Jenny von T - Kommentare
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Alle Kommentare von Jenny von T
Der Kalender zeigt erst Mitte Januar und meine Erwartungen an dieses Filmjahr sind hiermit irgendwie schon begraben – ich vermute nämlich, meinen Lieblingsfilm 2014 bereits gefunden zu haben (sorry, Lars von Trier!). Aber der Streifen ist hier als "Science Fiction" gelistet. Echt jetzt? Ich kenne jemanden, der besitzt ein Navigationssystem mit Franz Beckenbauers Stimme. Seltsam ist das sicher, aber auch fiktiv?
Denn so deutlich die Absurdität von HERs Szenario (Mann bandelt mit dem Betriebssystem seines Handys an) in einigen Momenten hervortritt, bedarf es wahrlich keines Kraftakts, hier von der ersten bis zur letzten Sekunde mitzugehen, intellektuell wie emotional. Und das hängt durchaus damit zusammen, dass einem – vorausgesetzt, man ist kein Stein - die Gefühle und Wirrungen von Protagonist Theodore aus mehreren Gründen doch sehr vertraut erscheinen... ohne, dass wir davor erschrecken oder in Panik verfallen. Weil die Technik zum einen eben wirklich sehr weit fortgeschritten und heutzutage ja bereits so gut wie jeder mehr oder weniger mit seinem Smartphone, PC, etc. "verheiratet" ist. Vor allem aber, weil HER daneben unter einem Höchstmaß an Feinsinn von Dingen erzählt, die immer so waren und immer so sein werden. Mit oder ohne Hightech. Es braucht eben nur einen originellen, lebensklugen Typ wie Spike Jonze, der die beneidenswerte Fähigkeit mitbringt, dies alles zusammenhängend unter einem Hut zu bündeln. Ein Anlass, von diesem absoluten Ausnahmewerk überrascht zu sein, besteht dabei eigentlich nicht; wer es mit John Malkovich und Charlie Kaufman aufnehmen kann, für den stellt wohl auch kein unüberwindbares Hindernis dar, sich mal schnell in das Innenleben von Technologien einzufühlen.
The sky is the limit für Gedanken und Gefühle – und das ist zufällig auch die Quintessenz, die ich, in Kontrast zu wahrscheinlich auch auf der Hand liegenden pessimistischeren Interpretationsansätzen, aus HER mitnehme. Denn angesichts diverser irdischer Beschränkungen, denen wir - genauer gesagt unsere Körper - nun einmal unterliegen, ist es doch etwas unglaublich Schönes, dass ein anderer, ideeller Teil in uns unendlich ausschweifen kann – zum Beispiel dann, wenn man sich, vermeintlich entgegen jeglicher Raison, in das intelligente Betriebssystem seines Handys verliebt.
Ich glaube, dass auch Einsamkeit, von welcher der Film gleichfalls berichtet, einen nicht minder universellen, unveränderlichen Bestandteil unserer Existenz darstellt; die zunehmende, leicht zu verteufelnde Digitalisierung unseres gesamten Lebens ist (zumindest meiner Meinung nach) also nicht etwa, wie man ja auch vorschnell annehmen könnte, Ursprung unseres Verlorenseins in dieser Welt. Sondern wenn, dann eher jener Ausdruck davon, den die Wissenschaft mittlerweile möglich macht bzw. sichtbar an die Oberfläche schwemmt.
Natürlich ergeben sich dann wiederum scheinbar neue Probleme – eines davon wäre, dass man mit einem Telefon oder Computer keinen Sex haben kann, Liebe und leibliches Begehren – wie unromantisch! - in aller Regel jedoch weiterhin zusammen fallen. Auch dieses traurige Dilemma (also jemanden zu lieben, ihm/ihr aber nicht bedingungslos nahe sein zu können) kennt man, wenn man selbst ein bisschen gelebt hat, der Sache nach aber schon in "normalen" Mensch-zu-Mensch-Ausprägungen: Mal bis über beide Ohren jemandem verfallen gewesen, der vergeben war? Oder viel zu alt/jung? Oder, ganz simpel, die Zuneigung einfach nicht erwidert hat? Na also!
Tja. Was fällt einem da noch großartig ein? Es ist, als werfe uns das Leben immer wieder dieselben Brocken zwischen die Beine. Mal in rot, mal in gelb, mal in grün, mal in 2D, mal in 3D. Und trotzdem sind wir so wunderbar fehlbar, auf's Neue daran zu verzweifeln und manchmal gar nicht mehr weitermachen zu wollen. Das ist keine Dystopie, sondern Realität. Spike Jonze aber weiß: Es ist OK. Und jede Träne lässt uns ein kleines Stückchen wachsen. Und vielleicht existiert ja doch eine Empfindung, die du noch nicht kennst... weil es jedes Mal ein klein wenig anders ist.
Hmm. Mal wieder in den Sternenhimmel schauen?
Kapitalismus ist doof, Geld verführt zu Größenwahn, fuck the system, fucky di fuck.
Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Zum wiederholten Male in jüngerer Zeit wundert mich, was denn so geil daran sein kann, anderen Menschen beim vernichtenden, aber möglichst ausladend-ambivalent inszenierten Exzess zuzusehen. Über volle 3 Stunden überbieten sich Regisseur (aus "Rise and fall" wird, marktbedingt und zeitgeistlich passend, "Rise and stay": Scorsese) und overactende Muse (mal nervig, mal unglaublich: Stubentiger Leo) wechselseitig mit bekannten Manierismen und mir will eigentlich nicht einleuchten, was das alles soll. Gleichsam räume ich ein, es nicht geschafft zu haben, mich an einem Stück zu langweilen – und das bei einem Drehbuch, das so lange um die eigene Achse kreist bis – sprichwörtlich - einer erbricht. Doch ich fürchte, selbst dies hat auf eine Art Methode.
Die alte Leier ist dabei unangreifbar wie unergiebig: Der Film muss so sein, wie er ist, weil er die Perspektive Jordan Belforts einnimmt. Und die ist nun einmal materialistisch, opportunistisch, egoistisch, geistlos. Zerstörte Existenzen wie anderweitige Personenschäden bleiben überwiegend außen vor, weil sie auch für Betrüger und Börsen-Hedonist Belfort nicht von Bedeutung sind. Sachschäden wiederum, egal wie hoch, sind entweder ohne weiteres ersetzbar oder fallen gar nicht ins Gewicht – und doch ist es allein der dingliche Status, der zählt. Weil in Belforts Welt alles, und zwar wirklich alles, kaufbar ist. Aber bitte trotzdem alle hinsehen, denn – HEY! – dieser blasierte Männerzirkus (auch das weiß Gott kein Neuland für Scorsese) ist ja irgendwie doch ziemlich tight und unterhaltsam.
So weit, so gut – doch kann das vorgeschobene Konzept wirklich als Ausrede dafür herhalten, nicht wenigstens einen Millimeter unter die Oberfläche der Figuren zu blicken, welche man da gerade so spaßig karikiert? Denn es ist ja nicht so, als wäre THE WOLF OF WALL STREET ein Jahrhundert-Film von beispielloser Substanz. Im Gegenteil darf einmal mehr die Frage erlaubt sein, was einen in den 70'ern und 80'ern so ranghohen Autor auf den Boulevard der Dämmerung verschlagen hat. Genügsamkeit? Kräfteverschleiß? Kaum vorstellbar, denn die lauthals pulsierende Dekadenz des Films straft Scorseses fortgeschrittenes Alter Lügen und dürfte sogar einen Jungspund wie "Spring Breaker" Harmony Korine vor Neid erblassen lassen. Gar nicht so einfach, begraben unter tonnenweise Koks, heißen Frauen und – Klischee ahoi - dicken Yachten überhaupt wieder den schon ganz vernebelten Weg nach draußen zu finden, und auch DiCaprio im Film kann ein Lied davon singen.
Dennoch: Damals, mit de Niro, hatte das mehr Stil. Und auch ein klein wenig mehr Charaktertiefe.
Ja, Martys Denkmal ist felsenfest in Stein gemeißelt, aber gerade auch daher erscheint es als regelrechtes Trauerspiel, dass diese bedeutsame Persönlichkeit des Kinos sich seit nunmehr mindestens einer vollen Dekade – die nach wie vor unverkennbare Liebe zum Medium unbenommen - als reine Entertainment-Institution begreift. Das Spektakel nutzt sich ab.
So leise also klingt Unendlichkeit. Selten habe ich es während einer Vorstellung vergleichbar mucksmäuschenstill erlebt.
Ich erinnere mich noch Bestens an LIFE OF PI. Nicht zuletzt an den beeindruckenden Trailer, der sich dem gesprochenen Wort verweigerte und ganz auf die märchenhafte Anmut des Films vertraute.
Auch ALL IS LOST ist, ein Jahr später, Überlebenskampf auf hoher See – und macht mit dem Schweigen sogar richtig ernst. Gleichwohl markiert dieses Werk das knallharte filmische Negativ zu Ang Lees Glaubensparabel. Hier geht der Fischfang ziemlich in die Hose, für unseren Protagonisten gibt es auch keine Wale oder von Erdmännchen bevölkerte Wunderinseln zu bestaunen und überhaupt wird ihm nicht unbedingt das zuteil, was man gemeinhin "Glück im Unglück" nennt. Nicht einmal das Bild der sich im Meer spiegelnden untergehenden Sonne erscheint mehr ganz so prachtvoll-majestätisch.
Dabei ist egal, wie der Mann heißt, woher er kommt und wohin er geht – mein Empathieempfinden für den sichtlich gealterten Robert Redford war auf den Punkt zur Stelle. Stärker als es beispielsweise neulich bei Kapitän (Phillips) Tom Hanks der Fall war, dessen besiegelt genügsame Präsenz auf der Leinwand sich für mich einfach zu sehr abgenutzt hat, bzw. mit dessen Erscheinung ich – da kann er sich noch so bescheiden die Seele aus dem Leib spielen - unweigerlich immer direkt Hollywood verbinde, wogegen der mitunter skeptisch beäugte Redford bislang nur selten mir bewusst meinen Radar kreuzte. Die rüstige Bodenständigkeit seiner One Man Show vermochte ich ihm jedenfalls problemlos abzukaufen; mutmaßlich wandelt sich hier die vermeintliche Monotonie in seinem Schauspiel zur authentischen Konstanz. Doch es ist nicht nur er.
Denn die stoische Ruhe, mit der ALL IS LOST inszeniert ist, hat ohne Frage etwas für sich. Da niemand spricht, verweist J.C. Chandor sein Publikum auf alle übrigen Sinneseindrücke, für welche der Film unheimlich sensibilisiert. Das Knarzen des Boots bei Seegang oder das zaghafte Hineintropfen (oder -Fließen) von Wasser in den Innenraum werden nach dem ersten Schreck zu alarmierenden Sirenen-Geräuschen, nach deren Vorhandensein man unweigerlich Augen und Ohren spitzt.
Auch das Verhalten des Skippers ist les- und deutbar. Wenn er sich (nachdem das Leck provisorisch geflickt ist) noch rasiert, unmittelbar bevor er in einen verheerenden Sturm hineinsegelt, entbehrt dies durchaus nicht einer gewissen Aussagekraft in Bezug auf seinen gegenwärtigen Hoffnungspegel. Ebenso wie seine Entscheidungen im weiteren Verlauf sowie die Konsequenz, mit der er jede von ihnen (er)trägt. Und die zumindest mir gehörigen Respekt abtrotzte, obwohl dieser Seemann im Grunde nicht viel von der Art Held hat, wie man ihn aus großen Produktionen kennt.
Was er wohl empfindet, wenn er bei leichtem Niederschlag das Deck aufsucht und den Regen auf seine Haut prasseln lässt? Ich weiß es nicht sicher, ahne es bloß und fühle mich doch vollkommen eins mit diesem Augenblick.
ALL IST LOST als tiefenpsychologisches Meisterwerk auszurufen, wäre ungeachtet allen Vorzügen wahrscheinlich dennoch zu hoch gegriffen (bei nur einem Darsteller beginnt jener Minimalismus in den meisten Fällen vielleicht irgendwann unweigerlich, sich um sich selbst zu drehen), aber eines rechne ich dem Film sehr hoch an: Er gesteht seinem zwar betagten, eigentlich aber recht wackeren Hauptcharakter zu, schwach zu sein, und das nicht lediglich zum Schein.
