Berlinale Tag 9 – Cinderella mit Cate Blanchett

14.02.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Im Urhzeigerisinn: Unsere sonnigen Tage, Cinderella, Chasuke's Journey, Greenery will Bloom AgainBerlinale, DNY Productions, Disney, Shochiko, ITACA
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Kenneth Branaghs Cinderella wandelt auf den Spuren klassischer Disney-Filme und schließt als einer von drei Beiträgen den letzten Wettbewerbstag der Berlinale 2015 ab.

Bevor wir uns zusammen in den CGI-Gärten von Disneys neuer Cinderella verlaufen, gibt es erstmal eine authentische Wiedergabe des denkwürdigsten Ereignisses dieses neunten Tages der Berlinale 2015: „Was passiert hier?“, fragt eine Spaziergängerin vor dem Roten Teppich des Berlinale-Palasts. Nochmal, regelrecht fordernd: „Was passiert hier!?“ Ja, was eigentlich? Eine Konferenz über ethnologische Lehrfilme? Ein Meeting der Selbsthilfegruppe lichtscheuer Schlafwandler? Eine Erotikmesse für Furries? In wenigen Tagen verschwinden jedenfalls rote Teppiche, Wellenbrecher und die allgegenwärtigen goldenen Bärensilhouetten aus dem Stadtbild. Dann versenken sich die abreisenden Filmjournalisten wieder in die Spekulation über Oscars und das Cannes-Programm, während sich die Berliner gleichmäßiger auf die vielen kleinen Festivals und ihre Wohnzimmercouchen verteilen.

Es soll Leute geben, die gehen nur für die Berlinale ins Kino. Mit dem Wettbewerb 2015 könnten sie durchaus eine gute Jahresausbeute mitnehmen. Als zufälliges Gegenprogramm zu den Oscars strotzte er vor eigensinnigen Frauenfiguren, einige davon sogar in sehenswerten Filmen. Herzogs Gertrude Bell (Nicole Kidman), die als Queen of the Desert die strammen Soldaten zur Verzweiflung bringt. Titelheldin Victoria (Laia Costa) übernimmt in Sebastian Schippers 140-Minuten-Plansequenz Schritt für Schritt die Kontrolle. Das exzentrische Medium (Maja Ostaszewska) im polnischen Beitrag Body von Malgorzata Szumowska bringt seelisch verwundeten jungen Frauen das Schreien bei, zu Hause diniert sie allein mit ihrer mannshohen Dogge. Mit den vielen Historienfilmen in und außerhalb der Konkurrenz näherte sich das Festival dann doch ein wenig den Goldenen Nackedeis aus Los Angeles an, wobei Tiefpunkte wie Elser - Er hätte die Welt verändert, Nobody Wants the Night und Diary of a Chambermaid im Dolby Theatre in L.A. genauso wenig zu suchen haben wie im Berlinale-Palast. Eine Vorliebe für sozialkritisch motiviertes Problemkino wird den Programmverantworlichen der Berlinale gerne unterstellt. Kommt es so vielfältig und unterhaltsam daher wie im Thriller The Club von Pablo Larraín (Pädophilie in der katholischen Kirche) oder Jafar Panahis Miniatur einer Gesellschaft, Taxi, dann dienen schematische Berlinale-Filme wie Sworn Virgin wenigstens als Ermahnung, in was für Langweilern man noch so hätte sitzen können. Am Freitag ging der Wettbewerb (innerhalb und außerhalb der Konkurrenz) in seine letzte Vorstellungsrunde.

Aschenputtel im Greenscreen-Land
Was ist der außer Konkurrenz laufende Cinderella von Kenneth Branagh alles nicht? Ein düsterer und dreckiger Reboot, ein referenzreicher Mashup, eine selbstironische Meta-Dekonstruktion, eine poppige Modernisierung, ein Prequel und ein Sequel. Was ist Disneys neuer Cinderella-Film auch nicht? Originell! Fans der klassischen Zeichentrickfilme von Disney werden ihre helle Freude an der Neuverfilmung des Märchens über eine gute und fleißige junge Dame (Lily James) haben, die von ihrer Stieffamilie als Putzkraft missbraucht wird und sich in einen Prinzen mit tarantinoeskem Fuß-Fetisch verliebt. Nach einem Drehbuch von Chris Weitz (New Moon - Bis(s) zur Mittagsstunde) inszeniert Branagh (Thor) ein klassisches Märchen, dessen einzige Modernisierungen in einem erdrückendem Einsatz von Computereffekten zu finden sind. CG-Schlösser, CG-Häuser, CG-Hirsche, CG-Kutschen, CG-Gänse - sucht es euch aus!

