Jenny von T - Kommentare

Alle Kommentare von Jenny von T

  • Woher kennt ihr mich denn so gut? :-)
    Ich unterziehe nämlich jeden potenziellen Partner bei der spätestens dritten Verabredung dem ultimativen Eignungstest in Gestalt eines gemeinsamen Filmabends.
    Programm:
    - ANTICHRIST
    - SÁTÁNTANGÓ
    Wenn er danach noch neben mir sitzt (und auch nicht eingeschlafen ist), kann's was werden mit uns. Bisher ist aber jeder durchgefallen. :-)

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    • Ich möchte mit einsteigen! :-)
      Für mich bitte:
      - Inglourious Basterds
      - Es war einmal in Amerika
      - Love Exposure
      - The Tree of Life (auch, wenn der schon genannt wurde... :-))

      2
      • 9 .5

        Kieślowskis Filme und was sie mit einem machen. Durch kein Adjektiv, keinen Superlativ, keine Plattitüde wirklich greifbar, weiß ich nur eines: Sie lassen mich in absoluter Hochstimmung zurück. Dies nicht etwa, weil Kieślowski die Rolle eines schillernden Papageis einnähme, der dem Zuschauer den Weg zum Regenbogen der Lebensbejahung aufzuzwängen gedenkt, sondern deshalb, weil er das Einmaleins des Lebens nachzuzeichnen und den Mensch in all dem darzustellen vermochte, was ihn im Guten wie im Schlechten ausmacht. Dafür bedurfte es dem polnischen Regisseur keineswegs großer Komplexität oder Verrenkungen – ganz im Gegenteil besticht sein Werk durchweg durch für sich genommen simple, enorm anschauliche Geschichten, die aber gleichsam beträchtliche Wahrheiten in sich tragen. Irgendwie schicksalhaft erscheint es da rückblickend, dass er es sein sollte, der durch seine DEKALOG-Reihe die 10 Gebote in die heutige Zeit übersetzt. Mein ewiger Favorit aus diesem Zyklus: Der 6. Dekalog, auch bekannt in einer längeren Fassung als – wie treffend - KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE. Ein Film, so schlicht und eben genau seinem Titel gerecht werdend, welcher sich immerhin jenes große Wort "Liebe" vor die Tür gehangen hat.
        Und ja, ein gewaltiges Gefühl ist es nach wie vor, so sehr die Oberflächlichkeit auch weiter an ihm nagt. Umso wertvoller ist gewiss das ernsthafte, künstlerische Bemühen, zu seinem innersten Kern vorzudringen.
        Vielleicht ist es das älteste Drama der Welt, die Erzählung von zwei Menschen, die sich nicht finden können, da sie an verschiedenen Polen ihre Kreise ziehen, wenngleich sie eigentlich dasselbe suchen. EIN KURZER FILM ÜBER DIE LIEBE taugt sicherlich als Gleichnis, wäre er denn nicht auch so tragisch lebensnah. Wir sehen, woraus Liebe geboren werden kann und wodurch sie verglüht, wie sie uns idealisieren und resignieren lässt, wie einmal Herz und einmal Körper ihren Wert bestimmen, aber auch, wie niemand ihre Macht für immer unterdrücken kann – die Frage danach, ob es dann eventuell schon zu spät ist, steht freilich wiederum auf einem anderen Blatt, das wir uns leider nicht selbst zuteilen können. So wird man auch mit dem ironischen Umstand Vorlieb nehmen müssen, dass die beiden existierenden Versionen dieses Films mit unterschiedlichen Enden aufwarten – einmal mit einem pessimistischem, einmal mit einem etwas offeneren Ausgang.
        Mein persönlicher Bezug zu Kieślowskis Meisterwerk: Ich liebe und leide mit beiden Figuren, sowohl mit Tomek als mit Magda. Ich bin zu alt, um an Wunder zu glauben (das überlasse ich dem Kino), aber noch jung genug, mir ein kleines Bisschen Gefühlszauber im Reserve-Tank zu bewahren. Und ich meine, so ganz ohne geht es auch einfach nicht im Leben, sonst verwelkt der Mensch ganz rasch wie eine Blume - dafür hatte bestimmt auch Kieślowski Sympathien, denn würden sich Emotionen um ein "Richtig" oder "Falsch" scheren oder wären gar kontrollierbar, hätte ein Menschenkenner wie er gar nicht erst einschreiten müssen.

        15
        • 8 .5

          Amerika in den 70'ern: Watergate hier, Vietnam dort, und mittendrin sinniert Maestro Robert Altman spitzfindig und treffsicher wie eh und je über eine in ihren Grundfesten wankende Kultur und das marode Ineinandergreifen ihrer Bestandteile. Nach Einschätzung von immerhin Wim Wenders dem "Genre der Katastrophenfilme" zuzuordnen, findet sich in NASHVILLE tatsächlich ein prachtvolles Exempel für Altmans Regiephilosophie der in Wahrheit perfekt arrangierten und somit geordneten Anarchie, und zwar formal ebenso wie inhaltlich.
          Ohnehin bekannt für ihre wuchernden Ensemblewerke, ist der legendären Ikone 1975 ein Koloss von Film gelungen, der die bedingungslose Aufmerksamkeit, welche er seinem Zuschauer über 160 Minuten hinweg abverlangt, nicht nur zurückzahlt, sondern obendrein eine beachtliche Zinsquote draufpackt. Ganze 20 Eingangsminuten braucht NASHVILLE, um satte 24 Protagonisten einzuführen und unser Gesichtergedächtnis damit ordentlich auf die Probe zu stellen – die Rückspul-Taste kann hier schnell zum Verbündeten werden, bloß dem quietschfidelen Altman in seinem kunterbunten Figuren-Sandkasten kann man auf der Höhe seines Schaffens ob diesem Chaos einfach nicht böse sein, ahnt man doch insgeheim von der ersten Minute an, dass große Dinge und nicht zuletzt das pralle Leben ihren Lauf nehmen werden.
          Als Aufhänger und Angelpunkt des Films dient die Vorbereitung eines (Country-)Konzerts im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung eines fiktiven amerikanischen Politikers, und wer mit Altmans Genie bereits vertraut ist, dem dünkt schon, was ein Großmeister wie er an verschiedenen Tonfällen von Satire bis Drama aus diesem Fundament hervorzuzaubern vermag. In NASHVILLE prallen dann auch so allerlei Persönlichkeiten aufeinander und ebnen, wie es sich gehört, den Weg für mannigfaltige Verstrickungen: Echte Stars und solche, die es gerne wären, verkappte Romeos, Verzweifelte, Gescheiterte, Profitgierige, Neugierige, Suchende, Verrückte, Politiker, die man nur aus Lautsprechern hört, aber nie zu Gesicht bekommt – ein Querschnitt durch die Gesellschaft und jene, die sie (vermeintlich) stützen.
          Mag sich ein bindender historischer Kontext zunächst auch aufdrängen, so ist NASHVILLE im Grunde ein Film über Menschen und weniger über eine eingrenzbare Ära, was besonders in dem Moment klar wird, in dem folgendes Gedankenexperiment glückt: Die fein gesäten Nadelstiche des Drehbuchs haben nichts von ihrer Effektivität eingebüßt, sondern sind – ganz im Gegenteil – vielleicht sogar bedrohlich mutiert: Ein Wahlkampfauto als stiller Running Gag der Geschichte, doch niemand interessiert sich wirklich für die laut ertönenden Parolen, Standpunkte oder Anregungen – ebenso wenig wie für die einstige Star-Sängerin Barbara Jean, die nach einem schweren Unfall einen weiteren Rückschlag erleidet und nunmehr die Zerbrechlichkeit von Ruhm und Anerkennung erfährt, oder für die arme Mrs. Green, deren Nichte Martha – auch zum Leidwesen des Onkels - ganz andere Ziele vorschweben, als ihre im Sterben liegende Tante im Krankenhaus zu besuchen.
          Altman vermag es, in nur wenigen Takten eine Symphonie erklingen zu lassen, benötigt kaum Federstriche, um seine Charaktere in einer Weise auf's Papier (bzw. Zelluloid) zu bringen, sodass man sie im Nu versteht und sich ihnen anschließen kann, denn allzu Menschliches wird auch in seinen warmen, philanthropisch ergiebigen Aspekten keineswegs ausgeblendet. Und liegt im Möbiusband unserer Existenz denn letztendlich nicht sowieso alles verdammt nah beieinander, sind Komödie und Tragödie etwa nicht verwandt?
          Aber das war's ja noch nicht: Wo sich Altman-typisch Dialoge überlappen und die Kamera einem manipulativen Fokus verweigert, bleibt es dem Zuschauer überlassen, Information herauszufiltern und zu verarbeiten. Unzweifelhaft erschließt sich NASHVILLE in all seinen Facetten somit keineswegs bei einmaliger Sichtung, sondern erweist sich vielmehr als detailgespickte Parabel und heruntergebrochener Mikrokosmos, an dem man sich noch lange abarbeiten kann – auch und gerade deshalb, weil sich nichts geändert hat.

