren.

                                  Und dann ist da noch das Glanz- und Herzstück des Filmes: ein abermals überragender Joaquin Phoenix, dessen Performance einer gequälten wie stoischen Naturgewalt gleicht, unerbittlich wie ein Pitbull und doch mehr geschundene Seele denn strahlende Heldenfigur. Sein Joe ist eine starke und zugleich gebrochene Figur mit einem seltsam kindlichen Kern, traumatisiert und müde. So müde wie eigentlich der Film selbst, würde er sich doch nur zu gern hinlegen, aber dann gleich wieder weiter müssen, nur um sich schrecklich verbraucht und träge dahin schleppen zu müssen. Selbst als Joe irgendwann gegen Ende die Tür zum vermeintlichen Showdown öffnet, da ist schon längst alles gelaufen. Alles ist bereits vorbei, bevor es überhaupt richtig beginnen konnte. Nur der Wahnsinn und der Schmerz, die bleiben. Erlösung gibt es keine und die Zukunft ist düster, aber da glimmt dennoch ein Fünkchen Hoffnung.

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                                    Nach dem wirklich furchtbaren Red Notice dürfen nun die Russo-Brüder mit ihrer Adaption des gleichnamigen Romans von Mark Greaney die nächste teuerste Netflix-Produktion überhaupt abliefern. Aber anders als Regisseur Rawson Marshall Thurber (We are the Millers, Central Intelligence, Skyscraper), haben die Russos in der Vergangenheit ein starkes Gespür für Actionsequenzen unter Beweis gestellt. Man mag von The Winter Soldier halten was man will, die Actionszenen allerdings waren dynamisch, druckvoll und mit das Beste, was das MCU bis heute zu bieten hatte.

                                    Allerdings vermag The Grey Man da nicht mithalten zu können und so stürzt sich das unterkomplexe wie belanglose Drehbuch mit Anlauf und rasantem Tempo in eine Fülle von wechselnden Schauplätzen, bloß um kaum mehr zu sein als der Stichwortgeber für potentiell große Actionsequenzen. Das wäre auch gar nicht weiter schlimm, wüsste die Action doch zu überzeugen. Mehr als solides Mittelmaß in den Kampfszenen macht sich hier jedoch kaum breit und teils befremdlich schwache CGI-Effekte verbessern diesen Eindruck eher weniger. Ein wenig mehr Härte hätte hier vielleicht ganz gut getan.

                                    Unterm Strich erfindet The Gray Man sein Genre sicherlich nicht neu, vermag aber dennoch durchaus zu unterhalten. Auch, weil sich Chris Evans offensichtlich vollkommen der Tatsache bewusst ist, in welch Hochglanz-B-Movie er hier mitspielt und seinen psychopathisch veranlagten Bösewicht Lloyd Hansen entsprechend arg überdreht interpretiert. The Gray Man kann sich vielleicht zu keiner Sekunde mit Extraction messen, aber von Red Notice ist das alles immer noch weit entfernt.

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                                      Das ist er also, der härteste, brutalste, verstörendste Film seit... ja, seit wann eigentlich genau? Schwierig. Der Hype war groß und das Marketing smart. Kann der in Taiwan gedrehte Film des kanadischen Regisseurs Rob Jabbaz dem gerecht werden? Zum Teil sicherlich. Zumindest auf der handwerklichen Ebene kann man The Sadness kaum etwas vorwerfen. Gekonnt inszeniert ist das allemal und die überwiegend handgemachten, wirklich drastischen Splattereffekte können bis auf ein oder zwei Ausnahmen absolut überzeugen. Überhaupt sieht der Film beinahe schon unverschämt gut aus, bedenkt man sein Budget.

