Düstere Wolken ziehen am Horizont herauf und werden nie wieder verschwinden: In allen Filmen von Jeff Nichols herrscht diese triste, bedrückende Grundstimmung. Bereits in seinem Debüt, Shotgun Stories, inszenierte der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor eine Welt, in der nur selten ein Sonnenstrahl durch die dichte Wolkendecke drang und durch sein Ausbleiben für eine trübe Grundstimmung sorgte. Bis heute ist das Grollen am Himmel nicht verschwunden: Nach Take Shelter - Ein Sturm zieht auf und Mud - Kein Ausweg dominieren in Midnight Special auf der Berlinale 2016 ebenfalls die düsteren Wolken das Geschehen am Horizont. Auch darüber hinaus schließt der herausragende Science-Fiction-Film schlüssig an Jeff Nichols' bisheriges Schaffen an - und denkt die Ideen des Regisseurs - mit der Hilfe von großen Vorbildern wie Steven Spielberg und John Carpenter - eine Ecke weiter.
Ruhig und langsam nähert sich Jeff Nichols seinen Figuren an, die meist im Begriff sind, erwachsen zu werden. Vorzugsweise ist es eine männliche Figur, die sich im Mittelpunkt der Geschichte befindet und längst nicht dort angekommen ist, wo es von ihrer Umwelt erwartet wird. Das Kind im Manne ist stets präsent, völlig unabhängig, ob dieser von Michael Shannon oder Matthew McConaughey verkörpert wird. Dazu kommt die Spiegelung in den eigenen Kindern - seien es die Söhne in Shotgun Stories oder die Freundschaft zu zwei Jungen in Mud. Die direkte Konfrontation ist stets vorhanden und nimmt in Midnight Special eine ganz besondere Form an: Nachdem die Tochter in Take Shelter aufgrund ihrer Hörbehinderung eine außergewöhnliche Stellung im klassischen Familienkonzept einnahm, fungiert nun der achtjährige Alton (Jaeden Lieberher) als ungewöhnlicher Gast in der Familie, die sich ansonsten aus Vater und Mutter zusammensetzt.
Alton scheint nicht von dieser Welt zu stammen, zu unnatürlich sind seine Fähigkeiten, die er mehr oder weniger freiwillig in unregelmäßigen Abständen den Menschen offenbart. Dennoch steht in keiner Sekunde zur Debatte, ob er wirklich der Sohn von Roy (Michael Shannon) und Sarah (Kirsten Dunst) ist - oder womöglich mit messianischer Geste auf die Erde gesandt wurde. Richtig interessant wird diese Konstellation im Bezug auf Steven Spielberg und sein Werk, bei dem das Kind schon immer eine zentrale Rolle im Rahmen des filmischen Abenteuers gespielt hat - angefangen bei Barry Guiler (Cary Guffey) in Unheimliche Begegnung der dritten Art, der im Angesicht einer warmen wie kräftig strahlenden Lichtquelle vor Staunen im Türrahmen erstarrt, über Elliot (Henry Thomas) in E.T. - Der Außerirdische, der Kontakt mit dem titelgebenden Alien aufnimmt, bis hin zu David (Haley Joel Osment), der in seiner Eigenschaft als Roboterkind in A.I. - Künstliche Intelligenz das Echte mit dem Künstlichen verschmelzen lässt.
Bei Jeff Nichols ist das Kind - abseits offensichtlicher Parallelen zu Barry und Elliot - eine Variation von David, nämlich ein Fremder, ein Gesuchter, ein Gejagter. Und dennoch existiert sie, die selbstlose Liebe der Eltern, die keinen Augenblick zögern würden, um das eigene Leben für das ihres (außerirdischen) Sohnes einzutauschen. Intensiviert wird diese Beziehung durch den Weltuntergang außenrum, die treibende Kraft der Erzählung sozusagen. Nahezu sprichwörtlich findet dieser in den finalen Minuten von Take Shelter in Form eines Tsunamis statt. Im Fall von Mud ist es die bittere Erkenntnis vom Ende der Kindheit à la Stand by Me - Das Geheimnis eines Sommers. Das durchlebte Chaos schweißt die Familie zusammen - und Jeff Nichols ist dieses Bündnis (auch im erweiterten Kreis eines Freundes/Verbündeten, wie er beispielsweise in Midnight Special von Joel Edgerton verkörpert wird) mindestens genauso wichti, wie die eingangs beschriebe Düsternis am Horizont.
Wenn es darum geht, das Tosen der Naturgewalten mit emotionalen Konflikten vergleichbarer Windstärke ineinander übergehen zu lassen, ist Jeff Nichols zweifelsohne ein Ausnahmetalent. Zur Seite stehen ihm dabei treue Wegbegleiter wie Kameramann Adam Stone und Komponist David Wingo, die seit Shotgun Stories beziehungsweise Take Shelter für eine unverwechselbare Atmosphäre in seinen Werken sorgen. Wo in poetischen Bildern die erschreckende Größe des unscheinbaren Höllentores zwischen Redneck- und White Trash-Milieu zum Vorschein kommt, sorgt das musikalische Grundgerüst für unfassbare Anspannung. Ein Treiben, ein Hämmern, ein unermüdlicher Pulsschlag: Es stockt einem der Atem, wenn die Gewaltspirale eskaliert oder schlicht ein Auto bei Nacht die Straße entlangfährt. Der Orkan an überwältigenden wie mitreißenden Eindrücken nimmt kein Ende - und trotzdem findet Jeff Nichols immer wieder Zeit für unfassbare Stille, fast betäubend und deswegen so erschütternd in ihrer unberechenbaren Omnipräsenz.
Niedergeschmettert blicken die Menschen in die Kamera, in ihren Augen spiegelt sich der Schmerz der (selbstverschuldeten) Verdammnis wieder. Doch dieses Mal ist etwas anders: In Midnight Special existiert ein greller, unbändiger Lichtstrahl, der die Dunkelheit durchbricht und an die Stelle der sonst so müden, erschöpften Blicke tritt. Geradezu hoffnungsvoll endet das Sci-Fi-Roadmovie in der Möglichkeit einer Utopie - gänzlich entgegen des zerstörerischen Schlussakkords von Jeff Nichols' vorherigen Filmen. An die Stelle von Jessica Chastain, die mit wehendem Haar ohnmächtig die Vorboten des Unvermeidlichen bezeugt, treten nun die staunenden Gesichter, die Spielberg faces, von Michael Shannon, Kirsten Dunst, Joel Edgerton und Adam Driver, die eine Alternative gesehen - und diese auch akzeptiert - haben. Absolut berauschend! Um welche Facette Jeff Nichols in Anbetracht dieser neu eröffneten Perspektive sein Schaffen mit Loving wohl bereichern wird?