Steve McQueen - Der sinnliche Pragmatiker

31.12.2011 - 16:00 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Steve McQueen - hat seinen eigenen Blick auf´s Kino und was es kann
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Steve McQueen - hat seinen eigenen Blick auf´s Kino und was es kann
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Steve McQueen hat mit Hunger und Shame einen bahnbrechenden Regie-Start hingelegt und zusammen mit Michael Fassbender bildet er ein vielversprechendes europäisches Cineasten-Bloodpack für die kommenden Jahre. Mehr davon! Dieser Mann weiß, was er will.

Frische Regisseure gehen oftmals hinter berühmten Produzenten, etablierten Schauspielern oder einer verstaubten Genre-Sprache unter. Manche Regie-Neulinge entscheiden sich aber, einen selbstbewussten Dreck auf Konventionen und Regelwerk zu geben, und drücken der Kino-Landschaft ihren eigenen Stempel auf. Sie bieten den Zuschauern ihre eigene Vision des Mediums Film an. Steve McQueen hat das mit seinem Debüt Hunger auf eine sehr reife und intensive Weise getan. Gemeinsam mit Michael Fassbender schuf er eine thematisch vertiefte Tour de Force durch einen IRA-Gefändgnis-Hungerstreik und machte Kritiker und Publikum auf sich Aufmerksam. Nächstes Jahr kommt Shame, wieder mit Michael Fassbender. Wir sollten den Briten mit dem prominenten Namensvetter in jedem Fall im Auge behalten.

Telling Stories, really – der Weg ins Kino
In einem schön langen Video-Interview fasst Steve McQueen sehr treffend zusammen, weshalb er Hunger so unkonventionell, so andersartig inszenierte: Er wollte einfach den stärksten Film machen, der ihm möglich war. Er wollte den größtmöglichen Impact erzeugen. Es ist schön, einem frischen Regisseur zuzuhören, der davon erzählt, dass die gegebenen Konventionen der Filmsprache, der Story-Struktur nicht ausreichen, um die Geschichte zu erzählen, die er erzählen möchte. Diese Freiheit im Umgang mit filmischer Tradition, mit filmischer Arbeit und der erzielten Wirkung stammt nicht zuletzt von Steve McQueens künstlerischer Herkunft.

Der Brite war früh künstlerisch interessiert. An verschiedenen Kunsthochschulen, zuletzt an der NYU Film School, tat er sich durch Experimentierfreude hervor. Seine essentiell orientierte Herangehensweise sprengte immer wieder die etablierten Umgangsweisen mit den gegebenen Materialien. Egal ob Fotographie, Video-Installation oder Skulpturen – Steve McQueen suchte immer wieder nach Möglichkeiten, das Potential seines Materials in neuen Weisen zu entdecken. Irgendwann leuchtete ihm ein, dass die Kunsthochschule als prägendes Umfeld, nicht wirklich förderlich für ihn war. Sie lassen dich dort einfach keine Kamera in die Luft werfen… – so soll er seinen Abgang vom NYU Filmschool begründet haben. Dieser Mann möchte nicht die Filmsprache der Klassiker wiederholen. Er möchte sich und das Medium weiterentwickeln. Dabei ist sein Ziel keinesfalls, das Publikum mit anstrengenden Kunstfilmen zu langweilen, sondern, wie gesagt, die größmögliche Wirkung zu erzielen, eine Geschichte auf ihre intensivste und nachvollziebarste Art zu erzählen.

Konzept und Sinnlichkeit oder: Steve McQueen liebt Michael Fassbender
Steve McQueen ist ein Künstler, jemand der Material nimmt, damit experimentiert und am Ende des Tages etwas ausdrücken möchte. Für eine Skulptur, oder eine Foto-Installation ist Storytelling, da nicht unbedingt lebensnotwendig. Beim Film verhält es sich laut Steve McQueen ganz anders: Hier geht es primär um die Erzählung. Dieser Primat der Erzählung mag sich etwas altmodisch anhören, doch hinter diesem Bewusstsein versteckt sich eine fokussierte Experimentierfreude. Thematisch versunken nähert sich das Filmteam um Steve McQueen mit Hunger dem IRA-Hungerstreik von 1981. Mit dem klaren Bewusstsein, dass zwischen der Wahrheit des historischen Bobby Sands und dem Verständnis des Regisseurs das Medium Film liegt, entwickelte Steve McQueen sich eine ebenso konzeptuelle, wie sinnliche Filmsprache, um der Lebenswirklichkeit des politischen Gefangenenstreiks auf eine artifizielle Weise nahezukommen.