          21
          • 8

            Hätte ich die Möglichkeit, einen verstorbenen Filmemacher zurück ins Diesseits zu holen, Pasolini stünde ganz vorne an. Allein etwaige Einlassungen seinerseits zum aktuellen Weltgeschehen wären voraussichtlich von höchster Ergiebigkeit (aber auch Brisanz). Stellung beziehen, den Finger in die Wunde legen, und zwar in die Wunde loderner und bis heute nachhallender sozial-gesellschaftlicher, religiöser und politischer Themenverknüpfungen, an die sich niemand sonst mit dieser Tabulosigkeit und Konsequenz herantraut, das ist Pasolini. Was den Italiener allerdings besonders auszeichnete, war nicht nur sein Mut, sondern auch sein Genie.
            Schon nach den ersten Minuten im SCHWEINESTALL ist klar: Sowas wird nie wieder jemand drehen und ich glaube, selbst als eingefleischter Cineast muss man sich auf diese Tour de Force erst einmal einlassen können. Pasolini liebte Allegorien, denen wiederum ein ganz eigenes Phänomen anhaftet: Sie sind einerseits allzu oft plump, verdorben und überdeutlich provokativ ausgefallen (zur Verdeutlichung genügt hier praktisch der Verweis auf den Filmtitel), entlarven dann aber doch sehr viel mehr als es den Anschein hat, denn Pasolini gelang es immer wieder, ein Mysterium um seine Metaphorik herum aufzubauen und seine Bilder andererseits zu intellektualisieren.
            Erster Schock: Der junge Jean-Pierre Léaud im eigentlich total falschen Film, mal nicht als Truffaut-Alter Ego. Zweiter Schock: Der passt hier irgendwie verdammt gut rein. Der Franzose verkörpert die zentrale Figur in einem von zwei narrativ parallel verlaufenden Handlungssträngen. Die ihn umgebende Erzählung spielt im Deutschland der 60'er Jahre; Léaud ist Julian, Sohn eines Bourgeois und symbolischer Stellvertreter für die Nachkriegsjugend, ohne Ideale, einem Ziel oder Interesse an zwischenmenschlichen Bindungen – dafür aber, seit frühesten Jahren, an Schweinen, wobei Pasolini es in Bezug auf die konkrete Ausgestaltung dieser morbiden Faszination Julians dabei belässt, das Kopfkino des Zuschauers in Gang zu setzen (man dankt es ihm). Julians Vater schmiedet derweil (mehr oder weniger unfreiwillig) Bündnis mit einem alten Bekannten, Herrn Herdhitze, einem Industriellen, dessen höchst kriminelle und moralbefreite Energie im Zweiten Weltkrieg ihm später zu Reichtum verhalf.
            Schauplatz der zweiten Abhandlung ist eine Vulkanlandschaft in ferner Vergangenheit. Wir sehen einen Mann, der zum Kannibalen wird. Nach und nach schließen sich ihm weitere Umherziehende an, sein Schicksal aber ist ebenso wenig verheißungsvoll wie das Julians, denn [SPOILER] beide Hauptfiguren finden letztlich ihren Tod - salopp ausgedrückt - am unteren Ende der Nahrungskette. [\SPOILER ENDE]
            Geschichte wiederholt sich, losgelöst von Ort, Zeit und äußeren Bedingungen. Der ganz normale Pasolini-Wahnsinn. Die Kraft dieses Regieverständnisses liegt darin verborgen, nicht alles zu erklären, Satire, Surrealismus und formale Distanz ineinander und bedingt voneinander zu purem, verstörendem, aber auch tragischem Wahnwitz aufzuziehen. Am Anfang von allem jedoch steht das Hinterfragen, das Umkehren von noch so gefestigten Selbstverständnissen, das Herunterreißen der schillerndsten Masken, und wenn es sein muss, auch der eines Wirtschaftswunders.
            So stark und unverhohlen Pasolini auch karikiert und verzerrt, der Einzelne bleibt Bestandteil von etwas Größerem, und vielleicht bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu ergeben oder eingeholt zu werden, auf die eine oder andere Weise. Er bleibt ein untrennbares Rädchen der eindimensionalen, gesellschaftlichen Struktur, welcher er angehört – einer Gesellschaft, die ihre eigenen ungehorsamen Kinder frisst, wie der Regisseur es einst selbst ausdrückte.
            PORCILE und sein immenser Überbau entfalten erst dann ihre ganze Wirkung, wenn sie auch in den letzten Hirnwindungen des Betrachter angekommen sind und sich wie ein Virus über die Gedanken legen können. Aber es sind ja gerade die besten Filme, die diesen langen Weg beschreiten. Das Werk eines Visionärs, der zu stark war für sein Publikum.

            20
            • 5 .5

              Eigentlich hält sich mein Drang, mich überhaupt über diesem Film auszulassen, in Grenzen, da er einfach nicht gut beziehungsweise nicht vieler Worte wert ist. Aber kennt ihr das auch, dieses Gefühl eines falschen Gleichgewichts, wenn ihr zu viele gelbe oder rote Kästchen in der Ecke eines fast jeden Kommentars zu einem bestimmten Film seht und euch der Gerechtigkeitsdrang ereilt, etwas "geradebiegen" zu müssen?
              Mein Problem mit Peckinpahs CROSS OF IRON, kurz und knapp: Zynismus und Beweihräucherung des eigenen Regie-Rebellentums haben in einem Film über Krieg nichts verloren. Natürlich vermag NS-Bildmaterial, unterlegt von "Hänschen Klein" im Vorspann, auch heute noch dem einen oder anderen Sensationslüsternen ein "Oh, das ist aber erfrischend kontrovers!" zu entlocken, aber braucht das wirklich jemand?
              Der kümmerliche Schnitt gehört vermutlich ebenso wie die dürftigen Dialoge zum guten Ton, will man ein dreckiges, ungeschöntes Stück Dokument in seiner ganzen Hässlichkeit abliefern, wären da nicht diverse Slow Motion-Explosionen und Schießereien zulasten von glaubwürdiger Charakterzeichnung, die am Ende aller Tage vielleicht doch eine Faszination verraten, die man eigentlich umgehen wollte. Wer die Buchvorlage kennt, dem muss diese Fokus-Verschiebung praktisch unweigerlich befremdlich anmuten – umso ärgerlicher, liefert die Literatur hier doch die Steilvorlage für ein exzellentes Werk, das sich in diesem Genre hätte äußerst positiv hervortun können. Peckinpah hingegen muss man wohl seine Macho-Attitüde ankreiden, die er wenigstens hier besser hinter sich hätte, denn so bleibt der Nachgeschmack eines Schlachtfelds als Sandkasten, der echte Kerle hervorbringt. Wie man für dieses Projekt eine doch recht beachtlichte Darstellerriege um sich scharen konnte, ist mir jedenfalls ein Rätsel. Leider Trash.

              11
              • 8 .5

                Zerfall' in Deine Teile und zerreiße mich als Scherbe.
                Bist Du es immer noch?
                Schwirr' aus in die Wüste und mach' den Himmel glühen,
                Flute die Ozeane und kehre sie um.
                Bin ich nun oben, und Du unten?
                Sieh' mich an, ich gehe in dir unter,
                Verbrenne oder ertrinke ich?
                Zeig' mir, dass alle Gegensätze eins sind,
                Stell' dich vor mich, anmutiges Grauen, mit schützender Hand,
                Bevor die Sonne uns verdunkelt.

                13
                • 5 .5

                  [*Mega-SPOILER vorprogrammiert*]
                  Ben Affleck ist der FC Chelsea unter den Filmemachern. Sein Scriptwriting ist holprig, schwerfällig und uninspiriert wie das englische Passspiel, und überhaupt fragt man sich, wo der eigentlich plötzlich herkommt und was ihn ausgerechnet in die Regie-Champions League verschlagen hat (schließlich nervt er VOR der Kamera bereits genug). Sein Glück (und sehr viel mehr kann nicht dahinterstecken): Die richtigen Leute (mit viel Geld) interessieren sich aus irgendeinem Grund für ihn und irgendjemand scheint ihm geflüstert zu haben, welch simple Mauer-Finten des geringsten Widerstandes doch ausreichen können, um die Massen in Hochstimmung zu versetzen. Für Chelsea gab's dafür letztes Jahr den Henkel-Pott, für Affleck vor wenigen Tagen den Oscar.
                  Kindesentführung im "White Trash"-Milieu. Schwieriges Thema. Affleck schafft es einerseits, über Strecken den Anschein einer aufrichtigen Auseinandersetzung mit seinem hochmoralischen Sujet zu erwecken ohne dabei Klischees unnötig aufzupolieren, und doch fehlt es GONE, BABY, GONE bereits in diesen Momenten schlicht an Ausdruckskraft. Den seelischen Zustand seiner Charaktere liest man weniger an ihren Gesichtern ab, vielmehr bedarf es immer wieder der Zuhilfenahme von Holzhammer-Dialogen, um uns die zentrale Frage vor die Füße zu knallen: Ist es gerechtfertigt, (mit Unterstützung der Polizei, wohlgemerkt) gegen das Gesetz ein Kind zu entführen, um es vor seiner drogenabhängigen Mutter zu schützen und ihm so ein unbeschwerteres Leben zu ermöglichen?
                  Nah dran sein möchte Affleck an seinen Protagonisten, denn unter Menschen wie ihnen, im Ghetto, ist er selbst aufgewachsen. Umso heftiger stellt GONE, BABY, GONE seine bemühte Authentizität jedoch durch wirre Thriller-Plothaken wieder infrage. "War doch nur ein Film", denkt man sich nach äußerst durchwachsenen 114 Minuten und schiebt sich erstmal 'ne Pizza in den Ofen. Dieser verunglückte, da zu platt angegangene Drahtseilakt zwischen Unterhaltung und dem hohem Selbstanspruch eines naturalistischen Erdrutsches hat jedoch zur Folge, dass Afflecks Arbeit sich sowohl an den Maßstäben eines authentischen Sozialdramas als auch an denen eines waschechten Verschwörungsthrillers messen lassen muss – und notwendig beide Male durchfällt.
                  Vielleicht war es tatsächlich Afflecks Ziel, mit seinem Debutwerk die Menschen zum Nachdenken anzuregen. In dubio pro reo möchte ich eigentlich annehmen, dass die Bauchlandung im allerletzten Moment "nur" auf fehlendes Taktgefühl zurückzuführen ist, und doch hinterlässt es einen bitteren Nachgeschmack, mögliche Standpunkte in dieser Causa zuerst auf zwei Optionen zu begrenzen und dann auch noch durchs Hintertürchen selbst die Antwort zu geben. Die besten Filme formulieren so präzise wie möglich eine Frage und überlassen das Reflektieren daraufhin dem Rezipienten. Der Trugschluss, dem Affleck – sei es nun bewusst oder unbeabsichtigt - zielsicher erliegt, ist also Folgender: Das Aufdrängen einer Lösung bewirkt demgegenüber nicht etwa einen Mehrwert, sondern ist eine Anmaßung.
                  Aber um nun endlich konkret zu meinem Problem zu kommen, das ich mit GONE, BABY, GONE habe:
                  Der Gewissens-Zwiespalt des Detektivs Kenzie zum Ende des Films ist eindeutig und zugespitzt, der Mann steht vor Folgendem Problem: Ausgerechnet der ehemalige Ermittlungsleiter im selben Fall, Doyle, war an der Entführung des Mädchens beteiligt (das Fingieren von falschen Anhaltspunkten inklusive) und hat dieses nun persönlich bei sich aufgenommen. Was tun? Ihn verpfeifen und damit eine Familie wieder zusammenführen oder schweigen und alles so belassen (denn schließlich geht es dem Kind gut)? Kenzie entscheidet sich, eigentlich nachollziehbar (und hier hätte der Film – wenn schon! - enden müssen), dafür, die Polizei zu alarmieren. Doyle wird verhaftet und die Kleine kommt nach Hause zu ihrer damals heillos überforderten Mutter – die sich, wie in der letzten Einstellung klar wird, jedoch selbst nach einem so traumatischen Erlebnis nicht geändert zu haben scheint. Sozialpessimismus ist eine Sache, die mangelnde Sensibilität und Weitsicht Afflecks eine andere, denn in diesem Kosmos existieren nur zwei Möglichkeiten: Entweder knallhart das Gesetz brechen oder das Mädchen dem "Verderben" der eigenen Mutter aussetzen. Das ist Schwarz/Weiß-Pathos und Heldenbildung, die eine solch empfindliche Materie einfach nicht braucht. Und irgendwie passt es dann auch ins Bild, dass der jenseits der Legalität handelnde, aber in Wahrheit _natürlich_ große Retter, Inspektor Doyle, von dem vielleicht anerkanntesten Schauspiel-Sympathieträger überhaupt verkörpert wird: Morgan Freeman.
                  Afflecks Unzulänglichkeiten als Autor und Regisseur kommen jedenfalls an einen Punkt, an dem sich auch mit gutem Willen nicht mehr viel entschuldigen lässt, und sein reaktionär-erzrepublikanisches Weltbild kann der Herr sich ohnehin in die bereits gelverklebten Haare schmieren – da vermag auch Casey keine Kohlen mehr aus dem Feuer zu holen, wenngleich er vor der Kamera mindestens 2 Spielklassen über seinem älteren Bruder agiert.

