Jenny von T - Kommentare

Alle Kommentare von Jenny von T

  • 8

    Schau mal hier! Ein zotteliger Kobold, der Blumen isst! Und da drüben: Sex in Motion Capturing-Anzügen! Kylie Minogue! Sprechende Limousinen!
    HOLY MOTORS ist surreale Attraktion, Reizüberflutung, (selbst-)ironische, manchmal tragizynische Reflexion über das Kino wie den Menschen, und natürlich auch ein lupenreiner Hipster-Film, der sich und seinen Blickfängen selbst auf den Leim geht.
    Wie originell ist das anno 2012/2013 wirklich noch? Kann es nach Godard und vielen anderen nicht irgendwann mal gut sein mit Fassade, Fiktion und Wirklichkeit als gehobener Anti-Unterhaltung? Wie viele weitere Filme braucht es, in denen der tragische Held sich – symbolträchtiger geht's nimmer! - selbst erschießt (keine Sorge, Spoiler sind hier praktisch unmöglich)? Und, noch rätselhafter: Warum funktioniert HOLY MOTORS dennoch prächtig?
    Vielleicht mache ich es mir ein bisschen einfach, erkenne Sinn, wo keiner ist oder übersehe andersherum weit reichende Komplexitäten, doch mir schien die "Botschaft" (wenn es sie denn gibt) gar nicht einmal so schwer zu verstehen: Jeden Tag tragen wir hunderte Masken, wechseln sie wie selbstverständlich immer wieder aus, passen uns dem Gegenüber an, mit dem wir es in gerade diesem Moment zu tun haben, nehmen Rollen ein. Doch wer sind wir wirklich und – vor allem – was sind das für Situationen, die übrig bleiben, in denen wir endlich wir selbst sein können? Realisieren wir, wie oft wir – auch von anderen unbemerkt - Theater spielen? Existiert ein "pures", unverfälschtes Ich überhaupt?
    ... Und doch nehmen wir (oder zumindest die meisten von uns) jene immanente Korrumpierbarkeit – sogar, ohne groß darüber nachzudenken - ebenso nonchalant hin wie im Ergebnis Léos Carax. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wohl wissend, dass wir gewisse Dinge, die, weil sie uns eben ausmachen, selbst dann nicht abstellen/ändern könnten, wenn wir es versuchten.
    Für die Limousinenscharade des Regisseurs tun sich hier beachtliche Schlaglöcher auf, die ihn jedoch mehr zu beflügeln scheinen als dass sie ihm das Genick brechen. Da ist Platz für eine Menge Spaß, Verrücktheit Lust, Magie, Musik, Schwermut, Sentimentalität, natürlich Liebe – und die Vergänglichkeit mit ihrer permanenten Drohung, im Nachhinein alles für sinnlos zu erklären.
    Dabei ist HOLY MOTORS merkwürdig vollkommen in seiner Unvollkommenheit, was es gewissermaßen nahe legt, ihn nicht zuletzt einfach als Allegorie auf das Leben zu verstehen, welches ja auch nie bloß eine Richtung kennt. Carax weiß um die Unstetheit von beidem, Kino und Dasein, und lässt sich – trotzdem oder gerade darum - nicht davon abhalten, kräftig am Rad der Sinne zu drehen – dafür kann man ihm den Vogel zeigen, man kann ihn aber auch bewundern und sich darüber freuen, extraordinäre Kunst wie diese auch heute noch bewundern zu dürfen. Mir jedenfalls ging es wie Denis Lavant als Monsier Oscar: Zurück blieb ich mit dem Gefühl, unter Affen gelandet zu sein und doch hat mich dieser faszinierende Film irgendwie nach Hause gebracht.

    "Celine, wir müssen unbedingt noch lachen vor Mitternacht!"

    28
    • 9 .5

      EYES WIDE SHUT ist ein echtes Kaleidoskop, an dem sein Publikum eigentlich nur wachsen kann. Wer auch nur die geringste Neugier für das Leben und die (nicht immer angenehmen, aber zumeist immerhin aufschlussreichen) Abenteuer, welche es bereithält, aufbringt, kann bereits in sehr jungen Jahren fasziniert sein von okkulten Geheimnissen, dem Hauch des Verbotenen sowie den seltsam unnahbaren und doch in gewisser Weise vertrauten Figuren dieses Films, die - als hätten sie keine Wahl - mit dem Feuer spielen (das Wie und Warum ist zu diesem Zeitpunkt erst einmal noch nachrangig). Irgendwann dann, so um die Mitte 20, hat man wahrscheinlich das eine oder andere Mal Schiffbruch in der Liebe erlitten, die Unvereinbarkeit seiner Sehnsüchte und Unkontrollierbarkeit seiner Triebe knallhart erfahren, womöglich sogar selber Situationen und - vor allem – Diskussionen unter Verlustangst und rasender Eifersucht durchgestanden, die denen zwischen Bill und Alice Harford der Sache nach gar nicht einmal unähnlich waren. Noch später mag man vor den Fesseln der Liebe resignieren, heimlich weiter hoffen oder/und eben trotzdem mutig in den Hafen der Ehe schippern, und koste es zusätzliche Stangen Lehrgeld.
      Ganz gleich, für welchen Weg man sich entscheidet: EYES WIDE SHUT bleibt als Strudel von Versuchung, Gefahr und Sinnlichkeit ständiger Begleiter, der all die Probleme um Selbstbetrug, utopische Beziehungsideale, Oberflächlichkeit und zwischenmenschliche Kommunikationsdefizite so schonungslos aufarbeitet, dass es einerseits verzweifelt machen, andererseits aber auch fast schon für Erleichterung sorgen kann – zumindest bei diejenigen, die glauben, nur ihre eigene Partnerschaft (wenn nicht ihr gesamtes Leben) sei "makelbehaftet", sich eventuell bereits für beziehungsunfähig erklärt haben, während alle anderen in einem Meer aus Rosen badeten. Nein, es ist nicht ungewöhnlich, nach 9 Jahren Ehe plötzlich nicht mehr den so stabil geglaubten Boden unter den Füßen zu spüren, den schützenden Hort der Beständigkeit als Kartenhaus entlarvt zu sehen, das bei dem kleinsten Windhauch einstürzen könnte, wenn es nicht schon längst passiert ist. Der Schaden lässt sich wie folgt beziffern:
      1.) Die Illusion der Treue
      Ein Geständnis wie ein Erdrutsch. Alice offenbart, während des letzten Sommerurlaubs – ohne, dass es zu einer tatsächlichen Annäherung gekommen wäre - einen Marineoffizier begehrt zu haben und versetzt damit das Gesicht ihres Mannes in absolute Starre. Dabei ist doch nichts passiert! Bill sieht das etwas anders, denn er muss erkennen, dass seine Ehe seit Anbeginn am seidenen Faden hängt. Dieses Mal ist es noch gut gegangen, doch wer garantiert ihm, dass seine Alice eines Tages nicht wieder jemandem verfällt, und es dann zum Äußersten kommt, das wiederum erst einmal definiert werden muss: Ist (Un-)Treue etwas Geistiges, Körperliches oder beides? Wie lässt sich das trennen – zumal Frauen ja, wie Bill annimmt, sowieso nur mit Männern schlafen, in die sie auch verliebt sind? Und wenn Alice, wie sie sagt, gleichzeitig weiterhin Bill liebt, ist sie ihm dann auch untreu? Auf jeden Fall fernab jeder Realität dürfte ein radikaler Ausschließlichkeitsanspruch auf den Partner angesiedelt sein, der aber – wenn auch unausgesprochen – den meisten Beziehungen zugrunde liegen dürfte. Rational Sinn ergibt das kaum, sondern führt zwangsläufig zur Unterdrückung alltäglicher Begierden, die wiederum so oder so früher oder später ihren Tribut fordern. Pikant und entlarvend: Noch wenige Stunden zuvor flirtet Bill relativ eindeutig mit gleich zwei Models, unterstellt dann aber seiner Frau über Jahre hinweg, tugendhafter zu sein als er selbst.
      2.) Der Mangel an Kommunikation
      Geradezu bezeichnend ist, wie Alice ihrem Mann erst unter dem Einfluss von Marihuana Einblick in ihr Innenleben gewährt. Man möchte gar nicht wissen, kann aber ahnen, was sich bei diesem Paar über all die Jahre hinweg sonst noch an Unausgesprochenem unter dem Teppich angesammelt hat. Auch nach dem großen Sturm herrscht überwiegend Sprachlosigkeit: Bill begibt sich auf geheime Mission, jetzt auch fremdzugehen, während Alice von freud'schen Albträumen geplagt wird.
      3.) Der Überfluss an Einsamkeit
      Es heißt, wir werden alleine geboren und sterben auch alleine – doch besteht selbst dazwischen keine Chance auf verlässliche Konstanten an unserer Seite? Beide Partner bleiben vor und während ihrer Ehekrise erschreckend allein mit ihren Dämonen. Bills Musikerfreund aus alten Studententagen verschwindet von der Bildfläche, als es brenzlig wird. Sein Patient und Playboy-Partyhengst Ziegler ist die zwielichtigste Figur von allen. Und wie fröstelnd unpersönlich New York bei Nacht doch ist. Bill Harford – der Arzt, dem niemand vertraut.
      4.) Der Einzug der Paranoia
      ... kein Wunder, dass man da irgendwann rotiert. Bills Ohnmacht, sein verletzter Stolz und seine frei gewordene Lust verwickeln ihn in ein undurchsichtiges Netz aus Masken und Kostümen, das Farce oder Verschwörung sein kann, und auf einmal geht es nicht mehr nur um seine "beschmutzte" Ehe, sondern ein Menschenleben. Als wäre es nicht der Ironie genug, dass es ihm einfach nicht gelingen möchte, im Zeichen der Chancengleichheit seine Frau zu betrügen.
      5.) Nichts am Ende des Lichts
      Die letzten Minuten hauen mich jedes Mal vom Hocker. Tränen jetzt auch Kidmans Augen, obwohl doch wieder "nichts" passiert ist. Bemerkenswert, was für kluge Worte sie zum Abschluss findet, während die Tochter sorglos Weihnachtsgeschenke aussucht. Doch kann man hier wirklich von einer Lektion sprechen? Ich glaube ja nach wie vor: Jein, werde jedoch auch in 30 Jahren noch gewillt sein, von diesem Film zu lernen. Aber das mit dem Ficken ist auf jeden Fall eine gute Idee. Für den Anfang.

