Jürgen Kiontke - Kommentare

Alle Kommentare von Jürgen Kiontke

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    Die Regis­seure knien sich in den Stoff, leben damit, werden Teil von ihm. Das Ergebnis ist: Jede Szene ist ein Standbild, und kein Bild wird zurückgelassen. Manchmal kann diese Stilisierung des Bildes gestellt, grotesk und wichtigtuerisch wirken, die Bilder schießen zuweilen gern übers Ziel hinaus. Auch das Engagement ("Wir machen uns nichts vor: Die Diskussionen um diesen Film werden sicher wieder eisenhart"), mit dem die Redings ihre Filme politisch verstanden wissen wollen, befremdet – es sind Produkte ei­ner Kultur, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

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    • 1

      Der neue James-Bond-Film "Spectre" ist Zombie-Genre: Gebäude stehen ausgebombt aus dem vorletzten Daniel-Craig-007 an der Themse herum, die Geheimdienstchefs wirken, stoppelbärtig wie sie sind, untot, und ansonsten so, als hätten sie vergessen, sich nach dem Klobesuch den Reißverschluss zuzuziehen.

      Zombie-Genre ist auch der Plot. Bei der Story geht's um totale Überwachung wie anno 1984 – 50 Typen sitzen vor Bildschirmen. War da die Wirklichkeit nicht schon weiter, hält die sich nicht ganz von selbst in Schach? Na gut. Der neue Chef will die Geschäftssparte mit den Lizenz-zum-Töten-Agenten abschaffen – mit Betonung auf Doppelnull. Sie sind eine überkommene Garde von Attentätern. "Die Drohnen arbeiten besser als ihr", weiß der Yuppie, der mit dem Innenminister zur Schule gegangen ist.

      Das hätte durchaus Potential, selbst der Killer muss aufs Sozialamt … Doch es gibt nichts Kluges in diesem Film. Der Bond-Darsteller Craig ist eine Fehlbesetzung, er hat keine Lust auf das hier; bei den Kusszenen mit Monica Belucci und Léa Seydoux, den Bond-Girls, schaut man lieber nicht so genau hin, die Witze sind von gestern. Man tut das hier nur, weil es im Drehbuch steht.

      Über zwei Stunden hauen sich zwei Frührentner auf die Fresse. Der eine passt nicht in die Rolle, der andere ist Christoph Waltz. Vielleicht das Schlimmste, der hat noch jeden Film zu einer deutschen Vorabendserienepisode heruntergebrochen. Dies hier ist gestorbene Kunst, wenn überhaupt. Mag sich das englische Königshaus genauso fühlen, kann ja sein. Es rannte jedenfalls mit Begeisterung in die Londoner Premiere.

      Gebrauchte Bilder, schaurige Darsteller, wie für einen Tele-5-Film morgens um drei: Die Frage ist, warum der Quatsch so dermaßen durch die Decke geht. Die Bond-Filme mit Craig sind enorm erfolgreich. Das wirft Fragen auf: Wenn es ein Publikum gibt, das solche Filme liebt – muss man sich da über irgendetwas wundern in der Welt?

      Ein einziger programmatischer Satz fällt in diesem ominösen Werk. Als Bond einem untergetauchten Spion außer Dienst gegenübersitzt: "Zwei Tote machen sich einen schönen Abend." Das ist inhärente Filmkritik: Genauso fühlt man sich, wenn man "Spectre" schaut.

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        Der deutsche Newcomer Schweighöfer schlägt dem französischen Altstar den fetten Schädel ein! Wenn das nicht ein kinopolitisches Großereignis ist! Bis es soweit ist, haben wir es nach der Aussage des Regisseurs bei seinem ersten Film mit einem komplizierten, psychologischen Spiel zu tun. Ja.

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        • 2 .5

          Dies alles hätte für einen Zweistundenfilm gereicht, Schmerz, Trauer, Verlust der Jugend. Leider will die Buchvorlage nicht, dass das so bleibt: Es muss was Dramatisches her. Und so bekommt Consuela eine tödliche Krankheit, die ihr die Brüste klauen wird. [...] Das ist gut und schön, aber vor allem ein biss­chen simpel: Was hätte das für ein Film werden können, wenn Consuela ihren Termin für die Brust-OP gehabt hätte, bevor »Elegy« angefangen hätte.

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            Man wundert sich schon, wie schnell Scotts Film vom furiosen Einstand ab immer kleiner wird. Nachdem die Crew auf dem avisierten Mond Spuren der Schöpfer gefunden hat, verläuft sich die Handlung in den labyrinthischen Gängen eines prähistorischen Raumschiffes. Nun soll es wahrscheinlich beim Publikum ankumpelnd wirken, wenn die wissenschaftlichen und sonstigen Fachkräfte ein Haufen Idioten sind. Mal ehrlich: Man raucht nicht auf einem instellaren Flug und auch nicht, wenn man kaum genug Luft hat, weil die Atmosphäre auf dem Trabanten dieselbe ist wie im Auspuff vom Opel Manta. Sehen künftige Geowissenschaftler aus wie heutige Profifußballer - mit Iro und 25 Tätowierungen? Alien stammt vom schnöden Tintenfisch ab und bei Kontaktaufnahme heißt’s gleich Kopf ab. Wenig wird im Zukunftsfilm Zukünftiges gedacht. Weder stark eingeschränkte Handlung noch die überarbeitungswürdigen Effekte leuchten ein. Das Außerdirdische bleibt blaß und schweigsam. Das Orchester setzt uns Hörner auf, bis auch unsere Ohren fallen mögen. Ach, wie traurig!
            Ein einziges Mal nur tritt dieser Film überzeugend aus sich selbst heraus: Wenn der Kapitän ein Nickerchen macht und sich in dabei in eine karierte Decke wickelt. Seht her, kommentiert es sich hier ironisch - egal was da komme, auf dem Weg zu den letzten Fragen: Der Mensch wird sich in die ewige karrierte Decke wickeln, und wenn’s draußen urknallt und scheppert.

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              Technisch ist alles möglich im Film, aber offensichtlich setzt gerade das der Phantasie enge Grenzen. Der neue »Star Wars«-Film bricht zwar alle Rekorde – 50 Millionen Dollar im Vorverkauf, die Zuschauerzahl wird in die Milliarden gehen und die chinesische Spielzeugindustrie ist auch gerettet – aber ansonsten heißt es wieder: Lichtschwert, Chewbacca, Eltern-Kind-Problematik. Dabei wurden die meisten Modernisierungsauflagen erfüllt: Die »Macht« trägt eine schickere Maske, Luke Skywalker ist eine Luka. Der siebte Teil der Saga ist irgendwie ein Substrat der früheren Filme mit moderatem Update: Ganze Szenen werden einfach nachinszeniert. Und nicht nur »Star Wars« wird ­zitiert. Der neue Superbösewicht ist ein Gollum-trifft-Lord-Voldemort-Crossover, der kugelige Computerroboter hat einmal »Wall-E« zu viel geguckt.