                  7
                  • Mehr als der Oscar für den Besten Fremdsprachigen Film war realistischerweise wohl nicht zu erwarten, und wenig überraschend hat die Academy in beinahe jeder Kategorie tatsächlich wieder einmal die konservativste (Fehl-)Entscheidung getroffen. Dennoch darf man gratulieren, denn ein größerer Fremdkörper als Michael Haneke ist für den goldenen Käfig Hollywood praktisch nicht denkbar. Allein die zahlreichen Nominierungen für AMOUR kamen insoweit einem Wunder gleich.
                    Wie oft passiert es schon, dass ein Regisseur wie er gehört wird? Ein Regisseur, der seinem Publikum immer nur Fragen über Fragen eröffnet, aber nie Antworten vorlegt, ihre Existenz gar leugnet? Ein Regisseur, der konsequent gegen den Zeitgeist schwimmt – der uns mit einem Höchstmaß an Ehrlich- und Zärtlichkeit daran erinnert, was das Wörtchen "Liebe" wirklich bedeutet in Zeiten, in denen der Markt wöchentlich von gefühlt 30 neuen Wattebällchen-RomComs überschwemmt wird. Der zur Abwechslung keine Weltkriege melodramatisiert, sondern einen ganz und gar unverkitschten, gesellschaftlichen Blick auf das Entstehen von Faschismus wirft (DAS WEISSE BAND). Der sich die Frechheit herausnimmt, das Konsumierbarmachen von Gewalt zu kritisieren und sich damit in seiner Aussage und Radikalität gegen große Namen und ganze Strömungen stellt (FUNNY GAMES).
                    Ja, Haneke ist endgültig angekommen – nicht mehr nur in Cannes, auch im Rest der Welt. Das Bemerkenswerte daran: Ihm ist es eigentlich egal. Er wird durch seine Filme auch in Zukunft so lange bohren, bis er auf Öl stößt. Ihm wird es weiter darum gehen, den Ursprung zu suchen anstatt lediglich den Zustand zu beschreiben oder ihn womöglich sogar zu verschleiern. Er wird Fragen stellen, die so messerscharf formuliert sind, dass ihnen niemand aus dem Weg gehen kann. Und sie werden weh tun. Und in 50 Jahren dann wird man auf Michael Haneke zurückblicken und mit ähnlichem Respekt von ihm sprechen wie heute von Bresson, Cassavetes oder Pasolini.

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                    • 8

                      Bis ins benachbarte Bundesland bin ich gestern geeiert, um THE MASTER zu sehen, da er hier nirgends läuft. Das allein liefert eigentlich schon Anlass genug für mittelheftiges Kopfkratzen, wurde der Film doch lange als großer Oscarkandidat gehandelt, und immerhin zwei Darstellernominierungen stehen ihm ja nun tatsächlich zu Buche. Da auch im hinterwäldlerischen Saarland Lichtspielhäuser nicht gerade wie Sand am Meer gesät sind, dachte ich mir: "OK, das hier ist vermutlich das einzige Kino im Umkreis von zig Kilometern, das THE MASTER zeigt, also lieber mal gleich ein Ticket vorbestellen, um am Ende nicht auf der Straße zu sitzen, da die Bude sicher gut gefüllt sein wird." Umso größer der Schock, als ich gestern mein Ziel erreichte: Privatvorstellung für JvT! Ja, ich war tatsächlich die einzige Person, die gekommen war, um diesen Film zu sehen. Ich erkundigte mich noch einmal an der Kasse, ob ich vielleicht in den falschen Saal gewiesen worden war, aber dort hatte man auch nur ein müdes Lächeln für mich übrig und schickte mich wieder zurück. Natürlich hat es seine Vorzüge, einen ganzen Kinosaal für 2 Stunden als privates Wohnzimmer für sich zu haben, aber irgendwie war das in diesem Fall dann doch eine zweifelhafte Ehre. Jetzt mal ehrlich, Leute: Schaut ihr alle lieber heimlich KOKOWÄÄH 2 oder was? Der läuft nämlich auch hier in Dauerschleife. Lieber also noch die vierte Schweiger-Vorstellung am Tag dazwischenschieben als den Menschen Gelegenheit zu geben, wenigstens einmal das große Darstellerkino eines PT Anderson bewundern zu können. Wenn wirklich die Nachfrage das Angebot bestimmt, läuft hier EINIGES schief!
                      Zum Film: Anderson bleibt für mich das Wunderkind der Filmbranche, aber THE MASTER rief mir (leider) auch in Erinnerung, warum ich seinerzeit bereits vor THERE WILL BE BLOOD kapituliert hatte: Die Art seiner tonnenschweren Charakterzeichnung ist für mich so undurchdringbar wie ein ganzes Feld Brennesseln (und nein, damit meine ich nicht, dass ich mir unbedingt große Identifikationsfiguren oder Sentimentalitäten herbeigesehnt habe). Die Ambition sowie unbestreitbare Klasse des Films ist in jeder einzelnen Einstellung greifbar und die 137 Minuten fühlten sich nicht einmal besonders lang an, und doch scheint mich von Anderson (mit Ausnahme von MAGNOLIA) letztendlich dasselbe Problem zu trennen, welches viele andere mit Stanley Kubrick haben. Aber ich bleibe am Ball und werde auch für sein nächstes Werk Umwege in Kauf nehmen, wenn ich damit dazu beitragen kann, dass ein Filmemacher dieses Kalibers für sein übernächstes Projekt nicht auf der Straße betteln gehen muss (denn das befürchte ich nach dieser Kinoerfahrung irgendwie).

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                      • 8

                        DAYS OF WINE AND ROSES trifft ein "Vorwurf", den sich (nicht wirklich) überraschend viele herausragende Produktionen gefallen lassen müssen: Das Trinker-Drama aus dem Jahre 1962 ist ein schwer verdauliches Stück Depression von großer Nachwirkung, welches man auch am Tag darauf nicht einfach wieder ungesehen machen kann. Nichtsdestotrotz (oder natürlich gerade deshalb) verdient Blake Edwards' beeindruckende Studie nach einem Drehbuch von J.P. Miller heute mehr Aufmerksamkeit als ihr mit 12 Moviepilot-Bewertungen zu Teil wird, denn 5 Oscar-Nominierungen kamen seinerzeit nicht von ungefähr.
                        Alkoholismus ist ein Thema, das die Filmindustrie des 21. Jahrhunderts bisher komplett zu ignorieren scheint, obgleich es ganz bestimmt nicht an Aktualität verloren hat. Wühlt man dagegen ein wenig in der Mottenkiste, kehrt die Erinnerung rasch zurück; In der Vergangenheit wurden durchaus bereits einige großartige und auch sehr bekannte Filme gedreht ("The Lost Weekend", "Who's Afraid of Virginia Woolf?"), die diesen Gegenstand streifen – DAYS OF WINE AND ROSES jedoch ist in seiner Beharrlichkeit, der unbedingten und schonungslosen Hingabe an die Darstellung der Konsequenzen von Alkoholsucht, für mich unangefochten.
                        Der Alkoholiker Joe Clay lernt eines Tages die attraktive Lee kennen. Die beiden verlieben sich ineinander, heiraten und bekommen sogar ein Kind. Was sie viel zu spät merken: Langsam, aber stetig hat Joe seine Frau einfach mit hineingerissen in seinen Strudel der Sucht, aus dem es nun kein Entkommen mehr gibt. Sie kann sich nicht einmal ein Eingeständnis abringen und vertraut auf Willenskraft, er schließt sich den Anonymen Alkoholikern an und schafft es sogar immer wieder, von der Flasche loszukommen – allerdings nur temporär beziehungsweise so lange, bis Lee, die in ihrem Dauerzustand nicht alleine bleiben kann, es vermag, ihn doch wieder zum Mittrinken zu verführen.
                        Es gibt wirklich nichts schönzureden. Edwards zeigt uns über 117 Minuten hinweg 2 Menschen am Abgrund – mal gemeinsam, mal wechselseitig. Die Dynamik, die diese Abhängigkeit entwickeln kann, wenn ein Alkoholiker nicht alleine bleibt, wird auf höchst unangenehme Weise spürbar, denn die Sucht greift hier über und schlachtet die Liebe einer Beziehung für sich aus, die eigentlich schon von Anfang an auf dem falschen Fundament gründet: Lee resigniert irgendwann vollends in ihre Abhängigkeit, die auch – und das bleibt unmissverständlich - vor Joe nie bleibend Halt machen wird, solange er sich nicht entweder von seiner Frau trennt oder diese dazu bewegt, sich helfen zu lassen. Beides scheint unmöglich, denn das Paar führt eine Dreiecksbeziehung, die vorne und hinten nicht aufgeht – nicht etwa unter Beteiligung einer dritten Person, sondern mit dem Alkohol. Jedes Aufbäumen ist ein Silberstreif, der letztendlich doch nur im nächsten Exzess und anschließend in der Heilanstalt untergehen kann,
                        Was das Skript ebenfalls mit einbezieht, ist das chancenlose Umfeld der beiden Betroffenen gegen den schier übermächtigen Gegner. Unter keinen guten Vorzeichen steht selbstredend die Entwicklung der gemeinsamen Tochter, aber auch Lees Vater, der die beiden bei sich beherbergt und Joe nach dessen Jobverlust sogar in seine Arbeit als Blumenhändler einspannt, sind die Hände gebunden.
                        Das in seiner Aussagekraft und schauspielerischer Brillanz absolute (traurige) Highlight des Films [SPOILER]: Joe hat sich zusammen mit Lee heimlich auf deren Zimmer betrunken und sucht nun im Gewächshaus nach einer weiteren Flasche Whiskey, die er dort versteckt hat, aber im Suff nicht mehr auffinden kann. Dabei zerstört er sämtliche Blumentöpfe. Als er sie dann – verzweifelt, kraftlos und am Boden kauernd – wenige Zentimeter entfernt von sich erblickt, leert er sie alleine.
                        DAYS OF WINE AND ROSES hat keine große Geschichte zu erzählen oder eine konventionelle Dramaturgie vorzuweisen, es ist der unbehelligte Fokus auf seinen Charakteren, der ein eindringliches Zeugnis ablegt. Ein Zeugnis über zwei Verlorene, die man hassen kann ob ihrer suchtbedingten Ignoranz und der Aufgabe jeglichen Verantwortungsbewusstseins. Über zwei Menschen aus Glas, für die man Scham und Mitleid empfindet, weil sie sich so unglaublich verletzlich machen und den Weg zurück endgültig verloren zu haben scheinen. Und eigentlich möchte man ihnen einfach nur helfen, sie wachrütteln, aber diesen Gefallen tut uns das Drehbuch ebenso wenig ohne Weiteres wie das echte Leben. Selbst das optimistischste aller Enden kann hier nur ein ungewisses sein.