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      • 8

        Die Bezeichnung "Ungeschminktes Sozialdrama" erscheint für Lee Tamahoris Leinwandadaption des gleichnamigen Romans ONCE WERE WARRIORS beinahe noch zu glatt, denn das Gesicht der hier geschilderten Lebensumstände einer Māori-Familie später Generation ist nicht einfach nur ungeschminkt, sondern zu großen Teilen so abscheulich, dass man kaum hinsehen mag. Wuchtig, rau, ohne Kompromisse bebildert der Regisseur die hässliche Fratze der Gewalt und begibt sich auf die Suche nach einer Gegenkraft, die ihr Einhalt gebieten kann.
        Ehemann und fünffacher Vater Jake Heke explodiert dabei kontinuierlich als wütende, unbändige Urkraft, die alles zerschlägt und zerstört, was sich ihr in den Weg stellt. Er ist arbeitslos, treibt sich den ganzen Tag in Bars herum und bringt seine Saufkumpanen abends auch noch mit nach Hause – sehr zum Missfallen seiner Frau Beth, die immer wieder versucht, das Leben ihrer Familie in geordnete Bahnen zu lenken, jedoch ein ums andere Mal von Jack in den Strudel aus Partys und Alkohol mit hinab gezogen wird. Nach wie vor fühlt sie sich verwurzelt in den Traditionen und Wertvorstellungen ihres Māori-Stammes, doch diese praktisch und im Kollektiv zu leben erweist sich als unmöglich, denn Jack existiert bloß - als tickende Zeitbombe, fernab von Güte, aufrichtiger Liebe und überhaupt jeder Form von Einfühlungsvermögen. Ob er maßlose Gewalt ausübt, um seine Familie zu erniedrigen oder deren Ehre zu verteidigen, spielt für ihn praktisch keine Rolle; er kennt nur einen Weg der Konfliktlösung. Als Leidtragende dieser permanenten Situation erweisen sich nicht zuletzt die Kinder, welche allesamt auf ihre eigene Weise aus dem disharmonischen Umfeld ausbrechen: Der älteste Sohn Nig sucht Anerkennung im Kreis einer dubiosen Gang als Ersatzfamilie, sein jüngerer Brüder Mark gerät auf die schiefe Bahn, um schließlich im Erziehungsheim zu landen und Grace, die älteste Tochter und sensibelste der Heke-Nachkommen, findet in den schlimmsten Stunden Trost bei einem obdachlosen Freund, der sich zwischen einem Autowrack einquartiert hat.
        Manchmal gewährt ONCE WERE WARRIORS winzige Augenblicke der Hoffnung, z.B., wenn alle sich zusammenreißen, um gemeinsam Mark in der Jugendanstalt zu besuchen – doch auch dieser Trip erfährt seine Endstation in der nächsten Kneipe, wo Jake natürlich sogleich absackt. Dies sind Ausschnitte, in denen man als Zuschauer für Sekundenbruchteile nicht so recht weiß, ob man lachen oder weinen soll, doch das In-Aussicht-Stellen von Harmonie entpuppt sich stets als gefährliche Einbahnstraße. Die Gesamtlage spitzt sich dramatisch zu und so ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser nicht enden wollende Zirkel aus Zwang und Unterdrückung in den eigenen vier Wänden sprichwörtlich jemanden erdrückt und sich ein großes Opfer nimmt – seitens Beth dann indes endlich den lange überfälligen Anstoß zum Handeln ausführt.
        ONCE WERE WARRIORS gewährt hierbei Einblicke in die ethno-kulturelle Geschichte Neuseelands, macht sein Verständnis aber nicht von umfassender Bildung abhängig – ganz im Gegenteil ist sein Sujet ein universelles, zeitloses und daneben hochkomplexes. Oft fällt die Frage, warum Frauen wie Beth es nicht oder erst viel zu spät schaffen, von ihrem gewalttätigen Ehemann loszukommen, doch in der Realität spielen Faktoren wie (berechtigte) Angst oder wider aller Vernunft fortbestehende Bindungen eine enorme Rolle. Jene (selbst-)zerstörerischen Hürden und Verstrickungen markiert der Film eindringlich, ohne seine Protagonistin für deren anfängliche Inkonsequenz und Wankelmut zu verurteilen. Vielmehr besteht kein Zweifel daran, dass nur ihr Mitgefühl sie auch zur Heldin machen kann.
        Es geht auch darum, in größter Not zu innerer Stehkraft zurückzufinden und durch Rückschläge zu reifen, worauf vermutlich auch der etwas martialisch ausgefallene Titel anspielt – doch wer würde nach diesen 99 Minuten ernsthaft bezweifeln, dass Beth eine wahre Kriegerin ist? 99 Minuten, die einem Horrortrip gleichen, weil sie fassungslos und wütend machen. Doch ein wirklich guter Film belohnt im selben Maße, wie er abverlangt: Hier ist es die (im Kino wie im wahren Leben) nicht immer selbstverständliche und daher umso wichtigere Erkenntnis um den Unterschied zwischen Gewalt und Stärke.

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        • Sehr mutig von der Jury, einen Beitrag über eine so mainstream-ferne und "abseitige" Persönlichkeit wie Christoph Schlingensief mit dem Hauptpreis zu krönen - dafür beide Daumen hoch! Auch dieser wunderschöne, zügellose Gedankenstrom über Jessica Chastain hat seine Auszeichnung redlich verdient. Die Jury hat insgesamt sehr weise und ausgeglichen entschieden, da kann man wahrlich nicht meckern. Glückwunsch an alle Gewinner! :-)

