Berlinale: Midnight Special - Sci-Fi-Drama mit Michael Shannon

Midnight SpecialWarner Bros.
13.02.2016 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
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Am zweiten Tag der Berlinale muss Michael Shannon seinen übernatürlich begabten Sohn in Midnight Special vor den Häschern des Staates beschützen und Denis Côté unterzieht seinen Titelhelden Boris einer Lektion in Demut.

Der Blick rast über eine Landstraße in den tiefen Wäldern Louisianas. Er hebt sich in den Himmel, lässt den Asphalt und schließlich auch die Baumkronen hinter sich und offenbart einen Schwarm schwarzer Hubschrauber vor grauen Wolken. Für einen Moment werden Roy (Michael Shannon) und sein Sohn Alton (Jaeden Lieberher) in dieser Szene aus Midnight Special zurückgelassen, um ihre mächtigen Verfolger zu zeigen: FBI, NSA, sucht es euch aus. Der kleine Wagen mit einer Familie drin, mächtige Verfolgungs- und Überwachungsbehörden und irgendwo dazwischen die Handlanger einer fundamentalistischen christlichen Gemeinschaft. Sie alle wollen Alton in dem Wettbewerbsbeitrag der Berlinale 2016 in ihren Händen wissen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Motiven. Auf dem massenkompatibel unheimlichen Poster für Midnight Special schaut uns Alton mit seinen blau strahlenden Augen entgegen, als würde gleich ein "Klaatu barada nikto!" über seine Lippen kommen. So durchdringend und, wie wir im Verlauf des Films erfahren, erleuchtend ist sein Blick, dass jene Kamerafahrt zur ausgiebigen Hinterfragung Anlass gibt: Wer genau fliegt da eigentlich von der Landstraße in die Lüfte?

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Als Science-Fiction-Film fällt Midnight Special an diesem zweiten Berlinale-Tag aus dem Rahmen, aber nur als solcher. Eröffnet wurde die Konkurrenz der 66. Internationalen Filmfestspiele von Berlin mit Hedi, der immerhin das cinephile Gütesigel einer "Dardenne-Präsentation" sein eigen nennen kann. Die großen Namen von Luc und Jean-Pierre eröffnen den Vorspann, was für ein Spielfilmdebüt Ehre genug sein könnte. Autor und Regisseur Mohamed Ben Attia widmet sich mit einem sozialen Realismus der Quarterlife-Crisis des 25-jährigen Hedi (Majd Mastoura). Sein älterer Bruder, das Juwel der Familie, hat sich in Frankreich ein eigenes Leben aufgebaut, während Hedi sich in der Heimat Tunesien geradeso und mit einem bemerkenswerten Desinteresse als Autoverkäufer im Außendienst durchschlägt. Die Mutter ist ganz auf die Organisation von Hedis anstehender Hochzeit fixiert und auch sonst kontrollieren alle sein Leben, mit Ausnahme von Hedi selbst. In einem Touri-Ressort trifft Hedi eine junge Animateurin. Die sedierte Version eines Manic Pixie Dream Girls zeigt dem jungen Mann einen alternativen, weil freien Lebensstil und schon hadert Hedi mit den Hochzeitsplänen. Tatsächlich treibt Attias Held weit mehr um als die Seelenverwandtschaft aus Der Letzte Kuss. Die desolate tunesische Wirtschaft, triste Zukunftsaussichten der jungen Generation und die Desillusionierung nach der Revolution von 2011 legen sich gemeinsam mit der drückenden Hitze auf die Schultern des charismatisch aufspielenden Majd Mastoura. Sein Hedi lässt sich wie Benjamin Braddock am liebsten treiben, doch wenns drauf ankommt, leidenschaftlich gegen die Scheiben zu schlagen, fallen die Hindernisse in Tunesien weit größer aus als im gemütlichen Kalifornien. Unter diesem auf der Stelle schwimmenden Protagonisten leidet der Film allerdings auch.

