„Wie kann das Dach ihre Leere überdecken“, lautet ein Satz aus Nobody Wants the Night. Es ist die Quintessenz des Films im schlechtesten Sinne. Isabel Coixet (Das Geheime Leben der Worte) stürzte schon eine Killerin in eine Affäre mit ihrem Opfer und im Eröffnungsfilm der Berlinale 2015 zwingt die Regisseurin wieder zwei Figuren einander auf, die sich aller Erwartung nach kaum stärker abstoßen dürften.
Ein warmer Kaffee am Nordpol
Basierend auf „wahren Figuren“, so
die Titelkarte am Anfang, macht sich Josephine (Juliette Binoche)
1908 auf, ihrem Entdecker-Ehemann an den
Nordpol zu folgen. Alle Warnungen schlägt sie in den Wind,
Warnungen, die zumeist ältere Männer mit vollendeten Bärten
aussprechen. Josephine macht weiter, getrieben vom Ehrgeiz ihres
abwesenden Mannes, bis sie im Basislager ankommt. Die Definition von „allein“ allerdings
steht zur Debatte. Im Iglu nebenan passt eine junge Inuit-Frau
(Rinko Kikuchi, Killerin aus Eine Karte der Klänge von Tokio) auf die eigensinnige Park Avenue-Lady auf. In diesen Szenen der
gegenseitigen Entdeckung entwickelt Coixets Nordpoldrama spielerische Leichtigkeit. Für kurze Zeit lenkt sie vom hochtrabenden
dialogischen wie inszenatorischen Getöse über das Ringen von
Mensch und Natur ab. Dabei fällt in der gesamten Spielzeit ein ästhetischer Widerstreit zwischen weiten, dokumentarischen Landschaftsaufnahmen und bühnenhaft inszenierten Kulissen auf. Was ja noch zur Interpretation anregen könnte, würden die Übergänge zwischen Gruppen- und Umgebungsszenen ansatzweise glaubhaft aussehen. Oder durchweg künstlich. Da wünscht man sich die Rückprojektion alter Schule herbei. Der inoffizielle Pacific
Rim/Godzilla-Mashup in der Darstellerriege kann wenig gegen die platte Symbolschleuder ausrichten, die Coixet im
letzten, aufs Kammerspiel reduzierten Drittel des Films herausholt.
Eine aufbrechende Iglu-Kuppel wird nie wieder den selben Appetit auf Speiseeis machen. Dass ausgerechnet im Berlinale-Auftakt ein Eisbär erschossen wird, hätte Warnung genug
sein müssen.
Zum arktischen Vierbeiner gesellen sich in The Days Run Away Like Wild Horses Over the Hills leider nicht die im Titel versprochenen Pferde (Berlinale-Tier-Counter: 1). Der erste Film des Tages beginnt 9.30 Uhr. Da lungere ich schon seit eineinhalb Stunden am Potsdamer Platz herum, weil ich ein zentrales Element des Presse-Ticket-Systems nicht verstanden habe. Ich bin zum ersten Mal mit Akkreditierung da. Das ist übrigens meine Ausrede für alles (auch Tiernahrung). Titeltechnisch durch den Schriftsteller Charles Bukowski inspiriert, beginnt der eigentliche Auftakt der Berlinale mit drei Freundinnen, Ende 20, Anfang 30, die in kargen Schwarz-Weiß-Bildern sehr unterhaltsam über Sommersprossen philosophieren und sich mit Janet Jackson tanzend in ihre Jugend zurückversetzen. Dass der Forums-Beitrag von Marcin Malaszczak (Sieniawka) nach mehr strebt, als einer europäischen Variante des Mumblecore , zeigt die sich anschließende Spiegelung zweier Lebensphasen. Auf der einen Seite eine junge Frau, die in amüsanten Spielszenen den Rollentausch mit einem Kleinkind übt (ultimatives Berlinale-Zitat der Kleinen: "Coffee Coffee Coffee Coffee Coffee!"). Auf der anderen Besuche von alten Damen, Gespräche über Gebrechen, Pflegeversäumnisse, Tod. Das formale Bindeglied dieses Lebenskreises sei hier nicht verraten (in der Berlinale-Beschreibung wird es leider ausgeplaudert), es überschattet jedoch fortan den Film, der sein Konzept zum Schauwert und es damit durchsichtig macht.
"Hedi Schneider hier, ich stecke fest."