              Aber die Schauspieler sind ja auch alt und neu. Und die Witze und Kamerafahrten schön. Jede Menge Raumschiffeltern umschwirren die Nachkommenschaft, technisch auf dem Stand von vor 30 Jahren – was ist das denn für eine Galaxie?

              Das alles minus Politik und Ökonomie: Die »Star Wars«-Reihe zeichnete sich auch durch Darstellung administrativer Ebenen aus, die neben den ganzen Gadgets verdeutlichte, wie Diktatur entsteht. Durch Herbeiführung des permanenten Ausnahmezustands beziehungsweise einfach so. Die Stadtlandschaften als Orte der Gesellschaft fehlen hier folgerichtig. Imperium leitet sich nicht her, es ist gesetzt. Also: Nach furiosem Auftakt werden Menschen in den immer gleichen Dörfern von den immer gleichen Fluggeräten angegriffen, man verhaut sich im verschneiten Wald. Diplomatie existiert nicht, es ist gleich Krieg. Kann sein, dass die Macht hier erwacht – die immergleichen Kämpfe können auch ein Nickerchen zeitigen.

              Gähn, mecker – Schluss damit. Denn siehe da, der Film wirkt in die Wirklichkeit! Ich fahre nach der Vorstellung durch die Stadt, am Regierungsviertel vorbei. Da steht das monströse Kanzleramt, ist das nicht die Zentrale des Imperiums, herrscht hier nicht auch ein Elternteil? Luke, ich bin deine Mutti! Superfilm, alles echt: Wie auf dem Todesstern kann man sich überall fühlen.

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              • 3

                Käpt’n Ahab trifft Dorian Gray, während das "China Syndrom" läuft und Woody Allen einen Seniorenstift aufmischt, unterbrochen vom Hello-Kitty-Kellnerinnen-Plot im Matrix-Style. Dann gibt’s noch ein bisschen "Underworld"/"Mad Max" zum Ausstieg. Das setzt allerdings voraus, dass man überhaupt einen Einstieg gefunden hat.
                "Cloud Atlas" ist eine Literaturverfilmung, der Roman "Der Wolkenatlas" von David Mitchell hat 600 Seiten – Literaturverfilmung, een janz schwierijet Kapitel. Bücher im Kino: zerhackt, zerstückelt, verfälscht. Aber mal ehrlich, wer geht ins Kino, um den Abgleich mit der Vorlage zu machen? Geht man nicht eher in den Film, um das Buch nicht lesen zu müssen?
                Im Fall von "Cloud Atlas" gibt es allerdings schon bei der Vorlage ein gehöriges Hindernis für eine mögliche userfreundliche Umsetzung: Es werden sechs Geschichten parallel erzählt. Das Buch galt als unverfilmbar. Recht so.
                Was sich in literarischer Form gut ausnehmen mag, führt im Kino denn auch zu einem psychoseartigen Zustand. Es schnattert gewaltig mal sechs. Und das in einem topmodernen Erzählmodell. Alle geschätzten 45 Sekunden wechselt die Szenerie, das dürfte der durchschnittlichen Dia-Show-Taktrate des neuen Apple MacPro entsprechen – das große Zugeständnis an die Sehgewohnheiten. Wie Zappen, aber ohne Fernbedienung. Als wenn dieser optische Terror nicht genug wäre, spielen dieselben Schauspieler in sechs Erzählsträngen unterschiedliche Figuren. Nach Aussage der Regie sind aber alle Stories miteinander verbunden. Hoffentlich stimmt’s!
                Manche Filmkritiker liefen schon schreiend durch die Straßen und luden sich schnellstens die Motz-App vom Synonym-Lexikon herunter, um dem Werk angemessene Beschimpfungen zu finden. Einer hat sogar die Absätze seiner Kritik nummeriert, um die Steigerung des Ärgers zu versinnbildlichen! Auch sei der Film nicht werkgetreu und verkehre die Botschaft des Buchs ins Gegenteil. Scharen von lustigen Blog-Einträgen gutmeinender Filmliebhaber werden folgen. Gern sagt man in so einem Fall: Der Film wird für Diskussionen sorgen.
                "'Cloud Atlas' zeige, dass man in der Lage sei, mit dem Know-how in Deutschland solche großen Filme, solche herausragenden Bücher mit kleineren Mitteln umzusetzen, sagen die Macher. Von einem Hollywood-Blockbuster unterscheide der Film nicht viel.
                Der Verdacht liegt nahe, dass man im Kino kein Zuschauer mehr ist, sondern Kunde. Was macht eigentlich die Filmkunst so?
                "Cloud Atlas" ist der erste Hollywood-Blockbuster aus Deutschland, ganz ohne in üblichen Hollywood-Schnickschnack wie zum Beispiel – nennen wir es neudeutsch: Viewability. Den herkömmlichen Hollywood-Streifen kann man sich immer noch ansehen, ohne nachhaltig krank zu werden. Das Buch war zwar nicht unverfilmbar, aber der Film ist mehr oder weniger unansehbar.

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                  über Heil

                  In dieser Komödie geben sich Behördenskandale, mediale wie politische Verwurstung von Neonazis und Integrationsdebatte die Hand. Das hätte was werden können - hätte Brüggemann einen Spielfilm gemacht, der auch mal was hinterfragt. Stattdessen steht das Kinoformat „Deutsche Komödie“ im Vordergrund: Die deutsche Wirklichkeit bildet nur den Hintergrund für meist simpel gestrickten Humor.
                  An den Schauspielern liegt‘s nicht. Bestnoten verdient die Performance, wenn die Leute aus dem Komödienstadl heraustreten: etwa der wie immer brillante Jacob Matschenz als brutalisierte SA-Nachwuchskraft, der offenkundig ausblendet, dass er in irgendetwas Spaßigem mitspielt. Anna Brüggemann als Nazibraut hält locker mit.
                  Aber ehrlich gesagt war der Film für mich schon nach 20 Sekunden beendet. „Heil“ beginnt mit drei kurzen Einstellungen, dazu eingeblendet die Zeile „Deutschland 1945“: Zuerst sieht man die deutsche Wehrmacht im Einsatz, dann Adolf Hitler, dann einen Leichenberg im KZ. Dann beginnt dieser lustige Film.
                  KZ-Opfer als Opener für eine Parade lauwarmer Gags: Brüggemann und seine Geldgeber von der öffentlich-rechtlichen Filmförderung sollten sich mal fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben.