Hedi träumt von jenem Protesttag am 14. Januar 2011, als Langzeit-Präsident Ben Ali aus dem Land floh, und "sich alle lieb hatten". In Midnight Special bewegt sich die Menschenjagd unaufhaltsam auf einen Freitag zu, den 6. März, um genau zu sein. Mit Adam Driver in der Peter Coyote-Rolle aus E.T. - Der Außerirdische und einem Monatsvorrat an fahlen blauen Linsenreflexen verweist Autor und Regisseur Jeff Nichols auf seine Science-Fiction-Vorbilder. Midnight Special führt trotzdem eher Motive aus Take Shelter - Ein Sturm zieht auf weiter, als dass der Film zum nostalgischen Flashback eines 80er Jahre-Kindes verblasst. Die Popkultur hat sich in diesem Recycling-Kreislauf ja leider verloren. Insofern gibt es vielleicht kaum ein größeres Lob für Midnight Special als seine Einzigartigkeit. Keiner dreht zur Zeit Filme wie Jeff Nichols.

Statt einer tauben Tochter muss Michael Shannons Vater also diesmal für einen Sohn sorgen, der zu viel sieht und hört. Alton versteht Top Secret-Nachrichten, die sonst nur per Satellit ihre Empfänger erreichen. So wird er für die Bundesbehörden zur Gefahr und möglichen Waffe. Die religiöse Gemeinde seiner Eltern, eine Art FLDS -Verschnitt, sieht in dem Jungen ihren Erlöser. In fremden Zungen glauben sie ihm eine Offenbarung entlockt zu haben. Und wie schon in Take Shelter verfolgt Shannons Figur zwischen diesen Mächten den Schutz seiner Familie als übermenschlichen Auftrag, den Außenstehende als Psychose diagnostizieren würden. Während Hedi in Mohamed Ben Attias Film von der Fürsorge seiner Mutter entmündigt wird, spendet in Midnight Special allein die feste Umarmung des Vaters Sicherheit im Sog unerklärlicher Kräfte.

Im satirischen Wettbewerbsbeitrag Boris Without Béatrice des Kanadiers Denis Côté (Vic + Flo haben einen Bären gesehen) begegnen wir Boris Malinovsky (James Hyndman) hingegen in vollster Kontrolle über seine Umgebung. Als eleganter Strich gliedert sich der Geschäftsmann einer unterkühlt eingefangenen Landschaft ein, die nach seinem Willen entstanden zu sein scheint. Seine Frau Beatrice, eine Politikerin, liegt in einem Landhaus in einer melancholischen Starre gefangen. Für Boris durchaus eine tragische Entwicklung, aber auch Gelegenheit, eine Affäre einzugehen. Er ist kein guter Mensch, dieser "Krösus im Wald", der auf alle anderen Bewohner des Erdenrunds hinabblickt. Bis ihm eines Tages Denis Lavant erscheint, und wer nach einer Begegnung mit Denis Lavant sein Leben nicht auf den Kopf stellt, hat wohl noch nie einen Film mit Denis Lavant gesehen. In Boris' Affären, seinen Beziehungen zu Tochter und Mutter und bis in die Details der Mise en Scène hinein breitet sich danach eine Erschütterung aus. Das Unterkühlte, das Konzeptuelle wirft dieser Film, der Bruce La Bruce als kanadischen Premierminister castet, nie ganz ab. Dabei zuzusehen, wie Boris' Fassade bröckelt, mit seiner Familie die Farbe eindringt in seine schwarz-weiße Welt, das bereitet Côté und Freunden bourgeoiser Selbstdekonstruktionen freilich einen masochistischen Spaß.

Der drohende Zerfall der Familie hatte Jeff Nichols frühere Filme beschäftigt, in Midnight Special findet sie ebenfalls erst zusammen. Roy musste seinen Sohn lange mit den religiösen Fundamentalisten teilen. Mutter Sarah (Kirsten Dunst) hatte die Gemeinde verlassen. In der Nacht, auf der Flucht, in gewohnt prägnant inszenierten Schießereien und Verfolgungsjagden, erzählt Nichols dieses kleine Familiendrama mit gewaltigen Konsequenzen. Die Science-Fiction-Mythologie beschränkt sich allenfalls auf einen Adam Driver, der zwei Ziffernfolgen rot einkringelt und seinerseits erleuchtet ein "That's remarkable" ausstößt. Das fasst es ganz gut zusammen.

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