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          • 9

            Ich glaube, das Eingeständnis, dass wir eigentlich nichts wissen, ist ein sehr schwieriges und unangenehmes, seine Vermittlung durch den Künstler an sein Publikum sogar noch komplizierter. Man kann den Zuschauer in pure Angst (auch vor sich selbst) versetzen, ihn in die Flucht schlagen oder hypnotisieren, sein Bewusstsein erweitern. Bei praktisch allen großen Autoren des Weltkinos jedoch kristallisiert sich die Abkehr von logischen Strängen irgendwann glasklar heraus: Man denke an David Lynch, der surreale Parallelkosmen zu seinem ganz eigenen Universum ausruft, Michael Haneke, der seit spätestens CACHÉ Grauzonen aufstößt, die beinahe schon zu gespenstig erscheinen um wahr zu sein, oder Stanley Kubrick, der mit seiner SPACE ODYSSEY die absolute filmische Bankrotterklärung an den leider ganz und gar nicht grenzenlosen menschlichen Intellekt beziehungsweise dessen verstandesmäßigen Stauraum postulierte – und mit seinem letzten Vermächtnis (EYES WIDE SHUT) noch einmal nachlegte. Jenes Loslassen befreit auf beiden Seiten, fordert mit dem vollständigen Ablegen von Verstehens-, Belehrungs- und Erfolgsdrang allerdings den Preis verdienter Arroganz und Gefahr eines Nullsummenspiels.
            Auch in Jacques Rivettes und dessen berührender GESCHICHTE VON MARIE UND JULIEN findet sich jedenfalls Anschauungsmaterial eines gereiften Regisseurs, der sich von allem entledigt hat, was Psychologie und Wissenschaft zu erklären bereit sind.
            Der innige Wunsch, Einsamkeit und Monotonie hinter sich zu lassen und sein Leben damit zu erfüllen, auf ewig einen anderen Menschen zu lieben, dürfte beispielsweise niemandem allzu fremd sein, der hin und wieder in sich horcht – die etwas kompliziertere Realität der Egoismen, Notwendigkeiten und unterdrückten Instinkte hingehen auch nicht. Genau davon handelt dieser Film, zu einem Teil – der andere Teil versucht, seinen Figuren dennoch zum Durchbruch ihres Glücks zu verhelfen, indem er besagte irdische Fesseln einfach überwindet; wenn es sein muss, auch den Tod:
            Julien, ein Mann im besten Alter, ist Uhrenmacher, der in einem Pariser Vorort zurückgezogen mit seiner Katze lebt. Nicht unbedingt, weil er ein von Grund auf böser Mensch ist, sondern eher, um seinen trostlosen Alltag herauszufordern, erpresst er eine Frau, die illegal gefälschte Textilien importiert und nur als "Madame X" in Erscheinung tritt. Die andere weibliche Hauptrolle fällt Emmanuelle Béart als Marie zu, der Julien – nachdem sie gerade noch Gegenstand eines Tagtraums von ihm gewesen war – eines Tages auf der Straße begegnet. Bereits ein Jahr zuvor hatten die Protagonisten auf einer Party Bekanntschaft geschlossen, jedoch waren zu diesem Zeitpunkt beide noch in festen Händen. Mittlerweile ist Maries damaliger Freund tot, Julien lebt von seiner Frau getrennt. Die zwei einsamen Seelen beginnen eine Affäre weniger Worte und voll leidenschaftlichem Sex, doch Marie - für Julien eine Frau ohne Vergangenheit - sucht häufig die Distanz und scheint ein Geheimnis mit sich zu tragen. Die letzte Schachfigur in diesem Spiel betritt erst später die Bühne: Adrienne, die Schwester von Madame X – sie ist eigentlich tot... genau wie Marie. Also: Außenseiter Julien liebt einen Geist mit Körper, welcher ihm jetzt mit zunehmendem Bestreben, ihn zu halten und zu begreifen, aus den Händen zu gleiten droht. Kein Wunder also, dass die Idylle zu bröckeln beginnt, als er der Antwort über seine Geliebte immer näher kommt und die Wahrheit sich wie ein dunkler Schleier unaufhaltsam über die intensive Zuneigung legt.
            Adrienne und Marie wiederum eint die Heimat in einer Zwischenwelt, deren Regeln sie - wie die Damen dann auch tatsächlich feststellen - nicht einmal sie selbst kennen.
            Dieses Szenario klingt erst einmal – zugegeben – verkopft, konstruiert und abstrus, doch dienen Rivettes Umwege ihm dazu, mit metaphorisch-hypnotischer Kraft (unter anderem das Symbol der Uhr besitzt tragenden Charakter) in jene Tiefen menschlicher Komplexität vorzudringen, die sich einem rein rationalen Verständnis von Grund auf verschließen und daher womöglich ohnehin das Schweißen neuer Schlösser erfordern. Seine Bilder sind geerdet, kühl, beinahe steril, aber seine Geschichte um Marie und Julien widersagt ihrem Inhalt nach eigentlich jener äußeren Form, ist schwereloses, introspektives Gedankenkino – als wolle er uns von der Wahrhaftigkeit des Unmöglichen überzeugen.
            Umso trauriger ist das Ergebnis seines jenseitigen Experiments ausgefallen, denn so richtig glücklich ist am Ende allen Anstrengungen zum Trotz – wie das bei einem französischen Liebesfilm eben so ist - niemand. Doch ohne Unglück keine Hoffnung, ohne Hoffnung keine Träume, und ohne Romantik wohl auch keine Liebe. Letztere erhebt Rivette ohne Misstöne zu unserer eigentlichen, treibenden Kraft, der wir uns wohl einfach als Spielball ergeben und darauf vertrauen müssen, dass sie uns niemals ganz verlassen wird. Für alles andere bleibt nur ein leises SOS.

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            • 8

              Nichts ist (un)möglich. Ich hatte insgeheim gehofft, Bertoluccis hier präsentiertes Beziehungsmodell (?) würde wenigstens im Film ein Happy End bekommen, denn ich mag es, wie der Regisseur an gutbürgerlichen Ehe-Idealen vordergründig überhaupt nicht interessiert zu sein scheint, sondern stattdessen immer nach der Gelegenheit zum Ausbruch (und damit der ultimativen Freiheit) sucht und dabei – auch, wenn sie scheitern müssen - auf Charaktere zurückgreift, denen in Sachen Seelentiefe kaum beizukommen ist.
              Bei allem Pessimismus, der dann auch am Ende waltet, gelingt es Bertolucci, gewisse Sehnsüchte (geboren aus Einsamkeit, Wut und Leere) aufzuspüren, die er nie wirklich zu verurteilen scheint. Misst er sie jedoch an der Realität, spart er nicht mit schmerzlichen Wahrheiten.
              Sie konnte aber auch nicht gut gehen, die Liaison zwischen Paul (Marlon Brando) und Jeanne (Maria Schneider). Er, am Leben verzagend, hat soeben seine Frau durch Selbstmord verloren – seine Frau, die er eigentlich verachtete. Brando spielt einen Vulkan der unterdrückten Emotionen, mal zerbrechlich wie Glas, dann wieder jähzornig und zerfressen von Selbsthass. Sie, wesentlich jünger als er, unverbraucht und noch voller Neugier auf das Leben. Eines Tages treffen sie sich durch Zufall in einer leer stehenden Wohnung, haben leidenschaftlichen Sex miteinander und machen dies von nun an zum Ritual. Paul stellt dabei eine goldene Regel auf: Die beiden dürfen sich nichts voneinander erzählen, die Beziehung soll also vollends anonym bleiben und ausschließlich innerhalb jener vier Wände stattfinden.
              In absolutem Kontrast hierzu steht das Verhältnis Jeannes' zu ihrem Verlobten Tom, einem Cinéma vérité-Filmer. Bei ihm ist Jeannes gezwungen, sämtliche Details aus ihrem Leben preiszugeben, weil Tom für seine neue Produktion schlichtweg alles aufzeichnet und ihr niemals ohne Kamera folgt. Show und Sein fallen zusammen. Diese Beziehung kennt also ebenfalls keine richtige Intimität, allerdings fehlt es in diesem Fall nicht an Transparenz (ausgerechnet von Jeannes' Seitensprung mit Paul erfährt Tom im Übrigen nichts), sondern an körperlicher Nähe und Hingabe. Was Jeanne hier verwährt bleibt, findet sie bei Paul.
              Mit dem erbaut sie sich derweil einen Rückzugshort der Lust, eine Insel, die nur ihnen gehört – abgeschieden von der Außenwelt, von allen Konventionen und Sorgen, welche sie wieder befallen, sobald sie die Türe nach draußen öffnen. Doch ob sie es tun, liegt (vermeintlich) in ihrer Macht. ULTIMO TANGO A PARIGI schwelgt trotz und angesichts Pauls Ausbrüche ein Bisschen – und wie könnte man es dem Film verübeln? - in der Zügellosigkeit, mit der das Paar sich gehen lässt. Bertolucci fällt aber nie, sondern fragt, wie lange ein Abenteuer funktioniert, das nur auf Begehren aufgebaut ist, und wann das Verlangen nach seelischer Geborgenheit die Kontrolle übernimmt. Eine Traumwelt und ihr Einsturz.
              Dass Paul und Jeanne bald doch beginnen, aus ihrem Leben zu erzählen, sich einander zu öffnen, erscheint zutiefst menschlich, ebnet aber auch den Weg in eine gegenseitige Abhängigkeit, aus der es kein Entrinnen ohne Opfer gibt. Das Abstreifen des gesellschaftlichen Korsetts nämlich legt auch alle Wunden frei - die die Liebe vielleicht heilen könnte, wäre sie denn für die Protagonisten auffind- und haltbar. Der Versuch, die Uhr wieder zurückzudrehen, legt (vor-)letztes Zeugnis dieser Verzweiflung ab.