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                  • 5 .5
                    über 2012

                    Die Welt geht unter, fast die ganze Menschheit wird vernichtet, und eine Menge Platz in der Arche Emmerich geht für Pekinesen und Schäfer­hunde drauf. Die eigent­liche Fallhöhe besteht in diesem Film darin, dass er die Banalität der Erzählweise nicht mit den optischen Eindrücken auf einen Nenner bringen kann. Fazit: Es gibt nicht viele Regisseure, die so wenig mit Menschen anfangen können wie Emmerich. Mit anderen Dingen aber schon: Er sollte der Erde endlich Adieu sagen und gigantische Science-Fiction-Schlachten zwischen den Galaxien inszenieren.

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                    • 7

                      Der Film nimmt sich viel Zeit, um diese weiblichen Machtstrategien zu analysieren. Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek muss Patin gestanden haben. Chadwick stellt seine Geschichte darüber hinaus in einen größeren philosophischen Kontext: Ist es besser, nach den Sternen zu greifen und dabei den Kopf zu verlieren, oder sollte man kleine Aliens gebären – und bescheiden, aber friedlich ein ruhiges Leben auf dem Land fristen? Sollte man versuchen, die Bestie zu beherrschen, oder sollte man sie meiden?

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                      • 3 .5

                        Ein schlimmes Schicksal: Mitte des 19. Jahrhunderts wird der ehrbare und freie Afroamerikaner Solomon Northop per fiesem Trick aus den Nordstaaten direkt in die Baumwollhölle Louisianas verklappt. Fortan sagt man nicht mehr "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen" zu ihm, sondern "Halt die Schnauze" und "Hemd aus zum Auspeitschen". Zwölf Jahre dauert das Martyrium, bis er auf wundersame Weise gerettet wird und zu seiner Familie zurückkommt.
                        Es ist eine verdienst-, durchaus auch pädagogisch wertvolle Arbeit des englischen Regisseurs Steve McQueen, diese wahre Begebenheit – Northops Bericht erschien 1853 und erlebte für damalige Verhältnisse eine Massenauflage – mit einem Starensemble verfilmt zu haben.
                        Sich diesen Film dann aber anzuschauen, ist es allerdings auch. Keine Frage, die Weißen, denen Northop damals begegnet sein wird, dürften allesamt echt fiese Arschkekse gewesen sein. Und die Schwarzen komplett arme Opfer. Die Bösen sind so abgrundtief ekelig wie die Guten total prima sind. Nun ist eine solche dramaturgische Grundanlage in der Wirklichkeit wie im populären Film zwar gängige Praxis. Ob einen das allerdings einen ganzen Film lang vom Schlafen abhält, ist fraglich. Da sich hier eine erwartbare Szene an die nächste reiht, hält sich der Lerneffekt in Grenzen. Zudem dürfte der Film recht werkgetreu sein, dafür fällt der Tagesordnungspunkt, warum es überhaupt Sklaverei gibt, diesmal aus. Politischer Kontext gerinnt hier bis zur Unkenntlichkeit zum Einzelschicksal – Herz hat der Film trotzdem nicht.
                        Kommen wir zum interessanten, weil Splatter-Teil - nicht zu vergessen ist ja der Schauwert von Unterdrückung: Ketten, Maulkörbe, Menschen in Scheiben schneiden, Aufhängen – Arbeitsverhältnisse wie in der deutschen Fleischindustrie.
                        Die inszeniert die Regie stilistisch durchaus auf hohem Niveau, so in etwa im Ambiente eines Jane-Austen-Films. Fehlt nur noch, dass Emma Thompson um die Ecke kommt.
                        Das tut sie zwar nicht, aber es gibt ja noch Brad Pitt als guten Menschen aus Kanada, Michael Fassbender als Voll-Sado- und als Halb-Sado-Plantagenbesitzer Benedict Cumberbatch. Der spielt neuerdings ja überall mit. Tags zuvor hatte ich ihn als gemeinen Drachen Smaug kleine Hobbits fressen sehen!
                        Fazit: "12 Years a Slave" – toller Streifen! Wenn dir "Die 120 Tage von Sodom" und "Independence Day" gefallen haben, könntest du auch diesen Film gut finden.
                        (aus "konkret" 1-2014, derzeit nur Print)

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                        • 2 .5

                          Sie ist unumstritten der Rolls Royce unter den Blessuren des humiden Millieus: die Analfissur. Der mehr oder weniger dezente Einriss im hinteren Intimbereich gelangte mit Charlotte Roches beeindruckendem Teenie-Roman "Feuchtgebiete" zu angemessener Berühmtheit. So viele Menschen haben das lustig-traurige Buch über Scheidungskind Helen gelesen, welches sich mit der angesprochenen Verletzung im Krankenhaus befindet und sich so sehr die Wiedervereinigung der Eltern wünscht, dass sich eine Verfilmung auf jeden Fall anbot.
                          Regisseur David Wnendt versteht am Wort "Scheid-ung" vor allem die erste Silbe. Deshalb hat er ein munteres, zweistündiges Video rund um Helens Aussonderungsorgane gedreht. Die von Kinderschauspielerin Carla Juri nicht in den Griff zu bekommende Figur der Helen ritzt sich bei der Schamhaarkonturierung leider das Hinterteil ein. Da sie ohnehin, neben der Koprolalie, schon an Hämorrhoiden leidet, landet sie ob des malträtierten Darmausgangs in der Anal-Spezialklinik. Ein Identifikationsangebot nicht nur, aber durchaus auch für die ältere Generation! Anders als deren größte Teile ist Helen aber privatversichert (Einzelzimmerzuschlag!).
                          Die 18-Jährige - eine Kombination von Tourette und anderen Lebensfährnissen wie Krankheit, Siechtum, fehlgeschaltete Neuronen. Gender Studies wäre noch zu überlegen. Nun wälzt sich die junge Dame in Trauma, Durchfall und Fantasien. Anders als diverse Sekrete ist der Erzählverlauf dabei nicht immer ganz so leichtflüssig.
                          Denn in dieser Regie-Phantasie soll man was zu lachen haben. Wnendts Idee von Kino geht dabei ziemlich weit: Spätestens als vier Pizzabäcker das Produkt ihrer Arbeit mit einer ganz besonderen Protein-Botschaft verzieren, erkennt man das geschmacksgrenzverletzende Potenzial dieses leicht lächerlichen Films, sollte man bis dahin nicht schon eingeschlafen sein. Dickes Minus: Wieder keine Gastrolle für die Mutter des gepflegten Small Talks, Lady Bitch Ray.
                          Zwei Assoziationen stellen sich ein, die einem echt nicht mehr aus dem Gehirn wollen: Helen ähnelt per Lockenpilzkopf plus Sprachmodulation in frappanter Weise der Figur Pumuckl. Zweitens handelt es sich bei diesem Film um eine gähnige Mädchen-Version von "Das kleine Arschloch".
                          Drogen, Ficken und verkommene verzweifelte Menschen: Um die kleine Arschlöcherin hätte sich doch echt ein tolles, versautes Generationenporträt drehen lassen. Mit Helen gesprochen ist das Ergebnis: Da rein, da raus. Echt arschsträubend!

