Wir schauen The Leftovers - Staffel 1, Folge 1

01.07.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
The Leftovers
HBO
The Leftovers
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Zwei Prozent der Menschheit verschwinden binnen einer Sekunde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Die Hinterbliebenen kämpfen in der neuen Serie von Lost Co-Creator Damon Lindelof mit den mikrokosmischen Folgen und den Altlasten ihres Showrunners.

The Leftovers bietet ein Konzept, das für Damon Lindelof persönlich geschrieben worden zu sein scheint. Es ist nicht wirklich schwer zu verstehen, was genau ihn an Tom Perrottas gleichnamigen Roman angezogen hat, wenn ihr euch ein wenig mit dem noch jungen Werk des Autors beschäftigt. Bei den Projekten, bei dem ihm alleinige narrative Verfügung oder relative Autorität zugestanden wurde, verfuhr Lindelof stets nach der Mystery-Box-Maxime seines Mentors, J.J. Abrams, bei der keine Auflösung oder Antwort so interessant und einnehmend sein kann, wie das dazugehörige Mysterium. Bei Lost bewies der Showrunner zusammen mit Carlton Cuse, wie interessant er dieses Gefüge, manche würden es wohl als Kartenhaus bezeichnen, aus Antworten und immer neuen Fragen gestalten und dabei gleichzeitig komplexe Charaktere und Themen bedienen kann. Der Zwiespalt zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Glaube und Beweis, dominierte die verschollene Insel. Es ist daher nicht verwunderlich, weshalb die nicht mit weltlichen Methoden zu erklärende Prämisse von Tom Perrottas Roman ihn so offensichtlich faszinierte.

Von jetzt auf gleich verschwinden zwei Prozent der globalen Weltbevölkerung. Es ist genug, um wahrscheinlich kleine Schäden anzurichten. Aber nicht genug, um die globale Bevölkerung ins politische Chaos zu stürzen. Das Leben geht weiter. Die durch den “Departure” resultierende Existenzkrise findet ihren Konflikt im Mikrokosmos New Yorks. Zwei Prozent sind nicht genug für die Apokalypse, aber immerhin 140 Millionen Menschen weltweit. Genügend, dass fast jeder einen kennt, der verschwunden ist. Und wenn das Event die Familien nicht zerschlägt, dann tut es der stetig wachsende Einfluss lokaler Gruppierungen, die auf ihre Weise versuchen, mit der Nachwelt und ihren Implikationen umzugehen.

Lindelof offenbart recht schnell, woran ihm in seiner neuen Serie gelegen ist und worin er sich in seiner Adaption nicht weit von Perrottas Vorlage unterscheidet. Wir beginnen die Pilotfolge mit einer jungen Mutter (Carrie Coon), die gestresst vom Alltag plötzlich in ein tiefes Loch gestoßen wird, als ihr Baby spurlos vom Rücksitz ihres Autos verschwindet. Während sie verzweifelt nach Hilfe ruft, schreit neben ihr ein Junge nach seinem Vater und am Ende des Parkplatzes kommt es zu einem minder schweren Autounfall.

Was hätten die Serien-Macher aus diesem Event à la FlashForward schnitzen können, bei dem uns ein visuelles und irrationales Chaos die katastrophalen Konsequenzen schildert. Ein Flugzeug, das von jetzt auf gleich ohne Piloten auskommen muss, ist nur eine von vielen Horrorvorstellungen, die sie aus dem Szenario hätte zaubern können. Stattdessen beginnen wir im kleinen Städtchen Mapleton.

Kevin Garvey (Justin Theroux) ist der Polizeichef und ein Mann geplagt von Ohnmacht, Zweifel und Alkohol. Er ist getrieben vom Verlust. Seine Familie wurde am 14. Oktober, der eine symbolträchtige Kraft des 11. Septembers versprüht, verschont und zerbrach dennoch in den folgenden Jahren. Seine Frau, so erfahren wir im emotionalen und nur halb funktionierenden Höhepunkt der Folge, schloss sich einem Kult namens Guilty Remnant an, deren Mitglieder dem irdischen Leben nach der Demonstration der Kraft Gottes abgeschworen haben und ihr Dasein nur noch in weißen Kleidern als Kettenraucher verbringen. Verbale Kommunikation erscheint ihnen als unnütze Tätigkeit. Sie verfolgen labile Personen wie Meg Abbott (Liv Tyler), die weiterhin ein schönes Leben aus Suburbia und Hochzeitsplanung träumen darf, tief in ihr jedoch eine Leere verspürt, die ihr Leben prägt und welche sie am Ende dazu bewegt, sich dem Kult anzuschließen.

Garveys Sohn Tom verbringt derweil seine Zeit in der Wüste Nevadas bei einem nebulösen Wunderheiler namens Wayne (Paterson Joseph), der eine erstaunliche Mischung aus weiblichen Models und entschlossenen Soldaten um sich versammelt hat. Sein Ruf hat sich sogar bis zu Kongressabgeordneten herumgesprochen, doch Waynes antagonistische Haltung und Warnung an Tom, dass die Schonfrist vorbei ist, deutet eine aggressivere Note an, als wir das von Wunderheilern erwarten würden. Die angelegte Infrastruktur deutet eventuell auf terroristische Pläne hin.