Michael Fassbender war eine große Hilfe. Er bietet so etwas wie den sinnlich-körperlichen Mittelpunkt der durchdachten Inszenierung des Steve McQueen. Ein Cast der goldwerter nicht hätte sein können. Die beängstigend präzise Tonspur, die experimentellen, niemals prätentiösen, stets Story-motivierten Einstellungen – und mittendrin sehen wir den sich verändernden Körper von Alleskönner Michael Fassbender. Spätestens in den Krampfszenen, in den Lebens-verneinenden Momenten des Körpers von Bobby Sands (Michael Fassbender) wird uns klar, was der britische Regisseur mit starkem Storytelling meint. Bis in den letzten Muskel, in die quälendste Kontraktion spielt der Darsteller die Folgen des Nichtessens durch. Politik, Körperlichkeit, Ideale, Ziele, Überzeugungen – alles fließt in einer visuellen Tour de Force zusammen. Die Geschichte eines Mannes, der sich weigert zu essen, um als politischer Aktivist gehört zu werden. Steve McQueen hat einen astreinen Riecher, was gute Drehbuch-Ideen angeht. Und er hat das Zeug, sie in intensive Bilder zu packen.

Von Scham und Sklaverei – was kommt da noch?
Ähnlich interessant und sinnlich kommt die Idee zum nächsten Film Shame daher. Da geht es um den Sexsüchtigen Brandon. Diesmal basiert die Geschichte zwar nicht auf einem konkreten Fall, doch dafür auf langer Recherche. Shame erzählt die Geschichte vieler Menschen, deren Leben von Masturbation, One-Night-Stands und Prostitution bestimmt wird. Sexsucht ist, wie alle Süchte, ein spezieller Ausdruck der Unfähigkeit des Menschen, ein perfektes Leben zu führen. Spielsucht, Alkoholsucht, Drogensucht – Sexsucht ist die wohl sinnlichste Variante, gleichzeitig die sozial entblößendste, beschämenste. Das macht sie filmisch zu einem so interessanten Thema. Sex ist ein grundlegendes visuelles Thema in der Welt des Films, dass allein die Idee, die radikal andere Annäherung an dieses Thema, schon einen Blick wert ist.

Shame drehte bereits eine überaus erfolgreiche Festivalrunde. Nächstes Jahr kommt der Film endlich in unsere Kinos. Das nächste Projekt nimmt epischere Ausmaße an. 12 Years a Slave beruht auf der wissenschaftlich erschlossene Geschichte des schwarzen New Yorker Bürgers Solomon Northup, der durch Betrug in die Sklaverei geriet und 12 Jahre als menschliche Ware durch verschiedene Besitzerhände lief. Natürlich ist das Bloodpack Fassbender-McQueen wieder vereint. Die Hauptrolle übernimmt Chiwetel Ejiofor.

Was haltet ihr von Steve McQueen – talentierter Mann mit dem respektvollen Gespür für gute Geschichten oder eher Arthouse-Freak? Werdet ihr ihn auch im Auge behalten?

Hier alle Texte zu Tops & Flops sowie Stars des Jahres im Überblick:

Flops 2011
Mattes’ Flop-Film des Jahres – Kill The Boss
Ines’ Flop-Film des Jahres – Sucker Punch
Sophies Flop des Jahres – Pirates of the Caribbean
Maltes’ Flop des Jahres – Colombiana
Jennys Flop-Film des Jahres – Transformers 3

Tops 2011
Mattes’ Top-Film des Jahres – Winters’ Bone
Ines’ Top-Film des Jahres – Melancholia
Sophies Top Film des Jahres – Planet der Affen
Maltes Top des Jahres – X-Men: Erste Entscheidung
Jennys Top-Film des Jahres – Meek’s Cutoff

Top-Schauspieler des Jahres 2011
Jennys Star des Jahres – Kristen Wiig
Jennys Star des Jahres – Andy Serkis
Mattes’ Star des Jahres – Mia Wasikowska
Mattes’ Star des Jahres – Ryan Gosling
Sophies Star des Jahres – Michelle Williams
Sophies Star des Jahres – Robert Pattinson
Maltes Star des Jahres – Jennifer Lawrence
Maltes Star des Jahres – Michael Fassbender

Interessante Regisseure des Jahres 2011
Tomas Alfredson – Nordmann mit Ambitionen
Nicolas Winding Refn – Meister der Präzision
Andrea Arnold – Von Top of the Pops nach Venedig
Cary Fukunaga – Bildgewaltige Filme mit viel Kraft
Steve McQueen – Der sinnliche Pragmatiker

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