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                            über Boyhood

                            Seit 2002 hält Richard Linklater die Kamera auf seine Schauspieler, ein bahnbrechendes Projekt: Für den Spielfilm „Boyhood“ hat der Meister des gesprächigen Films ("Before Sunrise") jedes Jahr Menschen wie Patricia Arquette und Ethan Hawke zusammengetrommelt, um mit ihnen eine texanische Familiensaga zu drehen. Im Zentrum: der Junge Mason (Ellar Coltrane), der bei Drehbeginn sechs Jahre alt war. Linklater erzählt in über die Jahre verteilten 39 Drehtagen, wie der Junge - und sein Darsteller - 18 wird und aufs College geht.

                            Ja, was passiert denn so in in der All-American-Familie, weiße Farbe, mittlerer Durchschnitt, in Echtzeit? Scheidung, Hochzeit Scheidung, Hochzeit, Umzug, Mobbing in der Schule, erste Liebe, bisschen Drogen. Irakkrieg, Britney-Spears-Video, Obama-Wahl.
                            Wie bei Linklater üblich, gibt es jede Menge lustiger Kommunikationskatastrophen, das Setting ist eher schauwertarm. Voll der Festivalfilm, ein filmexperimentelles Zeitgemälde. "Die Kinder von Golzow" lassen grüßen, die Kritik überschlägt sich.

                            Dabei ist das Projekt schonungslos. "Boyhood" zeigt eine recht gewöhnliche Umgebung, in der sich eher unspektakuläre Dinge tun. Und das bleibt dem Zuschauer natürlich nicht verborgen. Vater Mason ist etwa Bluesmusiker – aber von dem Sound, den Ethan Hawke dabei produziert, wird man nicht gerade wach. Auch wenn ich dabei Majestätsbeleidigung begehe: Für das Interessanteste halte ich Masons Mutter. Die nimmt erst zu, dann nimmt sie ab. Genau wie die Darstellerin Patricia Arquette! Kann man was mit anfangen.

                            Das Problem ist weder die Länge noch die Entourage, sondern, dass der Film nicht recht weiß, wie und vor allem: warum. Kaum beginnt eine Episode etwas härter zu werden, bleibt sie auch schon wieder unerzählt. Weil hier strukturell bedingt nur angerissen wird, zwölf Jahre wollen geschafft werden.

                            Man würde gern wissen, was "Boyhood" will und findet es nicht heraus. Auch Andy Warhols "Empire State" steht bei jedem Langzeitprojekt Pate – da hält die Kamera acht Stunden auf die Eingangstür. Es besteht eben beim beabsichtigten Dokumentieren auch die Gefahr, dass die Dramatik etwas verloren geht.

                            Linklater reiht aneinander, was nicht anders als zeitlich strukturiert werden kann. Am Ende fühlt man sich vom langen Draufhalten auf die Jugendzeit doch recht unberührt: von Stoff, Gags, von redundanten, müden Bildern.

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                              Das Highlight der diesjährigen Berlinale. Regisseur Dirk Lütter hat sehr gut recherchiert - und all die Untoten des prekarisierten Arbeitsmarktes - Leih- und Zeitarbeit, befristete und Kettenverträge, fehlende Perspektive - sind hier gecastet worden.
                              Mit Joseph Bundschuh, der die Rolle des Jan spielt, wurde ein hervorragender Darsteller gefunden; ebenso wie seine Partnerin Anke Wetzlaff kongenial ihren Part als Zeitarbeiterin Jenny umsetzt.
                              Dem Regisseur ist mit seinem ersten Kinofilm ein Generationen-Porträt gelungen, abseits von Studium und Hochschule: Die Personen in seinem Film hätten Stellvertreter-Funktionen, da er keine einzelnen Schicksale zeigen wolle, sondern Strukturen in unserer Gesellschaft, wie er sie wahrnehme, sagt Lütter.

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                              • 5

                                Wird nicht gedroschen, gibt’s Graubrot. Witze über spitze Ohren, die latente bis manifeste Homosexualität von Scotty. Das Paar Ohura/Spock streitet. Konflikte in der Gruppe auf Teenie-Niveau. Die Alten schicken die Jungen in den Krieg, die rächen sich mit Väterkillen.
                                Weil der Film nur Typen zeigt, aber keine Charaktere, kann sowas wie filmische Reflexion schlecht entstehen, sie könnte dieses Werk etwas wertvoller machen. Bio-Waffen gegen Wissenschaft, multikulturelle Gesellschaften, wieso überhaupt noch bemannte Raumfahrt – die Themen werden zwar angerissen, doch wird mit ihnen umgegangen, als seien sie ein drehbuchnotwendiges Übel. Das Finale ist fade, eine recht seltsame Umkehrung des Schlusses von "Zorn des Khan". Es geht hier doch recht einfach zu. Aber wenn es schon im Science-Fiction-Film nicht mehrdimensional zugeht – wo dann?
                                So ein Pech, Freunde der Überlichtgeschwindigkeit: Der neue »Star Trek«, Teil zwei – teurer Film, aber eine halbe Nullnummer. Einmal gibt es eine schöne Einstellung: Kirk, der alte Schwerenöter, liegt mit zwei Frauen im Bett. Als jemand den Raum betritt, springen sie heraus und man sieht, dass sie Katzenwesen sind, lange Schwänze haben. Hier ist das Drama für ganz kurze Zeit mal einfach unterbrochen.
                                Die Szene dauert vielleicht zwei Sekunden. Sie wirkt, als habe man vergessen, sie herauszuschneiden.