Dessen Taumeln zwischen unbedingter Selbsterhaltung und – ja, auch das ist sehr wohl eine Option – Aufgabe in das Schicksal verleitet zur eigenen Ohnmacht mit ungewissem Erwachen. Da gibt es genug Katastrophen-Filme, die es ohne Frage gut meinen und uns ein "Du-kannst-gegen-jede-Naturgewalt-bestehen-wenn-du-nur-an-dich-glaubst!" mit an die Hand geben. Die dabei allerdings dreist flunkern, denn in Wahrheit verhält es sich doch eher so, dass wir dem Meer/dem Weltraum/sogar der ungleich vertrauten Erde schutzlos ausgeliefert sind und – sobald eine unsichtbare Macht es darauf anlegt - selbst der stärkste Wille eines einzelnen Menschen dem nicht trotzen kann. Das muss kein Grund sein, gleich sentimental zu werden, was auch das betont introspektive Drehbuch verinnerlicht hat und uns statt den immer selben Happy Hippo-Durchhalteparolen einen abschließenden, ambivalenten Kinomoment schenkt, den als poetisch stimmig zu bezeichnen eine glatte Untertreibung wäre.
Wenn es demgegenüber irgendetwas anzuführen gibt, das ALL IST LOST - neben einigen kleineren Logik-Ungereimtheiten - ein wenig herunterzieht, dann sind es diverse Schiffbruch-Klischees, ohne die es offenbar leider nicht geht. Ansonsten: Wow. Endlich einmal wieder bekommt man ein glaubhaft "character driven" existenzialistisches Drama geboten, das man für seine Aufrichtigkeit, welche dieser Tage viel zu selten selbstverständlich ist, einfach bewundern muss. Ich bin relativ begeistert.
Ach Lars, der Coup war doch wieder von langer Hand geplant.
Orgasmusgesicht-Poster, Rammstein und eine ohnehin... naja, dezent aufdringliche Publicity-Kampagne bereiteten mir im Vorfeld gehörige Bauchschmerzen. Das ging sogar so weit, dass ich zeitweise "fest entschlossen" war, NYMPHOMANIAC nicht sehen zu wollen. Und ja, war klar, dass gerade ich das niemals durchziehen würde. Ich kann gar nicht einmal sagen, wie genau meine Erwartungen nun unmittelbar vor dem Kinobesuch gestaffelt waren – wahrscheinlich irgendwo zwischen ängstlich, hypernervös und diesem Hochgefühl, das einen vollkommen im Griff hat, wenn man weiß, nach über 2 Jahren – denn so viel Zeit ist seit MELANCHOLIA vergangen - wieder nach Hause zu kommen... und welches mutmaßlich alles überstrahlt. Eigentlich nur so kann ich mir erklären, warum ich NYPHOMANIAC dann doch sehr toll fand, obwohl (oder _weil_? Ich weiß überhaupt nichts mehr!) der Film genauso chaotisch ist wie der Trailer.
Charlotte Gainsbourg liegt zu Anfang fertig und verletzt auf der Straße, die Kamera braucht eine wahrhaftige Ewigkeit, bis sie sich durch tropfende Dachrinnen und melancholische Schneeflocken gekämpft hat, um endlich die blutende Hand der selbsternannten Nymphomanin Joe zu finden. Und dann, ihr ahnt es: Der Rammstein-Song bricht los und tut sein Bestes, die kunstvolle Sequenz so richtig auf den Kopf zu stellen. Mag sein, dass der abermals zitierte Tarkovsky bereits an diesem Punkt im Grabe rotiert, ich würde es ihm auch gar nicht verübeln.
Meine Reaktion war weniger eindeutig:
1.) Hand --> Stirn
2.) Lachen
3.) "Moment, das funktioniert ja doch!"
... dieser Dreischritt sollte sich einige Male wiederholen.
Nie gab es bei von Trier so viele Referenzen auf Film (mitunter in recht ausladender Manier auf sich selbst, aber das darf er sich mittlerweile wohl erlauben), Literatur, Musik (auch Theorie), nie wurden die Bindungspunkte so sehr zum Inhalt, nie war von Trier spielfreudiger, nie war er – durchaus auch im Sinne von lustig - komischer. Da wird das Bild auch schon mal wild mit großen Zahlen überschrieben und wenn Lars (bzw. Stellan Skarsgård als intellektueller Junggeselle Seligman) mal schnell die Kunst des Fischens erklären und damit Parallelen zu Joes Art des "Beutefangs" aufzeigen möchte, tut er das eben. Wohlgemerkt, das sind noch die kleineren Kaliber – also bevor Joe und Seligman über beispielsweise die Unmännlichkeit des Benutzens von Kuchengabeln diskutieren. Und so erzählt Joe ihre Geschichte, während Menschenfreund Seligman – als sozusagen dauerhafter Sidekick (Wikipedia: "[...] Der Sidekick erfüllt den Zweck, die überlegenen Fähigkeiten des Helden herauszustellen"!) – jene Einsprengsel liefert, die den Film teils nur bedingt weiterbringen, andererseits immer... ööhm... ausgezeichnet unterhalten und - wie auch immer das passieren konnte - tatsächlich zu einem großen Ganzen führen.
Die selbst auferlegte Redesperre (und damit das Ende des Kräfte zehrenden Dauer-Traras mit Presse und Öffentlichkeit) scheint hier jemandem sichtlich gut zu tun. Gleichwohl ist NYMPHOMANIAC weit davon entfernt, als unbeschwerter Stimmungsmacher an der Oberfläche vor sich hin zu plätschern... dabei habe ich über das in jedem von Trier-Film wichtigste Zahnrad noch kaum ein Wort verloren: Die zentrale Frauenfigur.
Joes Selbsthass, ihre – trotz zahlreicher Liebhaber (oder besser: Sexpartner; dass die meisten Charaktere lediglich mit ihrer Initiale benannt sind, kommt nicht von ungefähr) – Einsamkeit und tiefe Depression flackern, zumindest in VOLUME 1, noch introvertiert im seelischen Untergrund, doch sie sind da und warten womöglich nur darauf, während des Endspurts von der Leine gelassen zu werden. Warum Joe zusammen mit ihrer Freundin B. bereits als Teenager für sich beschlossen hat, gegen die Liebe zu sein ("Love ist just sex with jealousy added."), mag dem einen oder anderen Rätsel aufgeben, als umso Trier-typisch bitterer erweist sich aber, wie das Leben ihr diese Entscheidung, welche ja keine ist, irgendwann aus der Hand nimmt – um ihr die Scheu vor zu viel Nähe in gewisser Weise nur subjektiv zu bestätigen und Joe weiter nach unten zu treiben. Dabei lässt der Auftakt des Zweiteilers erahnen, welche Auswüchse es annehmen kann, zum Leidwesen von sich und anderen Sklave des eigenen Körpers zu sein, ohne erfreulicherweise – bis auf eine Ausnahme (Stichwort: Krankenhaus – aber Schwamm drüber!) - zu dick aufzutragen.
Sicher ist sicher, darum noch einmal die (Ent-?)Warnung: Nicht ohne sprunghafte Zerrbilder und galligen Humor en masse kommt NYMPHOMANIAC aus, übertreibt es hier und da eventuell auch, doch vielleicht ist das schlussendlich ja nur konsequent.
Indes erstaunt, wie von Trier sein achtbares Star-Ensemble im Griff hat. Uma Thurman - wieder Power-Nymphe, bloß nicht mehr in Gelb - hinterlässt in knapp 20 Minuten Screentime von allen den bleibendsten Eindruck. Bequeme Rollen gibt es nicht, selbst Shia LaBeouf hat den Glamour-Faktor irgendwo bei Bay und den TRANSFORMERS vergessen, muss aber auch echt ranklotzen.
Eine Bilanz zu ziehen, fällt schwer. Von Triers erwachsenster Film? Eher nicht. Sein ehrlichster? Gut möglich! Sein bester? VOLUME 2 bleibt abzuwarten. Mir dämmert schon mehr Untergang - an jenem Horizont, der bei von Trier erwiesenermaßen etwas anderes verspricht als spektakuläre Farben.
Arme Joe. Da singt sie mit Seligman in 8 Kapiteln auf die Liebe ab und weiß gar nicht, dass sie sehr wohl geliebt wird - mindestens vom Regisseur.
Hach, Lars...
Ewig leben. Unsterblich sein. Klingt erst einmal wunderbar, doch so ein Dasein als Vampir ist nicht immer einfach. Es deprimiert bestimmt ganz schön, große Wissenschaftler und Künstler leibhaftig kommen und gehen zu sehen – und Jahrhunderte später feststellen zu müssen, dass ein Großteil sie vergessen hat, noch immer nicht wertschätzt, oder einfach nicht versteht... wenn man nicht gar selbst gewisse Talente besitzt und diese hin und wieder hinaus in die Welt verstreut. Natürlich versteckt hinter wechselnden Pseudonymen, denn Vampire sind scheu und – ich kann's nachvollziehen - halten nicht besonders viel von uns ("Zombies"). Ein (neben der gesellschaftskritischen Komponente) aufregender Gedanke, hinter Errungenschaften aus verschiedenen Dekaden, wenn nicht sogar Zeitaltern, könnte sich dieselbe Seele verbergen.
Ganze Epochen zu überdauern und damit leibhaftig zu beobachten, zu _fühlen_, wie womöglich tatsächlich so etwas wie ein natürlicher Kreislauf/Einklang existiert, sich alles wiederholt, Menschen die immer wieder selben Fehler begehen oder alles verkomplizieren, was viel simpler zu lösen wäre. Und machtlos dagegen zu sein. Weltgeschehen mitzuerleben, das wir Normalsterblichen uns aufgrund unserer nun einmal limitierten Zeit auf dieser Erde nur – und dann auch lediglich im Ansatz - aus Büchern, Archiven oder Überlieferungen aneignen können.
Damit kann man sich, wie Vampirfrau Eve (Tilda Swinton), arrangieren. Es kann einen aber auch, wie ihren Mann Adam (Tom Hiddleston), irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde machen.
Da ist viel Raum für lakonischen Weltschmerz, beiläufige Romantik, aber auch trockenen Humor - und damit für den gleichfalls ewig jungen Jim Jarmusch, in Bezug auf den man sich anschließend fragt, warum er ONLY LOVERS LEFT ALIVE nicht bereits viel früher gedreht hat. Zu prädestiniert für ihn erscheint hier der äußere Rahmen, welcher zwischen alten Schriften, Blut aus Cocktailgläsern und elegisch schweren Gitarrenklängen (von Jarmusch eigenhändig komponiert) massig Einfallstore für Verweise und Spielereien bietet. Das Gesamtprodukt bezirzt als eigenwilliges Kultur-Konglomerat zwischen hunderten Stühlen, das demnach sicherlich nicht jedem schmecken wird, mir allerdings im Ergebnis faszinierend homogen vorkam - als hätte jemand die Sanduhr (eine von Eve im Film angeführte, trefflich prägnante Metapher für das Bestehen alles Irdischen) einen kurzen Moment gestoppt, einmal tief inne gehalten und sie dann umgedreht. Nicht, weil ONLY LOVERS LEFT ALIVE ein herausragendes Drehbuch mit unerreicht tiefsinnigen Dialogen, atemberaubenden Wendungen oder spektakuläre Charakterentwicklungen zugrunde läge (wer bei diesem Regisseur eine derartige Geschliffenheit - oder anders: Glätte - erwartet, ist ohnehin selbst schuld) - sondern, weil Jarmusch diesen Film hinreißend bebildert, ihm dazu einen unwiderstehlichen Klangteppich webt und mit jenem für ihn typischen legeren Minimalismus so ziemlich alles – nicht zuletzt eine dezente spirituelle Ader - vermittelt, was ihm vorschwebt.