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              • Naja, wenigstens wird hier im Gegensatz zu vielen anderen "Kritiken" nicht nur blanker Hass zur Schau gestellt, sondern auch mal ein Argument geliefert.
                Dass Helen am Schluss selbst in eine (wenn man es denn so sehen will) konservative Beziehung findet, lässt sich einerseits sicher als inkonsequent interpretieren, doch ist nicht zu vergessen, dass zuvor der Mann - sozusagen - (in Sachen Offenheit und Toleranz) an der Protagonistin "gereift" ist und nicht umgekehrt. Nur so ist die Laison zwischen Helen und Robin überhaupt möglich. Außerdem geht es dabei, glaube ich, eher darum, der Heldin des Films ihr Happy End zuzugestehen und damit zu verdeutlichen, dass auch sie ein Recht auf Glück hat. Dass FEUCHTGEBIETE dabei etwas naiv vorgeht, steht außer Frage, mit den handelsüblichen ARD-/Neubauer-Klamotten hat das aber trotzdem nichts zu tun.
                Auch die vermeintliche Rechtfertigung von Helens "Andersartigkeit" durch Kindheitstraumata lässt sich bei genauerer Betrachtung in mehrere Richtungen deuten. Die Ironie, die sich beispielsweise daraus ergibt, dass ausgerechnet eine so gebrochene Seele wie sie fähig dazu ist, sich von gesellschaftlichen und moralischen Zwängen loszusagen, halte ich persönlich für gar nicht mal so unstimmig. Daneben schreckt der Film aber auch nicht davor zurück, sich selbst zu hinterfragen ("Ich werde immer bei dir bleiben, auch, wenn ich dich nicht liebe." - "Das muss so sein, wenn man Kinder hat."). Damit ist nicht gesagt, dass FEUCHTGEBIETE auch nur annähernd perfekt ist, aber es steckt doch sehr viel mehr dahinter, als viele glauben.

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                • 7 .5

                  Leider geil! 109 Minuten zwischen Staunen und Dauergrinsen.
                  Es ist eines der faszinierendsten, aber auch bezeichnendsten Phänomene dieses Jahrtausends: FEUCHTGEBIETE provoziert und liefert sich aus – in bemerkenswerter Balance. Vielmehr als Coming of age (traumatisiertes Scheidungskind auf dem Weg zu sich selbst)- und Frauenklischees (obgleich der gemeinsame Toilettengang hier noch ganz andere Ausmaße annimmt...) getränkt in Ekelbrühe gibt's hier schließlich nicht. Oder vielleicht doch? Ich muss ehrlich gestehen, dass mir David Wnendts Verfilmung des Roche-"Schmierenromans" sympathisch ist, denn selten – vor allem nicht im deutschen Kino – bekam man zuvor eine so unbeschwerte Frauenfigur wie hier aufgetischt. Helen muss keine Wandlung zur Heldin durchlaufen, die am Ende dann doch zu wahrer Größe findet und Verantwortung für alle möglichen Dinge und Personen übernimmt. Ebenso wenig aber muss sich irgendwelchen Vorstellungen von Moral und Sitte unterordnen. Die junge Frau ist weder objektivierter Männertraum, noch entspricht sie überhaupt irgendeinem Ideal. Sie ist einfach Helen, und genau darum liebenswert... eine erfrischende und (warum eigentlich?!) selten gesehene Perspektive auf unverfälschte Weiblichkeit, wie sie sein kann. Tatsächlich kaufe ich allen Beteiligten die locker leichte Attitüde ab, die sie hier mit einem Augenzwinkern, aber auch nicht komplett ohne Hintergedanken von zeitgenössischer Relevanz vorgeben. Wnendt verfügt über ein tolles Timing und weiß, wann der Moment gekommen ist, ernstere Zwischentöne anzuschlagen, ohne dabei gleich den Kopf zu verlieren. Wer lediglich eine Aneinanderreihung infantiler Schlüpfrigkeiten erwartet, unterschätzt den Regisseur.
                  Kaum etwas an FEUCHTGEBIETE (und dies scheint mir keine Selbstverständlichkeit) wirkt sonderlich erzwungen oder übermäßig auf Krawall gebürstet, der Spaß am farbgewaltigen Spiel mit Tabus und Körpersäften übernimmt klar die Oberhand (sogar einen beiläufigen Verweis auf Bertoluccis TRÄUMER hat Wndent im Repertoire) und wickelt den Zuschauer (mich) gekonnt um den Finger. Doch, FEUCHTGEBIETE ist ungemein charmant.
                  Die drastischen Mittel, zu denen Charlotte Roches Buch greift, entschärft Wnendt hierbei etwas, was dem Film gut zu Gesicht steht, da er so Missverständnisse ein bisschen gerade rückt: Nein, der Appell lautet natürlich nicht, dass es an der Zeit wäre, nun jegliches Schamgefühl (welches ja nicht weniger natürlich und menschlich ist als all die Dinge, die uns FEUCHTGEBIETE so offensiv-dreist unter die Nase reibt) abzulegen. Sehr wohl aber angebracht ist der Verweis auf eine Gesellschaft, die in Sachen Sexualität Wein predigt, aber Wasser trinkt. Tag für Tag sehen wir uns durch sämtliche Medien mit nackten Tatsachen konfrontiert, doch weder allzu offenherzige Werbung, noch YouPorn und Co. und erst recht nicht HANGOVER und dessen Ableger haben zu einem wirklich freieren Umgang mit dem Thema beigetragen – wäre dies nämlich der Fall, wären bereits Roches literarische Ergüsse aufgrund Repetierens belangloser Selbstverständlichkeiten unmittelbar in der Versenkung verschwunden, eben kaum (im Guten wie im Negativen) beachtet worden. Nun aber wiederholt sich der Hype (oder eher: Die Massenpanik?) 5 Jahre später in genau demselben Umfang, und selbst diejenigen, denen FEUCHTGEBIETE angeblich vollends egal ist, werden nicht müde, genau dies lauthals kund zu tun – und den Trubel ironischerweise damit weiter in Gang zu halten.
                  Zur Klarstellung: Nein, ich setze Verklemmtheit und Ablehnung gegen dieses Werk (natürlich bietet FEUCHTGEBIETE seinerseits genügend Angriffsfläche, über die sich trefflich diskutieren lässt) nicht miteinander gleich, aber dass es anno 2013 überhaupt möglich ist, so kalkuliert in ein Wespennest zu stechen, legt aus meiner Sicht (Achtung, Polemik) schon irgendwie nahe: Wir sind, bei aller nach außen hin proklamierten Toleranz, mehr denn je oversexed, aber underfucked – kein Wunder, wird uns Geilheit von den Medien durch schöne, saubere, makellose Models doch so oft als (wie widersinnig!) etwas Klinisches verkauft. Die Wahrheit ist hingegen die, dass unsere "Hardware" (= unser Körper) über tausende Jahre Evolution hinweg dieselbe geblieben ist – mit allen "Ekelhaftigkeiten", die dazu gehören und sich nun einmal nicht verleugnen lassen. Es bringt bloß kaum jemand zur Sprache.
                  Fazit: Solange der vorgehaltene Spiegel derart breite und heftige Reaktion hervorruft, indiziert allein dies seine Relevanz. Ob und wieweit FEUCHTGEBIETE im Einzelnen als neue, erweiterte Feminismus-Proklamation taugt, vermag ich gar nicht einmal abschließend zu beurteilen (vollends überworfen werden Geschlechter-Rollenbilder hier eigentlich nicht) – dass er Freizügigkeit allerdings am Beispiel einer Frau zelebriert, fühlt sich in jedem Fall gut an, und da stimme ich mit der Roche auch gerne ein, wenn sie (bestimmt nicht ohne Stolz) verkündet: "Vor Jahrzehnten haben Frauen öffentlich ihre Büstenhalter verbrannt, um die Emanzipation voranzutreiben. Das muss man leider immer mal wiederholen."
                  P.S.: Dass einige Multiplex-Ketten deutschlandweit eine Vorpremiere des Films im Rahmen einer "Ladies Night" (etwa drei Männer hatten sich gestern Abend in den ausverkauften Saal geschmuggelt) veranstalteten, halte ich für wenig bedacht und daher unglücklich arrangiert, denn eigentlich sollten gerade die Herren der Schöpfung eine Auseinandersetzung mit FEUCHTGEBIETE nicht scheuen – wenn sie uns (nicht immer) zarte Wesen danach noch immer lieb haben, wäre das... eventuell ein kleiner Schritt hin zu wieder mehr wahrer Freelove.