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                        • Das. War. Toll.! Nichts gegen all die Jungspunde, die an dieser Stelle Woche für Woche ausgequetscht werden und von Tarantino oder FIGHT CLUB erzählen, aber wenn ein "alter Hase" wie unser Ripley aus dem Nähkästchen plaudert und klar wird, dass es auch vor den 90'ern schon Filme gab und man als Fan ohne das Internet bisweilen regelrechte Odysseen auf sich nehmen musste, hat das einfach seinen ganz eigenen Charme.
                          Einen Extra-Sympathiepunkt gibt's für die HANNIBAL-Erwähnung - der Film ist natürlich super.

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                          • 8

                            Ich bin sturmerprobt. Der olle Seidl kann mir nichts mehr anhaben. – So meine naive Durchhalteparole bis gestern Nachmittag. Das Ergebnis: Ich beginne nach 24 Stunden Regenerationszeit, diesen Kommentar zu verfassen und weiß noch immer selbst nicht, ob ich am Ende meiner Zeilen endgültig eine Seligsprechung (zumindest cineastischer Natur) des Österreichers anregen oder zu einem kollektiven Boykott gegen JESUS, DU WEISST aufrufen werde. Eine kurze Entschuldigung vorweggeschickt: Die folgenden Textpassagen enthalten Spuren von versuchter, aber nach dieser Erfahrung dringend notwendiger Selbsttherapie.
                            Schaue ich mir die Bewertungen meiner MP-Freunde für diesen Film an, fällt auf, dass die meisten von ihnen sich zu einer salomonisch-moderaten (und für mich absolut nachvollziehbaren!) Punktzahl zwischen 6 und 7 durchgerungen haben. Und ja, das muss ganz bestimmt ein Kämpfen und Ringen mit der eigenen Entlarvung gewesen sein, denn JESUS, DU WEISST pendelt so unverhohlen zwischen Meister- und Machwerk, dass der nach moralischen Haltepunkten greifende Kritiker in einem nur kapitulieren kann. Seidl nimmt darauf natürlich keinerlei Rücksicht, sondern hat sich – wie nun auch mir unmissverständlich klar geworden ist - schon lange zu einem eigenen Genre verselbstständigt. Das macht die Resignation nachvollziehbar, entledigt aber nicht von einer Auseinandersetzung mit diesem... tja, Teufelswerk.
                            JESUS, DU WEISST macht das Kino (wortwörtlich) zur Kirche – auf Seidl-Art. Der Film zeigt Menschen während des Gebets im Gespräch mit Jesus; ein Dialog, der eigentlich ein Monolog ist, und schon hier beginnt die bereits in der Thematik selbst verwurzelte Brisanz dieses Films sich auszubreiten. Immer wieder wechselt die statische Kamera zwischen den Betenden und kalten, regungslosen Christus-Statuen/Abbildern und trifft damit mit minimalistischsten Handgriffen eine provokative und insoweit sicher unsensibel vermittelte Feststellung: Religion ist das Anbeten einer nicht körperlichen und damit nicht beweisbaren Institution, deren Existenz mit dem menschlichen Glauben an sie überhaupt erst steht und fällt und deren praktischer Nutzen – beschönigend formuliert – erst recht zweifelhaft scheint.
                            Das war's aber noch nicht, denn – und das muss man sich als Atheist wohl erst einmal innerlich verdeutlichen – ein Gebet ist ein sehr intimer Moment, in dem Menschen unter Umständen das gesamte Ausmaß ihrer Verletzlichkeit preisgeben, und ich meine, unter diesem Aspekt besiegelt Seidl das Feindbild seiner eigenen Person.
                            Die Gläubigen sprechen zu Jesus wie zu einem allmächtigen, allwissenden Freund (dem trotzdem alles erzählt werden muss) und zeigen sich dabei ehrfürchtig, demütig, teils auch kindlich, aber vor allem, und darum dürfte es dem Regisseur am Ehesten gehen, verzweifelt. Da gibt es zum Beispiel eine Mutter von zwei Kindern, die einen Moslem geheiratet hat, nunmehr vor den Trümmern ehelicher Glaubenskollision steht und sich nebenbei darüber beklagt, dass ihr Mann sich das falsche Fernsehprogramm ansieht. Oder einen jungen Studenten, der die Messe täglich gegen den Willen seiner Eltern besucht und von Gewissensbissen geplagt wird, da er sich weder bei der Lektüre von Klatschblättern noch der der Bibel von erotischen Gedanken freisagen kann. Oder eine ältere Dame, die von ihrem Mann betrogen wird und Rache übt, obwohl sie von vorneherein weiß, dass sie nicht nur vor Gott sündigt, sondern auch die Beziehung endgültig zerstören wird.
                            Der in Sachen Religionspraktik kaum bewanderte Zuschauer steht, von Seidl zum (ratlosen) Pfarrer befördert (oder doch degradiert?), am Scheideweg der Beurteilung: Ist das (noch) lebensnah oder menschenverachtende, da emotional ausbeuterische und manipulative Satire? Wenn es eine Antwort gibt, dann offenbart sie sich vermutlich nicht, wenn man sich darauf beschränkt, JESUS, DU WEISST beim Wort zu nehmen. Seidl ist gewiss ein Störenfried, der einen Skandal mindestens in Kauf nimmt und dem jedes Mittel Recht ist, um seinem Publikum das blanke Unwohlsein aufzudrücken. Unter der Oberfläche aber dürfte es ihm – und das unterscheidet einen guten Provokateur von einem Marktschreier – um sehr viel mehr gehen. So sehr die Denkanstöße des Österreichers auch schmerzen, sind sie unverändert auch im 21. Jahrhundert von großer Relevanz und zahlreich (mattxl erwähnte es zwei Kommentare unter mir bereits: Nietzsche, Feuerbach und Co. würden Purzelbäume schlagen).
                            Hört man den Menschen zu, die sich hier an Jesus wenden, wird klar, dass oftmals ausgerechnet ihr Glaube Auslöser oder zumindest Katalysator, aber keinesfalls der erhoffte Rettungsanker für ihre Miseren ist. Dieser Teufelskreis der Trugschlüsse musst jedoch nicht obligatorisch sein und ich kann mir nicht vorstellen, dass Seidl irgendjemandem sein/ihr Recht auf Religiosität absprechen möchte – problematisch wird es aber jedenfalls dann, wenn der Mensch sich freien Willens und doch blind in Glaubens-Dogmen zwängt, die ihm äußerlich vielleicht ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit zu verleihen vermögen, ihm in Wahrheit aber die Kontrolle über das eigene Leben nehmen und ihn ins Chaos führen. Ebenfalls unschön und damit einhergehend: Glaube wird (aus Resignation und Überforderung geboren) zum Eskapismus und ersetzt menschliches Miteinander, also den _echten_ Dialog.
                            Dass Seidl dabei in allen Belangen so kompromisslos/bissig wie von Trier und noch bohrender als Haneke zu seiner "Oberlehrer" (:-D)–Zeit vorgeht, macht ihn freilich mehr als unbequem, vielleicht sogar hassenswert, und auch für mich gibt es keine Entschuldigung: Meine hohe Punktewertung ist sittlich kaum zu rechtfertigen, wo ich mich mit diesem Typ Filmemacher schon lange solidarisiert habe.

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                            • 8

                              Es gibt Filme, die uns verkaufen möchten, dass zwei vom Leben stark gebeutelte Menschen in schwierigen Sozialgefügen all ihre Depressionen und Sorgen zum Fenster hinaus werfen und auf ewig miteinander glücklich werden, wenn sie nur ein wenig zusammen tanzen. Überhaupt hat man, welch Zufall, ja sowieso eigentlich schon das ganze Leben lang aufeinander gewartet– und weil so viel gemütlich-schmerzfreie Naivität vom Publikum überschwänglich als "authentisch" aufgenommen wird, hagelt's mit etwas Glück vielleicht sogar einen Oscar.
                              Was für eine Wohltat, als mir gestern Woody Allens SEPTEMBER in die Hände fiel, denn die Realität sieht nun einmal doch ein wenig anders aus. Ein echter Großmeister wie er vermag es sogar, die Komplexität menschlicher Empfindungen in ein rundum bodenständiges, aber nichtsdestotrotz durchweg ergreifendes Kammerspiel zu packen.
                              Eine Gruppe Menschen verbringt einige Tage zusammen in einem Landhaus. Die labile Layne, die gerade einen Suizid-Versuch hinter sich hat, ist in den Schriftsteller Peter verliebt, findet sich jedoch vor den Trümmern ihre Sommerromanze stehend wieder, als dieser ausgerechnet ihrer besten Freundin Stephanie verfällt, die ihrerseits verheiratet ist und deren Loyalität zu Layne obendrein nunmehr auf eine harte Probe gestellt wird. Der Lehrer Peter liebt schon lange Layne, wird jedoch abgewiesen, da ihre Gefühle einem anderem gelten. Ebenfalls anwesend sind Laynes Stiefvater sowie ihre Mutter Diane, eine zynische alte Diva, an der jede emotionale Regung abzuprallen scheint – ganz zu schweigen von immerzu unterdrückten und unausgesprochenen Mutter-Tochter-Konflikten, welche Layne seit jeher plagen und die inmitten dieses kräftezehrenden Gefühlschaos' jetzt an die Oberfläche treten.
                              Ein bisschen viel Depression auf einmal? Wohl kaum, wenn ein Regisseur dem Zuschauer seine Figuren so vertraut machen und dabei so unverfälscht ihre verschiedenen Gesichter und Motive wahren kann wie Woody Allen. Die Charaktere scheinen wie zerbrechliche Dominosteine in beide Richtungen – wenn einer fällt, kippt auch der nächste. Das hat etwas von einem Karussell, von dem man nicht einfach so abspringen kann, wenn es zu schnell wird. Und da ist dann auch die Brücke zum echten Leben geschlagen; vielleicht ist dieser Film als zwischenmenschliches Gleichnis zu verstehen.
                              Durch wahrlich fantastische Dialoge werden – neben herausragendem Schauspiel - nicht lediglich pure Informationen, sondern darüber hinaus punktgenau die Gefühlszustände der Protagonisten transportiert, sodass die auf den ersten Blick ebenso zahlreichen wie verzwickten Personenkonstellationen keinesfalls ein Empathie-Hindernis darstellen. Weit entfernt zeigt SEPTEMBER sich von jeglicher Eindimensionalität, wenn hier ein jeder nicht immer nur von ein und demselben Trieb geleitet ist, sondern sich in permanentem Zwiespalt mit Angst, Courage, Gewissen und vor allem der eigenen Einsamkeit befindet.
                              Nein, dieser Film tut unverkennbar nicht viel, um uns zu vermitteln, dass das Leben eine rosa Seifenblase wäre, aber irgendwoher muss es ja kommen, dass SEPTEMBER sich trotz seiner unverhohlenen Melancholie so viel weniger zynisch anfühlt als ausnahmslos jeder Feel good-Crowdpleaser aus dem Hause Hollywood. Der eine oder andere wird es sich nach dieser elegischen Demonstration neu ins Gedächtnis rufen müssen, aber Woody Allen IST – wenn er denn, wie hier, mal gerade nicht Ingmar Bergman Tribut zollt - der eigentliche König der so genannten RomCom – eines Genres, das dieser Tage nicht mehr ist als ein vor Schmalz triefender Hohlkörper. Zu überfordert wäre man wohl mit der Einsicht, dass es sowohl für die Romanze als auch die Komödie neben der – wenn es denn schon unbedingt sein muss - bereits stark angesäuerten Wohlfühlrezeptur ebenso eines aufrichtigen Blicks auf die weniger angenehmen Seiten des menschlichen Emotionsspektrums bedarf. Eben jene Lückenlosigkeit in der Betrachtungsweise hat Woody Allen schon immer zu etwas Besonderem gemacht – kein Wunder also, dass er mit INNENLEBEN, EINE ANDERE FRAU oder SEPTEMBER (wenngleich es sich nicht kommerziell wiederspiegelt) ebenso überzeugen kann wie mit seiner humoresken Seite. Und wo ich schon bei Bergman war: Hätte es ihn nicht gegeben, Allen hätte ihn vielleicht einfach nebenbei mit erfunden.

