Wie ironisch, dass ich die Überschrift für meinen allerersten Artikel in der Moviepilot-Redaktion 2018 mit dem Satz "Auf der anderen Seite angekommen" begonnen habe. Darunter prangt ein Bild von David Lynch als Gordon Cole in seinem Serien-Revival Twin Peaks: The Return. Jetzt ist der Regisseur mit 78 Jahren verstorben. Als ich meinen Artikel von damals noch mal geöffnet habe, wirkten Überschrift und Artikelbild zusammen wie ein morbider Scherz vom Meister selbst.
Der Blue Velvet- und Mulholland Drive-Regisseur ist mein absoluter Lieblingsfilmemacher. Bevor ich seinen Tod realisieren und endgültig akzeptieren kann, wird noch viel Zeit vergehen müssen. Bis dahin kann ich mich nur immer wieder an sein unverwechselbares öffentliches Auftreten und die einzigartigen Momente aus seinen Werken erinnern, die mein Leben besser gemacht haben.
David Lynch hat mir eine neue Filmwelt eröffnet – irgendwo zwischen Traum und Alptraum
Als die Filme von David Lynch zum ersten Mal in meinem Leben aufgetaucht sind, war ich ein Teenager und mein junger cineastischer Geschmack geprägt durch Regisseure wie Quentin Tarantino und die Coen-Brüder. Wenn ein Film nicht-chronologisch oder mit Kapiteleinblendungen erzählt wurde, war das für mich schon eine aufregende Abweichung von der Norm.
Bis ich eines Tages Lost Highway sah, der meine Vorstellung vom Kino auf den Kopf gestellt hat. Schon der Anfang des Films, in dem der Jazz-Saxophonist Fred Madison (Bill Pullman) und seine Frau Renée (Patricia Arquette) Videoaufnahmen zugeschickt bekommen, auf denen das Innere ihres eigenen Hauses zu sehen ist, strahlt einen unbehaglichen Horror aus, der sich kaum beschreiben lässt.
Schaut hier noch einen Trailer zu Lost Highway:
Und das ist erst der Beginn von Lynchs irritierend-verschlungener Höllenodyssee. Deren Weg ist gepflastert mit hämmerndem Industrial-Rock, finster funkelnder Erotik und Snuff-Porno-Abgründen, bleich geschminkten Männern, die an zwei Orten gleichzeitig sind und einer kaum zu erklärenden Identitätsspaltung.
Lynchs düster-mitreißende Möbiusschleife von einem Film hat für mich das Gefühl ausgedrückt, zwischen Traum und Alptraum gefangen zu sein. Und das lange bevor ich mich mit Analysen und tieferen Auseinandersetzungen zu seinen Filmen und Serien befasst habe.
Die Arbeiten von David Lynch lassen sich besser selbst erleben, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Seine Filme und Serien können interpretiert und erklärt werden, aber aus ihnen strahlt immer ein magisches Geheimnis, das sich nie vollends entschlüsseln lässt. Dass Lynch Fragen zu Bedeutungen seiner Werke generell unbeantwortet ließ, sagt mehr aus als 100 Texte zu seinem finalen, vielleicht unergründlichsten Spielfilm Inland Empire von 2006.
Er war der erste Regisseur, durch den ich begriff, dass Kino nicht verstanden werden soll oder kann. Viel spannender ist doch, was zum Vorschein kommt, wenn wir Logik und Verständnis ablegen – und wie die Kamera zu Beginn von Blue Velvet dorthin gelangen, wo unter dem grünen Rasen hübsch zurechtgemachter Vorstadtgärten pechschwarze Käfer übereinander herfallen.
David Lynch hat mir Szenen für die Ewigkeit geschenkt
David Lynch hat so viele Momente geschaffen, die sich bei mir für immer eingebrannt haben und meine Liebe für Filme in Bildern ausdrücken. Da ist die Lady mit den Hamsterbacken (Laurel Near), die in Eraserhead plötzlich hinter dem Heizkörper hervorkommt und zu singen beginnt, dass im Himmel alles gut ist. Oder Special Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan) aus Twin Peaks, der von einer Tasse schwarzen Kaffee so schwärmen kann wie niemand sonst.
Nicht zu vergessen Naomi Watts in Mulholland Drive, die sich als aufstrebende Schauspielerin Betty mit der mysteriösen Unbekannten Rita (Laura Harring) eines Nachts im Club Silencio einfindet. Hier sitzt sie neben der Frau, in die sie sich schon verliebt hat, und schaut der markerschütternden Llorando-Performance von Rebekah Del Rio zu. Als die Sängerin auf der Bühne zusammenbricht und ihr Gesang trotzdem weiter zu hören ist, sind Betty und Rita schon mit offenen Mündern und sichtlich fassungslos in Tränen ausgebrochen.
Wenn ich jemandem einen David Lynch-Film näher bringen sollte und nur eine Sequenz zeigen dürfte, wäre es diese.
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Der Meister des surrealen Horrors war erschreckend warmherzig
Auch, wenn ich ihn nie persönlich kennenlernen konnte, ist bekannt, was für ein warmherziger Mensch und was für eine gute Seele Lynch unter anderem gegenüber seinen Stars war. In zahlreichen Posts nach seinem Tod brachten sie berührende Erinnerungen an den Regisseur hervor. Auf Instagram schrieb Twin Peaks-Star Kyle MacLachlan, dass er Lynch seine gesamte Schauspielkarriere zu verdanken habe. Auch sei er ihm ein Freund fürs Leben gewesen.
Wenn mir David Lynch in den Sinn kommt, denke ich als Erstes an seine hohe, nasale Stimme. Mit der hat er Sätze von sich gegeben, die wirr oder poetisch oder beides gleichzeitig sind. Einer klingt zum Beispiel so:
Glückliche Unfälle sind echte Geschenke und können die Tür zu einer Zukunft öffnen, die es gar nicht gab. Manchmal ist es schön, etwas zu schaffen, das glückliche Zufälle fördert oder zulässt.
Wie kleine glückliche Unfälle kamen auch die Videos daher, die Lynch jahrelang bis 2022 auf seinem YouTube-Kanal hochgeladen hat. Darin sprach er immer über das Wetter in seiner Heimatstadt Los Angeles, um einem danach noch kleine Weisheiten oder motivierende Sprüche mit auf den Weg zu geben.
Wenn er das Sammeln von Ideen mit dem Fangen von Fischen verglich oder für einen Kurzfilm knapp 20 Minuten lang Quinoa kochte , wirkte David Lynch wie der kauzige Onkel oder Opa, den ich gerne öfter auf Familienfeiern dabeigehabt hätte.
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Jetzt ist er also selbst auf der anderen Seite angekommen, von der ich in meinem Vorstellungstext für Moviepilot damals geschrieben habe. Am liebsten würde ich noch einen letzten Film von ihm schauen, darüber, wie es dort für ihn jetzt aussieht.
David Lynch wird als moderner Meister des Surrealismus für immer einen Platz in der Geschichte haben. Den surrealsten Moment seines Lebens hat er sich für den 16. Januar 2025 aufgehoben, als es einfach zu Ende ging.