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                                  über Trash

                                  Ob Fußball-WM und Olympischen Spiele nächstes Jahr: Die brasilianische Großstadt Rio de Janeiro macht weltweit auf sich aufmerksam. Und zwar nicht nur positiv, sondern auch mit Korruption und kruder Misswirtschaft.
                                  Nicht zum ersten Mal dient dies als Grundlage eines Spielfilms. Nun hat sich Regisseur Stephen Daldry den vorgenommen, die Stadt abzuklopfen. Mit der Drehbuchvorlage von „Trash“, dem Roman von Andy Mulligan, wühlt er im Müll der künftigen Wirtschaftsmacht Brasilien.
                                  Ganz sprichwörtlich: Kurz bevor José Angelo (Wagner Moura) von Polizisten getötet wird, kann er seine Brieftasche mit brisantem Inhalt noch auf einen Mülltransporter werfen. Der korrupte Polizist Frederico (Selton Mello) lässt sofort die Slums durchkämmen, aber da haben die Müllsammel-Kinder Rafael (Rickson Tevez) und Gardo (Eduardo Luis) die Brieftasche mit dem Geheimnis schon eingesteckt. Frederico versucht es dann mit einer großzügigen Belohnung – aber die Jungen halten dicht.
                                  Ab jetzt wird’s ruppig. Bald wird klar, das Leben eines Müllsammlers in Rio ist nicht viel wert – und staatliche Organe spielen eine höchst unrühmliche Rolle. Sie lassen Menschen verschwinden, drohen mit Scheinexekutionen oder echten.
                                  Ein Film voller sozialer Spannungen und irrer Begebenheiten, der die Menschenrechtssituation in der Karnevalsstadt drastisch ausmalt.

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                                    Nach außen mal öko, mal leistungsbereit, protestantisch, ebenso überschwenglich wie bipolar – aber immer uneigentlich: Da macht sich doch Mitleid mit den Figuren breit. Hier werden entfremdete Menschen gezeigt. Das sieht eher traurig denn lustig aus. Eine zeitgemäße Inventur zum Zweck des Erkenntnisgewinns müsste wohl anders beschaffen sein. Was würde Charlotte Roche aus diesem Stoff machen?

                                    Die Situationskomik wird immer öder und vorhersehbarer: Die Betrunkenen stolpern über Zeitungsständer, man lockert die Krawatte, die Schminke verschmiert. Man schauspielert hölzern und berechenbar, bis zum Ende. Ein Feuerwerk an Gags, die nicht zünden.

                                    Hier soll der Bürger über den Bürger lachen. Was so seit fünf Jahren frenetisch bejubelt wird, ist hier ein antiquiert wirkendes Stückchen Boulevard im Zeichen vermeintlicher Hochkultur. Die ist ja oft etwas überreizt.

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                                      Beim Saufen kommen einem die besten Einfälle. Claude Lorius saß 1965 vor einem Glas Whisky on the Rocks, als er beobachtete, wie das Eis langsam schmolz und dabei Luft freisetzte. "Da hatte ich die Eingebung, dass diese Luftbläschen einzigartige und zuverlässige Zeugnisse für die Zusammensetzung der Luft darstellen."

                                      Der darauffolgende Kater dauert bis heute an. Lorius ist Glaziologe, und mit seinen Bohrungen im ewigen Eis des Südpols hat er den Klimawandel nachgewiesen. Anhand eingeschlossener Luftreservoirs ließen sich über tausende von Jahren Bewegungen des CO2-Gehalts und anderer Luftbestandteile in der Atmosphäre nachweisen.
                                      Über 20 Mal war der französische Eispionier in der Antarktis, er stieß internationale Programme zur Erforschung der Eisflächen an; in einer Bohrung gelang der Blick zurück über fast eine Million Jahre.

                                      Das Thema ist topaktuell: Gerade, bis 11. Dezember 2015, war Klimakonferenz in Paris. Bei den gegenwärtigen Migrationsbewegungen in Richtung Europa mischen sich erste Befürchtungen, dass die Erwärmung der Erdatmosphäre womöglich viel drastischere Flüchtlingstrecks nach sich zieht, als dies Bürgerkriege vermögen. Nicht wenige sehen im Anstieg des Meeresspiegels und einer höheren Taktzahl von Naturkatastrophen erste Vorboten.

                                      Da würde die filmische Ehrung des Forschers, der mit als einer der ersten hier Zusammenhänge erkennen konnte, doch passen. 83 Jahre alt ist Lorius heute, mit 23 fuhr er das erste Mal ins Eis.

                                      Ein Leben für die Klimaforschung – Grund genug für den Regisseur Luc Jaquet, ihm einen Dokumentarfilm zu widmen. Jaquet ist vor allem berühmt geworden mit seiner Sprechende-Tiere-Fiction-Doku "Die Reise der Pinguine" (F 2005) – jetzt mal nichts Schlechtes über die Dialoge philosophierender Vögel. Aber ob Jaquets Zugang zu Lorius‘ Lebenswerk der richtige ist, lässt sich durchaus bezweifeln.

                                      Denn "Himmel und Eis" ist nicht nur Dokumentarfilm, sondern auch Dokument einer völlig überzogenen Personalisierung des Themas. In weiten Strecken genügt sich Jaquet darin, Lorius zwischen Eisblöcken abzufilmen, gern dramatisch aufgeladen per Drohnenkamera und off-kommentiert durch einen nervenden Sprecher Max Moor. Nicht Ergebnisse und Folgen der Forschung stehen hier im Mittelpunkt, der Mensch Lorius soll es sein. Der aber erschreckend wenig zu berichten hat, zumal er mit einer ebenso erschreckend pathetischen musikalischen Unter- bzw. besser: Übermalung zu kämpfen hat.

                                      Dass der Film nach einer Weile aber dennoch Informationen liefert, ist den Rückblenden in Originalaufnahmen der zahlreichen Expeditionen geschuldet. Allerdings auf andere Weise, als das vielleicht didaktisch gewünscht war. Sie liefern weniger Wissenschaftliches, als vielmehr Eindrücke einer viril-technoiden Wissenschaft, deren Ausführung an Militäroperationen erinnert. Panzer fahren durchs Eis, durchweg sind Großmaschinen im Einsatz, Transportflugzeuge brechen auseinander und werden mir nichts dir nichts durch neue ersetzt. Dabei lässt man unfassbare Mengen Müll in der fragilen Natur zurück. Der Höhepunkt: Die teils kilometertiefen Bohrlöcher werden mit Kerosin gespült, um sie offenzuhalten.

                                      Was hier zum Einsatz kommt, ist eine großindustrielle Mechanik, eingesetzt von technikbegeisterten Freaks, die offensichtlich über unerschöpfliche Mittel verfügen. Die Menschen, die mit ihnen arbeiten, sind saufende Raubeine, harte Typen, die zuweilen harte Fakten zum Ausdruck bringen: "Es ist kalt."