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                  • Gib's zu, Nr. 1 und 2 hast du von mir! ;-)
                    Weitere Anregungen für einen vergnügten Liebesabend:
                    - Wer hat Angst vor Virginia Woolf?
                    - Funny Games
                    - Die 120 Tage von Sodom
                    - Audition
                    - Hautnah ("Closer")
                    - Blue Valentine
                    - Match Point
                    - Revolutionary Road
                    - Broken Flowers
                    - Vertigo
                    - American Beauty
                    - Crash (also der Cronenberg-Film - überhaupt ist Cronenberg hier eine gute Adresse!)
                    - Im Reich der Sinne
                    - eine Larry Clark-Retrospektive

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                    • 8 .5

                      Die Sanftheit, Wärme und Zugänglichkeit von Jacques Demy haben mich sehr überrascht, sind dies doch Attribute, welche ich mit der sonst so luftigen Nouvelle Vague, die Wesentliches hinter einer allzu dominanten (Anti-)Stilorientierung gerne einmal beiläufig (und für mich oftmals nur unter großer Anstrengung überhaupt wahrnehmbar) notierte, eher weniger in Verbindung bringe.
                      LOLA hingegen scheint ein Film wie für mich gemacht – so spielfreudig, aber unverkünstelt und dabei ungeniert romantisch, dass auch ich nicht anders konnte, als in seinen Schoß zu sinken. Demy gibt uns eine handvoll Charaktere an die Hand, die nunmehr diverse Verstrickungen untereinander erfahren:
                      Da wäre zum einen die bezaubernde, aber hinter ihrer fröhlichen Fassade untröstliche Nachtclubtänzerin Lola (eigentlich Cécile), vor Jahren verlassen vom Vater ihres Sohnes, auf den sie immer noch wartet. Oder ihr alter Jugendfreund, Michel – ein einsamer, arbeitsloser Abenteurer, dem sie eines Tages zufällig wieder über den Weg läuft und der sich daraufhin (ein zweites Mal) hoffnungslos wie aussichtlos in sie verliebt. Ebenfalls mit von der Partie ist die 14-Jährige Cécile, die ihr Herz an einem Nachmittag auf dem Rummelplatz an einen amerikanischen Soldaten (welcher zuvor wiederum Lola den Hof gemacht hatte) verliert und kurz darauf ohne ein weiteres Wort ihr zu Hause verlässt, um – übermannt von jenem Vorgeschmack des Verliebtseins – die große, weite Welt zu entdecken.
                      LOLA versprüht bei all dem durchaus diese typisch französische Leichtigkeit, doch eine süße Melancholie ist ihr ständiger Begleiter. Zuversicht, Euphorie und Enttäuschung greifen wild um sich, wie benommen von dieser Achterbahnfahrt torkeln die Charaktere durch den Film - das Glück des einen ist das Pech des anderen, Zufall, Schicksal, Auslöser und Zusammenhänge bleiben in ihrer Beliebigkeit unentschlüsselbar, fallen womöglich sogar zusammen. Doch lässt Demy keinen Zweifel daran, dass genau dieses fortwährende, manchmal unerträgliche Auf und Ab, die Erfahrungen wie Enttäuschungen, an denen wir nicht nur scheitern, sondern auch wachsen, unser eigentliches Elixier im Ringen gegen den Stillstand markieren. Kein Wunder also, dass LOLA vor lauter Lust am Leben und an der Liebe nur so überquillt.
                      Hier kann man Kino bewundern, das sich selbst keine Grenzen mehr setzt, weil es aufgegeben hat, an jeder Straßenecke stehen zu bleiben und nach dem Sinn zu fragen. Wahrscheinlich ist es in der Zeit, in der wir leben, für die meisten unerlässlich, sich feste Ziele zu setzen, immerzu auf etwas hinzuarbeiten, ganz vereinnahmt von dem Druck, eine bestimmte Aufgabe in der Gesellschaft erfüllen zu müssen... doch sind die aufregendsten und schönsten Ereignisse nicht manchmal diejenigen persönlicher Art, die wir gar nicht vorhergesehen, geschweige denn geplant haben?
                      Sicher gibt es daneben eine Kehrseite, denn LOLA muss damit auch eine Absage an so manche ersehnte Konstante und Felsen in der Brandung sein, am denen wir uns so gerne festhalten – wie eben alles seine Vor- und Nachteile hat. Das dementsprechend ambivalente Ende des Films schafft es demnach – eigentlich wenig überraschend – den verdutzten Zuschauer mit einem Kloß im Hals, aber gleichsam einem nicht minder starken, sehr tröstlichen Gefühl zurückzulassen, denn Demy stellt inmitten aller Gefühlsverknotungen unmissverständlich klar, dass es sich selbst bei jedem (vermeintlichen) Ende nur um eine Momentaufnahme handeln kann. Mit Beethoven schickt er seine liebgewonnen Protagonisten schließlich dorthin, wo er sie 90 Minuten zuvor aufgetrieben hat: Ins Reich der Träume. Ich folge ihnen unauffällig.

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                      • 5

                        Der Name Danny Boyle entlockt mir im Jahre 2013 leider nur noch ein resigniertes Seufzen. War es bisher so, dass der vielseitige Brite sich – obwohl er substanziell nur selten Neues einbrachte geschweigedenn Grenzen sprengte – unter der Fuchtel so ziemlich jeden Genres durch ureigenes, ungezügeltes Überwältigungskino in der Endabrechnung zumeist irgendwie doch noch knapp über den Durchschnitt hievte, so ist TRANCE endgültig kaum noch mehr als hauchdünne, postmoderne Verwirrschose in der Tradition von INCEPTION, FIGHT CLUB und Co., die viele, gar nicht einmal uninteressante Fragestellungen anschneidet, dabei aber – zugunsten des Unterhaltungswerts - nie zu einem auch nur ansatzweise befriedigenden Ergebnis gelangt, sondern sich stattdessen in die eigens konstruierte Falltür flüchtet. Mit ein wenig mehr Interesse an Charakteren und Inhalten wäre es hierbei sogar zu verschmerzen gewesen, dass die meisten Themenfetzen bereits hunderte Male auf dem Silbertablett präsentiert wurden: Von schicksalhafter Verbundenheit zweier Seelen über das - frei nach ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND - Gedanken-Experiment "Erinnerung/Schmerz" auf der einen und "Vergessen/Neustart" auf der anderen Seite bis hin zur alten Leier doppelter Identitäten geizt TRANCE wahrlich nicht an mikrowellentauglichen Mindfuck-Destillaten. Auch scheint man wieder einmal dem Irrglauben erlegen zu sein, ein hohes Tempo und möglichst viele Twists machen einen guten Film aus - bezeichnenderweise bewerkstelligt genau der letzte Drehbuch-Haken, den TRANCE schlägt, seinen Genickbruch.
                        Erwartungsgemäß findet der Regisseur zwar sympathisch verspielte wie beeindruckende Bilder, die gerade – Boyles Stärke! - im Zusammenspiel mit einem flotten, geschmackvollen Soundtrack für den Moment verzaubern und vereinnahmen, daneben jedoch leider auch von einer unleugbaren Sterilität an der Schwelle zur Biederkeit übergossen sind und daher kaum den Abspann überdauern. Eher negativ tut sich darüber hinaus das uninspirierte bis unglückliche Casting hervor: James McAvoy spielt solide, aber keineswegs herausragend, Cassel gibt den üblichen Widerling vom Dienst und Rosario Dawson in der vielleicht wichtigsten Rolle des Films verkörpert hier nicht annähernd die nötige Ambiguität, um als femme fatale überzeugen zu können.
                        Nachhaltig geht anders – Boyle, der verlorene Sohn des Independent-Kinos, kehrt wohl nicht wieder zurück.

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                          über Elena