"It's made of glass." - "And why not?"

Reden wir gar nicht erst über den Prinzen (Richard Madden, Robb Stark aus Game of Thrones) und seine Angebetete. Gleich beim zweiten Treffen gerät es dank des größten kinematografischen Textil-Exzesses seit der Hochzeit in Twilight 4: Breaking Dawn - Biss zum Ende der Nacht - Teil 1 in Vergessenheit. Das hellblaue Kleid von Cinderella könnte nämlich einer fünfköpfigen Familie Unterschlupf gewähren. Als hätte er die Faszination für Superheldenkostüme aus dem Marvel-Universum gemopst, feuert Branagh bei der Darstellung des heimlichen Hauptdarstellers aus allen Kalibern. Hinzu kommt eine Cate Blanchett als latent tragische Stiefmutter, die dermaßen überkandidelt vor der Kamera herumwirbelt, als hätten ihr Nicolas Cage und der späte Al Pacino Schauspielunterricht gegeben. Was sich natürlich hervorragend in Branaghs nicht weniger überkandidelter Disney-Welt einreiht. Blanchett verdient schon jetzt einen Spezial-Oscar für das unvermittelte manische Lachen des Jahres und ihr schlangenartig gebogener Rücken den Hauptpreis der Visual Effects Society. Jeden Ansatz einer modernen Hinterfragung des Cinderella-Stoffs lassen Branagh und Weitz fallen, um zur nächsten Reaktionsaufnahme "witziger" CG-Mäuse zu springen oder noch einmal um eines der vielen Kleider herumzuschwenken. Der klassische Ansatz der Cinderella-Neuverfilmung bietet eine gelungene Abwechslung zu den aktuellen Trends in Hollywood. Darüber lässt das Märchen allerdings die persönliche Note vermissen.

Unsere himmlichen Tage
Aus Vietnam und Japan kommen die letzten beiden Wettbewerbsfilme der diesjährigen Berlinale. Chasuke's Journey von Hiroyuki 'SABU' Tanaka (Monday) führt uns in den Himmel, wo Drehbuchautoren über das Leben der Erdenbewohner entscheiden. Leider sind deren Geschichten nicht immer kreativ. Wenn ihr also demnächst bis zur Erschöpfung romantisch töpfert und auf eurem Kreuzfahrtschiff gegen einen Eisberg fahrt, wisst ihr, wer die Schuld trägt. Der himmlische Teemeister Chasuke (Kenichi Matsuyama) will eines dieser Schicksale zurechtrücken und springt dafür in die Welt der Sterblichen. Im Mittelteil etwas fahrig geraten, ist Chasuke's Journey nichtsdestotrotz eine schwer unterhaltsame Ansammlung seltsamster Schicksale, die der Avantgarde da oben im Himmel mal so richtig die Leviten liest.

In eine andere Richtung geht Unsere sonnigen Tage, der zweite Spielfilm des vietnamesischen Regisseurs Dang Di Phan (Hab keine Angst, Bi!). Ende der 90er Jahre befindet sich Vietnam in den frühen Stadien seines wirtschaftlichen Aufbruchs. Fotografie-Student Vu verliebt sich in seinen Drogen dealenden Mitbewohner, gemeinsam mit ihrer kleinen Clique ziehen sie durch Clubs, quatschen in Straßenrestaurants oder flüchten auch mal aufs Land, wenn Geldeintreiber hinter ihnen her sind. Unser sonnigen Tage plätschert so dahin, wie es Sommertage des Müßiggangs so an sich haben. Anders als es bei ähnlichen Beiträgen im Berlinale-Programm der Fall ist, überfrachtet Regisseur Dang Di Phan seine Alltagsbeobachtungen nicht symbolisch. Das, was wir aus dem Leben von Vu und seinen Freunden sehen, soll nicht von gesonderter Bedeutung sein und ist es genau deswegen. Unterlegt mit einigen vietnamesischen Schlagern pulsiert dieser kleine Film ohne große Geschichte angenehm unauffällig.