Die Journalisten seien die schlimmsten Leute in Sundance, hieß es neulich bei Wired . Über die in dem Artikel angeprangerte Konversationsarmut kann ich nach dem ersten Tag beim Berliner Festival nicht klagen. Eine kleine Plage wurde trotzdem sogleich entdeckt: erleuchtete Smartphone-Bildschirme, die - wie abgesprochen - links und rechts vor der Leinwand Blicke auf sich ziehen. Vermutlich ist das keine branchenspezifische Krankheit bzw. hoffentlich ist das keine branchenspezifische Krankheit. Beim deutschen Forums-Film Hedi Schneider steckt fest von Sonja Heiss (Hotel Very Welcome) blieben die Zuschauerreihen gleichermaßen vergnügt wie dunkel, obwohl Laura Tonkes Hedi mit einer schweren Angststörung zu kämpfen hat. Ihr Filmehemann Hans Löw spielte 2011 am Gorki-Theater den feschen polnischen Piloten in Sein oder Nichtsein und seitdem, also jedes Mal, wenn er durch einen Tatort huscht, wünsche ich Löw eine große Kinorolle, die seiner wuchtigen Physis gerecht wird und seine fragile Seite berücksichtigt. Hedi Schneider steckt fest bietet das, garniert mit einer fantastischen Laura Tonke. In weichen, strahlenden Farbtönen sehen wir Hedis Alltag, in dem kleine Skurrilitäten, ja winzigste mimische Verschiebungen sich in Pointen verwandeln. Freilich können die Lacher in jedem Moment kippen und das tun sie, nur eben nicht eindeutig in eine Richtung.
Durch Hedis filmreif harmonisches Familienleben zieht sich ein tiefer Riss, als bei ihr eine Angststörung diagnostiziert wird. Der kleine Sohn versteht nicht, warum seine Mutter beim Spielen wie angewurzelt in der Küche steht, der Ehemann muss seinen Traumjob in Gambia aufgeben, Hedi verfällt in Ohnmacht ("Wie soll's aus mir selber kommen, wenn es vorher nicht da war?") und sucht Rettung in Beruhigungsmitteln. Auf dem Papier klingt Sonja Heiss' zweiter Spielfilm nach einem ambitionierten Drama, dessen Drehbuch zu 40 Prozent aus Statistiken und Interviews mit Experten besteht. Als Film ähnelt 'Hedi' eher dem amerikanischen Independent-Kino und dessen tragikomischer Aufbereitung von schweren Krankheiten (zuletzt Infinitely Polar Bear und Me & Earl & the Dying Girl). Da Heiss, die auch das Drehbuch geschrieben hat, ihre Schrullen im Alltäglichen sucht und nicht den entgegengesetzten Weg wählt, überzeugt Hedi Schneider steckt fest mit seiner einnehmenden Natürlichkeit. Verdammt lustig ist der Film auch.
Jugend - Plastik - Anmut
Zum Abschluss meines ersten Festival-Tages lud die Berlinale mit der aufwendig restaurierten 2K-Fassung des Stummfilm-Klassikers Varieté (1925) zu eine Reise in die Vergangenheit, speziell der populären Unterhaltungskultur. Untermalt wurde diese von einem neuen, leider wahnsinnig aufdringlichen Score der Band Tiger Lillies. In der Eifersuchtsgeschichte bezahlt der Ex-Artist Huller (Emil Jannings, erhaben über alle glaubhaften Body-Doubles) seinen zweiten Karrierefrühling mit einer fremdgehenden Freundin. Jannings als brodelnder Vulkan in Menschengestalt ist eine Augenweide und irgendwo saß 1925 sicher George Bancroft und kochte vor Neid auf diese Rolle. Die teils widerwärtig misogyne Story lässt sich allerdings nur mit Hilfe der aufregenden Kameraarbeit von Karl Freund (Berlin: Die Sinfonie der Großstadt) und Carl Hoffmann (Dr. Mabuse, der Spieler - Ein Bild der Zeit) verdauen. Da fliegt das filmische Auge schon mal über den Zuschauerraum des Berliner Wintergartens, um die Perspektive der Artisten einzunehmen. Auf dem Boden warten viele Charakterköpfe in Großaufnahme, Zuschauerschnipsel im Saal oder beim Kartenspielen, alle kurz eingefangen, aber einprägsam. Und ganz ohne Handy-Lichtern auf der Nase.
Alle Berlinale-Tagebücher auf einen Blick:
Tag 10 mit Kon Ichikawa und dem verschobenen Frühling
Tag 9 mit dem Kleid aus Cinderella
Tag 8 mit Elser und An American Romance
Tag 7 mit Fifty Shades of Grey und Eisenstein in Guanajuato
Tag 6 mit Nasty Baby und Every Thing Will Be Fine
Tag 5 mit Als wir träumten und Redskin
Tag 4 mit Knight of Cups und Der Perlmuttknopf
Tag 3 mit Victoria und Der letzte Sommer der Reichen
Tag 2 mit Queen of the Desert und The Forbidden Room
Tag 1 mit Nobody Wants the Night und Hedi Schneider
Berlinale-Prolog