Daneben gewinnt das Werk durch mannigfaltige Lesearten: Musiker Adam als depressiver, sich von der Außenwelt abschottender Blutsauger lässt sich möglicherweise als kleine Allegorie auf die Widrigkeiten eines Kunstschaffenden in der Moderne verstehen. Nicht zu vergessen die anmutige, angenehm zurückgenommen erzählte Liebesgeschichte zwischen ihm und seiner Eve: Die beiden Vampires of Doom haben einander nämlich gleich mehrmals geheiratet und noch immer bedingen sie einander schicksalhaft, obgleich tausende Kilometer sie trennen – eigentlich kaum vorstellbar in Anbetracht aktuell ernüchternder Scheidungsraten. Hier aber ist Träumen erlaubt. Eventuell ist ja wirklich alles verbunden... wissen wir's? Die reine Ahnung besitzt ihren Reiz und der Film belässt sie uns.
Was soll man sagen? Bei Jarmusch fällt man zwar selten sonderlich tief, dafür aber weich. Vielleicht sein stimmungsvollster Traum seit DEAD MAN.
Ich liebe Filme über die Liebe. Wenn eines über mich als gesichert gelten kann, dann das. Einer meiner LIEBlingsfilme heißt sogar so. Und ich bezweifle, dass jemals genug über sie gesagt ist. Der Erste lässt sich – komme was wolle – auf ihren zerbrechlichen Schwingen treiben (CHUNGKING EXPRESS?), ein Zweiter erhebt sie sogar über den Tod (BREAKING THE WAVES?), ein Dritter hingegen spielt den unbequemen Miesepeter und fragt, ob für sie in unserer unterkühlten Moderne überhaupt noch eine Chance besteht (L'ECLISSE?).
So unterschiedlich die Blickwinkel diverser Autoren dem ersten Eindruck nach mitunter anmuten, haben sie letztendlich alle irgendwie recht (soweit sich an dieser Stelle überhaupt mit Kategorien dieser Art arbeiten lässt). Denn wären Emotionen (und damit auch ihr Verflüchtigen) leicht zu kontrollieren oder auch nur zu verstehen, gäbe es ja nicht so viele wunderbare Filme, die versuchen, diese "Sache", nach welcher wir uns - seien wir doch mal ehrlich - verzehren wie ein hungriger Vampir nach seinem nächsten Biss, in all ihrer Komplexität und unkontrollierbaren Energie irgendwie einzufangen. Hierzu zählt für mich ab heute ohne Zweifel auch LA VIE D'ADÈLE, und ich bin gewissermaßen stolz, bereits ein paar Tage vor dem offiziellen Kinostart nun ebenfalls in den euphorischen Tenor einstimmen zu können: Verdammt, er ist wirklich so gut, wie alle sagen!
Erzählt Kechiche dabei eine ihrem Wesen nach wirklich komplett neue Geschichte? Ganz ehrlich? Wahrscheinlich nicht. Allerdings vermute ich, dass genau dies - unter anderem - seine essentielle Aussage markiert. Zu selbstverständlich, weil ungestellt wie selten zuvor (Schluchzen, Schmatzen, Schlafen, Schreien, Augenringe und mehr - macht euch auf was gefasst!) begleiten wir dieses Mal nicht Ihn und Sie, sondern eben zwei junge Frauen von Annäherung bis Bruch, sodass nicht der geringste Zweifel bleibt: Gefühle sind universell, und JA, in einem 21. Jahrhundert, in welchem noch immer auf den Straßen gegen jene Tatsache protestiert wird, kann sie nicht oft genug herausgestellt werden.
Besonders an LA VIE D'ADÈLE sticht hervor, wie er seine drei Stunden Laufzeit auszufüllen weiß, ohne jemals zur Ruhe zu kommen und doch immer wieder stille, eindringliche Momente erschafft, die stets im Wandel befindlichen (Er-)Regungen seiner Protagonistinnen - die nicht minder aufgeregte Kamera vermag mit deren Puls bisweilen kaum Schritt zu halten - in unvergleichlich stimmungsvollen Fotographien vollendet nach außen kehrt und erfahrbar macht; zum Beispiel dann, wenn die Köpfe der beiden sich so weit einander angenähert haben, dass nur noch die Sonne sie trennt und man sich in seinem Kinosessel kaum noch traut zu atmen.
Emmas Haarfarbe scheint sich Adèle regelrecht einzuverleiben, und so trägt plötzlich alles einen Blauschimmer: Die Luftballons auf der Geburtstagsparty, die Blätter in den Baumwipfeln und sogar Adèles eigene Haare, als sie sich später im Film im Meer treiben lässt. Emma ist ein unabtrennbarer Teil von ihr - Teil der Vergangenheit und auch der jetzt so bitterlichen Gegenwart. Der Ausblick? Ambivalent bewegend. Zwar lässt Kechiche Herzen brechen wie Stränge ins Nichts laufen, andererseits erweckt es den Eindruck, als wolle er auch weiterhin - egal ob vereint oder getrennt - unerschütterlich an seine beiden Hauptfiguren, aber auch deren Empfindungen füreinander glauben. Unnötig zu betonen, als Zuschauer möchte man es erst recht.
Doch wie auch immer, klar ist: Hat der Blitz erst einmal eingeschlagen, ist nichts mehr so wie vorher. Mit etwas Pech brennt gleich das ganze Haus, aber sobald ein neues steht, weiß man, was man investiert hat. Umsonst war es sicherlich nicht und niemand, der Ähnliches erlebt hat, würde ernstlich meinen, dass man vergessen muss. Und auch das nächste Gewitter - wann immer es kommen mag - wird, wenn sich darin die gesamte Urkraft der Natur entlädt, zu schön und gewaltig ausfallen, um nicht mindestens aus dem Fenster sehen zu wollen... oder im Regen zu tanzen.
Ja, doch: Blau ist eine warme Farbe.
Ein abgestumpfter Kriegsheld (schon das Poster: "Fight for your country" – zzZzzzzzzZzzzzz) und ein strauchelnder Vater am drohenden finanziellen Abgrund (der American Dream, eingebettet ins Familienidyll, lässt sich auch mal wieder blicken) "klären" für Geld ihren Jahrzehnte alten Brüderkonflikt wie ""echte Kerle"" das eben tun: Sie schlagen sich gegenseitig - und vorher noch ein paar anderen Typen - die Köpfe ein. Denn anders war es ja nicht möglich, nach so langer Zeit des Schweigens zueinander zu finden.
Das hierin angelegte, hoch beschworene """Charakterdrama""" kann ich allenfalls in einer gedanklich-filmischen Rücknahme der geistigen Evolution unserer Spezies ausmachen. WARRIORs schamlose Hymne auf vorsintflutliche Männerideale (ja, naiverweise glaubte ich tatsächlich, über sowas wären wir mittlerweile - zumindest in dieser Bestimmtheit - irgendwie hinweg) lässt mir nämlich vor lauter Fassungslosigkeit den Mund offen stehen und drängt sogar meinen Missmut über geballte Plattitüden, eine von Beginn an durchsichtigste Konzeption - das künstliche Aufblähen der zieldurstigen Handlung auf über 2 Stunden bewirkte, dass mir der Kamm nur umso heftiger anschwoll - oder Emotionen mit der Brechstange weitestgehend ins Abseits.
Dass gerade die Academy, welche substanztechnische Fliegengewichte erfahrungsgemäß mit Vorliebe goutiert, sich von dieser Potenz-Finte nicht hat in die Knie zwingen lassen, ist mir mehr oder weniger ein Rätsel, doch womöglich war es selbst den feinen Damen und Herren einfach zu hart, ein derart dreistes Tribut an vorsätzliche Körperverletzung mit dem Goldmännchen auszuzeichnen. Kein Wunder, bleibt einem doch nichts übrig, als O'Connors zu allem Überfluss vollkommen humorlose Pathos-Dampfwalze für bare Münze zu nehmen;
Also: Immer mitten in die Fresse rein, dann klappt's auch mit dem Bruder, die Ehefrau klatscht Beifall und auch Papa hat alle Sorgen vergessen.
Ein denkwürdiger K.O. in erster Linie für's Kino.
Obwohl es mir auch gestern Abend eine regelrechte Qual war, diese 2 Stunden schierer Finsternis durchzustehen, ist LA NOTTE einer dieser Filme, die einfach nicht an Größe einbüßen möchten. Ein Selbstläufer ist der Weg zur Unvergänglichkeit dabei natürlich nicht. Man könnte auf die Idee kommen (das moderne Kinopublikum tut dies wahrscheinlich auch), hier ein imaginäres Verfallsdatum anzubringen - immerhin zeichnet Antonioni das zermürbende Portrait einer langsam industrialisierten Nachkriegsgesellschaft und den Platz der Liebe in ihr. Davon – mithin auch von LA NOTTEs Eindrücken - sind wir heute, zeitlich wie gedanklich, schließlich meilenweit entfernt. Oder vielleicht doch nicht?
Wenngleich seit Erscheinen des Films über ein halbes Jahrhundert vergangen ist, bleibt (zumindest empfinde ich es ein ums andere Mal so) Antonionis Beobachtungen in Sachen zwischenmenschlicher Beziehungen nach wie vor kaum etwas hinzuzufügen. Gefühle sind immer noch vergänglich, oft lügen sie sogar, wenn sie nur den Moment werten. Dennoch geben wir uns ihnen hin und wollen in euphorischen Augenblicken daran glauben, sie ewig festhalten zu können. Wenn sich der Übergang zur Routine dann schleichend vollzogen und man sich im schlimmsten Fall nichts mehr zu sagen hat, die Gespräche um Belanglosigkeiten kreisen und die Zärtlichkeit sich verflüchtigt, fällt das schmerzliche Eingeständnis umso schwerer.
Vermutlich tappt kaum kein Mensch dieser Welt besonders gerne ins Unglück, und doch kann es sich als so gut wie unmöglich erweisen, entgegen unserer Bedürfnisse und Sehnsüchte stets den ungefilterten Durchblick auf den Grund des Bodens zu wahren, um sich selbst kritisch zu hinterfragen. Perfekt ins trügerische Bild fügt sich die feiernde Meute einer Party, deren Veranstalter Protagonist Giovanni – wie könnte es anders sein? – praktisch kaum kennt und welche nur aus Fragmenten, flüchtigen Begegnungen unter dem Band einer gemeinsamen Illusion von Glanz, ohne die geringste Chance auf Dauerhaftigkeit zu bestehen scheint. Bezeichnend war bereits, dass Lidia, Giovannis Frau, die nunmehr wie ein Gespenst zwischen den Gästen umherstreift und sich langweilt, zuvor unbedingt an diesem Abend ausgehen wollte – egal, wohin... bloß, "damit irgendetwas geschieht".
Symbolisch beobachtet die Kamera vieles durch Fenster oder Glastüren, in denen sich wiederum das Gezeigte spiegelt – so, als wolle sie den Zuschauer zu dessen eigenem Besten mahnen, ihn lieber außen vorlassen, was jedoch obendrein dazu führt, dass man sich als abgeschiedener Beobachter beinahe quälend verloren vorkommt. Die tonnenschwere Atmosphäre saugt einen auf, ohne dass es jemand darauf angelegt hätte (am Wenigsten man selbst) – denn es ist ja sowieso alles egal. Existiert überhaupt etwas, das unsere Einsamkeit aufwiegen könnte?
Wenn es heißt, ENTfremdung sei ein Hauptthema Antonionis, setzt dies begrifflich doch eigentlich voraus, dass irgendwo, irgendwann einmal so etwas wie Verbundenheit existierte. Nur: Wann soll das gewesen sein? An der in einer Szene zu sehenden, zu Boden gefallenen defekten Uhr lässt es sich jedenfalls schon lange nicht mehr ablesen.
Auch Giovanni kann sich nicht mehr erinnern, denn einen Liebesbrief, den er seiner Frau einst geschrieben hatte, vermag er emotional nicht mehr bei sich zu verorten. Wenn also etwas eingetreten ist, dann "immerhin" die traurige Entfremdung von der eigenen Hingabe an den anderen, welche unaufhaltsam, aber darin - und das macht es so grausam - geradezu beiläufig um sich schlägt. Als Giovanni seine Frau nach dem Besuch eines todkranken Freundes weinend vorfindet, reagiert er darauf beispielsweise gar nicht; ebenso wenig später, als er sie wegen der attraktiven Valentina (Monica Vitti) wie Luft behandelt. Und das nicht einmal aus verletzender Absicht heraus.
