mitcharts auf dem Filmfest München - Teil 2

11.07.2012 - 08:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Großes Kino in Bayern
Filmfest München
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Heute bekommt ihr den zweiten Teil der Erlebnisse von User mitcharts beim Filmfest in München serviert. Wir wünschen euch viel Vergnügen beim Lesen!

Herzlich willkommen zurück zum zweiten und letzten Teil meines Filmfest-Resümees hier in der Speakers’ Corner. Und ohne große Umschweife geht es auch schon los mit Tag 5 bis 8:

Tag 5: Kriminellenalltag und WG-Beziehungschaos
Nicolas Winding Refn wurde in diesem Jahr auf dem Filmfest – sicherlich nicht zuletzt wegen seines Erfolgs mit Drive – mit einer eigenen Reihe geehrt, bei der auch seine mittlerweile zum Kult avancierte Pusher-Trilogie vorgeführt wurde. Da ich diese bis dato noch nicht gesehen hatte, hat sich ein Besuch also durchaus angeboten.

Refns ursprünglich gar nicht geplante Trilogie über die dänische Unterwelt ist mit Abstrichen eine sehr authentische, emotionale und schonungslose Charakter- und Milieustudie, mit einer sehr dynamischen und ungeschönten Inszenierung und drei absolut überzeugenden Hauptdarstellern. Interessant dabei ist auch, dass in den späteren Teilen immer wieder Bezug auf die Vorgänger genommen wird, wodurch das Filmuniversum, welches mit der Trilogie geschaffen wurde, noch authentischer und detailreicher wirkt.
Für Refn war Pusher der Stein des Anstoßes und man bekommt schon ein sehr gutes Gespür für sein Talent, welches er in späteren Filmen wie Drive, Walhalla Rising oder Bronson beinahe perfektioniert und mit Pusher II: Respect und Pusher 3 wiederholte er seinen Erfolg.

Mit einem – dank der Pusher-Trilogie – eher flauen Gefühl im Magen, ging es dann auch in den letzten Film des Tages, welcher mehr oder weniger eine Empfehlung von Ichundso war. Allerdings weiß ich nicht mehr, wie diese zu Stande gekommen ist, diesen Umstand möge er mir bitte verzeihen. Jedenfalls, 3 Zimmer/ Küche/ Bad ist der neue Film von Dietrich Brüggemann, in dem es um eine Gruppe von Freunden und deren Lebens-, Beziehungs- und Umzugschaos geht. Positiv zu erwähnen sind vor allem sein Humor, die Dialoge und die Charaktere. Aber leider ist es so, dass die genannten Punkte nicht darüber hinweg täuschen können, dass das Konstrukt, auf dem der Film aufbaut, zu keiner Zeit echt, sondern stark künstlich wirkt, was gegen Ende noch einmal besonders deutlich wird und dass der Film eine zu lange Laufzeit hat und sich dadurch hier und da in Belanglosigkeit verliert. Am Ende bleibt nur eine weitere etwas über dem Durchschnitt angesiedelte deutsche Komödie, die keinerlei Akzente setzt.

Tag 6: Analog vs. Digital und Kulturrevolution
Tag 6 begann mit einem Thema, welches mich u.a. sehr interessiert, denn in der von Keanu Reeves und Justin Szlasa produzierten Dokumentation Side by Side geht es um den Prozess des Filmemachens, dem Wechsel von analog zu digital in sämtlichen Produktionsschritten und welche Vor- und Nachteile sich daraus ergeben. Interviewt wurden dazu u.a. Kinematographen, Cutter und andere, aber auch Regisseure, die all ihre eigenen Erfahrungen darlegen und Meinungen zu dem Thema wiedergeben. Durch die von Keanu Reeves geführten Gespräche ergibt sich ein sehr übersichtliches aber zu jederzeit verständliches Bild über das diskutierte Thema und jedem der auch nur ansatzweise Interesse an Film zeigt, sei diese Dokumentation ans Herz gelegt.