                                      Inhaltlich und erzählerisch hingegen kann The Sadness eher wenig bis gar nicht überzeugen und wirkt belanglos, hakt der Plot doch kaum mehr als die üblich generischen Eckpunkte ab und versucht sonst bloß noch durch seinen Härtegrad zu bestechen. Der ist zweifellos extrem hoch und mag zum Teil abstoßend anmuten, ist er aber eigentlich gar nicht so sehr, wird doch bei den potenziell wirklich provokanten Szenen brav abgeblendet. Überhaupt wirkt dieses Dauerfeuer der vermeintlichen Grausamkeiten schnell einfach nur ermüdend in seiner Spirale der Eskalation. Trotz, vielleicht sogar wegen all dem Spektakel, macht sich Langeweile breit. Wirklich Spannung zu erzeugen vermag The Sadness jedenfalls nicht und ergeht sich stattdessen immerzu in zwar effektiven, aber zugleich primitiven wie banalen Bildern.

                                      Rückblickend bleibt da wenig haften außer der exzessiven Gewalt, welche ich schon bald bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr wirklich ernst nehmen konnte in ihrer gnadenlosen over the top-Inszenierung. Tonal ist das schwierig, inszeniert Jabbaz zwar überwiegend rau, direkt und schmutzig, gleitet aber nicht selten in vollkommen überzeichnete Momente ab. The Sadness ist zwar handwerklich nahezu tadellos, inhaltlich allerdings arg flach und vor allem grell, schrill, und gnadenlos auf Provokation ausgelegt. Und am Ende des Tages einfach nur erschreckend langweilig.

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                                        "Some day, I swear, we´re gonna go to a place where we can do everything we want to. And we can pet the crocodiles."

                                        Eigentlich ist New York selbst der große Hauptdarsteller im Film, aber es ist ein New York weit abseits üblicher Touristenorte und fernab romantischer Verklärung, sondern vielmehr ein New York voller rauen wie trostlosen Straßen, schmutzig, kalt und heruntergekommen. Hinterhöfe voller Müll und Unrat, umringt von Zäunen. Straßenschluchten, düster und nur spärlich beleuchtet. Die ausladenden Flächen abseits der Stadt, ein einsamer Vergnügungspark unheimlich wie still im Dunkeln der Nacht. Der letzte New York-Film, der eine vergleichbare Faszination auf mich ausüben konnte wie Good Time, das war der zwar völlig anders strukturierte, aber ähnlich wunderbare 25th Hour (2002) von Spike Lee – der erste Film nach 9/11, welcher die Stadt ähnlich prominent und bewusst ganz unverblümt in den Fokus rückte.

                                        Der dritte Film der Safdie-Brüder Bennie und Josh bringt nach den Low-Low-Budget-Produktionen Daddy Longlegs (2009) und Heaven Knows What (2014) ihre Stärken hinter der Kamera ungemein fokussiert auf den Punkt, denn Good Time ist immerzu in Bewegung, verweilt nie lange an einem Ort, hetzt von einer Katastrophe zur nächsten, ist pure Kinetik. Wie auf Amphetamin rast der Film rauschhaft durch eine einzige dunkle Nacht in diesem kalten New York und endet letztlich mit einem Paukenschlag, wenn auch das letzte bisschen Hoffnung auf dem Asphalt zerplatzt. Je länger der Film dauert, desto deutlicher wird auch, dass sich die Dynamik der Ereignisse verselbstständigt hat und Connie zusehends die Kontrolle verliert. Was als noble Rettungsmission für Nick begann, verkommt irgendwann zu purem Aktionismus, die nächste Idee ist noch schlechter und verzweifelter als die letzte und irgendwann geht es bloß noch ums nackte Überleben.

                                        In Good Time ist die Kamera von Sean Price Williams immer ganz nah an den Figuren, sehr fokussiert und dennoch ungemein dynamisch. Die Bildsprache fällt eher dokumentarisch, beinahe schon naturalistisch aus, ist aber immer auch voller Details. So offenbart ein kaum mehr als zwei Sekunden langer Blick in einen fremden Kühlschrank einen regelrechten Mikrokosmos des Daseins am sozialen Rand. Zwar machen die Safdie-Brüder überhaupt keinen Hehl aus ihrer Begeisterung und Faszination für das urbane Kino der 80er, für nächtliche Straßen getaucht in grelles Neon, doch Good Time verkommt nie zum bloßen Abziehbild solcher Filme, sondern kann sich zu jeder Zeit eine ganz eigene Vitalität bewahren und so entsteht ein ungemein faszinierendes Kaleidoskop aus Farben, Klängen und starkem Schauspiel.