Diese Kälte erdrückt von nahezu allen Seiten – es wirkt keineswegs so, als wäre jemand bereit, um den anderen zu kämpfen, und beide Partner haben es insgeheim schweigend akzeptiert. Denn die wahrsten Worte sind häufig die, die gar nicht ausgesprochen werden, bis im Morgengrauen die endgültige Nacht über die Liebe hereinbricht. Ob es wohl jemals wieder Tag wird?
Ich wusste ja gleich, dass diese Aktion keine gute Idee war und ich mir während des Films vermutlich ziemlich alt vorkommen würde. Um die bevorstehende Depression im Zaum zu halten, besuchte ich die Nachmittagsvorstellung, in der Hoffnung, in einem halbwegs leeren Saal zu sitzen (wer geht schon um halb 3 ins Kino?!). Dabei hatte ich allerdings die Rechnung ohne die Kids von heute gemacht, denn die stürmen für CATCHING FIRE offenbar direkt nach der Schule das Cineplex, und so kam es, dass ich mich trotz meines genial perfiden Plans inmitten von Milchbärten und kleinen Ballerinas wiederfand – was ja auch kein Problem darstellte, wären da nicht der entsprechende Geräuschpegel und obligatorische Smartphone-Dauerflutlichter. Oh, und erwähnte ich bereits, dass ich mich ziemlich alt fühlte?
So viel zu sich bewahrheitenden Klischees. Eigentlich will ich mich nämlich nur vor einem klaren Statement über den Film selbst drücken, welchen ich offen gestanden weder annähernd so gut empfand wie die Zielgruppe ihn ausruft, aber noch viel weniger so schlecht wie der Anti-Hype ihn gerne hätte. Daher zuerst zum Positiven:
Ich mag Katniss Everdeen, eine – und ich glaube, das brauche ich nicht weiter begründen – wirklich starke weibliche Hauptfigur mit eigenem Kopf und mehr Mumm als so mancher Kerl um sie herum, die niemanden benötigt, der ihr erst sagen muss, wo's langgeht. Auch mag ich Jennifer Lawrence, deren Talent hier erst so richtig auflodert, da keiner der Kollegen ihr das Wasser reichen kann – ausgenommen Philip Seymour Hoffman, der CATCHING FIRE jedoch keinen Stempel aufzudrücken vermag, weil seine Figur des neuen Spielführers auf Sparflamme gehalten ist, beziehungsweise er kaum mehr zu tun hat als einige Male ein bisschen zwielichtig dreinzuschauen. Dank ihm aber (der sich - wie ich auf Zuschauerseite – augenscheinlich durch einen unerklärlichen Zufall/Unfall in diesen Film verirrt hat) wähnte ich mich irgendwie einen Tick weniger einsam.
Was Lawrence betrifft, so ist ihr zu wünschen, dass demnächst ein richtig fähiger Auteur sie unter die Fittiche nimmt, denn ihr schauspielerisches Talent sowie ihre Leinwandpräsenz erscheinen mir in den miefigen Riesen-Spelunken der Blockbuster und Feel good-RomComs doch arg verschleudert. Selbst in Aufzügen, an denen höchstens noch Harald Glööckler sich versuchen würde, wirkt sie unbenommen natürlich – toll! CATCHING FIRE schultert sie ohnehin mit Leichtigkeit, was im zarten Alter von 23 Jahren auch nicht gerade als Selbstverständlichkeit zu bewerten ist.
Jetzt aber wirklich zum Film: Der kommt in der Tat etwas erwachsener daher als noch sein Vorgänger, wenngleich nur unwesentlich. Auch dieses Mal gehen wettbewerbsmäßiges Töten und Liebesproblemchen der naivsten Sorte Hand in Hand, was nach THE HUNGER GAMES auch CATCHING FIRE eine große Angriffsfläche für (sicherlich keineswegs unberechtigte) Kritik verleiht – doch immerhin traut sich das Drehbuch, uns in ein geradezu cliffhanger-ähnliches Ende zu entlassen anstatt auf's Neue mit peinlichem Kitsch um giftige Beeren abzuspeisen.
Nichtsdestotrotz wird man sich den Vorwurf des Sich-Wiederholens gefallen lassen müssen: In der Arena sehen sich Katniss und Co. Hindernissen ausgesetzt, die gegenüber dem ersten Teil lediglich leicht abgewandelt wurden. Die Feuerwand ist toxischem Nebel gewichen, statt Killerbienen und hundeähnlichen Mutationen gibt es tollwütige Orang-Utans – und natürlich löst sich jede Hürde im allerletzten Moment in Nichts auf, weil Spielveranstalter und Publikum Katniss Everdeen eben brauchen; bitte nicht hinterfragen.
Spannender mutet da schon das über einstündige, im Vergleich zu THE HUNGER GAMES hingegen recht gelungene Vorgeplänkel an. Der adaptierte Auftakt der Reihe krankte beispielsweise daran, mit Fakten-Schnipseln um sich zu werfen, die wohl kaum jemand einzuordnen wusste, der nicht auch mit den Büchern vertraut war – zur Erinnerung an irgendeinen einstigen Aufruhr werden also diese Hungerspiele abgehalten, und wie war das gleich noch mal mit den Distrikten? HÄÄÄ?
CATCHING FIRE nun beschreibt relativ glaubwürdig, wie Katniss' (mehr oder minder indirekte) Rebellion gegen die diktatorische Obrigkeit während der Spiele für Aufstände unter den Menschen (vor allem in den ärmeren Distrikten) sorgte – und wie so genannte "Friedenswächter" – diese brutal niederschlagen. Daneben überzeugten mich einzelne Aspekte des Films wie etwa der gar nicht SO sehr überzogen dargestellte TV-Moderator... wer beim Zappen einmal (selbstverständlich bloß aus Versehen! ^^) bei DSDS oder einem vergleichbaren Format hängen geblieben ist, wird sofort merken, wie gut dieses Showspektakel getroffen ist – und womöglich dementsprechend verstört zurückbleiben.
Verschweigen möchte ich bei alldem nicht, dass jedwede Medien- und Gesellschaftskritik nicht unbedingt subtil an den Mann gebracht wird, und doch erschien es mir selten müßiger, ein Event-Movie, der nicht einmal einen Hehl aus seinem Naturell macht, für mangelnden Tiefgang zu kritisieren, denn immerhin die Ansätze sind da. Inwieweit CATCHING FIRE über seinen Unterhaltungswert hinaus am Ende überhaupt für voll zu nehmen ist und auch - was ihn eventuell zu einem echt guten Film machen würde - seinen eigenen Beitrag zu Brot und Spielen erkennt, muss wohl jeder mit seinem subjektiven Kompass ausmachen – mich persönlich störte sehr der selbstironiefreie, Nolan-dimensionale Ernst des Konzepts, wofür es meinerseits dann doch mächtig Punkteabzug hagelt (irgendwo erfährt schließlich auch mein schlechter Geschmack seine Grenzen).
Aber jedem sein guilty pleasure. Katniss, halte durch... wir sehen uns wieder.
MELANCHOLIA für mich bitte, liebe Marie! :-)
Unterdrückst du noch oder zitterst du schon? Polanski, Meister der Adaption (sogar der Adaption der Adaption!) sowie des Kammerspiels, setzt mit schnittigen 80 Jahren ein Ausrufezeichen sondergleichen und daneben einen – hoffentlich nur vorweggenommenen – meta-bedeutsamen, ironischen Punkt hinter sein künstlerisches Schaffen.
Wo bitteschön soll man anfangen, einen Film zu analysieren, der vor spartanischer Kulisse im Grunde mit offenen Karten spielt und doch sein Geheimnis niemals preisgibt?
Die Faszination an diesem Stück zumindest stellt sich rasch ein: Schauspielerin Vanda will doch eigentlich etwas von Regisseur Thomas, nämlich die weibliche Hauptrolle in dessen neuem Theaterstück, aber auch er will etwas von ihr – er "weiß" es nur noch nicht. "Wissen" hier (wie so vieles) unbedingt in Anführungszeichen, denn selten wird heutzutage auf der Leinwand derart deutlich, dass dies nur wenig mit rationalem Verstand zu tun hat, wenngleich jener es ist, der im "Normalfall" unser Verhalten steuert. VENUS IN FURS veranschaulicht auf engstem Raum beeindruckend, wie schnell so ein Normalfall – beispielsweise ein routinemäßiges Vorsprechen - zur Ausnahmesituation umschlagen kann, die unsere Selbstkontrolle auf eine harte Probe stellt oder sogar innere Verlangen aufdeckt, vor denen der andere Teil in uns schon lange schockiert die Flucht ergriffen hat.
Polanski aber verzagt nicht, schaut direkt in den Abgrund versteckter Begierden – und findet dabei nicht nur allerlei Sinnlichkeit und spannungsgeladene Nervosität, sondern auch mal was zum Schmunzeln. So schwebt Thomas' Verlobte wie ein Damoklesschwert über der elektrisierenden Begegnung zwischen ihm Vanda, und das, obwohl sie gar nicht körperlich anwesend ist... was allein so ein Klingelton doch alles verrät.
Das Knistern auf der Bühne hingegen will einfach nicht abebben, bis schließlich kaum mehr festzustellen ist, wer in welcher Haut steckt, oder ob Sacher-Masochs Vorlage – "sexistischer Porno" oder "wesentlicher Klassiker der Weltliteratur"? – bereits vollkommen Besitz von den beiden Beteiligten und deren (in mehrfacher Hinsicht) Lust am Spiel ergriffen hat.
Vanda trägt, was die kuriose Situation nicht durchsichtiger macht, ja ohnehin denselben Namen wie die von ihr verkörperte Figur aus dem Roman. Scheinbar mühelos wickelt sie den verdutzten, ihr ergebenen Tho... äääh, Severin von Kusiemski um den Finger und nimmt – folgerichtig – den bestimmenden Part der Geschichte ein, welcher gar in einem, gewissermaßen konsequenten, Tausch der Geschlechterrollen mündet. Womöglich darf man den Film an dieser Stelle beim (emanzipierten) Wort nehmen – zu millimetergenau zielen hier die Waffen der Frau, zu stark bezirzen Vandas (und damit Emmanuelle Seigners) femininen Facetten von burschikos-keck bis erotisch-dominant. Und ja, all das ist Teil von ihr.
Polanski ist zu klug und altersweise, als dass er dem Zuschauer vorgaukeln könne, es existierten eindeutig zuweisbare Macht- bzw. Kontrollverhältnisse zwischen zwei sich Begehrenden oder aber einem Regisseur und seinen Darsteller/-innen (der Terminus "Schauspielerführung" ist unter Kritikern in aller Munde, doch wie steht es eigentlich mit "Regisseurführung"?), denn bedinge man nicht quasi einander, gäbe es nichts zu erzählen. Wie vielschichtig und dynamisch sich so ein Geflecht konkret vollziehen bzw. entwickeln kann, davon handelt dieser überaus relevante Film - wie auch von der Unmöglichkeit gänzlich unpersönlicher Kunst und damit ihrer (ob man will oder nicht) Spiegelbild-Funktion.
VENUS IN FURS in seinen verzwickten Auswüchsen vollends zu erfassen steht dabei, zugegeben, noch einmal auf einem anderen Blatt, doch wahrscheinlich ist es auch hier nicht verkehrt, einfach den Fakten der inneren Stimme zu trauen: Ich habe gelacht, fühlte mich unterhalten und gefordert - mehr geht praktisch nicht. Wobei... ich werde versuchen, nicht überrascht zu sein, sollte Polanski, der dieses Jahr als einer von wenigen Autoren sein Wort gehalten hat, die Grenzen beim nächsten Mal wieder neu abstecken.
So wird's gemacht! Ein bisschen Grund zur Skepsis gab mir die Thematik vorab ja schon, denn Coming of age, Prostitution und eine bildschöne Protagonistin in Kombination können Regisseur wie Publikum unter Umständen schnell einmal dazu verleiten, schlichten Männerphantasien zu frönen – nicht so François Ozon, der mit JEUNE ET JOLIE einen der besten Filme seiner bisherigen Karriere abliefert und mich spätestens jetzt restlos von sich überzeugt hat.