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                              • Seidl ist schon 'ne Marke. Seine Filme sind Gift für jene Sorte von Publikum, die in der Kunst nach größtmöglicher Zerstreuung sucht, weil die Realität ja schon grausam genug ist. Der Österreicher hält einer Gesellschaft am Abgrund schonungslos den Spiegel vor, indem er den Blick auf soziale Nischenbereiche richtet, um deren Existenz man weiß, die aber so mancher sicherheitshalber lieber weitmöglichst von sich fernhält. Dabei liegt die Brisanz nicht (nur) im Gegenstand selbst, den Seidl ins Visier nimmt, sondern vor allem im Zusammenspiel zwischen Subjekt und der Art und Weise, mit der er sich ihm nähert: Sein Stilmittel ist die dokumentarische Fiktion, wobei Seidl sich im Fortlauf seiner Karriere mehr und mehr den Möglichkeiten des "Filmischen" zu öffnen scheint ohne die Vorzüge der rein beobachtenden Perspektive zu vernachlässigen. Es ist ohnehin eine charakteristisch österreichische Gemeinheit, aber Seidl hat durch seinen Hyperrealismus vermutlich diejenige Methodik perfektioniert, den Zuschauer als gaffenden Voyeur und Opfer kalter Faszination bloßzustellen. Laienschauspiel, der Wechsel zwischen langen Einstellungen und kurzen, aber hocheffektiven Einwürfen sowie eine stets große Distanz zum Gezeigten lassen auch im Kopf des Betrachters Film und Wirklichkeit miteinander verschwimmen und man wundert sich immer wieder, wie angesichts so viel Authentizität überhaupt ein Drehbuch existieren kann – dass diese Wirklichkeit eben doch nur konstruiert ist, vergisst man sehr schnell, sobald man in Seidls nachwirkendem und insoweit natürlich durchaus manipulativem Mikrokosmos gefangen ist.
                                Wir sehen bei ihm eine entrückte Welt, die aus sicherer Entfernung so absurd anmutet, dass einem manchmal ein lautes Lachen entfährt, welches im nächsten Moment im Halse stecken bleibt, weil es sich in sekundenschnelle in pure Verstörung und Unglauben gewandelt hat. Wenn Seidls Filme etwas lehren, dann, dass Realität mehrdimensional und Moral rein subjektiv ist, und genau das schindet Eindruck: Die Überforderung mit der eigenen Reaktion darauf und die erzwungene Neuanordnung von Klischees. Ich kenne neben ihm jedenfalls keinen zweiten Filmemacher, der Stereotypen so unumwunden ins Gesicht schaut und ihnen dadurch den Garaus macht, wo andere sich in die künstlerischen Schranken weisen lassen.
                                Der Österreicher zeigt uns Einzelschicksale, die doch denselben Weg zu beschreiten scheinen, weil es keinen alternativen mehr gibt. Menschen, die eigentlich nach Liebe streben, welche sie im alltäglichen Grauen jedoch mit anderen Dingen verwechseln oder von vorneherein am falschen Ort suchen. Ob es überhaupt den richtigen Ort - das PARADIES (wer Ironie im verkettenden Titel seiner aktuellen Trilogie findet, darf sie behalten) - gibt, lässt Seidl durch bewusste Eingrenzung seines Themas bestenfalls offen, und das auch nur bei größtoptimistischer Auslegung. Es ist allerdings nicht lediglich eine wahllose Aneinanderreihung von Abgründen in Bild und Dialog, die Seidl abspult, sondern ein mit Bedacht formuliertes Konzept, das sich nach vorne bewegt, eine Dynamik entwickelt und im weiteren Sinne eine Geschichte erzählt, die in Seidl-typischer Eskalation ausartet, und dies bisweilen allein dadurch, dass er einfach nur brutal die Kamera draufhält – PARADIES: LIEBE ist hierfür das bislang imposanteste Dokument seiner Filmographie. Der letzte Eindruck vor dem Abspann eines Seidl-Films ist nicht etwa deshalb der bedrückendste, weil der Regisseur auf der Zielgeraden mit einer großen Explosion oder Katharsis auffahren würde, sondern es ist das Gefühl, in dieser Seidl-Welt nunmehr vollkommen allein zurückzubleiben - einer Welt des Drecks, fehlgeleiteter Ideale und verlorener Hoffnung. Keine »Ultrakunst«, aber Hinterhof-Poesie. Irgendjemand muss es ja machen.

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                                • Diese Diskussion hat doch nur darauf gewartet, losgetreten zu werden. Bigelow hätte sich auf den Kopf stellen können, die Vorwürfe wären gekommen - der polternde "Guardian"-Artikel ins Blaue hinein legt Zeugnis davon ab.
                                  Ich finde, ZERO DARK THIRTY nähert sich der Thematik sensationell gut. Die Folterszenen sind ganz an den Anfang gestellt und hallen auch die restlichen zwei Stunden nach. Waterboarding, laute Musikbeschallung, Schlafentzug, Anketten, Einsperren, Bigelow deckt das gesamte Spektrum an Grausamkeiten ab - und das alles ist auch nicht etwa Tarantino-like in Zeitlupe und mit meterweit spritzendem Blut gedreht. Wo also wird da bitte etwas verherrlicht?
                                  Auch den Blick auf die Bedeutung der unter Folter erlangten Aussagen halte ich für realistisch. Hier und da wird etwas Nützliches preisgegeben, aber die "big points" erhält das Team nie durch Folter, sondern es sind immer nur Anhaltspunkte, die dann wiederum erst noch weiterverfolgt werden müssen und am Ende oft ins Leere laufen. Ganz eindeutig wird es bei derjenigen Aussage, die die Ermittlungen für Monate (oder sind es sogar Jahre?) lahm legt, weil sie vorherigen, bis dato einstimmigen Einlassungen anderer Gefangener widerspricht. Die Situation wird letztendlich nur mehr oder weniger durch Zufall entwirrt.
                                  Der letzte Kritikpunkt der Hysteriker ist ebenfalls ein Trugschluss: Wenn jemand nach tagelanger Folter irgendwann anfängt zu reden, bedeutet das nicht, dass Folter erfolgreich und damit toll und allseligmachend ist, sondern es ist der natürlichste Mechanismus der Welt, weil der Mensch nun einmal nicht grenzenlos belastbar ist und der Wille eines jeden gebrochen werden kann. Gerade das ist doch das Perverse an Folter.
                                  ZERO DARK THIRTY überfordert das Publikum insoweit ganz offensichtlich. Schade, dass so viele Kritiker und Berufstrolle nicht in der Lage sind, genauer hinzuschauen.

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                                  • 6 .5