                                        Robert Pattinson war vielleicht nie so gut wie hier, wenn sein Connie permanent zwischen Aggression und Apathie hin und her schwankt, übermüdet und zunehmend verzweifelt, aufgekratzt, überdreht und extrem reizbar. Im Grunde hat Connie es ja zu Beginn verkackt und ist schuld an allem, doch alles was folgt, das geschieht aus Liebe zu seinem Bruder und aus dem Wunsch heraus, Nick aus der Klemme zu helfen. Dass alles in einer gnadenlosen Abwärtsspirale immerzu schlimmer wird, das geschieht nicht, weil Connie per se böse wäre, sondern weil er sich immer wieder selbst überschätzt und vielleicht nicht ganz so clever ist, wie er selber von sich glaubt.

                                        The pure always act from love. The damned always act from love. Die letzte Szene ist pures Gold, denn wenn am Ende während einer Art therapeutischer Übung plötzlich die unvergleichliche Stimme von Iggy Pop einsetzt, untermalt von sanften Klaviertupfern, erst dann kehrt so etwas wie Ruhe und Frieden ein und Nick offenbaren sich grundlegende Wahrheiten über sich und seinen Bruder Connie. Der Score vom Experimental-Elektrokünstler Oneohtrix Point Never (Daniel Lopatin) ist nicht weniger berauschend und mitreißend als Good Time selbst es ist. Ein sogartiger Synthie-Klangteppich wurde da erschaffen, funkelnd und pulsierend, flächig und doch immer genau auf den Punkt, dann wieder vibrierend und peitschend und vor allem pendelnd zwischen seltsam nostalgisch und zugleich sehr modern, zwischen Authentizität und Künstlichkeit. Zurück bleibt ein ungemein mitreißender und enorm von Bewegung geprägter Film, der dennoch niemals seine Figuren aus dem Fokus verliert und eigentlich ein sehr verletztes Herz unter seiner harten Fassade in sich trägt.

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                                          Zurück zum Anfang. Wer bin ich? Was passiert hier? Alles beginnt mit einem Autounfall und einem Mann ohne Erinnerung. Das ist der Auftakt zu einer rasanten wie rätselhaften Odyssee durch Seoul, bei welcher der Zuschauer ebenso verwirrt ist wie der Protagonist selbst. Dabei verschiebt und wechselt Regisseur Yoon Jae-geun immer wieder geschickt Perspektiven und Blickwinkel und lässt das Publikum lange im Ungewissen. Erst nach und nach hebt sich der Schleier, wenn I-an Kang immer mehr Licht ins Dunkel bringt und eine Verschwörung aufdeckt. Die Fragezeichen und Knoten im Kopf lösen sich also mehr oder weniger, auf eine wirklich befriedigende Antwort sollte man jedoch nicht unbedingt hoffen. Zwar serviert das Drehbuch von Spiritwalker eine Erklärung für die mysteriösen Ereignisse, diese jedoch gilt es einfach zu schlucken und nicht zu hinterfragen.

                                          Der Aspekt der Seelenwanderung ist definitiv mehr als bloß ein Gimmick und hebt den sonst eher generischen Plot aus der Masse ähnlich gestrickter Thriller hervor, doch was lange wie ein erdrückendes Puzzle anmutet, das verkommt spätestens mit seiner rückblickend erzählten Auflösung im letzten Drittel zu kaum mehr als konventionellem Genrekino. Das ist ein wenig schade, hätten sich an diesem Punkt vielleicht noch ein paar erzählerische Möglichkeiten geboten um den Zuschauer herauszufordern. Die Unzuverlässigkeit subjektiver Erlebnisse und die Brüchigkeit der eigenen Identität beispielsweise, aber leider wählt das Drehbuch ab einem gewissen Punkt den leichten Ausweg aus der Zwickmühle.