Seine Gabe zu bodenständiger Poesie und unverkrampfter Eleganz schlägt auch hier wieder voll durch. Ozons Architektur ist einerseits verspielt und daher gewissermaßen typisch französisch, andererseits aber bleiben seine Filme immer geheimnisvoll und kristallklar zugleich, sodass man den Ball gerne zurückspielt und sich auf kleine Mysterien einlässt.
Im Zentrum von JEUNE ET JOLIE steht die junge Isabelle aus wohlhabendem Hause, die wir über ein Jahr hinweg – stilvoll gesplittet in vier Jahreszeiten – begleiten. Kurz vor ihrem 17. Geburtstag erlebt sie während der Sommerferien ihr Erstes Mal mit einem Deutschen am Strand. Dieses doch eigentlich aufregende Hürdenereignis in die Erwachsenenwelt verläuft für Isabelle nicht nur äußerst ernüchternd, sondern es fördert ein Chaos in ihr zutage, welches bis dahin womöglich bloß unterdrückt war.
Zurück in Paris beginnt sie, für Geld mit Männern zu schlafen; ihre genauen, sicherlich ambivalenten Motive belässt Ozon zwischen den Zeilen und tut sehr wahrscheinlich gut daran, denn Isabelles Gefühlswelt ist so komplex, dass hier jedes ausgesprochene Wort das entscheidende zu viel hätte sein können. Wahrgenommen habe ich eine unterschwellige, dafür tiefe, innere Traurigkeit dieses Mädchens, welche durch Geld offenbar nie kompensiert werden konnte. Der Mutter fehlt es an Verständnis für das Unbehagen ihrer Tochter im goldenen Käfig, daneben aber auch an Vertrauen. Generell werden Probleme im Aufbau potenziell stützender, zwischenmenschlicher Bindungen angedeutet. Offener ist da schon Isabelles Beziehung zu ihrem kleinen Bruder sowie später – ausgerechnet – zu einem Stammfreier, der als einer von wenigen so etwas wie aufrichtiges Interesse an ihrer Persönlichkeit zeigt.
Es ist erstaunlich, wie enttäuscht und auch gelangweilt man in bereits so jungen Jahren vom Leben sein kann, obwohl es einem (zumindest materiell) an nichts fehlt, doch ich befürchte, Ozon setzt hier einen richtigen und wichtigen Punkt – feinfühlig, respektvoll distanziert, fasziniert, und ohne das geringste Anzeichen von Spott für seine verunsicherte Hauptfigur, die nach mathematischer Berechnung rundum glücklich sein müsste.
Dennoch betreibt JEUNE ET JOLIE keineswegs Schwarzmalerei oder Teenager-Schmerzenslyrik, denn die verführerische Isabelle besitzt auch eine eigentümliche Stärke, die es ihr ermöglicht, den Kampf um sich selbst aufzunehmen, und vielleicht wird sie es schaffen, zu gewinnen (auch insoweit legt Ozon, seines Zeichens bekanntlich kleiner Feminist, sich letztendlich nicht recht fest – was ja auch nur ehrlich ist). Flankiert wird sie dabei von Grand Dame Charlotte Rampling mit einem Kurzauftritt, der wieder einmal wenige Minuten genügen, um einen Film zu etwas Besonderem zu machen.
Wem das nicht reicht, der sieht sich eben einfach an der unerhört schönen Newcomerin Marine Vacth satt. Aber Vorsicht: Man(n) läuft Gefahr, wegen ihr die zahlreichen übrigen Qualitäten dieses tollen Werks ein wenig aus den Augen zu verlieren. :-)
L'ILLUSIONNISTE ist ein - innen wie außen – ungemein gefühlvoller Animationsfilm mit viel Liebe zu Details und kleinen Gesten, den ich gerne in die Arme schließen oder mich wie an einem Kaminfeuer an ihm wärmen würde, wenn ich könnte.
Sylvain Chomet hat sich eines bereits sehr alten, autobiographisch gefärbten Drehbuchs von Jacques Tati angenommen, ließ sich bei der Umsetzung allerdings unübersehbar von eigenen Vorstellungen leiten. Tatsächlich ist von Tatis eher trockenem Slapstick-Stil wenig übrig geblieben; Chomet hat diesen weitestgehend ersetzt durch eine unaufdringliche, obgleich kraftvolle Melancholie, die sogar auf die bedachtsam konstruierten Gags niederschlägt. So erinnerte mich L'ILLUSIONNISTE eher an die Werke Charlie Chaplins, die sehr häufig ja auch trist oder sogar ein wenig traurig stimmen, den Humor jedenfalls nicht immer an allererster Stelle platzieren, ihn stets vielmehr hinleiten zu einer gehaltvollen Aussage beziehungsweise einem empathischen Appell.
Vor allem ein Vergleich zu dem gänzlich nachdenklich ausgefallen LIMELIGHT drängte sich mir unweigerlich auf, sodass ich meine, die hier erzählte Geschichte des Zauberkünstlers Tatischeff könnte beinahe ebenso gut die eines gealterten Tramps sein:
Als erfolgloser Illusionist zieht Tatis Ebenbild im Jahre 1959 durch die Lande und muss seit schon seit einiger Zeit leidvoll erfahren, dass jene Art Künstler, der er angehört, einfach nicht mehr gefragt ist. Die Menschen möchten lieber spektakuläre Shows auf der Bühne geboten bekommen, der Stichtag von Kaninchen und Zylindern scheint erreicht und Tatischeffs Tricks verstaubt.
Doch was noch tragischer ist: Auch Tatischeff hat den Glauben an die Magie und damit an sich selbst verloren. Eines Tages jedoch tritt er mutlos die lange Reise nach Schottland an, um einen Auftritt vor einer vom Großstadtleben isolierten Dorfgemeinschaft zu absolvieren. Dort ist man hellauf begeistert von seinen Künsten, Tatischeff erlebt einen kurzen Moment des Triumphs und tankt endlich wieder Kraft – auch bedingt durch eine neue Bekanntschaft. In der Gaststätte nämlich lernt er die junge, äußert naive, aber auch herzensgute Alice kennen, die glaubt, er sei wirklich ein Magier und das von Tatischeff sodann "herbei gezauberte" Geschenk, ein neues Paar Schuhe, mit kindlicher Verzückung annimmt.
Weder sie noch er erklären oder hinterfragen die – trotz großen Altersunterschieds und sprachlichen Verständigungsproblemen - vom ersten Moment an bestehende, gegenseitige Sympathie, und der Film tut es erst recht nicht... ohne dabei in triefenden Kitsch zu verfallen. Die Zuneigung zwischen ihnen zeigt sich, wenn Alice beispielsweise auf der Zugfahrt ihren Kopf an seine Schulter lehnt oder er bereitwillig auf dem unbequemen Sofa nächtigt, um ihr das gemütlichere Bett zu überlassen.
Eine große filmische Wohltat, die mich – Antonioni und wie sie alle heißen jetzt Mal zum Trotz – zumindest insgeheim weiterhin darauf vertrauen lässt, dass es solche oder ähnliche Begegnungen, die eben schlechthin nicht vieler Worte brauchen, vielleicht auch im echten Leben geben kann.
Folgerichtig jedenfalls machen sich Tatischeff und Alice nun gemeinsam auf den Weg – sie ist ihm ein lang ersehntes Stück Familie und er führt sie behutsam durch die weite Welt. Um Arbeit zu finden und das begeisterte Leuchten in Alice' Augen nicht schwinden sehen zu müssen, nimmt er sogar Erniedrigungen als lebendige Schaufensterpuppe in Kauf.
Doch leider gibt es da noch eine andere Seite, denn manchmal testet uns das Schicksal, indem es uns Liebgewonnenes einfach ohne Ankündigung wieder nimmt, mit Erinnerungen an die schöne Zeit abspeist und zum Weitermachen zwingt, und sei es "nur" dadurch bedingt, dass sich jemand weiterentwickelt hat. Als Außenstehendem bricht es einem umso heftiger das Herz, mit anzusehen, wie unspektakulär sich fest verschmolzen gewähnte Wege wieder trennen können, was aber nicht bedeuten muss, dass dieser beschrittene Pfad ein Irrweg war. Vielleicht war er sogar einer der prägendsten – gerade drum.
lol. Eigentlich unmöglich zu beantworten - das ist ja, als ob man ein Kleinkind in einen Süßwarenladen schickt und erwartet, dass es sich nur für eine Sache entscheidet. Aus dem Bauch heraus (anders geht's nicht) dann aber doch recht eindeutig: MANHATTAN. :-)
Ich bin endgültig fertig mit diesem bizarren Filmjahr der Unmöglichkeiten und das Filmjahr offensichtlich auch mit mir. Nachdem ich BLUE JASMINE bis zuletzt noch zu den wenigen Kandidaten der Kategorie "Das wird 'ne sichere Nummer!" gesteckt hatte, ließ mich jetzt auch Woody ganz schön im Regen stehen und so langsam glaube ich an gar nichts mehr.
Normalerweise darf man bei Allen ja davon ausgehen, dass er nach einem etwas schwächeren Jahresbeitrag – und TO ROME WITH LOVE zählte wahrlich nicht zu seinen Sternstunden – alsbald mit einem Paukenschlag zurückkehrt und mit der Souveränität eines Großmeisters jeden Fan wie Kritiker eiskalt abstraft, der ihn bereits vorschnell abgeschrieben hatte. Und tatsächlich: Die ersten Kritikerstimmen machten richtig Lust. Kompromisslos zynisch soll BLUE JASMINE ausgefallen sein, ernst und nachwirkend. Die ersehnte Rückkehr zu alter Form. Ich freute mich auf eine kleine Renaissance von Allens Bergman-Phase der 70'er/80'er, Charakter-Kino par excellence also, gewürzt mit vielleicht einer feinen Prise MATCH POINT. Der passende Darsteller-Lead schien obendrein in Blanchett gefunden. Die Zutaten stimmen, das Meisterwerk war praktisch angerichtet.
Doch die Ernüchterung ereilte mich überraschend deutlich:
Die Upper class zerfleischt sich, die Lower class wackelt ein wenig mit, und schließlich alle gegeneinander. Die heimische Spielwiese des Regisseurs gedeiht einmal mehr aus dem üblichen Durcheinander um Lügen und Intrigen, was erneut kein Problem wäre, müsste man Subtext, Mehrwert, aber auch jedweden Charme oder Hintersinn (eben alles, wofür Allen gewohntermaßen steht) hier nicht mit der Lupe suchen.
Ich vermisse die zärtliche Wärme in seiner Handschrift sowie seinen messerscharfen Intellekt, wenn er haargenau zwischenmenschliche Knackpunkte seziert (in Hochform sogar zeitgleich) – BLUE JASMINE nämlich lässt beide Wünsche offen, den nach spürbarem Tiefgang (erschreckend blass und eindimensional: Die Figurenzeichnung) ebenso wie wirklich humorvolle Momente, für die man den Film eben nicht bloß schätzen, sondern lieben könnte. Oder zumindest eine erkennbare Kontur (von einer Katharsis, die sich wahrscheinlich sehr wohl angeboten hätte, rede ich ja schon gar nicht erst). Die wohl dringlichste Frage ist für mich allerdings die nach dem Verbleib von Allens Timing, seiner Gabe, vermeintlich fern liegende Figurenstränge und Zeitebenen so virtuos miteinander zu verquicken, dass die Kunst des Drehbuchschreibens so leicht wie eine Feder wirkt. War TO ROME WITH LOVE einfach nur eine seltsam inhomogene Aneinanderreihung einzelner Episoden, krankt BLUE JASMINE nun daran, dass das Wechselspiel zwischen Rückblenden und Gegenwart zur formellen Belanglosigkeit verkommt, der Film keine Fahrt aufnimmt, vielmehr vor sich hinplätschert, obwohl es an sich doch durchaus Dramatisches zu sehen gibt – als ginge es lediglich darum, Streits, Komplexe, Selbstlügen und Co. – hieran ändert selbst Blanchetts engagiertes Schauspiel nur wenig - unspektakulär wie einen Einkaufszettel abzuarbeiten. Ein nicht gerade visionäres Winden im eigenen Nihilismus; Ich musste mich phasenweise regelrecht dazu zwingen, hier mitzugehen.