Im Gegenteil dazu wirken die Provokationen (“Stop wasting your breath”) der Guilty Remnants beim Heroes Day, dem gesetzlich angeordneten Gedenktag für die verschwundenen Menschen, gerade zu pazifistisch. Wie bei Beerdigungen, ist diese Veranstaltung nicht für die Toten gedacht, sondern für die Verbliebenen. Um den Verlust und augenscheinlichen Tod zu verarbeiten, durchgeht der Mensch die “5 stages of grief”, an deren Ende die Akzeptanz der Vergänglichkeit steht. Diese ist aber im Serienuniversum nicht zu bewerkstelligen, weshalb die normale Bevölkerung in einem permanenten Depressionszustand verharrt. Psychisch ist dies auf Dauer nicht zu verkraften. Es gibt nichts zu tun. Sie können nicht einmal jemanden beerdigen. Wo sind die Helden nur hin?

Doch von Helden geht Pastor Jamison (Christopher Eccleston) gar nicht aus. Er schwadroniert über die Verschollenen und ihr teilweise unrühmliches Leben. Nicht alle, die an dem Tag verschwanden, waren engelsgleich und er will es beweisen. Es handle sich bei dem Verschwinden nicht um die biblische Entrückung, den “Rapture”, die für viele fundamentale Christen in den USA als sicheres Ereignis feststeht. Die willkürliche Auswahl (verdeutlich im einzigen humorvollen Anteil der ersten ansonsten nihilistisch geprägten Folge: Shaq, Papst Benedikt XVI. und Gary Busey) kann als Erklärung nicht dienen und wissenschaftlich ist dem augenscheinlichen Verschwinden von Energie und Materie ebenfalls nicht näher zu kommen. Die daraus resultierende Frustration schlägt beim Heroes Day in Gewalt um, die Regisseur Peter Berg in ihrer Tragik stimmig einfängt.

Ein weiterer Subplot widmet sich Garveys Tochter Jill (Margaret Qualley), die ihrem Vater mit ihrer wenig glaubhaften, hypersexuellen Freundin auf eine Party entflieht. Sie ist ihm als einzige geblieben und dennoch fern. Im einzig schwachen Moment der Folge reduzieren Lindelof und Perrotta hier die Jugendlichen auf eine Metapher aus Sex, Nihilismus und jugendlicher Aufsässigkeit. Die Szene wird immerhin noch durch die Beerdigung des Hundes gerettet, den Garvey zuvor mit sich nahm, nachdem ihn ein mysteriöser Mann (Michael Gaston) vor seinen Augen erschoss und floh. Im thematisch stimmigsten Subplot findet so nämlich Chief Garvey zu einer Frau, die von der urbanen Legende um entflohene Hunden erzählt, die, nachdem sie das Verschwinden ihrer Herrchen mitansehen mussten, wieder zu ihrem ursprünglichen, animalischen Zustand verwilderten. Diese sind es auch später, die im Klimax der Folge den Hirsch angreifen, der Garvey bis in seine Träume zu verfolgen scheint. Könnte der natürliche Instinkt der Hunde hier die Zukunft der geplagten Menschen deuten, die sich durch ihre Rationalisierung der Situation nur Zeit erkaufen? Oder sind wir angewiesen den Hirsch im christlichen Kontext zu interpretieren (Psalmvers 42,2), nachdem sie als Darstellung der nach Heil Suchenden zu sehen sind? Oder ist der Hirsch in Wahrheit nur eine weitere Projektion von Garveys brodelnden Unterbewusstsein? Das hinterlassene Chaos in der Küche, das von dem Tier angerichtet wurde, steht dabei sinnbildlich für den Abgang der Mutter aus der Familie. Und sollte dies zutreffen, wird die Gesellschaft der bissigen Hunde die Guilty Remnants verschonen und kann Garvey seine Frau retten?

Augenscheinlich bietet The Leftovers ein einzigartiges und verheißungsvolles Konzept. Doch der Pilot lässt in bester Lost-Manier selbst die simpelsten Zusammenhänge offen. Auf lange Sicht gesehen, kann dieses Konzept jedoch frustrierend für den Zuschauer werden. Bereits im Vorfeld betonten die Showrunner daher in Interviews, dass die Serie am Ende eine Auflösung bietet, das geheimnisvolle Verschwinden aber dabei nicht im Vordergrund steht. Dass die Figuren weder über Ambition noch Kompetenz verfügen, um das zentrale Mysterium zu lösen, fällt in den Hintergrund solange das Drama stark genug ist. Komplexe und interessante Figuren sowie fähige Darsteller besitzt die Serie, um dies zu bewerkstelligen. Im Umkehrschluss muss die Frustration im Umgang mit dem Fehlen der Antworten und die brachiale Existenzkrise der Charakere aber auch Wege finden, die inneren Emotionen auf den Bildschirm zu übertragen. Lost löste dieses Problem mit einer symbiotischen Plotstruktur aus Insel und Flashbacks zum vorherigen Leben der Überlebenden, während The Leftovers kleine Momente des Wahnsinns als emotionalen Einblick in die Figuren formuliert, die allesamt eine traumartige Qualität besitzen. Sei es nun die wilde, nackte Flucht von Garveys Vater, der Doppelsuizid am College oder der Sex mit einer fremden Frau, die sich wohl beim Akt mit Garvey in Luft aufgelöst haben muss.

Zukünftige Folgen werden ohne die Neuerscheinungseffekte des Konzepts auskommen müssen. Ein interessanter Mix aus Radio, TV und Podcasts übernimmt zwar im Hintergrund die Aufgabe des Worldbuildings erstklassig, wenn die betonte Stille zu Beginn der Serie die Trauerzeit der Figuren untermalt. In Zukunft müssen die Figuren diese Stille aber zu füllen wissen. Die Schonzeit ist vorbei.

Zitat der Folge: “Ours is not to reason why.”
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Sascha bündelt auf seinem Blog PewPewPew die kulturelle Kraft von Filmen, Katzen und Pizza und spricht sonst über Serien im Werewolves on Wheels Podcast.

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