Im Vergleich zum letzten Jahr, als aus Telluride und Toronto eine Kritikerhymne nach der anderen den Oscarbuzz befeuerte, ist die Stimmung beim Oscar 2015 recht lauwarm. Favoriten wie Birdman oder Boyhood halten sich zäh in zentralen Kategorien, aber den Dominator sucht die Oscarsaison vergebens. Entsprechend kommt einem auch die Auswahl in den Kategorien Bester Hauptdarsteller und Bester Nebendarsteller ziemlich bekannt vor. Wieder finden wir Vogelmänner, Fuchsfänger und Theorien über das Leben, das Universum und den ganzen Rest, ohne dass sich ein Kandidat in den Vordergrund drängelt. Wäre da nicht ein Werk, das kürzlich in einer Arbeitsfassung beim AFI Fest stehende Ovationen einfuhr: der Martin Luther King-Film Selma.
Wie immer sei erwähnt, dass wir uns in einer Oscar-Phase voller Unwägbarkeiten befinden, namentlich vor der Vergabe der Kritikerpreise und der Gildennominierungen, weshalb sich das Kandidatenfeld durch Veränderung der Kampagnenstrategien oder unerwartete Mitbewerber in zwei Monaten anders gestalten kann. Aber was wäre das Jahr ohne wilde Oscarspekulationen? Genau, ein ewiger Kino-Sommer. Bäh.
Oscar 2015 - Die ersten Favoriten für den Besten Nebendarsteller
Als sadistischer Musiklehrer bringt J.K. Simmons im Percussionthriller Whiplash alles mit, was die Academy liebt: Eine auffällige Rolle als charismatischer Bösewicht (wir erinnern uns an Hans Landa und Anton Chigurh) wird in einem mainstreamaffinen Indiefilm von einem beliebten Charakterdarsteller gespielt, der bei den Oscars noch nicht gewürdigt wurde. Im Moment ist J.K. Simmons der Favorit in der Kategorie Bester Nebendarsteller.
Edward Norton - Birdman oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit
Alle Welt jubelt über Michael Keaton und die technischen Leistungen in Birdman, Co-Star Edward Norton geht da fast unter. In seiner Rolle als eigenwilliger Broadway-Schauspieler kam der bisher zweifach für den Oscar nominierte Norton unter Kritikern gut an. Sein Erscheinen auf der Nominiertenliste gilt als relativ sicher, allerdings könnte es sich der als "schwierig" geltende Norton in den letzten Jahren mit einigen Größen der Industrie verscherzt haben. Was wiederum eine nette Parallele zu seiner Birdman-Rolle hergibt...
Ethan Hawke hat nicht nur eine Chance für den Oscar für den Besten Song nominiert zu werden. Heimlich, still und leise hält sich Hawke unter den ersten Plätzen in der Nebendarsteller-Kategorie. Doch wie bei allen potenziellen Boyhood-Nominierungen ist auch hier fraglich, ob sich der Kritiker-Hype so viele Monaten nach der Sundance-Premiere auf die Academy überträgt, ob also IFC Films eine entsprechende Kampagne lancieren kann. Andererseits durchlebt Hawke dank seiner erfolgreichen Horrorrollen, Indie-Auftritte und einer Regiearbeit ein kleines Karrierehoch.
Wenn Mark Ruffalo Dinge beim Oscar im Weg stehen, dann der Film und sein eigener Auftritt. Nachdem Foxcatcher wegen des überfüllten Oscarpools Ende 2013 um ein Jahr verschoben wurde, feierte der Film in Cannes Premiere, doch der dort entstandene Buzz hat seit der Überfahrt auf den nordamerikanischen Kontinent merklich nachgelassen. Hinzu kommt, dass Ruffalo im Vergleich zu den Kollegen Steve Carell und Channing Tatum recht subtil aufspielt. Aber leider steht die Academy im Schauspielbereich auf große Gesten (und dicke Make-up-Schichten). Sollte sich die Aufregung um Selma verstärken, könnte Ruffalo zugunsten von Tim Roth oder Tom Wilkinson aus dem Nominiertenfeld fliegen.
Der japanische Musiker Miyavi heißt eigentlich Takamasa Ishihara und spielt in Angelina Jolies Unbroken einen Offizier, der im Kriegsgefangenenlager unbedingt Jack O'Connells Helden brechen will. Abgesehen vom größten Spoiler-Filmtitel des Jahres ist Miyavi dank fehlender Kritiken eine große Unbekannte im Oscar-Rennen. Da die Academy charismatische Bösewichte in der Vergangenheit belohnt hat, wird Miyavi unter den Oscar-Bloggern noch heiß gehandelt. In einer Woche wissen wir mehr. Dann fällt in den USA das Kritiken-Embargo für Unbroken.
Das Verfolgerfeld beim Oscar 2015 für den Besten Nebendarsteller:
Tom Wilkinson - Selma
Tim Roth - Selma
Josh Brolin - Inherent Vice - Natürliche Mängel
Robert Duvall - Der Richter: Recht oder Ehre
Alec Baldwin - Still Alice
John Goodman - The Gambler
Albert Brooks - A Most Violent Year
Channing Tatum - Foxcatcher
Christoph Waltz - Big Eyes
Aber wie sieht das Favoritenfeld in der Kategorie Bester Hauptdarsteller aus?