Spät abends und bei Regen ging es dann in 11 Flowers, in dem wohl ungeeignetsten Kino für OV-Fassungen, die Untertitel mit sich bringen. Aber zurück zum Film; 11 Flowers von Xiaoshuai Wang schildert die Geschichte des 11-jährigen Wang Han im Jahr 1975, welcher sein erst kürzlich geschenktes, weißes Hemd verliert und auf der Suche nach diesem auf einen gesuchten Mörder trifft und feststellen muss, dass die Welt der Erwachsenen gar nicht so einfach ist, wie er es sich vorgestellt hat. Mit 11 Flowers setzt Wang seine sensiblen Portraits von Vater-und-Sohn-Beziehungen fort und zeichnet mit viel Liebe zum Detail, einem geschickten Gespür für Lebendigkeit und sehr ansehnlichen Bildern, die unwirtliche Welt eines 11-jährigen Jungen kurz vor dem Ende der Kulturrevolution nach, die unter anderem durch die bewusste Nichtthematisierung dieser Ära, für den Zuschauer wie auch für den Jungen eher befremdlich wirkt. Zudem trägt der Film viele autobiographische Züge – Nachnahme, Geburtsort und -jahr sind mit denen des Hauptcharakters gleich –, welche die Darstellung der inneren Konflikte eines Jungen am Rande einer bevorstehenden und ungewissen Zukunft noch weiter vertiefen. Trotz alledem konnte er mich nicht gänzlich von sich überzeugen, was in letzter Instanz aber auch an dem schrecklichen Kino und dem nervigen Publikum gelegen haben könnte.

Tag 7: Kasten, Dogmen, Schicksale und Surrealismus
Außerordentlich früh ging es am siebten Tag los, um genau zu sein um 09:30 Uhr. Das war die erste Vorstellung des Tages, bei der Alms for a Blind Horse lief. Der Film ist das Regiedebüt von Gurvinder Singh und der erste Film aus Punjab. Er erzählt von dem widrigen Alltag im heutigen Punjab jener Menschen, die der niedrigsten Kaste angehören.
Stilistisch lässt der Film wahrlich nichts zu wünschen übrig, da er wirklich wunderbare Bilder präsentiert und einen sehr guten Kontrast zwischen Natur und Zivilisation zeichnet. Auch der Cast – welcher hauptsächlich aus den vor Ort lebenden Personen besteht – ist durchweg bemerkenswert. Das größte Problem des Films ist aber seine permanente Leere. Obwohl der Film vieles an Ereignissen und an Aussage zu bieten hat, vermag er zu keiner Zeit auf irgendeine Art und Weise zu fesseln, denn dazu fehlt es ihm an Leidenschaft und an Seele.

Nach dieser fast zweistündigen Zerreißprobe gab es mit En el nombre de la hija eine kleine Überraschung. Der aktuelle Film von Tania Hermida handelt von der kleinen Manuela, die während des Sommers 1976 von ihren kommunistisch-atheistischen Eltern zu den konservativ-katholischen Großeltern geschickt wird, womit Konflikte vorprogrammiert sind und in der dortigen Bücherei eine Entdeckung macht, die ihr eigenes Handeln und Denken auf den Kopf stellt. Tania Hermida stellt, gepaart mit einer wundervollen Inszenierung und einer unglaublich talentierten Jungdarstellerin, auf sehr liebevolle und humorvolle Weise die Welt und die durch Sprache aufgestellten Dogmen in Frage und gibt dem Zuschauer genügend mit, damit er sich selbst Gedanken über dieses Thema macht und zeichnet zugleich auch ein authentisches Portrait der damaligen Zeit in Ecuador.