                                    Kathryn Bigelow gehört bestimmt zu den Frauen, die schon als Kind nicht mit Puppen, sondern lieber mit Lego und Baukästen (Modell: "Military") gespielt haben, jedenfalls komme ich um diesen schelmischen Gedanken nie umhin, jedes Mal, wenn mir der Name der US-amerikanischen Regisseurin begegnet. Das macht aber nichts - selbst, wenn ich recht haben sollte - denn Hollywood trieft nur allzu oft vor fragwürdigem Pathos sowie unnötigem Bombast und kann eine echte tough lady wie Bigelow in vermeintlich frauenfernen Genres gut gebrauchen.
                                    Was ihren Oscar-Anwärter ZERO DARK THIRTY betrifft, schienen die Meinungsfronten hierzulande bereits Wochen vor dem offiziellen Kinostart unauflösbar verhärtet. Die Folter-Diskussion ist schon lange übergeschwappt, und zumindest ich vermag zu diesem Zeitpunkt nicht zu prophezeien, ob dies dem Film und seinen Machern letztendlich zu Gute kommen oder schaden wird.
                                    Eine sachliche Auseinandersetzung mit ZERO DARK THIRTY gestaltet sich auf gleich mehreren Ebenen kompliziert, aber ein Grundmaß an Fairness sollte gewahrt bleiben, denn Bigelows Film hat es verdient, allein, aber nicht ausschließlich aufgrund des selbst gewählten Minenfelds, auf dem die Dame unterwegs ist.
                                    Zunächst einmal handelt es sich um einen Film, der einfach richtig gelesen werden muss. Bigelow geht den mutigen, aber aus meiner Sicht EINZIG legitimen Weg, indem sie sich in wirklich jeder kniffligen Szene um ein Höchstmaß an Objektivität bemüht, und hierfür bekommt sie – ich nehme es vorweg – die Punkte meinerseits. Der Regisseurin muss klar gewesen sein, dass ein jeder genau das in ihren Film hineinlesen wird, was er will, und dennoch hat sie diesen Ansatz durchgezogen. In der ersten halben Stunde bekommen wir nicht nur eine Foltertechnik zu sehen, sondern mehr oder weniger die gesamte Palette an Folteroptionen. Der Peiniger ist das Routine-Monster auf Knopfdruck, das nach der Prozedur gemütlich seinen Kaffee austrinkt, die Opfer leiden unmissverständlich, Protagonistin Maya entgleisen beim Anblick von so viel Grausamkeit mehrmals die Gesichtszüge – Bigelow schafft es Gott sei Dank, den richtigen Ton zu treffen. Nun wird oftmals vorgebracht, es sei der Umstand, dass die Gefolterten nach ausreichend Malträtierung allesamt reden, wodurch der Film vermittle, Folter sei effektiv und werde damit gutgeheißen. Auch hier sei auf Bigelows Herangehensweise an ihr Sujet verwiesen, denn dass ab einer individuellen Grenze JEDER irgendwann auspackt und alles sagt, was das Gegenüber hören will, ist einfach eine natürliche Tatsache, die ich zugunsten des Films genau andersherum interpretiere als seine Kritiker: Die Pervertierung bei Folter liegt gerade darin, den unvermeidlichen Willensbruch des Gedemütigten herbeizuführen, und genau DAS macht sie so unmenschlich. Zwischenstand: 1:0 für Bigelow.
                                    Hierbei bleibt es allerdings leider nicht, denn ZERO DARK THIRTY offenbart daneben eine Reihe an Unstimmigkeiten inszenatorischer Art, die man dem Film größtenteils allerdings nicht zwangsläufig als Schwäche auslegen muss, sondern die mich auf subjektiver Ebene einfach gestört haben.
                                    Da wäre zunächst die CIA-Agentin Maya, die von der high school direkt ins Haifischbecken geworfen wird und gleich mal den meistgesuchten Terroristen der Welt jagen "darf", woraus eine Lebensaufgabe wird. Ihren Charakter halte ich für hervorragend gespielt, aber schlecht geschrieben, denn hier winkt die Klischeekeule, die man aus unzähligen Polizeifilmen kennt. Maya ist die ewig einsame Idealistin, die ihr Leben von nun an verbissen einer einzigen Sache widmen und nicht mehr ruhen wird, bis sie erfolgreich ist. Hier und da ist ein Dialog zu offensichtlich einzig und allein auf "Charakterzeichnung" getrimmt, dabei hätte Bigelow durchaus ein wenig stärker auf den Ausdruck der hervorragend aufspielenden Jessica Chastain vertrauen können anstatt mit ausgeleierten Hollywood-Schablonen zu liebäugeln.
                                    Ausgerechnet ganz zum Schluss dann gibt die Regisseurin die Distanz zu ihrer Hauptfigur auf, indem sie aus heiterem Himmel Raum für große Rührseligkeiten schafft – das wirkt deswegen befremdlich und inkonsequent, weil auch der Zuschauer auf einmal an Maya teilnehmen muss, ohne vor lauter Faktenflut über zwei Stunden hinweg die Möglichkeit gehabt zu haben, sich mit ihr wirklich solidarisieren zu können.
                                    Überhaupt steckt ZERO DARK THIRTY in einem riesigen Dilemma, denn seine Stärke – der sachliche Tonfall - ist zugleich seine große Schwäche. Der obendrein schlicht etwas zu lang geratene Film bildet einen einzigen Zeitstrahl und bewegt sich zu stark auf dem Terrain einer Dokumentation – als Konsequenz daraus ist er – mein häufiger Blick auf die Uhr verriet es mir - über einige Strecken hinweg etwa so interessant wie der Börsenticker. Im Hintergrund beispielsweise laufen Machtspielchen zwischen Mayas Vorgesetzen, wirklich mitreißend wird ZERO DARK THIRTY jedoch nur dann, wenn er sich von dicken Bürokraten in weißen Hemden loseist und "an die Front" kommt, und so sind es vor allem die erste und letzte halbe Stunde, die in Erinnerung bleiben, mithin also die Eindringlichkeit der Foltersequenzen sowie der eigentliche Fund Bin Ladens, welcher trotz Vorhersehbarkeit in Aufbau und Wirkung eine nicht zu verachtende Intensität ausstrahlt.
                                    Ein Fazit zu ziehen fällt enorm schwer, da man Bigelow – wie eingangs erwähnt – auch vieles zu Gute halten muss. Wenn ich ehrlich bin, wüsste ich nicht, welcher ihrer männlichen Kollegen dieses Thema hätte "unbedenklicher" hätte aufbereiten können, und das sage ich, obwohl ich nicht selten kurz davor war, mir tatsächlich ein wenig mehr Gefühl herbeizusehnen, welches ich am Ende vermutlich doch wieder als unpassend verdammt hätte. Die entscheidende Erkenntnis ist damit vielleicht diejenige, dass auf dieser Welt Dinge passieren, die besser in Archiven, Aktenordnern und der öffentlichen wie politischen Diskussion aufgehoben sind, aber per se nicht unbedingt auf die große Leinwand gehören.

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                                    • 8 .5

                                      Der so genannte "realistische Film" setzt sich bereits allein aufgrund des Anspruchs an sich selbst einer erhöhten Gefahr des Scheiterns aus, denn das Verfallen in Stilisierungsmuster schmerzt hier sehr viel mehr als bei reinem Unterhaltungskino, das von vorneherein an allem interessiert ist außer Wahrheitsfindung. Das zweite Problem ist die Subjektivität von Kunst: Was der eine als lebensnah und identifikationsreich abgebildet empfindet, mag dem anderen fremd, überzogen oder auch einfach langweilig/uninteressant anmuten. Hier kommt Andrea Arnold ins Spiel: Ihre Filme zählen für mich zu den kleinen Alltagswundern, die mir durch ihre Aufrichtigkeit für 2 Stunden das Leben versüßen. Bei der Britin Misstöne aufzuspüren gleicht der Suche nach der vielbeschworenen Nadel im Heuhaufen, und das, obwohl sie sich stets auf thematisch sehr dünnem Eis bewegt, denn auch RED ROAD behandelt mit Rache, Verlust, Perspektivlosigkeit und Vereinsamung Storymotive, die bereits so oft abgeklappert wurden, dass sie mittlerweile genauso häufig zum Selbstläufer verkommen.
                                      Die Geschichte: Jackies kleine Tochter und ihr Mann sind vor Jahren ums Leben gekommen. Sie arbeitet in einer Überwachsungszentrale und nimmt dabei über die Überwachungsbildschirme passiv am Leben anderer Teil, ihr eigenes dagegen hat sie so gut wie aufgegeben – dass ihr Alltag überhaupt von einer gewissen Monotonie getragen wird, scheint - traurig aber wahr - bereits für sich ein Umstand zu sein, der Jackie Halt gibt. Sie hat sich damit abgefunden, nicht mehr glücklich werden zu können. Eines Tages jedoch macht sie über die Monitore eine Entdeckung, die sie dazu zwingt, den Dämonen ihrer Vergangenheit noch einmal ins Gesicht zu sehen.
                                      Es wäre unangebracht, noch mehr zu verraten, denn auch Arnold enthüllt erst nach und nach das gesamte Ausmaß dieser Konstellation und gerade aus dieser langsamen Erzählweise bezieht der Film – unter anderem – seine Qualität und Intensität. Dennoch lassen sich über RED ROAD genügend Worte verlieren, denn in sehr hohem Maße macht der Ton hier die Musik.
                                      Wo immer es ein Opfer und einen Schuldigen gibt, gehen – sehr überspitzt formuliert - erzkonservativ-populistische ("Führt die Todesstrafe ein!") und überzogen linksliberale ("Der arme Täter hat doch selbst ein schweres Leben!") Gedankenschubladen auf. Diese (und auch alle dazwischen!) so zu umschiffen, dass bei auch dem allerletzten Zuschauer das subjektive Gerechtigkeitsempfinden dem Mut zur ehrlichen Auseinandersetzung mit der Situation breit macht, ist ungemein schwierig, denn die Realität passt nun einmal in keine Schublade und kennt auch keine Parameter wie Gerechtigkeit. Manchmal sind wir (oder Menschen, die wir lieben) zur falschen Zeit am noch falscheren Ort und dann passiert das, was man ein Drama nennt. Ein Drama deshalb, weil es keine auch nur ansatzweise zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach dem "Warum?" gibt – so weh es tut. Die Leidtragenden drängen nach Vergeltung, man möchte auf eigene Faust die Rechnung mit dem Schicksal begleichen. Dieser Impuls ist einer der menschlichsten und daher verständlichsten überhaupt, und ich habe dieses Gefühl in einem Film selten so ungefiltert und echt erliebt wie in RED ROAD. Nichtsdestoweniger ist dies nur eine Seite der multiplen Emotions-Medaille und natürlich weiß das auch Andrea Arnold, die bei dieser Etappe nicht in Schwarz/Weiß-Starre verfällt, sondern weiterdenkt. Die Welt schert sich nicht um ihre Erdlinge, offensichtlich, aber auch wir machen Fehler und spielen dieser "Ignoranz" damit auch noch in die Karten. Der Moment, in dem wir uns dieses "Zusammenwirkens" bewusst werden, weil wir realisieren, dass besagter Rachetrieb uns nicht die Erlösung beschert, die er verspricht, ermöglicht uns – so paradox es klingen mag – wieder nach vorne zu schauen. Der Mensch kann alles überwinden, und wenn er dafür (noch einmal) durch die Hölle gehen und Fehler machen muss, um wirklich klar zu sehen – am Ende war es das vielleicht wert oder ist zumindest ein Gewinn gegenüber dem selbst gewählten Stillstand. Das Resümee ("So ist das Leben.") ist alt wie nichtssagend, aber wenn es für alles Erklärungen und Zusammenhänge gäbe, würde jemand wie Andrea Arnold vermutlich keine Filme drehen. Und das wäre wiederum schade, denn es kommt nicht allzu oft vor, dass mir bei so viel inszenatorischem Feingefühl die Haare an den Armen zu Berge stehen.

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                                      • 7 .5

                                        Erdacht und umgesetzt durch Genie und Hand seines einstigen Mentors Jørgen Leth ist DET PERFEKTE MENNESKE wohl nicht ohne Grund Lars von Triers allzeit favorisierter Kurzfilm.
                                        Gewürzt mit trocken-skandinavischer Lakonie wird uns die eigene Spezies im Schaufenster präsentiert: Leths höchst sterile Versuchsanordnung nimmt ein Mittelklassepärchen unter den Röntgen-Radar und verkauft uns Männlein wie Weiblein als "the perfect human". Wir beobachten die beiden Protagonisten zunächst bei allzu alltäglichen Notwendigkeiten und Gewohnheiten wie dem Ankleiden oder Essen, bevor Leth sich ihrem Innenleben zuwendet – beziehungsweise es versucht, denn spätestens der tiefer gehende Blick unter die Oberfläche entlarvt Perfektion und Wahrheit als Farce, zu simpel und doch unergründlich ist das menschliche Wesen gestrickt. Das Bestreben nach sachlich-wissenschaftlicher Distanz wird unterstrichen mit Hilfe eines rein deskriptiven, künstlichen voiceovers, welches immer wieder ausbricht, um Fragen aufzuwerfen, denen der offenbar ganz und gar nicht allwissende Erzähler umgehend ausweicht ("How does he fall? This is how he falls!"), als würde er keine Worte für die simpelsten physikalischen Vorgänge finden. Tatsächlich wird auch der Betrachter dieses Kurzfilms nach und nach ein wenig unsicher, obgleich wir unsere Artgenossen mit ihren Eigenheiten und Bedürfnissen ja in- und auswendig kennen müssten. Oder vielleicht doch nicht? Leths 13-minütiges Schelmenstück verdeutlicht durch größtmöglichste Abstraktion, dass ausnahmslos jeder Prozess, jede Bewegung, jeder Gedanke genau diejenige Bedeutung hat, die wir ihm/ihr zuvor zugeschrieben haben. Zieht man uns dagegen Zeit und Raum unter den Füßen weg wie dieser Kurzfilm es formal wie inhaltlich vollbringt, sind wir zur Neu(an)ordnung gezwungen und plötzlich heillos überfordert – nur so ist zu erklären, dass selbst der Darstellung der uns vertrautesten Bewegungen hier ein geradezu grotesker Beigeschmack innewohnt. Bei Jørgen Leth ist diese Grenzen aufzeigende Melange aus willentlich scheiternder anthropologischer Analyse und absurd-befremdlichem Experiment (inwieweit sind wir uneingeschränkter Objektivität überhaupt zugänglich?) nicht nur schwermütig-humoresk, sondern auch stilsicher. Eine beeindruckende Dekonstruktion – die Dänen halt.