                          Elena und Vladimir sind ein – zumindest wirkt es nach außen so - ziemlich ungleiches Ehepaar, das erst im Alter zueinander gefunden hat. Sie, eine ehemalige Krankenschwester, stammt aus bescheidenen Verhältnissen, er hingegen ist sehr wohlhabend. Die beiden leben nobel eingerichtet, schlafen aber in getrennten Betten. Ein Hauch respektvoller Unterkühltheit sowie eine Anspannung im Alltäglichen umwehen das Anwesen und seine zwei Bewohner. Die allgegenwärtige Stille wird nur selten durchbrochen, eigentlich unwesentliche Vorgänge wie das Schrillen des Weckers oder das Auf- und Zuziehen der Vorhänge sensibilisieren den Betrachter für das leise Flüstern, durch welches ELENA sich über 109 Minuten zu verstehen gibt - ein Film, der implodiert. Manchmal läuft der Fernseher und das offenkundig sehr westlich geprägte Programm indiziert, dass Konsum und Kapitalismus im postkommunistischen Russland Einzug gehalten haben, oder zumindest auf dem Weg dorthin sind. Doch jeder Wandel fordert seine Opfer.
                          Mit seinem erst dritten Spielfilm begibt sich Andrei Zvyagintsev auf die Suche nach jener unergründlichen Menschlichkeit, wie sie sich im Guten wie im Bösen ausweist und manchmal jeder Moral entzieht – inmitten einer Gesellschaft, die im Umbruch festzustecken scheint und die (ökonomische) Kluft, welche sie spaltet, nicht mehr länger stemmen kann.
                          Dass der hochtalentierte Regisseur schon wieder ein Meisterwerk abgeliefert hat, ist – THE RETURN im Gedächtnis – im Hinblick auf seine bereits eindrucksvoll demonstrierte Meisterschaft einerseits keine große Überraschung, in dieser selbstverständlichen Kontinuität aber dennoch bemerkenswert, da selten im Weltkino anzutreffen.
                          Aufbau und Symbolkraft seiner Geschichte sind parabelhaft, die Figuren in ihr hingegen erschreckend authentisch, ihre Sorgen und Zwiespälte gerade auch für westliche Augen, soweit sie nicht vollkommen vor der Realität verschlossen sind, bestens nachvollziehbar.
                          Auf der einen Seite des Abgrunds steht die Familie um Elenas arbeitslosen Sohn Sergey, der bereits selbst zwei Kinder hat und in finanziellen Nöten steckt. Sein eigener Spross Sasha soll zur Universität – schon allein deshalb, um den Wehrdienst zu umgehen. Das nötige Geld hierfür besitzt theoretisch Vladimir, doch der sieht (trotz allen Flehens Elenas) nicht ein, Dritte zu unterstützen, die faktisch Fremde für ihn sind – immerhin habe er nur Elena geheiratet, nicht auch deren gesamten Anhang. Außerdem solle sich Taugenichts Sergey ohnehin endlich einmal aufraffen und für sich selbst aufkommen.
                          Auf der anderen Seite positioniert ist Vladimirs Tochter Katya. Sie ist nicht nur verhätschelt, genusssüchtig und für ihr junges Alter bereits verdammt zynisch, sondern obendrein undankbar für das ausschweifende Leben, das nicht zuletzt ihr reicher Vater ihr ermöglicht.
                          Weder Sergey noch Katya tun mithin nicht besonders viel, um sich die Zuneigung und Unterstützung ihrer jeweiligen Elterteile zu verdienen... die Liebe Elenas und Vladimirs zu ihren Nachkommen ist trotzdem grenzenlos, beinahe gar irrational – bei, wohlgemerkt, wechselseitiger, innerer Verachtung für die Familie des jeweils anderen.
                          Das Ehepaar bildet Bindeglied, Trennwand, aber auch – im Kleinen – in sich gespaltener Richter über Arm, Reich und Schicksale.
                          Die Katastrophe scheint vorprogrammiert, denn es gilt, Entscheidungen zu treffen: Was wiegt mehr? Der Stellenwert von Geld für einen alten, geizigen Mann (und dessen Tochter) oder das Recht einer jungen, aber verarmten und in vielerlei Hinsicht hilflosen Generation auf eine Chance? Die Leere schmerzt, doch so eindringlich der Zuschauer auch mit Zvyagintsev nach einer Lösung sucht, gesteht der Film jedem seiner Protagonisten doch einen nachvollziehbaren Grund für sein Verhalten zu, dem es von allen Seiten ins Auge zu blicken gilt. Und so steht am Ende, obwohl sich - mehr durch einen Impuls des Zufalls denn durch Vorherbestimmung - alle Vorzeichen verkehrt haben, eben keine Antwort, dafür aber eine umso größere Frage: War es das wert?
                          Vielleicht hätte ja der Rabe, dessen Laute während des Films immer wieder unheilvoll erklingen, – könnte er denn sprechen – eine Idee. Oder der Baum vor dem Fenster – als einziger Zeuge eines Dramas, das nur eines von vielen sein kann.

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                          • Von "passiven" Frauenrollen zu sprechen, ist bei so manchem Western aber immer noch beschönigend formuliert, denn es kommt vor, dass die Frau noch sehr viel weiter herunterdegradiert wird... da ist sie dann nicht mehr "lediglich" Initialzündung und Spiegelbild für männliches Heldentum, sondern wird gar zum reinen Objekt erniedrigt - ich denke da zum Beispiel an den einen oder anderen Genre-Vertreter, in dem Frauen eigentlich nur in der "Handlung" auftauchen, um kurze Zeit später wieder möglichst gewaltvoll aus ihr hinausbefördert zu werden. Ob das dann als "Kritik" einer Gesellschaftsordnung ernstzunehmen ist, ist die Frage, wenn ein Sergio Leone in ONCE UPON A TIME IN AMERICA eine Vergewaltigung minutenlang zelebriert. Oder ein Mädchen, das noch ein halbes Kind ist, ihren Körper für Törtchen verkauft - wohlgemerkt nicht vordergründig, weil sie arm ist, sondern einfach, weil sie Spaß dran hat (Altherrenphantasie lässt grüßen).
                            Eine äußerst positive Ausnahme stellt hier beispielsweise FORTY GUNS von Samuel Fuller dar - in diesem Film trifft man eine ernstzunehmende, verhältnismäßig sehr selbstbestimmte Frauenfigur an, die sogar die Hauptrolle einnimmt.

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                            • 8 .5

                              Bei allen Möglichkeiten, die das Medium Film bietet, einen Zeitgeist mit Witz, Symbolik oder Tragik zu hinterfragen, so wird – um kein zu hohes Risiko einzugehen - dem Zuschauer in vielen Fällen letztendlich doch eine gewisse Deutungshoheit belassen, damit dieser dem Gesehenen zwar beipflichten, aber im Hinblick auf sich selbst nach dem Abspann immer noch beruhigt konstatieren kann: Die Gesellschaft, das sind immer die anderen.
                              Nicht so jedoch bei Robert Altman, dessen Filme - oft von einem feinen Humor, immer aber von einem großen Verständnis durchzogen – eigentlich niemanden außen vorlassen. Die große Stärke des amerikanischen Auteurs lag hierbei vor allem darin, nicht beispielsweise lediglich eine allgemeine Mentalität zu hinterfragen, für die der einzelne "nichts kann" und die es realistischerweise in dieser Pauschalität sowieso nicht gibt, sondern die conditio humana als Fixpunkt zu setzen. Dies erlaubt Altman, unabänderliche, im menschlichen Wesen selbst begründete Bindeglieder zwischen Individuum und Kollektiv aufzuzeigen, die einander bedingen, aber trotzdem gegeneinander stehen können, mithin einen möglichen Gedankenansatz auf das alte Dilemma liefern, warum der Mensch weder alleine noch in Gemeinschaft mit anderen dauerhaft glücklich sein kann. 3 WOMEN ist nicht zuletzt eine Abhandlung über Einsamkeit und Abhängigkeit – große Worte, deren Ursprung, Ausprägung, Zusammenhänge und Folgen eigentlich viel zu komplex sind, um sie anhand eines einzigen Films abschließend in Einklang bringen zu können. Altman hat es trotzdem irgendwie geschafft. Dass 3 WOMEN hierbei – fast schon im Stile von Bergmans PERSONA – ein sehr mystisches, nur schwerlich durchdringbares Charakterdrama geworden ist, welches eher gefühlt denn "verstanden" werden sollte, scheint auf den ersten Blick nicht weniger widersprüchlich, ist angesichts der Vielschichtigkeit seiner Themen aber nur konsequent.
                              In einer ihrer wohl vielschichtigsten Rollen spielt Sissy Spacek die etwas unbeholfene, neugierige Pinky Rose. Pinky hat ihren Platz in der Erwachsenenwelt noch nicht so recht gefunden – ihr Auftreten wirkt etwas unsicher, aber dennoch (oder gerade deshalb) erscheint die junge Frau liebenswürdig. Als Pinky ihren neuen Job in einer Wellness-Einrichtung antritt, lernt sie dort die redselige Millie Lammoreaux kennen. Deren locker-souveräne, aber gleichsam unterkühlte Ausstrahlung fasziniert Pinky vom ersten Moment an und so teilen die beiden kurze Zeit später eine kleine WG. Die Unterschiedlichkeit der Frauen birgt jedoch Konfliktpotenzial. Hier verzichtet Altman auf eskalierende Streits und Zickenterror, sondern betont stattdessen die Politik der Heimlichkeiten und kleinen Lügen, die nun einmal der Harmonie Willen vorkommen: Millie wahrt (trotz gelegentlichem Ärger über Pinkys Schusseligkeit) nach außen ihr Gesicht, vertraut ihrem Tagebuch aber an, dass sie Pinky etwas seltsam findet – und Pinky liest es kurz darauf. So jedenfalls nimmt die Spirale ihren Lauf, wenn Feuer und Wasser aufeinander prallen: Pinky wird immer versessener darauf, Millies Gunst zu gewinnen, Millies Blick auf Pinky hingegen nimmt immer verächtlichere Züge an. Die Annahme, Altman würde sich mit der Gegenüberstellung von Gegensätzen begnügen, erweist sich dabei als verfehlt, denn Millie ist bei ihren Mitmenschen durchaus nicht so beliebt, wie sie es durch ihr Auftreten vorgaukelt und wie es auch bei Pinky auch ankommt. Der einzige Mann, den sie nachts "an Land ziehen" kann, ist der Eigentümer des Wohnkomplexes (Edgar), aber auch nur dann, wenn dieser betrunken ist. Als wichtiger Baustein der Geschichte soll sich später der Umstand erweisen, dass Edgar dabei seine Frau Willie betrügt, die ein Kind von ihm erwartet.
                              Als Pinky die Lage nach und nach durchdringt und von der Wahrheit nicht mehr weiter fliehen kann, kommt es schließlich zu einer hochinteressanten Wendung (ab hier wesentliche Spoiler möglich): Nach einem "Unfall" beginnt Millie, ihre zeitweilen überhebliche Fassade langsam abzulegen und erkennt, dass die sensible Pinky unter ihrer Arroganz extrem leidet. Pinky wiederum vollzieht eine charakterliche 180 Grad-Wende: Zurück in der Wohnung nach einem Krankenhausaufenthalt beginnt sie, zu rauchen und zu trinken, benimmt sich kokett und beginnt sogar ihrerseits eine Affäre mit Edgar. Millie teilt nunmehr also das Zimmer mit einem Spiegel ihres eigenen Ichs – jetzt ist sie diejenige, die eine Konfrontation erfährt. Als schließlich Willie ein totes Kind zur Welt bringt, erfährt dieses Drama nicht nur seinen traurigen Höhepunkt, sondern eine weitere Kehrtwende, die sich einer rationalen Erklärung komplett entzieht: Die drei Frauen (nun leuchtet auch der Filmtitel ein) haben in der folgenden Szene - jetzt ganz ohne Mann – zusammen ein neues Leben mit dennoch alten Abhängigkeiten begonnen. Pinky ist wieder "die Alte", spricht Millie sogar mit "Mutter" an. Willie hat sich den beiden angeschlossen – ob aus wahrer Freundschaft, darf jedoch bezweifelt werden, denn die drei Frauen eint vor allem eines: Eine tief in ihnen verwurzelte Einsamkeit, vor der es - so oft Altman seine Schachfiguren auch neu anordnet - kein Entrinnen gibt. Obwohl es aus der Distanz betrachtet vielleicht nicht falsch wäre, traue ich mich daher nicht, von einer Überwindung oder einem Hinwegkommen zu sprechen, welches die Protagonistinnen an diesem Punkt gemeistert haben. Es hat vielmehr etwas von einem ultimativen Resignieren in die Unvereinbarkeit ihrer Sehnsüchte.