Neben Beasts of the Southern Wild, war das aktuelle – und für mich erste – Werk von Jacques Audiard, Der Geschmack von Rost und Knochen, der zweite Titel des Festivals, dem ich mit großen Erwartungen entgegen fieberte. Der Geschmack von Rost und Knochen schildert in einer groben Variante von „Die Schöne und das Biest“, wie die Waltrainerin Stéphanie und der Tagelöhner Ali nach einem schrecklichen Vorfall zueinander finden und versuchen, ihre beiden Leben gemeinsam auf die Reihe zu kriegen. Der Film ist ein unglaublich intensives Drama, in dem sowohl Matthias Schoenaerts als auch bzw. ganz besonders Marion Cotillard mit ihrem Schauspiel überzeugen können. Ebenso wie das Schauspiel glänzt aber auch Audiards beachtliches Handwerk, welches dem Film eine ganz eigene Note verpasst. Da könnte man auch schon mal ein paar Schwächen hier und da, aber vor allem gen Ende verzeihen. Er hat sich die Festivalvorschusslorbeeren zwar redlich verdient, aber ein wenig ungeschliffen wirkt er dennoch, wovon man sich aber nicht abhalten lassen sollte, den Film zu schauen.

War bis zum jetzigen Zeitpunkt noch alles verständlich, wurde man mit Holy Motors von Léos Carax eines Besseren belehrt. Schon eine inhaltliche Beschreibung des Films erweist sich als schwierig, da man Gefahr läuft, zu viel zu verraten, wodurch das Erleben des Filmes stark gemindert werden würde. Darüber hinaus ist Holy Motors wie ein episodenhafter, surrealer Traum über Leben, Tod, Musik, Ideen, Kunst, Alltag und ähnliche Themen und stellt mit seinen Bildern viele Fragen ohne dem Zuschauer die Antworten zu bieten. Unterstützt wird der Film in seinem Surrealismus sehr stark von seiner Inszenierung und dem extrem starken Schauspiel von Denis Lavant als Monsieur Oscar. Positiv erwähnt werden muss aber auch der kleine Auftritt von Kylie Minogue, unglaublich.

Dieser Film ist definitiv einer jener, an denen sich die Geister scheiden werden, da er doch sehr künstlerisch ist und die Rezeption extrem stark vom jeweiligen Zuschauer abhängt. Wer sich jedoch auf die bizarre und surreale Welt des Films einlassen kann, wird mit einem faszinierenden und obskuren Trip belohnt, bei dem sich sicherlich auch ein wiederholtes Sichten lohnt. Und auch wenn mir der Film durchaus gefallen hat, so hat er mich doch durch ein paar Dinge mit einem großen Fragezeichen in den Abend entlassen.

Tag 8: jugendliche, erwachsene und zerstörerische Liebe
Der letzte Tag des Filmfestes stand ganz im Zeichen der Liebe, die gleich in drei Filmen auf unterschiedliche Art und Weise thematisiert wurde.

Den Anfang machte Sea Shadow von Nawaf Al-Janahi, eine Produktion der Vereinigten Arabischen Emirate, in der es um den 16-jährigen Mansoor aus einer kleinen Küstengemeinde in Ra’s al-Chaima geht, der in die gleichaltrige Kaltham verliebt ist und mit gesellschaftlichen Schranken zu kämpfen hat, um ihr seine Liebe zu gestehen.
Filme aus den Vereinigten Arabischen Emiraten sind in unseren Breitengraden selten, da sie hier kaum bis garnicht veröffentlicht werden und so war ich ob dieses Kleinods doch sehr überrascht. Sea Shadow ist ein wundervolles und einfühlsames Drama einer „zarten, mit Blicken und Gesten bestimmten Liebesgeschichte“ (Quelle: Filmfest-Magazin) mit einem unverklärten Blick auf die Hürden die den Jugendlichen durch Religion, Kultur und Traditionen durch die Gesellschaft auferlegt werden. Getragen wird die Geschichte von einer sehr angenehmen Inszenierung mit kräftigen Farben, einem authentischen Umfeld und sehr talentierten und sympathischen Jugenddarstellern.
Wer an internationalem Kino interessiert ist, sollte versuchen diesen Film im Auge zu behalten und einen Blick riskieren.