Gelingt Allen noch einmal der ganz große Wurf? Meine Zweifel am fortbestehenden Elan der leider Gottes nicht jünger werdenden Koryphäe des Weltkinos (seit nunmehr einem halben Jahrhundert!) gestehe ich mir beileibe nicht gerne ein, doch sie gewinnen an Lautstärke... Ich fürchte, ich laufe Gefahr, sentimental zu werden und nächstes Jahr statt eines Kinobesuchs am Starttermin vielleicht lieber MANHATTAN einzulegen, denn die Kluft wird immer größer, misst man den aktuellen Allen an seinen Glanzzeiten. Dieses Mal bekommt er seinen kleinen "Ich liebe Woody"- Punkte-Bonus aber noch.
Ein Film für laue Sommernächte, verregnete Herbsttage oder einfach Momente, in denen alles melancholisch und nichts sicher scheint. Ob bei der Ankunft am Flughafen, beim Durchbrennen mit seiner Elaine oder dazwischen: Scheues Lächeln und erstarrte Leere wechseln sich in Benjamins Gesicht - wie in Trance – fremdgesteuert ab... als wäre er Statist in seinem eigenen Film. Seine Orientierungslosigkeit, Schüchternheit und Zukunftsangst sind Sinnbild für eine ganze Generation, und wohl nicht nur eine einzige, denn THE GRADUATE ist – glaube ich – wieder im Kommen.
Quarterlife Crisis. Mal wieder liegt mir meine Mutter in den Ohren. Ich mache nicht genug aus mir, andere hätten schon sonst was erreicht, und überhaupt, in meinem Alter habe sie selbst bereits 2 Kinder gehabt. Ich verstehe ihre Besorgnis. Zu ihrer Zeit gab's kein allzu großes Grübeln über die berufliche Laufbahn, man heiratete mit Anfang 20, um sogleich (im Idealfall dreifach) Nachwuchs zu bekommen und das Leben war (bitte entschuldigt die harte Formulierung^^) praktisch gelaufen.
40 Jahre später jedoch stehen die Vorzeichen – diverse zeitlose Verklemmtheiten einmal außen vorgelassen - denkbar anders. Ich kann mich fest binden oder es sein lassen, kann eine polyamore Beziehung mit 10 Leuten gleichzeitig führen oder ins Kloster eintreten, und Letzteres davon würde dieser Tage wohl sogar noch die höchsten Wellen schlagen. Alles im Rahmen, solange Millionen kafkaeske Zombies fleißig das Bruttosozialprodukt steigern und leisten, leisten, leisten. Doch nicht nur ein (wie im Film) zu Wenig an möglichen, gesellschaftlich akzeptierten Entscheidungen (welches immerhin die stille Rebellion herausfordert) vermag einem regelrecht die Kehle zuzuschnüren, auch ein überforderndes zu Viel davon. Heute kann jeder alles sein, es mangelt nicht an Fähigkeiten, aber niemand weiß mehr so recht wohin. Es dominiert die große Unsicherheit.
Was sind denn nun meine wirklichen Talente? Tue ich das Richtige? Werde ich mit diesem gewählten Entwurf auch dauerhaft glücklich? Fragen, die sich noch vor einem halben Jahrhundert (also vor THE GRADUATE) zumindest in dieser Deutlichkeit wahrscheinlich nicht gestellt haben (geschweige denn diskutiert wurden) und sich mit gewissen Erwartungen des nahen Umfelds häufig ganz und gar nicht gut vertragen. Es war schon – und hier suche ich nach Ironie - lange nicht mehr so schwierig, erwachsen zu werden und seinen Platz zu finden. Die Freiheit lockt und drängt, hinzu gesellen sich Zweifel... ein effizienter, wirtschaftlich denkender Mensch sein, ist das wirklich alles? Ein Spießerleben vermeintlicher Sicherheiten im Tausch gegen so vieles, was mir Spaß macht? Klingt nach einem Nullsummenspiel. Oder gibt es einen Kompromiss?
Wo klare Schritte einst selbstverständlich waren, tut man vieles halbherzig, um notfalls doch wieder zurück auf Null zu können, in sämtlichen Lebensbereichen. Ich kenne keine Person Anfang/Mitte 20, die in der Grundschule Polizist, Feuerwehrmann oder Lehrer werden wollte und es konsequent durchgezogen hat, dafür aber so manchen mehrfachen Studiengang-Wechsler/Abbrecher. Gerne flüchtet man in die Antriebslosigkeit, stöhnt über schon wieder neue Verpflichtungen, tut alles, um die eigene Weltfremdheit zu kultivieren– ein eskapistischer Schwebezustand, der den Konflikt weiter aufschiebt, und es kommt der Punkt, da möchte man, total "entkräftet", nur noch ausbrechen.
Keine Bevormundungen mehr von Freunden und Verwandten, die alles besser wissen (vielleicht tun sie es tatsächlich, vielleicht aber auch nicht) und es doch nur gut meinen. Keine solide "Karriere" hinter verstaubten Schreibtischen und Stapelweise Akten. Jemanden, der dasselbe fühlt, an die Hand nehmen und mit ihm irgendwo hinfahren – egal, wenn die Aktion nicht aufgeht! Und jedem, der dich fragt: "Warum?" entgegnen: "Warum nicht?". Für eine Sekunde unendlich sein, gerne zu Simon & Garfunkel (die Hippies konnten das besser als wir). Keine Angst mehr vor der Angst. Denn vielleicht ist es – frei nach Fellinins Müßiggängern - woanders nicht besser – aber auf jeden Fall anders.
Schön, dass mit "L'Inconnu du lac" auch mal wieder ein echter Geheimtipp in dieser Rubrik Gehör findet. :-)
Ich hoffe auf besonders viele Vormerkungen, und wer Sigmunds Kommentar anschließend noch einmal liest, wird umso mehr erstaunt sein, wie feinsinnig hier Essenz und Wesen dieses - im besten Sinne - Ungetüms von Film erspürt wurden. Großes Kino, in der Tat! :-)
Zeit für Sensationen im deutschen Kino: Ein wahrlich außergewöhnliches Alterswerk von Edgar Reitz, das es entgegen jeglicher kommerziellen Logik irgendwie in die hiesigen Lichtspielhäuser geschafft hat. Da möchte man, beflügelt von diesem Film, glatt eine arg angestaubte und mittlerweile eigentlich komplett bedeutungslose Floskel wiederbeleben: Qualität setzt sich durch. Zumindest manchmal.
Mir reichte ein Blick auf Schauspiel-Debütant Jan Schneider als Jakob und ich war hin und weg. Die Sehnsucht aus dem Titel, das ist vor allem das, was sich in seinen großen, kindlichen Augen spiegelt und der Kamera Grund und Sicherheit gibt, die räumlichen Grenzen des Örtchens Schabbach sowie der umliegenden Felder nicht zu verlassen – obgleich Mitte des 19. Jahrhunderts das Fernweh um sich greift und viele Hunsrücker nach Südamerika auswandern. Ein Fernweh aber, das nichts mit spontaner Urlaubslust zu tun hat, wie wir sie kennen, sondern sich als Reaktion auf heimische Armut und Hungersnöte darstellt. Am anderen Ende der Welt, dort, wo immer die Sonne scheint, müssen die Vorzeichen einfach besser stehen als hier. Auch Autodidakt Jakob, von heimischer Enge erdrückt, möchte fort nach Brasilien, legt seinem Verlangen jedoch ganz eigene, ideell gefärbte Motive zugrunde:
"[…] Denn alles kann verloren gehen und im Sturm auf den Meeren versinken, nicht aber das Wissen der Herzen."
Sein Charakter ist einladend altmodisch-schwärmerisch angelegt, sodass man sich gerne in ihm wiederfinden möchte: Zur Kartoffelernte oder Eisenschmiede muss er von seinem Vater erst geprügelt werden, lieber brütet er mit intrinsischer Motivation über Büchern, träumt Tag und Nacht und überschlägt sich auch schonmal vor Begeisterung, wenn ein Vogel über seinen Kopf hinweg fliegt. Überhaupt beeindruckten mich die Dorfbewohner durch ihre – durchaus im positiven Sinne! – Einfachheit, mit der sie alltäglichen Problemen und Aufgaben entgegentreten, die wohl als sehr viel existentieller bemessen werden müssen als unsere heutigen. Ihr Leben ist der Angst und harten Arbeit gewidmet, doch die unauslöschbare Hoffnung in den meisten von ihnen zeigt sich jederzeit bereit, auch dem nächsten Rückschlag Paroli zu bieten. Der Geruch von Schweiß und Lebenslust umgibt dieses Dorf, zuallererst; ansteckend ist die Unbeschwertheit heiterer Stunden, zum Beispiel, wenn Jettchen (das Objekt Jakobs zarter Liebe) und Florinchen ihre nackten Körper eine Wiese hinunterkullern lassen oder man ausgelassen singt und tanzt.
Dazu gehört der zentimeterhohe Schlamm in den dichten Gassen ebenso wie die malerische Schönheit der weiten Landschaft, welche – ein wenig in Kontrast zu dem etwas vulgär anmutenden, für ungeübte Ohren sicherlich extrem gewöhnungsbedürftigen Hunsrück-Dialekt – dem Film eine bisweilen geradezu naive, gleichsam kraftvolle Schwarz/Weiß-Poesie ermöglicht, die er tatsächlich auf allen Ebenen in Wort und Bild ausschöpft und schließlich zu einem womöglich auch für uns im 21. Jahrhundert wieder relevanten Gleichnis über Identität und Glück formt, indem er die Frage nach Heimat noch einmal ganz neu stellt. Jakob nämlich, der seine Bestimmung und wahre Freiheit schlechterdings an einem anderen Ort wähnte, ist es, der (nein, kein wirklicher Spoiler..) am Ende mehr oder weniger notgedrungen zu Hause bleibt und anscheinend trotzdem eine Art inneren Frieden findet... wenn man so möchte, die sich selbst genügende Heimat eigener Rastlosigkeit - als Option, auch in Schabbach fremd zu sein.
Der Indianer Jakob muss zurückstecken, es lebe der Romantiker: Welch seligere Erfüllung kann es geben als der größte Traum, der ihm verwehrt bleibt?
Ein Film aus Deutschland über Deutschland (unter anderem), der sich aber gar nicht deutsch anfühlt – oder zumindest diverse negative Charakteristika, die ihm gemeinhin nachgesagt werden, auf beachtlicher Distanz hält. Woher Regie-Debütantin Frauke Finsterwalder die Keck- und Abgeklärtheit nimmt, mit der sie sich diesen wirklich ausgefuchsten Episodenfilm zusammenspinnt, weiß der Kuckuck... vielleicht ist FINSTERWORLD aber auch einfach nur eine Demonstration dessen, was in der Kunst möglich ist, wenn man morgens mit offenen Augen aus der Türe tritt.
Michael Haneke, Ulrich Seidl und Michelangelo Antonioni finden hier namentlich ihren Platz hinter dem Meta-Türchen, und das ganz sicher nicht ohne Grund. Denn es geht tatsächlich um diese Welt, in der zwei Menschen nicht zu einer Verabredung erscheinen, weil sie sich – wie Sandra Hüller als angehender Doku-Star Franziska es so schön formuliert – egal sind. Auch geht es um jene Menschen, an deren Seelentiefen für gewöhnlich sich eben nur die Österreicher heranwagen, oder höchstens noch ein Todd Solondz – Außenseiter und Weirdos, eine vordergründige Freakshow als zugespitzter Querschnitt durch die Gesellschaft. FINSTERWORLD bedient sich aus einem Farbeimer illustrer Charaktere, die umso verzerrter anmuten, je größer ihre Überzeugung des eigenen Normalseins. Zwangsläufig hinterlassen sie so dadaeske Kleckse, bleiben dadurch aber immer faszinierend und auf ihre Weise originell, ob man sie nun als sympathisch befindet oder nicht.