                                          Auf dem Papier bietet Spiritwalker also viel Potential, dieses wird jedoch nicht vollends genutzt. Handwerklich und technisch hingegen ist der erst zweite Film von Yoon Jae-geun auf hohem Niveau angesiedelt. Die Kamera ist enorm dynamisch, verliert aber nie die Übersicht über das Geschehen, und der Schnitt legt einen guten Rhythmus vor, ohne allzu hektisch zu geraten. Mit zunehmender Laufzeit erhöht sich auch das erzählerische Tempo und damit ebenfalls der Grad der Action, welche absolut sehenswert und abwechslungsreich gestaltet ist. Zweifellos ein überaus interessanter Genrefilm mit einer erfrischend anderen Grundidee, jedoch macht das Drehbuch zu wenig daraus und verirrt sich im letzten Akt in recht konventionellen Erzählstrukturen.

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                                          • 7

                                            Ein merkwürdiger wie rätselhafter Film. Immer, wenn er mir in meinem Filmregal unterkommt, dann denke ich: och, eigentlich war der gar nicht sonderlich gut. Aber dann ist er in meinem Kopf und nistet sich dort ein, bis er dann doch in den Player wandert. Manchmal noch am selben Abend, manchmal Tage später, aber früher oder später kriegt er mich und dann sitze ich doch wieder knappe zwei Stunden mit offenem Mund da. I Come with the Rain vom vietnamesischen Regisseur Tran Anh Hung mag nicht ganz so sperrig daherkommen wie beispielsweise Only God Forgives von Nicolas Winding Refn, dennoch geht eine ganz ähnliche visuelle Anziehungskraft ebenso von ihm aus wie ein offenkundiger Mangel an erzählerischer Stringenz.

                                            Was als handelsüblicher Neo-Noir-Thriller vor dezent exotischer Kulisse beginnt, das erfährt schon bald so manch irrsinnige Wendung, ergießt sich in einen irrlichternd pulsierenden Bilderreigen und mündet in einer Art verzerrtem religiösen Drama. Vor allem in der zweiten Hälfte, wenn I Come with the Rain beinahe jegliche Erzählstruktur aufzugeben scheint, dann entwickelt sich ein dennoch mitreißender visueller Rausch, ein Kaleidoskop der Bilder und Farben in den nächtlichen Straßenschluchten eines von Neonlicht gefluteten Hong Kong, nur noch weiter auf die Spitze und darüber hinaus getrieben von einem großartigen Score aus zahlreichen Songs von Bands wie Radiohead, Explosions in the Sky, Godspeed You! Black Emperor oder Thee Silver Mt Zion. Da gibt es zum Beispiel ungefähr zur Hälfte eine geradezu famose Montagesequenz zu den Klängen von Radioheads Climbing Up The Walls.

                                            Dazu blitzen immer wieder verstörende Szenen und Bilder auf, die sich regelrecht auf der Netzhaut einbrennen, wenn beispielsweise der Gangsterboss Su Dongpo einen seiner Männer brutal hinrichtet, einen Obdachlosen mit dessen toten Hund erschlägt oder wenn Kline von Flashbacks und Albträumen geplagt wird, in denen immer wieder die grotesken Skulpturen aus menschlichen Körperteilen, angefertigt vom Serienkiller Hasford, im Mittelpunkt stehen, die so auch aus dem Body Horror-Klassiker The Thing von John Carpenter stammen könnten. Das überrumpelt, das verstört, das strengt an. I Come with the Rain ist ein physischer wie psychischer Kraftakt, gerade weil sich Tran Anh Hung kaum bis gar nicht für traditionelle Erzählstrukturen – ach was: überhaupt für irgendwelche Erzählstrukturen – interessiert, weil manchmal ganze Handlungsfäden plötzlich unter den Tisch fallen (so taucht der eigentlich recht interessante Cop Shitao irgendwann einfach nicht mehr auf und spielt keine Rolle mehr) und immer wieder herzlich wenig subtil eingebaute religiöse Metaphern und Bilder für eine krude Erlöser-Allegorie bedient werden.