                                      Alles Nachdenkliche – und Nachhaltige - soll hier keine Rolle spielen. Inmitten dessen liefert der eingesprochene Kommentar eine unsympathische Selbstbesessenheit des Klimaexperten. "Wir leisten fast Übermenschliches." Den Pinguin lässt man an der Zigarette ziehen. Dann brettert die junge Crew mit ihren Kisten übers sensible Antarktis-Eis, abends gibt’s die Party.

                                      Gut, passiert. Aber was für ein Mensch Lorius ist, in welchen Zusammenhängen er lebt, was mit den privaten Verhältnissen ist, das erfährt man auch wieder nicht: Hat er das alles allein geschafft, was ist mit diesen Kollegen, was wurde aus ihnen, was mit Familien und Freunden? Warum gab es nicht den Nobelpreis? Wüsste man alles gern. Aber keiner sonst kommt hier zu Wort.

                                      "Wir leisten Übermenschliches" - ja, das stimmt. Aber eben auch Unterirdisches. Statt den Zuschauern zu erklären, welche politischen Implikationen diese Forschung hat, welchen systemkritischen Gehalt sie haben könnte - also was das alles mit uns zu tun hat -, muss man leider konstatieren: Diese Analyse der Klimakatastrophe hat selbst einen Klimaschaden.Q

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                                        Kenneth Branaghs Film ist ein flammendes Plädoyer für die Monarchie in Zeiten weltpo­litischer Unübersichtlichkeit. Vielleicht sollte man sich diesen Vorschlag aus der Kultur ja mal als Modell für die Europäische Union durch den Kopf gehen lassen. Vorausgesetzt, genau die Personen sind an der Macht, die es im Film auch sind. Abgesehen davon: Im Unterschied zu "50 Shades of Grey" hält dieser Film locker zwei Stunden durch. Die Sexszenen sind in beiden vernachlässigungswürdig. Dabei sorgt eine neue Optik dafür, die Welt mit anderen Augen zu sehen.

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                                          Daniel Blake ist ein Mann, den manche als anständigen Arbeiter bezeichnen würden. Brav und pünktlich und versiert. Nun ist der alternde Tischler aber krank geworden. Er kriecht aufs Arbeitsamt, wo man ihm die Sozialhilfe verweigert. Er könne ja arbeiten gehen. Arbeitslosengeld gibt's aber auch nicht, weil er laut Arzt nicht arbeitsfähig ist.
                                          Formulare, mit denen man Widerspruch einlegen könnte, gibt es nur noch im "Neuland", wie das mal eine alte deutsche Frau genannt hat, als sie zum ersten Mal vom Internet hörte. Auch der aufrechte Malocher hat dies noch nie von innen gesehen. Die Folge: Stromrechnung nicht bezahlt, Zwangsräumung droht. Alltag in Europas Landen.
                                          Loachs Film über den digitalen Analphabeten will wie immer hartes Sozialdrama sein. Zum Glück lebt Blake in einer Art Einhornland, und das ist die prekäre Klasse Englands. Dort wohnen Menschen wie Katie, ebenso pleite wie er, nur mit Kindern und voll lieb. Auch der Nachbar, der sich mit Schuhe dealen und Kiffen über Wasser hält, ist - Solidarität! - ein grundguter Kerl. Von denen ist hier die ganze Unterschicht voll.
                                          Nun kann das ja im einzelnen mit der Solidarität stimmen. Aber hier kommt‘s doch etwas dicke. Der Film läuft nicht lange, da fühlt man sich leicht manipuliert. Spitzensache, dachten sie dieses Jahr in Cannes und pflanzten dem Film die Goldene Palme.

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                                          • 3

                                            Alsbald findet man eine der Film­idee eigentlich erstaunlich zuwiderlaufende Stumpfheit, die vor allem im zweiten Teil des Films uncharmant gehetzte, ja krampfhafte Züge annimmt. Eine Entgrenzung des ­Begehrens über ein bisschen Gender-Crossen hinaus findet nicht statt. Schwierig ist auch das gewollt Komödienhafte: Ein Schuss Trauer hätte dem kleinen Werk durchaus mehr Tiefe verleihen können, vielleicht eine Andeutung, dass das lockere Leben schon bald vorbei sein kann. Außerdem macht der Score das Anschauen zu einem echten Problem: Die Musik besteht meist aus einer Easy-Listening-Kaufhaus-Version diverser HGich.T-Singles. Da wäre eine Pause mal angebracht gewesen, wenn auch der Name des Komponisten eine Bereicherung für die Credits ist: Sören Störung.

                                            Grausliche Musik, möglichst rasant zur Sache kommen und mit der Zeit auch das etwas verkrampfte Agieren vor der Kamera: Wo ist eigentlich der Unterschied zum herkömmlichen Sexfilm – außer dass dort die Bilder erheblich besser sind? Vor allem gegen das Porno-Einerlei soll sich »Schnick Schnack Schnuck« ja wenden, das Darstellerensemble wirklichkeitsnah rüberkommen. Aber wenn eines fehlt, dann etwas wirklich Wirkliches: Politik oder gar die wirtschaftliche Lage der Twentysomethings? Hinweise dieser Art bieten Filme dieser Art des öfteren. Und hier? Die WG-Zimmer in Köln sind jedenfalls alle quadratkilometergroß. Es wird mal kurz erwähnt, dass Emmi eine heiße Französisch-Lehrerin ist und Felix Programmierer von Sparkassen-Software.

                                            Vielleicht hätte dem Film eine ­Adaption als Basis gut getan: Aschenputtel, gefährliche Liebschaften, Schneewittchen und die sieben Zwerge oder sonst was. Regisseure wie Bruce LaBruce haben es vorgemacht – der hat schon vor 20 Jahren in "Hustler White" Thomas Manns "Tod in Venedig" als irrwitzige Stricherkomödie angelegt. Brochhaus hätte sich womöglich besser den Details zuwenden können. Und »Schnick Schnack Schnuck« hätte das schöne Gesellschaftsabbild werden können, das die Regisseurin wohl letztlich be­absichtigte. Eine Entwicklung der Figuren hätte auch gutgetan – wir ­reden immerhin von einem Film, der fast 90 Minuten lang ist. Schade, dass die Geschichte nur an der Oberfläche kratzt. Wie eine moderne Beziehung aussieht, wie ein Paar sich durchschlägt, eine Antwort auf allerlei Verlockungen findet; solche Fragen hätten aus ihnen tatsächlich echte und erotische Menschen gemacht.