Kontrastprogramm
Der gestrige Berlinale-Abend abseits des Wettbewerbs führte zunächst an die italienisch-österreichische Front während des Ersten Weltkriegs. Greenery will Bloom Again (Torneranno i prati) wird von einer leisen, geschwächten Stimme eröffnet, die uns mit der im Schnee der Berge vergrabenen Stellung der Italiener vertraut macht. Der Regie-Veteran Ermanno Olmi (Die Legende vom heiligen Trinker) entsagt in seinem Kriegsfilm aus der Reihe Berlinale Special dem Spektakel. Eine erdrückende Stille liegt stattdessen über dem Geschehen, unterbrochen vom dumpfen Hall der Mörser in der Ferne. Als ein lebensmüder Befehl von oben kommt, muss ein einzelner Soldat aus der Stellung durch den Schnee krabbeln. Er soll ein Kabel verlegen. Einen Meter, zwei Meter weiter kommt er. Es fällt ein Schuss. Der Soldat schaufelt sich quälend langsam durch den Schnee und bleibt tot liegen. Vielleicht vier oder fünf Meter von den Kameraden entfernt. In den 78 Minuten Laufzeit schneidet Olmi zunächst eine winzige Episode aus dem "Großen Krieg", in der eine Waffenruhe zum Gesang über die Front hinweg anregt, bevor die Leuchtgranaten wieder den Nachthimmel erhellen. Erst im zweiten Teil lässt Olmi die stille Beobachtung zugunsten einer verallgemeinernden Anti-Kriegs-Haltung fallen, was löblich ist, dem Geschehen jedoch seine Eindringlichkeit raubt.

Zum Abschluss des gestrigen Tages lockte wieder die Retro, diesmal im Zeughauskino, wo Sweethearts von W.S. Van Dyke gezeigt wurde. Ein erfolgreiches Broadway-Pärchen (Jeanette MacDonald, Nelson Eddy) will nach Hollywood, was ihre Theater-Mischpoke aus New York durch einen Eifersuchtsplot zu verhindern versucht. Die schwerfälligen Musikeinlagen nach einer Operette von Victor Herbert gehören noch zu den Schwachpunkten dieser Showbiz-Komödie, in der besonders Autoren ihr Fett wegkriegen ("His music is killing my lines." - "It's a mercy killing."). Dynamik entwickelt sich dagegen, wenn die Tücken des Geschäfts parodiert werden. Sogar über den Slang der Branchenzeitung Variety wird sich belustigt. Dass die beiden Stars nur zwischen der Ausbeutung in einem Sechs-Jahres-Vertrag (Broadway), einem Sieben-Jahres-Vertrag (Hollywood) oder Dorftheater wählen können, verleiht dem süßen Sweethearts eine bittere Note, direkt aus Insider-Kreisen.

Meine Wettbewerbs-Lieblinge
Heute 19 Uhr beginnt die Preisverleihung der Berlinale 2015. Bevor die Goldenen und Silbernen Bären ihre Besitzer wechseln, möchte ich noch kurz meine persönlichen Favoriten in den Wettbewerbskategorien küren. Morgen folgt dann der nächste Tagebucheintrag zum diesjährigen Festival, mit weiteren Abstechern in andere Sektionen.

Goldener Bär für den besten Film: Der Perlmuttknopf
Großer Preis der Jury (Silberner Bär): Eisenstein in Guanajuato
Alfred-Bauer-Preis (Silberner Bär) in Erinnerung an den Gründer des Festivals, für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet: Taxi
Preis für die beste Regie (Silberner Bär): Peter Greenaway (1), Eisenstein in Guanajuato
Preis für die beste Darstellerin (Silberner Bär): Charlotte Rampling, 45 Years
Preis für den besten Darsteller (Silberner Bär): Alfredo Castro, The Club
Preis für das beste Drehbuch (Silberner Bär): Aleksey German Jr., Under Electric Clouds
Preis für eine herausragende künstlerische Leistung aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design (Silberner Bär): Sturla Brandth Grovlen (Kamera), Victoria

(1) Eklat bei der Pressekonferenz, als Jury-Präsident Darren Aronofsky seine Karriere als Spielfilmregisseur auf Eis legt, um als dritter Regie-Assistent bei Peter Greenaway anzufangen.

Berlinale-Weisheit des Tages: "It's astonishing how many people sleep at night. It's so resourceful." (Sweethearts)

Alle Berlinale-Tagebücher auf einen Blick:

Tag 10 mit Kon Ichikawa und dem verschobenen Frühling
Tag 9 mit dem Kleid aus Cinderella
Tag 8 mit Elser und An American Romance
Tag 7 mit Fifty Shades of Grey und Eisenstein in Guanajuato
Tag 6 mit Nasty Baby und Every Thing Will Be Fine
Tag 5 mit Als wir träumten und Redskin
Tag 4 mit Knight of Cups und Der Perlmuttknopf
Tag 3 mit Victoria und Der letzte Sommer der Reichen
Tag 2 mit Queen of the Desert und The Forbidden Room
Tag 1 mit Nobody Wants the Night und Hedi Schneider
Berlinale-Prolog

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