                                            Ich kann jeden verstehen, der damit nichts anfangen kann oder keinen Zugang dazu bekommt – ich selbst kann es eigentlich auch nicht. Geniestreich oder hohle Verpackung? Kryptische und ambitionierte Filmkunst oder prätentiöses und unnötig religiös aufgeladenes Geschwafel? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Am Ende denke ich dann immer: Och, sonderlich gut ist der Film eigentlich gar nicht… aber diese Bilder in verführerischer Kombination mit dem fabelhaft sphärischen Score… die kriegen mich trotzdem immer wieder, graben sich in mein Bewusstsein, nisten sich wieder dort ein.

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                                            • 7 .5

                                              Start at the end. Chris Pratt hat eine rosige Zukunft vor sich, als er in einem Anflug von Leichtsinn und Selbstüberschätzung einen folgenschweren Fehler begeht. Ein Fehler, der nicht nur sein Leben für immer verändern wird. Wie Regisseur Scott Frank nach dem Auftakt erst einmal das Tempo raus nimmt und mehrere Gänge zurückschaltet, so sehr wandelt sich auch das Leben von Chris vom Eishockey-Starspieler der Highschool und Mädchenschwarm hin zum sozial isolierten Außenseiter mit neurologischer Störung. Standstreifen statt Überholspur. The Lookout lässt sich Zeit und bringt dem geneigten Zuschauer seinen Protagonisten sachte und bedacht nahe, macht ihn vertraut mit seinem Schmerz, seiner Zerrissenheit, seiner Verlorenheit, seinen Schuldgefühlen.

                                              Lange Zeit ist The Lookout von einer ruhigen Melancholie durchzogen, ist langsam und leise erzählt, und erst nach und nach beginnt der Thriller-Plot in das Drama einzudringen und steigert spürbar das Tempo. Der Plot selbst strotzt vielleicht nicht unbedingt vor Originalität, ist jedoch handwerklich sauber ausgeführt und ausgesprochen nuanciert in Szene gesetzt. Tonal ist das alles kalt und trist und fängt hervorragend diese seltsam leere und öde Mittlerer Westen/Kleinstadt-Atmosphäre ein. Dazu passen die schlichten wie stimmigen Bilder von Kameramann Alar Kivilo, die in ihrer kargen Schroffheit vielleicht nicht an Fargo (1996), wohl aber an den ebenfalls von ihm gefilmten A Simple Plan (1998) erinnern. Auf der darstellerischen Ebene ist vor allem Joseph Gordon-Levitt (Looper, Inception, Brick) als Chris hervorzuheben, der dessen zerrissene Seele mit wenigen Mitteln glaubhaft und aufrichtig zu spielen vermag, doch auch Jeff Daniels (Looper, The Martian, Steve Jobs) als sein blinder Mitbewohner Lewis liefert vor allem deshalb eine starke Performance ab, weil es ihm gelingt glaubwürdig einen Blinden zu mimen.

                                              Das alles zusammen ergibt unter dem Strich einen zurückgenommenen, unterkühlten und vor allem sehenswerten Neo Noir, der sich ein wenig zu sehr unter dem Radar bewegt und ruhig etwas bekannter sein dürfte. Verdient hätte er es.

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                                              • 7

                                                People are afraid of all the wrong things. Mit seiner erst zweiten Regiearbeit nach The Lookout (2007) verfilmt der eher als Drehbuchautor bekannte Scott Frank (Logan, Out of Sight, Get Shorty) einen Roman von Lawrence Block. A Walk Among the Tombstones ist geradlinig und schnörkellos in seiner Narrative, inhaltlich eher schlicht geraten und kommt gänzlich ohne überraschende Wendungen aus. Das erzählerische Tempo ist angenehm zurück genommen und erfrischend altmodisch. Einen weiteren Spät-Rache-Actioner im Stile eines 96 Hours sollte man also nicht erwarten, denn A Walk Among the Tombstones glänzt mehr durch eine dichte Atmosphäre und eine gelungene Ästhetik als durch Action und hektische Schnitte. Frank zeichnet eine graue, trostlose, kalte und schmutzige Welt ohne Hoffnung, zu der dann auch ganz hervorragend das Setting eines abseitigen New York jenseits allzu bekannter Plätze passt.