Dies gilt selbst für das wohlsituierte Ehepaar Sandberg in seinem super schallgedämmten Hightech-Auto (symbolisch für inneres Inseldasein des Paares sowie geballtes "Wissen", das sich aus Sekundärquellen, kaum aber den Lehren persönlicher Erfahrungen speist) als Elfenbeinturm auf vier Rädern, welcher erst und ausgerechnet von der Zerbrechlichkeit eines minderjährigen Schülers aufgebrochen wird. Und, siehe da: Von diesem liebesbekümmerten jungen Träumer lernen die beiden alten Stadt-Spießer richtig was.
Franziska verzweifelt währenddessen, weil sie ihre Dokumentations-Subjekte für zu uninteressant hält und darum ihrer Meinung nach nicht so gut sein kann wie die bereits erwähnten Haneke und Seidl. Ihre Vorbilder würden ihr wahrscheinlich entgegnen, dass durchaus jede Person etwas Erkundenswertes an sich hat und der "Erfolg" des Beobachtenden allein dessen Sensibilität obliegt. Es funktioniert nicht, dem Medium eine maßgefertigte Wirklichkeit aufzuzwängen, sondern es kann nur Ziel sein, die Grenzen subjektiver Wahrheit, aber auch die der eigenen Vollkommenheit zu akzeptieren. Die wohl einbringlichste Reaktion darauf ist Neugier und das Bemühen, wenigstens die richtigen Fragen in passender Tonart zu stellen - wie im echten Leben.
Genau das tut Finsterwalder, und darum überzeugt ihr Erstling nicht nur als bemerkenswert umfassender Kommentar zur Lage der Nation, sondern auch als Zusammenschluss kleiner Gleichnisse und Hort so mancher universeller Wahrheit – auch der, dass man (wie dann auch Franziska leidvoll feststellt) zwar die angestammte räumliche Umgebung ablegen kann, niemals jedoch die eigene Haut. Ein erwachsener Mann, der sich als Riesen-Kuscheltier verkleidet, mag da einen drolligen Anblick bieten, doch die dahinter stehende Sehnsucht nach (neuer) Identität und Anerkennung wird ernst genommen und tröstet locker darüber hinweg, dass FINSTERWORLD bei aller Ambitioniertheit stellenweise dazu neigt, ins allzu Schematische zu kippen.
Der Blick der Regisseurin auf nachfolgende Generationen verstört dabei ebenso wie Gegenwärtiges, und doch findet der Film in seinen wahrlich finstersten Momenten wie zum Trotz den Glauben an die kleinen Gesten und Wunder wieder. Es kann gut sein, dass die triftigsten Probleme unserer Spezies immer auch die Simpelsten bleiben werden: Ein klein wenig Glück und Beständigkeit zu finden. Wie beruhigend.
2013 ist schon ein verrücktes Kinojahr – so manche Produktion, die ich eigentlich gar nicht auf der Rechnung hatte, begeisterte mich (sozusagen spontan) hellauf, im Gegenzug aber blieben bisher beinahe alle "großen" Namen meilenweit hinter meinen Hoffnungen zurück. Der im Allgemeinen offenbar sehr euphorisch aufgenommene PRISONERS nun entpuppt sich leider als nächste Enttäuschung für mich. Lag es an den haushohen Erwartungen, die Villeneuve mit INCENDIES bei mir herauf beschworen hatte? Vielleicht hätte ich dem Umstand tragendere Bedeutung beimessen sollen, dass es sich hier lediglich um eine reine Auftragsarbeit des an sich hochbegabten Regisseurs handelt, was sich dann auch an allen Ecken und Enden negativ bemerkbar macht. Und dennoch hätte PRISONERS mit einem weniger fähigen Kapitän an Bord sehr viel dürftiger ausfallen können – ein typischer Licht-und-Schatten-Film.
Das größte Manko des Werks ist dabei sicherlich sein Skript, welches in Sachen Innovation ganz bestimmt keine Bäume ausreißt, sondern sich auf kleinlaut konventionelle Weise als handelsüblicher Thriller ohne Besonderheiten zu erkennen gibt – und dabei kaum ein Klischee am Wegrand liegen lässt. Da wären:
- der besonnene Mustercop, natürlich Junggeselle und alleinstehend, der im Rahmen der Ermittlungen zu einem neuen Fall seine Grenzen erfährt und über sich hinaus wachsen muss
- der überemotionale Familienvater, der – ohne Vertrauen in die aus seiner Perspektive zu zaghaft agierende Polizei – die Suche nach seiner verschwundenen Tochter in die eigene Hand nimmt und seine Verzweiflung Überhand gewinnen lässt
- das obligatorische "Such' den Täter!"- Katz und Maus-Spiel zwischen Film und Publikum, teils knapp an der Schwelle (da hat sich wohl Villeneuves Handschrift erfreulich verdient gemacht) zum erhobenen, moralischen Zeigefinger.
Geblieben jedoch ist die affektive Wucht aus INCENDIES. Trotz zahlreicher Mankos nämlich ist PRISONERS ein Film, der über die gesamte Laufzeit hinweg mitreißt und sein Publikum fiebern lässt – immerhin 154 Minuten lang, und das muss man erst einmal schaffen.
Als solide bis hervorragend tut sich daneben die Darstellerriege hervor – allen voran Paul Dano, für mich (trotz verhältnismäßig beschränkter Screentime) der heimliche Star des Streifens. Wieder einmal demonstriert er, dass er vom Indie-Emo bis zum Psychopath alles und jeden verkörpern kann. Hier glänzt er durch ambivalentes, schockierend "hässliches" Schauspiel der Extraklasse, und nicht zuletzt ist es seine Figur, an deren wahre Identität der Betrachter einige Male unweigerlich seine gesamte Erwartungshaltung in Bezug auf des Rätsels Lösung klammert – um sie immer wieder revidieren zu müssen. Ein willkommener Kontrapunkt zu den von Gyllenhaal und Jackman beseelten Charakteren, welche schon von ihrer Anlage her kaum der abgedroschenen inneren Dynamik eines Pappständers Konkurrenz machen dürften (Pluspunkt für Gyllenhaal, dessen Babyface passé ist: Gäbe es einen Oscar für's einfach nur Gut-Aussehen und Sexy-Sein, er wäre ihm – ginge es nach mir - sicher).
PRISONERS hätte fraglos das Potenzial zu einer ergiebigeren Auseinandersetzung mit Themen wie Selbstjustiz, Recht und Gewissen oder persönlichem Scheitern in sich geborgen, stellt den Unterhaltungsfaktor aber bedauerlicherweise vorne an... wie es sich ja oft nicht vermeiden lässt, wenn man jemandem wie Villeneuve die Handschellen anlegt. Als Beitrag zur Rubrik Erwachsenenkino jedenfalls hat mich dieses Jahr THE PLACE BEYOND THE PINES eher überzeugt.
Viel Lärm um nichts. Tarantinos Geschmack ist nerdy, aber keineswegs exquisit. Hinter der Banalität seiner diesjährigen Liste steckt vermutlich der denkbar unspektakulärste Grund von allen: Mangelde Zeit für Filmsichtungen.
Der Rundumschlag hätte in dieser Absolutheit außerdem nicht sein müssen, denn ein Viertel seiner Auswahl ist sicherlich mindestens passabel. Von BLUE JASMINE erwarte ich sogar nicht weniger als den besten Autorenfilm des Jahres.
Lustig auch, dass ausgerechnet Tarantinos Erwähnung von GRAVITY - ein Film, den Vega selbst gelobt hat - im Rahmen dieses Artikels unter den Tisch fällt, denn das hat ja nicht ins polemische Konzept gepasst. :-p
"Wir müssen den Kinozuschauern klipp und klar sagen, dass wir ihnen nur eine Geschichte erzählen. Die aber natürlich zum Nachdenken anregt."
Ausgerechnet Roland Emmerich scheint – zumindest in der Theorie – das Rezept für einen Film zu kennen, der Millionen Dollar einfährt, Massen berührt, aber (hier liegt die Krux!) trotzdem gut ist. Das mit dem "zum Nachdenken anregen" ist wahrlich leichter gesagt als getan, denn zu schnell versinkt selbst der größte Hoffnungsschimmer an Ambition in einem Meer aus sinnloser Zerstörungswut und/oder dramaturgischen Mogelpackungen, sobald es ums liebe Geld geht. Und das tut es nun einmal in Hollywood. Denke ich jedoch an kommerzielle Produktionen, die ich wirklich mag – eben, weil sie für mein Dafürhalten besagten Balanceakt zwischen Unterhaltung, (wenigstens dem Ansatz von) interessanten Inhalten und sogar großen Emotionen meistern -, lande ich früher oder später zumeist bei James Cameron. Oder, genauer gesagt: Ich glaube kaum, dass Traumfabrik-Kino für seine Maßstäbe – damals wie heute - besser sein kann als es TERMINATOR 2 ist – und zwar nicht lediglich als Blockbuster, sondern auch als Actionfilm.
[Ab hier folgen Spoiler!]
Wo fange ich an? Es beginnt schon damit, dass ich mich für gewisse Bausteine begeistern kann, die mich im Falle sonstiger Genre-Ausgeburten (anders kann ich es nicht nennen, denn der Action-Bereich ist für gewöhnlich beileibe nicht mein Metier) eher kalt lassen, beispielsweise eine atemberaubende Verfolgsjagd direkt zu Beginn, bei der unser - so jedenfalls besagt es die bereits geschriebene (oder doch nicht?!) Zukunft - angehender Held John Connor mit seinem klapprigen Motorbike vor gleich zwei Terminatoren flüchten muss. Für ihn ist an dieser Stelle nicht klar, wer überhaupt Freund und wer Feind ist, woraus die Szene zusätzliche Brisanz schöpft. Doch auch ich sah sodann meine Erwartungshaltung ein wenig auf den Kopf gestellt... War Schwarzeneggers Mission im ersten Teil nämlich noch das Morden gewesen, vollzieht er nun als altes Modell, aber neue Figur die Wandlung vom eiskalten Widersacher zum Beschützer. Cameron, du Fuchs!
Vielleicht liegt hier eine erste, kleine Botschaft versteckt: Der Terminator mag nur eine Maschine sein, deren "Auftrag" bzw. Programmierung allein ihr Handeln bestimmt, doch wird deutlich, wie Energie/Kraft/Potenzial in beide Richtungen wirken kann; es kann vernichten oder erhalten, und damit im Extremfall Schicksale entscheiden. Dabei können wir zwar unser Tun kontrollieren, nicht immer hingegen dessen Auswirkungen.
Apropos Schicksale: Was die TERMINATOR-Filme entwerfen, ist gerade keine echte Dystopie, sondern lediglich die drohende, wenngleich äußerst beunruhigende Aussicht darauf. Die Menschheit in ihrem Forschungsdrang hat unfreiwillig den tragischen Grundstein für ihre eigene Vernichtung gelegt (der Frankenstein-Effekt im 20. Jahrhundert, sozusagen – wahrscheinlich wird diese Angst einer Bedrohung durch den Fortschritts-Boomerang ohnehin niemals nicht aktuell sein, solange auch die Wissenschaft nicht still steht), doch Regie-Dino Cameron gewährt einer kleinen Gruppe von Auserwählten die Chance zur nachträglichen Abwendung einer Katastrophe, die ja irgendwie schon passiert ist. Bemerkenswert, dass das Protagonisten-Trio sein Ziel dabei nicht durch uferlose Gewaltanwendung erreicht, sondern durch Wille, Beharrlichkeit, Köpfchen und – vor allem – Zusammenhalt. Davon ausgenommen ist nicht einmal Robotermann Arnie, dessen Computer-Kompass jene Weise der Konfliktlösung "von Natur aus" gar nicht vorsieht, sondern – wie wir aus Teil 1 gelernt haben - eher pragmatischeren Wegen zugetan ist. "Menschliche Verluste: 0,0", bilanziert er (bzw. es) höchstpersönlich – und das am JUDGMENT DAY. Wenn einer am Boden liegt, springt der andere unter Einsatz seines Lebens in Bresche, ganz gleich, wie übermächtig der Gegner. Alles für die Rettung einer Welt, welche diese Mühe wohl am Ende wert ist, obwohl sie zulässt, dass Personen, die die Wahrheit sagen, für verrückt erklärt und weggesperrt werden. Ein wenig überhöht, über weite Strecken unsubtil, und doch ungemein ergreifend mit Unterbau: Klassische Hollywood-Romantik at its best.