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                                        • Liebe Leo-Fans, bitte ERST "Django Unchained" anschauen, DANN Sturm laufen. Niemand behauptet, DiCaprio sei ein schlechter Schauspieler, aber wenn man mit beinahe 40 noch immer aussieht wie ein Riesenbaby, gibt es einfach einige Rollen, die einem der Natur der Sache nach weniger gut zu Gesicht stehen - zum Beispiel die eines charmant-sadistischen Bösewichts.
                                          Dass er damit keinen Blumentopf gewinnt, ist zumindest in diesem Jahr absolut nachvollziehbar.

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                                          • 7 .5

                                            ♦ Mein erster Empfehlungs-Dank des neuen Jahres geht an den britischen Filmkritiker Mark Kermode, der BERBERIAN SOUND STUDIO zu seinem Highlight 2012 auserkoren hat und ohne dessen penetranten Hype diese mutige Perle vermutlich an mir vorübergezogen wäre. ♦
                                            Der noch junge Autor und Regisseur in Personalunion, Peter Strickland, weiß, wo es wehtut – die Kunst der seelischen Kriegsführung gegen den Zuschauer ist wahrlich keine einfache, hier jedoch beherrscht jemand sein Handwerk atemberaubend gut.
                                            Der schüchterne Toningenieur Gilderory, ein Engländer, reist in den Süden, um für eine italienische Produktionsfirma an der Abmischung eines obskuren Films mitzuwirken, dessen genaues Wesen im Unklaren bleibt (Gilderoys bevorzugtes Tätigkeitsgebiet sind eigentlich Naturdokumentationen). Im Laufe der Handlung erhält er Briefe von seiner Mutter, welche von den Vögeln im heimischen Garten berichtet, versucht, das Geld für seinen Flug zurückerstattet zu bekommen und muss obendrein die Launen zwielichtiger Produzenten und Regisseure über sich ergehen lassen – inmitten dieser insgesamt äußerst unbehaglichen Atmosphäre verschwimmen zunehmend Wahn und Wirklichkeit.
                                            BERBERIAN SOUND STUDIO ist »low on story«, aber »high on tension« und geht damit genau den richtigen Weg; Bühne frei also für ein eindrucksvolles Kammerspiel (Gilderoys Arbeitsplatz, das Tonstudio, dient praktisch durchgehend als Setting).
                                            Wenn die hübschen Synchronsprecherinnen hinter dem Mikrofon ihren Part zum Besten geben – bzw. schreien – sehen wir nicht etwa diejenigen Bilder des Films im Film, die die Ladys ihrerseits vor sich haben, sondern allein IHRE Gesichter. Filmgeräusche (wie beispielsweise das Ausreißen von Haaren) werden mit dem Zerfetzen/Zerschmettern/Zerstampfen von Gemüse erzeugt – und wir nehmen daran teil. Vielleicht nicht zuallererst, aber AUCH ist BERBERIAN SOUND STUDIO damit eine (Selbst-)Reflexion über filmischen Sinnesbetrug und Wahrnehmung im Mikrokosmos Medium. Strickland zwingt uns, auf die Eindrücke zu vertrauen, die er uns häppchenweise und vor allem unvollständig zuwirft, eröffnet uns aber gleichzeitig, dass wir betrogen werden. Ist das nun ehrlich oder hundsgemein? Jedenfalls ist es nicht die einzige Frage, die jeder für sich selbst lösen muss. Und es bleibt nicht dabei, denn Hauptfigur Gilderoy wird von diesem bedrohlich inszenierten, kaum greifbaren Sog allmählich im allerbesten Metastil mit aufgesaugt, auch in seiner Welt (die er bereits deshalb sprichwörtlich nicht mehr versteht, weil alle um ihn herum italienisch sprechen) beginnen sich Fiktion und Realität zu vereinen. Im BERBARIAN SOUND STUDIO geschieht dies nicht Knall auf Fall, denn Stricklands Gespür für Atmosphäre hat ein gehöriges Wörtchen mitzureden: Immer wieder sehen wir die rote Studioanzeige "SILENCIO", sind fehlendem Tageslicht, Schwarzblenden und angedeuteten Verstrickungen heillos ausgeliefert, erwarten die laute, unheilvolle Explosion, die sich in diesem sehr psychologischen Film einfach nicht vollziehen will. Ein wenig drängt sich dieser rühmliche Vergleich schon auf: Stricklands Fertigkeiten und Toby Jones' außerordentliches Schauspiel bescheren ein Erlebnis geradezu lynchesken Ausmaßes, das die Sinne seines Publikums zunächst schärft um die gesteigerte Sensibilität daraufhin gnadenlos auszunutzen, sobald wir uns auf unsere Urängste vor dem Ungewissen sowie unser Misstrauen gegen die eigene Intuition rückbesinnt haben.
                                            Erfindet der hochtalentierte Regisseur also ein Genre neu? Wahrscheinlich nicht. Sein Verdienst "erschöpft" sich in einem kleinen Meisterwerk, welches kreativ und stilsicher diverse Weggabelungen zusammenführt, die einige Großmeister des stimmungsvollen Horrors bereits vor ihm beschritten haben. Das ist sehr viel mehr als es auf den ersten Blick scheint zu Zeiten, in denen das Vertrauen eines Filmschaffenden in sein Auditorium nun wirklich keine Selbstverständlichkeit mehr ist.
                                            Wer jetzt nicht glaubt, dass Blumenkohl gruselig sein kann, darf sich gerne selbst überzeugen.

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                                            • AMOUR sogar als bester Film (!!) nominiert. Geiler Scheiß. Die Chancen dürften zwar minimal stehen, aber zumindest der Preis als bester fremdsprachiger Film dürfte eindeutig klargehen. Ich freue mich schon auf Michael Hanekes Ansprache frei nach Marcel Reich-Ranicki.
                                              Ang Lee darf auch gerne ordentlich abräumen.

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                                              • 4

                                                Das Eigentor des Jahres: Tarantino über 165 Minuten funktioniert vorne und hinten nicht. Die epische Laufzeit liefert die Schwächen des Kultregisseurs gnadenlos auf dem goldenen Tablett aus, denn wer zweieinhalb Stunden unterhalten will, sollte etwas zu erzählen haben – bereits hier liegt der Hund begraben. DJANGO UNCHAINED liegt ein aufgeplustertes, im Kern unglaublich uninspiriertes Drehbuch zugrunde, das sich von lustigen Auftragsmorden über XY-Rache-Selbstläufer und Heldenbegründung hangelt, immer auf der Suche nach der Gelegenheit zum nächsten großen Knall. Ein jedermann bekommt bereitwillig seine Lizenz zum Töten zugeteilt, natürlich spritzt das Blut wieder meterweit über Schnee, Wiesen und Felder, bevorzugt in Zeitlupe – mal zu derbem Hip Hop-Gedröhne, mal zu Beethovens " Für Elise", Tarantino ist wie üblich keine Geschmacksverirrung fremd, wenn er sich in seinem eigenen Kosmos bewegt und sich von jeglicher ethischen Bindung eigenmächtig freispricht.
                                                Nun ist es keinesfalls so, dass man nichts aus dieser Geschichte hätte herausholen können: Die ungleiche Freundschaft zwischen bounty hunter Schultz und (Ex-)Sklave Django birgt Potenzial für Sympathiepunkte, Djangos ungebrochene Liebe zu seiner gefangengehaltenen Frau hätte sich auch neben Tarantinos üblicher One-Man-Regie-Show als Einfallstor für unterschwellige, aber echte Emotionen erweisen können. Was dagegen zählt, ist der Nettogewinn, namentlich die Anzahl rollender Köpfe – wahrlich auch eine Art, Prioritäten zu setzen.
                                                Was gibt's sonst zu vermelden? Waltz spielt routiniert die Rolle runter, die er kann und sorgt tatsächlich für den einen oder anderen Kalauer, wenngleich er sich in Sachen Boshaftigkeit etwas zurücknehmen muss und dieses Mal nur den Landa light geben darf. Für-immer-Babyface DiCaprio dagegen taugt als Charakter charmant-sadistischer Ambivalenz etwa so viel wie ein Kätzchen im Tigerkostüm.
                                                Unter'm Strich ist DJANGO UNCHAINED nicht mehr als eine Aneinanderreihung Tarantinos üblicher Taschenspielertricks, eine Negation aufrichtigen Storytellings zugunsten dem Versuch großen Attraktionskinos, das am Ende aller Tage in gähnender Langeweile und Berechenbarkeit gipfelt. Gut für Kultfigur Tarantino: Seine überaus treue Fanbase wird sich voraussichtlich auch in den nächsten 30 Jahren mit dem altbewährten Cocktail aus Gewaltverherrlichung und coolen Sprüchen à la carte zufrieden geben, wohlwollend den Umstand ignorierend, dass ihr großer Held sich nur noch wiederholt.