                                                Die Figuren sind moralisch ambivalent und eine simple Unterteilung in Gut und Böse findet nicht statt. Strahlende Saubermänner kennt A Walk Among the Tombstones nicht und zerrt mitunter recht ordentlich am moralischen Kompass des Zuschauers. Liam Neeson verkörpert den gebrochenen Einzelkämpfer mit der genau richtigen Mischung aus Melancholie und Würde irgendwo zwischen Verletzlichkeit und Entschlossenheit. Auch der Rest vom Cast rund um David Harbour, Boyd Holbrook und Dan Stevens kann sich sehen lassen. Das Hard Boiled/Neo Noir – Krimidrama mag seinem Genre vielleicht nichts Neues hinzuzufügen, doch die einnehmende Stilistik, die dichte Atmosphäre, das zurückgenommene erzählerische Tempo und ein schneidend spannendes Finale heben A Walk Among the Tombstones ordentlich über Durchschnitt. Erst in der allerletzten Szene vermag die Sonne die graue Wolkendecke zu durchbrechen. Hoffnung? Vielleicht. Wer weiß. Black Hole Sun...

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                                                • 10
                                                  über Drive

                                                  There are no clean getaways. Manchmal gibt es Filme, die berühren dich, lösen etwas in dir aus. Die sind irgendwie anders. Unvergleichlich. Unvergesslich. Nicht von dieser Welt. Drive ist für mich ein solcher Film. Ein absoluter Ausnahmefilm. Was Regisseur Nicolas Winding Refn hier zusammen mit Drehbuchautor Hossein Amini aus der Romanvorlage von James Sallis erschafft, das sucht wahrlich seinesgleichen. Pure Magie. Die perfekte Vermählung aus räudigem Genrekino und funkelnder Kunst. Eine zarte Liebesgeschichte und zugleich brettharter Neo Noir mit Hang zum Gewaltrausch in Zeitlupe. Visueller wie narrativer Minimalismus in Reinkultur.

                                                  Refn legt seinen gestalterischen Fokus ganz bewusst eben nicht auf die erzählerische Ebene, sondern nahezu ausschließlich auf die Inszenierung und die geradezu hypnotisch soghafte Wirkung seiner sorgfältig komponierten Bilder. Selbst die Figuren im Film sind kaum mehr als archaisch stereotype Projektionsflächen. Die Bildgestaltung jedoch ist phänomenal geraten, immer extrem überlegt und vollkommen in ihrer Präzision, denn wirklich nichts ist hier dem Zufall überlassen. Stilistisch blitzen immer wieder filmische Vorbilder wie Michael Mann, William Friedkin oder Walter Hill und deren Werke auf.

                                                  Schon die Eröffnungssequenz zeigt uns nicht nur alles, was wir über den Driver wissen müssen, sie ist auch bezogen auf Timing und Tempo auf den Punkt genau in Szene gesetzt. Hier sitzt einfach alles, jeder Schnitt von Matthew Newman (Walhalla Rising, Only God Forgives, The Neon Demon) und jede Kamerabewegung von Newton Thomas Sigel (Bohemian Rhapsody, Extraction, X-Men: Days of Future Past), alles ist klar, scharf und bloß auf das Nötigste reduziert. Die Action ist sparsam, bedacht, klug gesetzt und überaus effektiv in ihrer Schlichtheit, vor allem aber auch gespickt mit explosiv eskalierender Gewalt.

                                                  Kontrolle und Reduktion. Ebenso, wie der Driver hinter seinem Lenkrad genau weiß, was er zu tun hat, so weiß es auch Refn hinter der Kamera. Inszenatorische Klarheit und erzählerische Einfachheit, immerzu angetrieben von unbedingtem Stilwillen, aber nie zum reinen Selbstzweck. Seine Bilder sprechen zum Zuschauer. Show, don´t tell. Ein kaum mehr als angedeutetes Lächeln von Ryan Gosling erzählt mehr als es eine ganze Szene könnte. Gesprochen wird nicht sonderlich viel, stattdessen ist Drive oft subtiler und setzt mehr auf Nuancen im Schauspiel, die auch gelesen werden wollen.