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                              • 9

                                Wie deutungsweisend Kino doch sein kann. Andrei Zvyagintsevs faszinierendes Debut vermag nicht nur für sich selbst zu stehen, sondern "erklärte" mir gewissermaßen sogar andere Filme, die ich bereits vor längerer Zeit gesehen habe, zu denen mir bisher aber der finale Zugang verwehrt blieb.
                                Mein erster Gedanke nach dem Abspann jedenfalls galt – bei aller schwermütigen Tarkovsky-Ästhetik - Terrence Malick, denn ich (als philosophischer Laie) glaube, THE RETURN veranschaulicht in konsequenter Weise das, was mir in THE TREE OF LIFE als "Weg der Natur" (auch hier: Die Vaterfigur) und "Weg der Gnade" (die Mutter) begegnete. Dazwischen – wie der Zuschauer - eingekesselt und zerrissen: Die Söhne Iwan und Andrej, deren erstmalige Bekanntschaft mit dem 12 Jahre lang verschollenen Vater zu einer grenzüberschreitenden Bewährungsprobe wird.
                                Was hier passiert, ist einerseits sonnenklar, die präsentierte Geschichte ist schnörkellos erzählt und nachvollziehbar. Dennoch bleibt THE RETURN ein kaum greifbares Mysterium, weil (vermeintlich!) wichtige Fakten und Hintergründe über die Charaktere im Dunkeln verweilen. Beispiele: Es wird nicht preisgegeben, wo der Vater sich all die Zeit aufhielt, warum er ausgerechnet jetzt den Weg nach Hause findet, mit wem und warum er während des Films einige Male telefoniert, wie überhaupt er zu seiner Familie steht sowie Ziel der Reise, auf welche er seine Söhne mitnimmt. Man könnte aber auch sagen: THE RETURN ist Kino, das fordert und so einiges abverlangt, den Betrachter eben für sich selbst erkunden lässt, ihm den Blick zwischen die Zeilen aufbürdet. Und tatsächlich: Am Ende ist ausnahmslos alles gesagt.
                                Allerdings wissen zunächst auch wir nicht mehr als Iwan und Andrej; ein Unbehagen, ein dunkler Schleier unbeantworteter Fragen wird über 105 Minuten zum ständigen Begleiter. Nach so langer Zeit endlich den leiblichen Vater kennen zu lernen, sollte für die Jungs dabei eigentlich ein freudiges Ereignis darstellen, doch ganz so einfach gestaltet es sich leider nicht – zu unvermittelt erfolgt seine Heimkehr, zu verschlossen und bitter ist sein Gemüt, zu hart sein Umgang mit den beiden, für die sich im Folgenden eine Welt des rasenden Herzklopfens eröffnet, welche ihnen bisher fremd war. Dies belegt unter anderem schon ein wichtiger, kontrastierender Moment ganz zu Anfang des Films, als die Mutter ihren jüngsten Sprössling liebevoll noch auf der Rampe des Turms tröstet (Weg der Gnade!), von welchem dieser sich – zum Gespött seiner Freunde - nicht ins Wasser zu springen getraut hatte. Dem Vater hingegen (Weg der Natur!) scheint jedes Respektieren von Schwäche zuwider zu sein. In seiner Vorstellung gilt die Regel, dass nur der Stärkere gewinnt – um (beinahe) jeden Preis. Dieses Prinzip möchte er auch seine Söhne lehren, ihr Durchsetzungsvermögen schärfen, damit sie irgendwann einmal in dieser ihrerseits rücksichtslosen Welt bestehen können. In diesem Augenblick jedoch ist seine Umbarmherzigkeit pure Demütigung und demzufolge verständlich das Auflehnen seitens Iwans gegen jene Strafen, die er schlechthin als ungerecht empfindet. Etwas anders verhält es sich mit seinem älteren Bruder Andrej, der bereits erfahren hat, dass ein bestimmtes Maß an Assimilierung von persönlichem Vorteil sein kann. Rundum wohl fühlt Andrej sich in dieser Situation zwar auch nicht, doch ist er mehr als der noch recht trotzig agierende Iwan darauf bedacht, sich mit dem unbekannten, unbändigen Wesen des Vaters zu arrangieren.
                                Für mich ist THE RETURN eine symbolische Abhandlung über das Scheitern von Absolutheit. Der Weg der Gnade und der der Natur sind untrennbare Teile und doch unvereinbare Pole, und damit ein Spiegel der Tragik des Menschseins. An der Person des Vaters zeigt Zvyagintsev, dass die Natur sich nicht einmal zu schade ist, ihre eigenen "Prinzipien" zu konterkarieren... wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wirklich ergreifend ist der Film demzufolge dann, wenn er Türen für Gefühle aufbricht und die Charaktere auf sich selbst zurückwirft – wenn Iwan und Andrej in größter Not zu brüderlicher Solidarität zurückfinden, wenn ihnen in der abschließenden Szene (metaphorisch) das Fischerboot entgleitet, oder auch die letzten Worte des Vaters: "Mein Sohn!"
                                Die Vorstellung, der Mensch könne alles beherrschen und richten, bleibt nach Tarkovsky und Malick also auch bei Zvyagintsev Illusion. Noch bitterer: Die Natur schert sich nicht drum. Vielleicht sind Empathie und der Versuch, zu verstehen, ja doch wenigstens ein erster Schritt. An dieser Stelle passt es dann wohl: "Wir schauen nur, aber wir sehen nicht."