Von den Arabischen Emiraten geht es ins spätherbstliche Seattle. Das in Meine beste Freundin, ihre Schwester und ich von Lynn Shelton stattfindende Liebeschaos zwischen einem Dreiergespann aus bester Freund, beste Freundin und Schwester der besten Freundin, ist auf den ersten Blick eine perfekte Blaupause für eine „08/15-Indie-RomCom“. Allerdings hebt sich der Film glücklicherweise positiv von ähnlichen Filmen ab, was unter anderem dem perfekt harmonierendem Cast bestehend aus Emily Blunt, Rosemarie DeWitt und Mark Duplass, deren zu einem Großteil improvisierten Dialoge und einer starken Reduzierung auf das Wesentlichste geschuldet ist. Und wenn man dann noch bedenkt, dass der Film ein ungefähres Budget von 125.000 US-Dollar hatte und an rund 12 Tagen abgedreht wurde, so ist das Endresultat nicht nur für Independentfans überaus sehenswert.

Weniger komisch ging es danach in Wuthering Heights – Emily Brontës Sturmhöhe von Andrea Arnold zu, einer weiteren Verfilmung des gleichnamigen englischen Klassikers von Emily Brontë, in der es um das Findelkind Heathcliff geht, der bei der Familie Earnshaw aufgenommen wird und eine sehr enge Beziehung zu deren Tochter Cathy aufbaut und gegen die widrigen Bedingungen der Natur und des Lebens ankämpfen muss. Ob es eine gute Verfilmung ist, kann ich nicht sagen, da ich weder die Geschichte, noch die anderen Verfilmungen kenne. Jedoch ist Arnolds Film durchaus gelungen, da sie es versteht die Widrigkeiten, die Heathcliff im Hochmoor von Yorkshire durchleben muss, in entsprechend düsteren, freud- und trostlosen Bildern einzufangen – zu Gute kommt hier auch Arnolds Entscheidung, in 4:3 zu drehen – und den Zuschauer mit Heathcliff zusammen leiden lässt. Allerdings hat der Film vor allem in Bezug auf Länge und Inszenierung einige Schwächen, die das Gesamtbild doch etwas trüben und er dadurch an Intensität verliert. Auf Grund ihres Regiedebüts Fish Tank waren meine Erwartungen relativ hoch, welche der Film leider nicht gänzlich erfüllen konnte.

Fazit:
Nach acht Tagen, 24 Filmen und zwei Texten für die Speakers’ Corner ist auch für mich das 30. Filmfest München 2012 nun zu Ende. Wie auch im letzten Jahr, hat es mir sehr viel Spaß bereitet, mich acht Tage lang voll und ganz auf das Festival und die Filme zu konzentrieren und danke der neuen Filmfestleitung recht herzlich für deren Arbeit – vor allem im Hinblick auf die Neugestaltung der Reihen – und Filmauswahl, auch wenn ich dieses Jahr ein paar Länder vermisst habe. Insgesamt bin ich im Nachhinein betrachtet mit meiner Filmauswahl recht zufrieden, da nur sehr wenige wirkliche Enttäuschungen und einige Highlights dabei waren und sich die restlichen Filme alle im mittleren/oberen Bereich ansiedeln lassen.

Jetzt heißt es wieder ein Jahr warten, bis es in die nächste Runde geht. Aber das Fantasy Filmfest ist schon auf dem Sprung.

Jedenfalls, das war mein Resümee des diesjährigen Filmfest München für euch. Ich danke euch für eure uneingeschränkte Aufmerksamkeit und hoffe, das ihr Spaß beim Lesen der Texte hattet und ich euch für ein paar der von mir hier vorgestellten Filme interessieren konnte.


Vorschau: Der nächste Woche erscheinende Text handelt von einer alten Kunstform, die bis heute ausgeübt wird und noch immer viele Anhänger hat.


Dieser Text stammt von unserem User mitcharts. Wenn ihr die Moviepilot Speakers’ Corner auch nutzen möchtet, dann werft zuerst einen kurzen Blick auf die Regeln und schickt anschließend euren Text an ines[@]moviepilot.de

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