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                                              Aber wie schon Georg Büchner wusste: Wenn die armen Leute in den Himmel kämen, müssten sie glatt beim Donnern helfen. Im tausendjährigen Reich der Arbeit des Hans-Werner Sinn jedenfalls dürfte eine Menge Schufterei noch über ein Leben hinaus bereitstehen.
                                              Ob diese Aussicht die Arbeitsmoral, wie beabsichtigt, senkt? Im Film grölt einer: "Jesus war ein glücklicher Arbeitsloser. Früher wurde man dafür wenigstens gekreuzigt."
                                              Jesus, der Faulenzer: Der hat es immerhin bisher auf ein zweitausendjähriges Reich gebracht.

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                                                Eine Nadel in einer Plattenrille, unscharfe Paare, menschengroße Hasen, die dubiose Nachbarin, mörderische Schraubenzieher, Augen in klaustrophobietreibenden Fluren: in David Lynchs „Inland Empire“ baut sich eine Atmosphäre auf, die Bedrohung als Dauerzustand verheißt. Jede Einstellung Terror im depressiven Nervenkrieg: Diese Geschichte einer doppelt gespiegelten Filmschauspielerin enthält nichts, was für Klarheit sorgt, und alles, was zusätzliche Verwirrung stiftet.
                                                „Inland Empire“ Lynch benennt sein neuestes Werk nach einem Landstrich in Kalifornien, einer Gegend, der er ein ausgeprägtes Eigenleben attestiert. Der Name soll für sich selbständig machende Prozesse stehen, das ist das Grundthema: die sich unkontrollierbar ausbreitende Furcht davor, dass man lieber da ist als viel lieber nicht.
                                                Dafür braucht es kein Drehbuch; Lynch drehte ohne. Wohl aber einen Plot, dessen Arbeitstitel lautet: „Der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben.“ Eine Prinzipienfrage: Verkörpern normalerweise Schauspieler Vorgänge und Handlungen, so spielen hier Seelenzustände mit dem Gesicht der Hauptdarstellerin Laura Dern. Sie zerreißen es, drücken es zusammen, machen es zum Spielplatz. Mit Lynch gesagt: „Es geht um eine Frau in Schwierigkeiten.“
                                                Das stimmt. Laura Dern gets in trouble, keine Frage. Sie bewegt sich im Rahmen einer losen Film-im-Film-Geschichte; sie spielt die Schauspielerin Nikki Grace, ihrerseits Hauptdarstellerin in dem Film „On High in Blue Tomorrows“.
                                                Grace kann bald nach Beginn der Dreharbeiten feststellen, daß was nicht stimmt. Der Film ist schon einmal gedreht worden. Diese erste Fassung wurde aber nie fertiggestellt - beide Hauptdarsteller wurden vor Ende der Dreharbeiten ermordet! Vermutlich vom eifersüchtigen Ehemann der Hauptdarstellerin, der ihrer Affäre mit dem Hauptdarsteller auf die Schliche kam.
                                                Bei den Dreharbeiten zum Remake kommen sich wiederum Nikki und ihr Filmpartner Devon Berk (Justin Theroux) näher; Grace ist mit einem eifersüchtigen Mann verheiratet - Filmgeschichte wiederholt sich.
                                                Nicht nur Grace weiß bald nicht mehr, wo oben und unten ist. Wen kümmert’s: Die angstverzerrte Pose bildet das Zentrum dieses Films. Für sie erleidet die Nikki einen Reigen der Passion: als Filmschauspielerin, als Prostituierte in einem polnischen Mädchenhändlerring, Anruferin in einer Hasensoap, Mörderin und Mordopfer.
                                                Das sind Stresszustände. Nikki verglimmt in Einbahnstraßen, Sackgassen, Wiederholungen. Spätestens wenn die beklemmenden, redundanten Einstellungen in den Lynch-typischen Fluren zum Ende hin immer düsterer werden, glaubt man, daß Beleuchtung auch ein erheblicher Kostenfaktor sein muss. Alles wird hier langsam, das Sterben, das Spielen, das Licht. Hier schwindet die Kraft zu erzählen, zu zeigen -dieser Film ist ein einziges retardierendes Moment.
                                                Indem er die Regeln des Unterhaltungskinos umkreist, wie sonst nur die transzendentale Meditation beim Yogi-Fliegen, dessen lautstarker Propagandist Lynch in seiner Freizeit ist, prüft Lynch die psychische und bald noch mehr die physische Beschaffenheit des Zuschauers, der, man kann es nicht verschweigen, oft vor der Entscheidung steht: Drinbleiben oder gehen. Wird das vielleicht doch noch wieder besser?
                                                Nein, das Schreckliche soll in „Inland Empire“ Überstunden machen, selbst auf offener Straße funktioniert die Klaustrophobie, noch an der frischen Luft sehen die Leute aus wie eingesperrt. Lynch degradiert jede Lebensäußerung als eine Krankheit zum Tod, die als Schraubenzieher in der Leber von Nikki Grace steckt. Zum Kotzen ist das, also hat sich die Schauspielerin zu übergeben - auf die Sterne des „Walk of Fame“, wo prominenten Schauspielern, auch und gerade solchen aus Lynch-Filmen, Denkmäler gesetzt werden. Das Hollywood des Erzählkinos verdammt sein.
                                                Daß Lynch mit „Inland Empire“ ganz Polen integriert - nebenbei bemerkt: der Film ist zur Hälfte auf Polnisch - und im Genre des Hasenfilms neue Maßstäbe setzt, ließe die Betrachtung noch auf der Oberfläche symbolisch-therapeutischer Zitate verharren. Wenn auch die im Film integrierte Langenohren-Soap, in der immer dann das Telefon klingelt, wenn aufgeregte Menschen eigentlich Freunde anrufen wollen, und sich dann wundern, das sie mit der Klingel in die laufende Fernsehshow eingreifen, eine völlig neue Qualität der Wirrnis darstellt. Wichtig ist das stramm antilogische Konstruktionsprinzip von „Inland Empire“, das ungefähr wie Sudoku funktioniert: Wenn es an einer Stelle nicht weitergeht, dann eben woanders. Metapher raus, Metonymie rein.
                                                Mit seinem fragmentierten Erzählen tritt Lynch zwar nicht unbedingt neue Türen ein. Aber er hat nun ein relativ junges technisches Verfahren des Kinos eingesetzt, dass sich hervorragend für endlose Einstellungen eignet: Digital-Film (DV). Mal sehen, was die Schauspieler draus machen. Da spielt das DV-Format die Hauptrolle: Filmmaterial kostet nichts und ist nahezu unbegrenzt verfügbar. Im Prinzip kann man so lange drehen, bis alle keine Lust mehr haben. Lynch, das kann man beruhigt feststellen, hat es getan. Autonomie von Regisseur und Schauspielern ist möglich. Die Gefahr: völlige Beliebigkeit, Abdriften ins Bedeutungslose und die reine Selbstreferentialität.
                                                DV ist die Domäne von Leuten, die kein Geld fürs teure Equipment haben. In Nigeria basiert die gesamte Filmindustrie auf DV-Technik. Mit David Lynch nimmt sich aber der erste weltbekannte Regisseur dieser Produktionsweise an.
                                                Waren seine Filme bisher schon Experimente psychotischer Bilderbäder, ist die Psychose in „Inland Empire“ entfesselt. Denn Psychose heißt: Dinge, die nur im eigenen Kopf sind.
                                                Und man sieht es den Figuren an - sie leiden an Dingen, die nur David Lynch hört und sieht. Das ist der rote Faden in diesem Film; von ihm aus blättern sich die optischen Untererzählungen nur wie Panorama-Karten auf.
                                                Das zu ertragen erfordert eine andere Einstellung zum Kino: Lineare Abfolge vergessen, statt dessen Eintauchen in Atmosphäre. Assoziative statt nachvollziehbare Verlinkung. Nebeneinander statt nacheinander - das ist die natürliche Ordnung der Dinge.
                                                Dieser Film fördert weniger Erkenntnis, als daß er die Situation im Kino umdefiniert und an kinematographische Ursprünge erinnert: als ein Raum mit Lichtspielen. Die konsequenterweise bei Lynch, den nur die Hinterseite der Seele interessiert, zu Dunkelspielen werden.
                                                Film sei der Fluss einzelner Sequenzen, sagt Lynch. Das Gemälde stehe still, aber im Film sei Bewegung und Zeit, Sequenz und ihre Wiederkehr - wie in der Musik.
                                                In diesem Sinn ist „Inland Empire“ mehr Komposition als Film. Und wie in der klassischen Musik mag sich das Publikum einklinken, wo und wie es will: Lynch hat mit „Inland Empire“ ein Paradoxon geschaffen: Das Musical ohne Musik. Verstummen bei aufgerissenem Mund. Der Lynch-Mensch ist einer, der leidet. Eines hat er mit Sicherheit nie kennen gelernt: freudige Sinnlichkeit. Ihr Regisseur gibt ihnen nur selten etwas zu essen. Wahnsinn, der vom Hunger leiden kommt, das ist Lynchs traurige Leinwandsprache.
                                                Eine Brigitte-Diät ist das nicht. Dieser Film zeigt eine Hölle und ist auch die Hölle.