Wenn dieses Endzeit-Abenteuer sich so vor sich hinentwickelt (episch: Der eigentliche Antagonist, Cyborg T-1000, wird mal eben für etwa eine halbe Stunde aus der Handlung manövriert, weil T-800 und seine beiden Freunde noch etwas anderes, keinesfalls aber minder Wichtiges zu erledigen haben), versinkt man irgendwann sogar so tief in ihm, dass man beginnt, Schwarzeneggers Stahl-Etwas als Mensch aus Fleisch und Blut wahrzunehmen, obwohl keinerlei Hinweise darauf fallen, die einer logischen Überprüfung dieser Empfindung standhalten, der Schulterschluss zwischen Blechkonstruktion und uns - aus nüchterner Entfernung betrachtet - natürlich Projektion bleiben muss. Doch wer will da schon Abstand nehmen?
Vergessen ist, dass dieser Roboter bloß einen Befehl ausführt und im Grunde ja gar nicht fühlen kann. Doch Cameron bringt mich dazu, es zu wollen, und das ist vollkommen in Ordnung, denn schließlich erzählt er – siehe Eingangszitat! - nur eine Geschichte... nicht wahr?
"Ich weiß jetzt, warum ihr weint, aber das ist etwas, das ich niemals tun kann."
... Ich glaube, ich hab' da was im Auge.
Interessierst du dich generell für griechisches Kino oder nur das "New Greek Cinema"? Letzteres ist eine ganz spezielle, noch recht junge Bewegung; die Filme behandeln - wie du anhand von ATTENBERG sicher schon festgestellt hast - unter anderem Themen wie gesellschaftliche bzw. zwischenmenschliche Entfremdung. Diese extreme, künstlerische Stilisierung ist dabei auch Markenzeichen, d.h., wenn du ATTENBERG wirklich nicht mochtest, stehen die Chancen eher schlecht, dass du hier dein Glück finden wirst.
Trotzdem empfehle ich einfach mal noch:
- STRELLA (Panos H. Koutras)
- WASTED YOUTH (Argyris Papadimitropoulos/Jan Vogel)
- ADIKOS KOSMOS (Filippos Tsitos)
GRAVITY, Alfonso Cuaróns erhoffte Sci-Fi-Wiederbelebung, hat eigentlich mehr von einem Hilfeschrei – unumwunden ins Gesicht jener gähnenden Ideenlosigkeit (ELYSIUM, AFTER EARTH und Co.), aber auch Verkopftheit (INCEPTION und Co.) zeitgenössischer Genre-Vertreter gebrüllt, die mit regelmäßiger Selbstverständlichkeit für schüttelnde Köpfe, kaum aber für offene Münder sorgen (zumindest nicht bei mir). Als geradezu bemerkenswert erweist sich dieser Mangel an Inspiration und Mut auf einem filmischen Gebiet, welches wahrlich nicht an fruchtbarem Nährboden geizt und der Phantasie von Autoren wie Regisseuren – so weit die Theorie – keine Grenzen setzt. GRAVITY hingegen ist der Idee nach eine Abkehr von Bombast und Größenwahn, denn was Cuarón hier erprobt, ist die ultimative Reduktion auf Thrill und Nägelkauen; nicht mehr – aber eben auch keinesfalls weniger – als den nervenaufreibenden Überlebenskampf zweier Astronauten im und gegen den Weltraum bietet GRAVITY seinem Publikum.
Wohl dem, der für ein solches Projekt ein derart herausragendes Technik-Team um Kamera-Supermann Emmanuel Lubezki um sich weiß, und tatsächlich geht die Rechnung des gefeierten Regie-Heilands erst einmal fabelhaft auf:
Ungeahnte Breiten,- Höhen-, und Tiefendimensionen abseits – aber niemals außer Sichtweite - unseres Planeten Erde dürften selbst den standhaftesten Zuschauer für einige Momente ins Schleudern bringen, denn dieser Film schafft es tatsächlich, ein (im Wortsinne) beklemmendes Gefühl von Beengtheit (Atemnot durch bevorstehenden Sauerstoffmangel, Feuer in einer Raumkapsel, usw.) und drohendem Verlust jeglicher Kontrolle im unendlichen Universum gleichermaßen zum Leben zu erwecken – Fluchtversuch zwecklos, und all dies in den Weiten des Alls. Eine viel hoffnungslosere Situation als die der beiden Protagonisten ist praktisch kaum denkbar, die visuelle Umsetzung phänomenal gelungen. Ein beachtlicher und keineswegs zu verachtender Trumpf der Dezimierung gelingt GRAVITY somit - allerdings auch der einzige, denn diverse Junkfood-Drehbuchmätzchen des Films vermag im Folgenden nicht einmal Lubezki wegzubebildern.
Da wäre zunächst George Clooney als Matt Kowalsky – ein Charakter, den ich bestenfalls als Comic Relief durchgehen lasse, nicht jedoch als ernstzunehmende Figur. Oder glaubt etwa irgendjemand an die Authentizität von Kowalskys Anekdoten aus dem Erden-Leben und lockeren Sprüchen, selbst im Angesicht allergrößter Lebensgefahr?
Na fein, mit Realismus möchte Cuaróns bemüht sympathischer Survival-Pulstreiber dann also doch nicht besonders viel am Hut haben. Bleibt immer noch eine heillos überforderte Sandra Bullock, deren schauspielerische Defizite so gravierend zu Tage treten, wenn sie den Helm abnimmt (und damit ihre Mimik einbringen muss), dass man für sie fast schon mehr Mitleid aufbringt als für die von ihr verkörperte Dr. Ryan Stone. Oder ein selten dümmlicher Ausverkauf an müffeligste Hollywood-Plattitüden, selbstverständlich nicht ohne sentimentale Duseleien – unter Preisgabe des auch letzten Fünkchens Plausibilität nur noch getoppt von einer "Cherish your Life!"-Moral, die mir so einfältig und plump vorgetragen lange nicht mehr untergekommen ist und sogar beinahe als Parodie auf die so atmosphärisch-stimmige erste halbe Glanzstunde des Werks durchgehen könnte. Was ist da bloß schiefgelaufen? Man fühlt sich ein wenig auf's Kreuz gelegt von GRAVITY.
Cuarón wären vielleicht besser beraten gewesen, seine minimalistische Dramaturgie der Ultra-Spannung konsequent zu Ende zu bringen, denn sie wirkt Wunder. Wann erlebt man dieser Tage schon einen Film, der räumliche Ängste jeder Coleur spürbar macht wie eine Achterbahnfahrt, den Zuschauer an den Rand seines Kinositzes befördert? Schade drum, und auch ein bisschen ärgerlich.
Schon zu Beginn die Befürchtung: "Das kann ja heiter werden!". Wir nehmen teil an der Beerdigung Dawn Wieners, jener gebeutelten Brillenschlange, die uns noch im TOLLHAUS so ans Herz gewachsen war. Sicherlich kein gutes Omen; quasi vorherbestimmt scheint bereits jetzt, dass die neue Protagonistin, Aviva, es ebenfalls nicht leicht haben wird im Leben, denn immerhin ist auch PALINDROMES ein Todd Solondz-Film, was vor allem eines bedeutet: Lachen und Leiden ohne Grenzen.
Wie so oft im negativen Kosmos des ungekrönten Independent-Königs (genau wie seine Charaktere erweist sich bekanntlich auch Solondz gewissermaßen als – zumindest unter den Regisseuren - schwarzes Schaf) ergibt sich die markant-bittere, für ihn typische Drama-Comedy-Note aus dem Schicksal einer Hauptfigur, die - seit frühester Kindheit – eigentlich nichts weiter hegt als den unerfüllten Wunsch, Liebe zu schenken und geliebt zu werden. Ein so natürlicher wie universeller Wunsch, der in einer Welt voll unkalkulierbarer Bosheit und anderen Seltsamkeiten jedoch immer wieder in einer Einbahnstraße der Verzweiflung verklingen muss... bis irgendwann keine Luft mehr in die Lunge dringt, die es bräuchte, das Lied auf's Neue anzustimmen.
Und genug zu erdulden gibt es für Aviva allemal. Zwar gelingt es ihr als Teenager, schwanger zu werden (für Jungs interessiert sie sich eher weniger, umso mehr hingegen für ein eigenes Baby), doch bringt dies den Nachteil eines Vetos ihrer Mutter mit sich, die (panisch-berechnend und liebevoll besorgt zugleich) ihre Tochter umgehend "sanft" zu einer Abtreibung "ermutigt" – fatale Folgen inklusive.
Wer an dieser Stelle noch nicht tief genug in den Abgrund geblickt hat, begibt sich an der Seite Avivas nunmehr auf einen skurrilen Road-Trip, welcher sie schließlich in die Fänge einer christlich-fundamentalen Sekten-Familie treibt, deren harmonische Kuschelkulisse ungewöhnlich lange aufrecht erhalten wird. Die allesamt adoptierten, von ihren leiblichen Eltern verstoßenen Kinder der "Sunshines" gehen – von Solondz unkommentiert - in gemeinsamen Aktivitäten allem Anschein nach regelrecht auf. Natürlich geschieht diese Art der "Manipulation" vollkommen kalkuliert – Erinnerungen an Ulrich Seidls kompromisslosen Konfrontationswillen weckte bei mir beispielsweise speziell eine längere Tanz- und Gesangseinlage der Sprösslinge -, doch zu einfach macht Solondz es sich mit diesem Film zu keinem Zeitpunkt, denn im Grunde bleibt bei PALINDROMES niemand außen vor, der nicht gehalten wäre, sein eigenes Denken nach Vorurteilen und einer eventuellen Doppelmoral zu hinterfragen – spätestens dann, wenn Avivas Cousin, ein beschuldigter, aber nicht verurteilter Kinderschänder, die Bildfläche betritt. "Manipulation" bei Solondz nämlich bedeutet die Zurücknahme von Wertungen - unter Rückgriff auf das Publikum, welches sich offensiv wie bei kaum einem zweiten Regisseur konfrontiert sieht.
Geradezu sinnbildlich fügt sich Aviva ein, die im Rahmen des episodenartigen Aufbaus von PALINDROMES nicht umsonst von wechselnden Darstellerinnen verkörpert wird, mal blond und schlank, dann farbig und übergewichtig in Erscheinung tritt. Beeinflusst ihr Aussehen meinen Eindruck von ihr, obwohl es sich de facto durchweg um dieselbe Filmfigur handelt? Auch das muss jeder für sich selbst beantworten.
Avivas multipler Identität kommt daneben eine weitere Bedeutung zu, denn Solondzs Außenseiter sind dies immer nur zum Schein. In Wahrheit ist sie Spiegelbild eines jeden einzelnen, des "Freaks" in uns allen, den die meisten im Alltag lediglich mehr oder weniger erfolgreich unter Verschluss halten.
Der Filmtitel übrigens steht in engem Zusammenhang mit Avivas Namen, der sich vorwärts wie rückwärts lesen lässt. Ein möglicher Hinweis darauf, dass sie, was immer geschehen mag, dieselbe bleiben wird – denkt man zurück an ihr familiäres Umfeld und jene Bekanntschaften, die sie im Laufe der Handlung schließt, ist das aus Sicht der Allgemeinheit gar nicht einmal eine allzu schlechte Nachricht (denn solange mit Aviva die Fähigkeit zu bedinungsloser Nächstenliebe bleibt, besteht Hoffnung), für sie persönlich hingegen als verlorener Farbklecks in einem einzigen Meer aus Grau eine eher weniger gute.
Für Solondz wiederum bleibt Normalität ein haltloses Ideal in alle Himmelsrichtungen - konsequenterweise kennt sein Kino keinerlei thematische Tabus, und wahrscheinlich nur so lässt ein Publikum sich auf Herz und Nieren prüfen. In erster Linie aber verblüfft mich sein maßloser Gesellschafts-Pessimismus, der wie selbstverständlich mit einer innigen Liebe für Menschen einhergeht – ich glaube, man muss genug von beidem in sich tragen, um Filme wie diesen drehen zu können.