                                                  Es sind die Details: schüchterne Blicke, zwei Hände, die sich kurz berühren, immerzu Spiegel, die sich schließende Tür eines Aufzuges. Eine aufkeimende Liebe, die nicht sein kann, nicht sein darf. Wenn sich dann zu all dem noch der zärtlich wabernde Electro-Score aus der Feder von Cliff Martinez als krönende Kirsche perfekt anschmiegt, dann ist Drive nicht mehr und nicht weniger als ein formalästhetisches Meisterwerk und sicherlich einer der eindringlichsten und bemerkenswertesten Genrefilme der letzten zwanzig Jahre.

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                                                  • 9
                                                    über Paprika

                                                    "Findest du nicht auch, dass Träume und das Internet sich in gewisser Weise gleichen? In beiden lebt sich das unterdrückte Unterbewusste aus."

                                                    Provokant und vielleicht etwas überspitzt formuliert: Paprika ist Inception in gut. Inception mag zweifellos handwerklich großes Kino sein und doch ist an dieser These etwas dran, denn wo Christopher Nolan den Zuschauer immerzu an die Hand nimmt und jeden Schritt haarklein erklärt, damit bloß keine Orientierungslosigkeit aufkommen kann, da schmeißt einen Satoshi Kon ( Perfect Blue, Tokyo Godfathers) mit Paprika direkt und unvermittelt ins Geschehen, nimmt sein Publikum ernst und traut ihm auch zu, den Dingen ganz von allein auf den Grund gehen zu können. Und dieser wilde Ritt sucht wahrlich seines gleichen, denn Kon entfesselt einen geradezu unglaublich kreativen Bilderrausch voller übersprudelnd fantastischer Ideen. Visuell ist das bunte Treiben wundervoll anzusehen und erinnert manchmal an Cronenberg, manchmal an Dalí und manchmal einfach nur an bunte Comicwelten.

                                                    Statt die Grenze zwischen Realität und Traum nur zu verwischen, da sprengt Kon sie lieber gleich einfach weg. So baut Paprika auch auf keinen bestimmten Plot Twist hin, sondern zweifelt lieber von Beginn an konsequent an eben jener Grenze. Was ist wahr, was Traum, was manipuliert? Woran lassen sich die Unterschiede erkennen? Gibt es überhaupt noch welche? Traumwelt auf Traumwelt wird hier geschichtet bis sie sogar miteinander verschmelzen und der Zuschauer sich buchstäblich nie sicher sein kann auf welcher Ebene er sich gerade befindet. Die Wahrnehmung selbst wird manipuliert, verdreht, verknotet und dann gleich nochmal auf links gedreht. Paprika ist mehr als nur doppelbödig, verschachtelt und verwinkelt, rätselhaft und vor allem durchzogen von diversen Metaebenen und dennoch gelingt Kon das angesichts dieses schieren Wahnsinns geradezu unglaubliche Kunststück, dass sein Film nie zu überladen wirkt und trotz aller Ablenkung seine Story im Auge behält und sogar zu einem durchdachten Schlusspunkt bringt.

                                                    Geschickt hinterfragt Kon nicht nur die Beschaffenheit von Wahrnehmung und somit Realität, sondern reflektiert darüber hinaus noch intelligent wie gleichermaßen unterhaltsam Gesellschaft, Medienwelt und den menschlichen Geist. So entpuppt sich Paprika sowohl inhaltlich wie audiovisuell wahrlich als kleines Meisterwerk, dessen tatsächliche Größe beim ersten Schauen kaum erfasst werden kann, denn Satoshi Kon bombardiert immerzu die Synapsen des Zuschauers mit den unterschiedlichsten Reizen, bis diese glühen, ohne es je zu übertreiben. Ganz großes Kino.

                                                    "Sind wir aufgewacht? Ist das jetzt kein Traum mehr?"

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