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                                                  »Oi! Warning« ist eine Geschichte von Selbstfindung, Eifersucht, Gewalt. Eine Liebesgeschichte und eine Erzählung über das Andere. Ein ganz normaler Film eben. Das ist für Deutschland nicht unbedingt normal, und deswegen fand er erst vor kurzem einen Verleih, die Potsdamer Nighthawk Pictures. Im September soll er mit 30 Kopien bundesweit starten.

                                                  Ein guter Film über Schreckliches ist besser als ein schrecklicher Film über das Gute. So ist die Welt in dieser Geschichte: Sie beginnt mit Gewalt und endet mit Gewalt. Die Bilder dieses Kompendiums bleiben ohne Zweifel noch nach der Filmvorführung im Kopf. Manche Filme haben gute Momente, dieser hier hat keinen einzigen schlechten.

                                                  In diesem Sinne haben die Redings ein Filmwissen wieder ausgegraben, das es mal vor 25 Jahren bei deutschen Regisseuren gegeben haben muss. Sollte der deutsche Film eine positive Zukunft haben, sie müsste aussehen wie »Oi! Warning«.

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                                                    Wir lernen Pauline als umtriebige und vertrauenswürdige Krankenpflegerin kennen, die sich für ihre Patienten aufopfert, sich um den brummeligen Kommunistenvater kümmert und auch noch zwei Kinder allein großzuziehen hat. All das ohne große Klage in einer vom wirtschaftlichen Niedergang gezeichneten Gegend im Norden Frankreichs. Sie schaut täglich ins Leben ihrer Klienten hinein. Es versteht sich von selbst, dass sie allseits beliebt ist. Pauline ist authentisch.

                                                    So wird sie für die Politik interessant. Ihre Glaubwürdigkeit will sich die nationalistische Partei, deren Parteiführerin Agnès Dorgelle ohne Zweifel an Marine Le Pen erinnert, zunutze machen. Ihr Repräsentant vor Ort, der Dorfarzt, wirbt sie als Kandidatin für die Bürgermeisterwahlen an. Und Pauline ist gut: Gerade die alten Wähler vertrauen ihr, da muss sie gar nicht viel reden. Das besorgt der Le-Pen-Verschnitt.

                                                    Probleme gibt es trotzdem. Denn Pauline hat ihren Schulfreund wiedergetroffen und sich verliebt. Und der Liebste gehört zur faschistischen Schlägertruppe, die das Sauberfrau- Image stört.

                                                    Die erste Runde geht klar an den Film. Er entwirft das rechte Milieu sehr überzeugend und mit kleinen Beobachtungen an der Seitenlinie – etwa wenn ein Vater sich über den Pornokonsum seines Sprösslings sorgt, der sich aber in Wahrheit als Nazi-Videoblogger betätigt. Regisseur Lucas Belvaux trickst das Publikum meisterlich aus: Was würdest du tun, wenn du Paulines Möglichkeiten hättest, Arschloch?

                                                    Die Ambivalenz hält er allerdings nicht durch. Alsbald weiß man, dass die Rechten – ob mit Glatzkopf oder im Kostüm – Dumpfbacken sind. Da dürften sich Regisseur und Publikum bald einig werden. Allzu plakativ agiert die Bande, entlarvt hat man sie schnell. Dabei wäre es einfach gewesen, weiter auf dem Glatteis zu bleiben. Was, wenn es einen Anschlag des IS geben würde – vielleicht auf ein Konzerthaus mit vielen Toten? Was würde dann der Film aus seinem Publikum machen?

                                                    Friktionsflächen dieser Art fehlen, und das macht aus dem Film ein antifaschistisches Statement. Verständlich ist das, auch legitim. Eine gute Analyse, die kritische und vor allem komplizierte gesellschaftliche Zustände zeigt, ist das nicht.

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