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                                                • 8

                                                  Wäre ich so böse wie Todd Solondz, würde ich ihm vorwerfen, er drehe Filme für Versager am Rande der Gesellschaft, die sich gerne selbst bemitleiden. Wäre ich seine Anwältin, würde ich wiederum entgegnen: "Meint er damit in letzter Konsequenz nicht jeden von uns?"
                                                  Solondz ergreift Partei für diejenigen, die sich praktisch nur dadurch von allseits geachteten Erfolgsmenschen unterscheiden, dass ihnen das Korsett gesellschaftlicher Vorstellungen von Normalität unverkennbar selbst dort nicht passt, wo der ein oder andere aalglatte Mitläufer individuelle Unzulänglichkeiten wenigstens noch erfolgreich zu verschleiern vermag.
                                                  Diese Metapher ist hier sogar wörtlich zu verstehen, denn Sorgenkind Abe ist nicht nur ein Comicfiguren sammelnder Nerd aus dem Bilderbuch, der mit seinen Mitte 30 noch bei den Eltern wohnt und in Papis Firma arbeitet, er ist natürlich auch übergewichtig. Demoralisierende Vergleiche mit seinem Bruder, einem erfolgreichen Arzt, muss er sich obendrein gefallen lassen.
                                                  Aber Moment, da ist doch Licht am Ende des Tunnels, denn die schöne, labile Miranda ist ja auch noch da. Ihr "Werdegang" verlief zu dem Abes rückwärts: Einst literarischen Ambitionen folgend, ist sie nach einer gescheiterten Beziehung konsterniert und medikamentenabhängig wieder bei den Eltern eingezogen. Der Stoff, aus dem RomComs gemacht werden ist bei Todd Solondz allerdings der entgegenkommende Zug. Vorhersehbare wie ungeahnte Tücken und Komplikationen versperren dem Hoffnung schöpfenden Abe den Sprung ins (partnerschaftliche) Glück, sein Lieblingsspielzeugladen Toys 'r' us gewährt ihm (trotz Quittung! Tztztz…) kein Umtauschrecht und auch die alten (Minderwertigkeits-)Dämonen wollen den Weg ins Nirwana nicht so recht finden.
                                                  Wie gewohnt weiß Solondz als vermutlich einziger Regisseur seiner Spezies auch dieses Mal (Außenseiter-)Klischees produktiv und für seine Zwecke auszuschlachten. Erneut überzeichnet er seine Charaktere bis hin zur Groteske, beobachtet dennoch präzise und wahrt vor allem den liebevollen und von aufrichtigem Verständnis getragenen Blick auf sie, als wolle er auch die allerletzte Facette ungefilterter Menschlichkeit aus ihnen herauskitzeln. Eine Urteils-Trennlinie zwischen verachtungs-, und respektwürdig, wie man sie im echten Leben gedanklich zu ziehen geneigt ist, existiert dabei nicht – in Solondzs Filmen steckt sehr viel mehr als man bei allem abgründigen Klamauk vordergründig wahrnimmt, sein genuiner Blick bleibt unangetastet.
                                                  Wie keiner seiner Filme zuvor jedoch gibt sich DARK HORSE nach und nach als verkapptes (Genre-Grenzen existieren für Solondz bekanntlich ebenfalls nicht, wobei dieser Umstand wiederum stark an das Abbild seiner Figuren gekoppelt ist - das Leben ist aber auch einfach zu absurd!) schwermütiges Drama zu verstehen, welches in seiner nicht einmal unbedingt leisen Sentimentalität offensichtlich als Appell der Humanität ernst genommen werden darf und sollte. Dies geht über weite Strecken freilich auf Kosten des Solondz-typischen "Mir-bleibt-das-Lachen-im-Halse-stecken"- Provokationsfaktors und wird dem einen oder anderen Fan daher sicher nicht munden, ich aber zähle seinen Neuling klar zu den Highlights seiner bisherigen Filmographie, denn DARK HORSE ist weniger klinisch und damit in gewisser Weise greifbarer, einfach wärmer ausgefallen; Wenn man so möchte eine Weiterentwicklung also - je nachdem, wo man für sich selbst Solondzs Stärken ausmacht, denn sein neuer Film markiert den Spagat vom schrillen, Moralpyramiden zum Einsturz bringenden Papagei zum nachdenklichen Vermittler und lässt lediglich die Fassade unangetastet.
                                                  Altersträges Konsenskino also? Mitnichten. Eher altersweise Raffinesse.
                                                  Solondzs Plädoyer kommt durch die Hintertür, denn wirklich leicht macht der Regisseur es uns nicht, seinen Abe zu mögen, dessen tief verletztes Ego sich von falschem Stolz geleitet in den ungünstigsten Momenten in Hochmut verkehrt. Er ist der ewig Ungeliebte, der es irgendwann der ganzen Welt zeigen wird – so Abes bescheidene Prognose. Andererseits ist es genau diese Facette – und insoweit bleibt Solondz gemein – in der sich praktisch jeder wiederfinden kann, denn wer kennt es nicht, dieses wenigstens temporäre, trotzige Suhlen im selbstmitleidsgetränkten Underdog-Modus nach Rückschlägen im Leben?
                                                  Solondz zweiter Trumpf über den Lieferanteneingang: DARK HORSE ist eine raffinierte Kaskade, die sich erst im allerletzten Moment als solche zu erkennen gibt, wenn Abes rätselhafte Tagträume mit einem tragischen Paukenschlag Bedeutung und Ursprung offenbaren.
                                                  Zu viel sei wegen hoher Spoilergefahr an dieser Stelle nicht verraten, deshalb nur eine deklaratorische Frage zum Abschluss: Sind wir nicht alle ein bisschen DARK HORSE? Kein Problem, denn jedenfalls Todd Solondz setzt weiterhin auf uns - bis auch der allerletzte Zuschauer den Paradiesvogel in sich gefunden hat.

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                                                  • 9 .5

                                                    Seinen Regiestuhl hatte Ingmar Bergman 1992 bereits in die Ecke verfrachtet, dem Fernsehen blieb er noch eine Weile erhalten. Das Skript zur TV-Produktion DEN GODA VILJAN (für die DVD-Veröffentlichung auf etwas mehr als 3 Stunden heruntergekürzt) stammt aus der Feder des großen Schweden und ist zweifelsohne eines seiner besten. Für die nicht minder gelungene Leinwand-Adaption zeichnet sich Bille August verantwortlich.
                                                    Die Geschichte – und schon das verleiht dem Werk für Fans eine besondere Aura – ist der Beziehung Bergmans Eltern (die Nachnamen der Charaktere sind also keine Zufälle) bis kurz vor Bergmans Geburt nachempfunden und beleuchtet die turbulente Beziehung der beiden Protagonisten über 9 Jahre hinweg.
                                                    Als der mittellose, angehende Pastor Henrik Bergman die Schwester eines guten Freundes aus noch besserem Hause, Anna Åkerblom, kennenlernt, steht diese Verbindung von Anfang an unter keinem guten Stern: Mit dem idealistischen, von Selbstzweifeln geplagten jungen Mann und der verwöhnten, bisweilen hochmütigen Dame prallen ihrem Wesen nach Welten aufeinander. Und damit nicht genug, denn Konflikte prasseln alsbald zusätzlich aus dem familiären Umfeld auf sie ein – die Mütter beider Parteien sind gegen die Liaison, Annas Mutter stellt sich der Beziehung zunächst sogar aktiv in den Weg.
                                                    Nichts jedoch ist wahrer als die Unvernunft der Liebe, und so sind letztlich allesamt machtlos gegen diese obligatorische Gefühlsodyssee, obgleich die Gegensätze zwischen Henrik und Anna nach ihrer Hochzeit immer wuchtiger zum Tragen kommen. Anna, die Lebefrau, fühlt sich unwohl auf dem Land und drängt Hendrik, das Angebot einer lukrativen Stellung als Hofpastor in Stockholm anzunehmen. Dieser jedoch, innerlich immer instabiler Einzelgänger geblieben, fühlt sich seiner Gemeinde verpflichtet und hält ohnehin nicht viel von Glanz und Gloria. Ein ums andere Mal resignieren beide voreinander und vor sich selbst, scheinen die Fähigkeit zu lieben gänzlich einzubüßen, nur um den Kampf umeinander doch wieder aufzunehmen: Wer DEN GODA VILJAN in den DVD-Player schiebt, merkt schnell, dass der Geist von SZENEN EINER EHE aus dem Jahre 1973 nicht verflogen ist.
                                                    Augusts inszenatorische Leistung betreffend sind kaum Schwächen festzumachen. Die Besetzung passt, keine Szene ist überflüssig, die Figuren befinden sich in einem Dauerlernprozess und sind durchgehend in Entwicklung begriffen. Eine subtile, unterbewusste Spannung ist dem Film darüber hinaus immanent.
                                                    Überhaupt überzeugt der ursprüngliche Fernseh-Vierteiler als sagenhafte Charakterstudie: Für jeden anderen Drehbuchautor wäre die Versuchung des einfachen Wegs immens, doch das Paar bietet ungeachtet seiner Gegensätzlichkeit keineswegs Einfallstore für Sozialklassen-Klischees. Die Schwächen von Anna und Henrik offenbaren sich in schmerzlicher Deutlichkeit vor allem durch die unmittelbaren Auswirkungen ihres jeweiligen Verhaltens auf ihre Umwelt und nicht durch platte Phrasen ohne jegliche Bedeutung.
                                                    Nein, DEN GODA VILJAN hält sich nicht mit Oberflächlichkeiten auf. In aller Deutlichkeit, aber auch beispiellos feinfühlig arrangiert müssen wir mit ansehen, wie zwei Menschen trotz tiefer Zuneigung füreinander nicht aus ihrer Haut hinauskönnen. Wie kompromisstolerant ist eine Ehe? Wie stark sind wir mit unseren Dämonen verheiratet? Welche Teile von uns stehen überhaupt zur Disposition – trotz BESTER ABSICHTEN?
                                                    Unser Herz kennt Gründe, die unser Verstand nicht einmal erahnt. In diesen sind wir, obwohl wir sind nicht begreifen, manchmal ziemlich festgefahren, und sie bestimmen unser oft allzu kontraproduktives Denken und Handeln. Auch das ist Bergman in seiner Essenz, und zwar nicht lediglich als Zugeständnis, sondern aufrichtiges Fundament seines gesamten Schaffens. Erst die Einsicht in die Übermacht unserer Gefühle (welche Erfahrungen auch immer sie leiten) ermöglicht die Erkenntnis natürlicher, wilder Schönheit in jeder Ausprägung und schärft den Blick für Wahrhaftigkeit, so bitter sie sein mag. Ich bin nun mehr denn je der Überzeugung, dass dem schwedischen Autor durch eine Einordnung als unveränderlicher Pessimist grob unrecht getan wird – eigentlich kann dieses Urteil nur von Kritikern ausgesprochen werden, die sich noch nie mit der menschlichen Natur auseinandergesetzt haben. Niemals blickt Bergman zynisch oder mit Groll auf seine Figuren (und damit auch seine Eltern?) herab, sondern wahrt gerade an diesem Punkt ebenso (auf intellektueller Ebene) objektiv-hellsichtige Distanz wie, und das ist am Wichtigsten, Nachsicht für nur allzu menschliche Fehler und höchst destruktives Glück (auf emotionaler Ebene), die große Romantik und Spuren von Melancholie in sich trägt.
                                                    Das ist umso bemerkenswerter, sollte Bergman durch den starken biographischen Einschlag dieses Skripts doch eigentlich in irgendeiner Weise seelisch befangen sein.
                                                    DEN GODA VILJAN ist in seiner schwermütigen Konsequenz vermutlich einfach das Resultat dessen, was passiert, wenn ein Meister der Psychologie und Darstellung partnerschaftlicher Kriegsführung – kurz, ein Menschenkenner par excellence - zu allem Überfluss Altersweisheit erlangt hat.

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