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                                  Der Name ist Programm: Paolo Sorrentinos LA GRANDE BELLEZZA zählt mit Sicherheit zu den schönsten Filmen des Jahres und es ist gar nicht einmal so einfach, seinen prachtvollen Bildern der ewigen Stadt mit Kopf, Herz und Seele zu trotzen.
                                  Doch wirklich interessant machen dieses Werk erst seine leicht überdrehten, kantigen Figuren. Wir sehen die Welt durch die Augen von Protagonist Pep, der irgendwann einmal ein recht erfolgreiches Buch geschrieben hat, heute (ohne dabei wirklich zu arbeiten) als Journalist tätig ist und mit nunmehr 65 Jahren von der großen Sinnfrage eingeholt wird, denn: Sein Umfeld wird offenbar schlagartig immer kleiner. Der nach wie vor charismatische und beliebte Gigolo muss mit ansehen, wie Menschen um ihn herum sterben – Menschen, die weitaus jünger sind als er. Andere langjährige Weggefährten hadern ebenfalls, werden nach jahrzehntelanger Residenz in Rom auf einmal von Fernweh und Zweifeln geplagt.
                                  Pep beginnt also zu hinterfragen – zum Beispiel die gemeinsamen Abende im Kreise der High Society im Dunstkreis zwischen Dekadenz und Müßiggang, das Umgebensein von Persönlichkeiten, die von Beruf reich sind und es trotzdem schaffen, so etwas wie ein wirklich erfülltes Leben weiträumig zu umschiffen. Aber auch die eigene Existenz wird einer Bestandsprüfung unterzogen und Pep muss schmerzhaft feststellen, eigentlich nie ein großes Ziel verfolgt oder etwas von Bestand geschaffen zu haben. Was also tun? Die Flucht nach vorne? Die angestaubte literarische Karriere wiederbeleben? Ach, es bringt doch alles nichts.
                                  Aber Moment, da war doch was... alte Erinnerungen, das Gefühl von Liebe und Lebendigsein, der Duft einer lauen Sommernacht - der Film wie Pep suchen Zuflucht in den sanften Gefilden alten Glanzes und man kann es ihnen schwerlich verübeln, erfolgt der Blick zurück doch selten so schwerelos, unverkopft und dabei erfrischend selbstironisch wie hier.
                                  Sorrentino stellt die äußere Glorie Roms also der inneren Leere und Verlorenheit ihrer Großstadtgesellschaft gegenüber; dabei ist sein Fokus getragen von einer nachdenklichen Leichtigkeit, die es einem in so manchen Momenten gar ziemlich erschwert, beides auseinanderzuhalten - was wiederum sehr für LA GRANDE BELLEZZA und seine schwärmerische, niemals wertende Attitüde spricht.
                                  Dass unser taumelnder Pep am Ende seine Sinnkrise tatsächlich zufriedenstellend und nachhaltig zu lösen vermag, darf bezweifelt werden, es stünde aber auch im krassen Gegensatz zum Mysterium Leben, welches die schönsten Momente, die es uns schenkt, nicht selten erst im Nachhinein adelt. Ein bisschen Mut macht LA GRANDE BELLEZZA daneben aber auch: Den "falschen" Ort, die "falsche" Zeit gibt es eigentlich nicht, solange nur das nostalgische Abenteuerherz noch schlägt. Diese Erkenntnis macht uns zwar nicht jünger, ermutigt aber vielleicht dazu, gewisse Dinge und vor allem die Suche nach dem ultimativen Glück etwas unverkrampfter anzugehen. Es wird schon kommen... irgendwann. Wir sind doch alle Träumer.
                                  Schade, dass Fellini diesen Film nicht mehr sehen kann.

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                                    Wie heißt es so schön im Film... "Zeit, den Teufel zu treffen". Das war es also, Refns Lineal für den Penis (© Mr Vincent Vega). Irgendwie seltsam, dass ich als Frau Verwendung dafür fand.
                                    ONLY GOD FORGIVES sprengt fraglos die Grenzen der Rezeption. Er schreit seinem Publikum "Liebe mich!" und "Hasse mich!" in gleicher Lautstärke entgegen, bleibt aber selbst die geheimnisvolle Unbekannte im (roten) Halblicht - der Zuschauer muss sich entscheiden.
                                    Wann verherrlicht ein Film Gewalt? Für mich existieren hier vor allem zwei Kategorien:
                                    1.) Das Drehbuch rechtfertigt Mord und Totschlag, indem es ihnen ein "höheres" Ideal zugrunde legt, damit identifikationstaugliche Helden erschafft und dieses sich auftuende Einfallstor daraufhin für das Bestärken reaktionärer Weltbilder nutzt (vorwiegend und leider wieder zunehmend zu beobachten im zeitgenössischen Blockbuster-Kino).
                                    2.) Der Film legt es auf einen Kultstatus an und garniert passioniertes Gemetzel mit "coolen" Sprüchen, mundgerecht zum Mitfeiern – wodurch Gewalt im Extremfall so verzerrt werden kann, dass sie am Ende gar nicht mehr als solche zu erkennen ist.
                                    Refn jedoch tut nichts davon. Er nimmt Gewalt kein Stück von ihrer Grausamkeit, ganz im Gegenteil sogar. An diesem Punkt ist Vorsicht geboten: Ein Film glorifiziert körperlichen Zwang nicht automatisch deshalb, weil er keine Erklärungen für seine dargebotenen Eskalationen bietet. Und tatsächlich – bei Refn schießt die Gewalt aus dem Nichts und sie führt an einen Ort des noch-mehr-Nichts. Das verunsichert, da es den meisten wohl intuitiv nicht "logisch" erscheint, wenn so viel Grausamkeit offenbar ohne Grund passiert. Doch ist Refns Film womöglich nicht sogar ehrlicher dadurch, dass er sich jeglichem Alibi verweigert? Bei allen Überzeichnungen und Grotesken, mit denen ONLY GOD FORVIVES auch aufwartet, kommt die Gewalt meiner Meinung nach auf Subebene nämlich genau so zum Ausdruck, wie sie sich auch in der echten Welt vollzieht: Unkontrollierbar, allgegenwärtig, zirkelschlüssig, sinnlos – eben als derjenige Albtraum, der sie nun einmal ist, in bester David Lynch-Manier ins Unterbewusstsein verlagert. Kurzum: Wenn ich nach einem Film wie diesem hochgradig verstört bin - und das war ich! -, ist alles "richtig" gelaufen.
                                    Und gestern im Kinosaal war dann auch wirklich niemandem nach Mitgröhlen zumute.. ich beobachtete sogar, wie zwei stattliche Kerle vor mir in ihren Sitzen immer kleiner wurden und regelrecht zusammensanken (anfangs hatten sie mir noch mit ihren Köpfen den unteren Bildrand versperrt) – und nein, ganz bestimmt nicht deshalb, weil sie eingeschlafen waren.
                                    ONLY GOD FORGIVES ist ein ungemein hintersinniges Werk, das nicht davor zurückschreckt, sicher Geglaubtes einfach umzukehren.
                                    Das Ballen der Hand zur Faust beispielsweise tritt nicht als Symbol von Stärke in Erscheinung, sondern trägt etwas Unsicheres, Verletzliches, Suchendes mit sich. Es ist, als würde Julian eine Frage an Gott richten und dabei für einen Augenblick alles von sich preisgeben.
                                    Auch Rollenklischees entstellt Refn in einem Maße, welches eigentlich unmissverständlich zu verstehen gibt, dass dieser Film NICHT beim Wort zu nehmen ist. Hier denke ich vor allem an einen Quasi-Monolog der Mutter während dem Dinner mit Julian (Gosling) und dessen "Freundin". Die Szene ist so entartet, dass ich am liebsten laut und schallend aufgelacht hätte, und zwar als Schutzreflex und Selbstversicherung – dahingehend, dass es nur ein Film ist, den ich sehe und alles in Ordnung ist.
                                    Die Suche des Betrachters nach etwas zum Festhalten wird mit zunehmender Laufzeit immer dringlicher, aber ONLY GOD FORGIVES wird immer böser, entpuppt sich als Sammelsurium der Zwiespältigkeiten. Julian, das gebrochene Muttersöhnchen mit Ödipus-Komplex, evoziert in manchen Situationen fast schon so etwas wie Mitleid, verzichtet zweimal auf Rache, als sie auf dem Silbertablett vor ihm liegt, explodiert als tickende Zeitbombe dann aber ausgerechnet zum Leidwesen von komplett Unbeteiligten. Und natürlich, nicht zu vergessen, Kristin Scott Thomas als unzähmbare Furie zwischen knisternder Erotik, gebrochenem Herzen und Eiseskälte.
                                    Eine Sondererwähnung verdient Vithaya Pansringarm als erbarmungsloser Ex-Polizist, Schutz- und Rache"engel" in Personalunion. Aus welchen filmischen Untiefen hat Refn den bitteschön aufgetrieben? Der Mann besitzt eine unfassbare (Leinwand-)Präsenz – wenn ich einmal in Schwierigkeiten stecken sollte, möchte ich ihn gerne als persönlichen Bodyguard (mit Schwert!) anheuern.
                                    Überhaupt schreibt ONLY GOD FORGIVES das Wort "Ambivalenz" in Großbuchstaben. Die Farbe Rot steht für Sinnlichkeit und Bedrohung. Das eine geht nicht ohne das andere. Der Zuschauer muss beides akzeptieren, wie im Allgemeinen die Freude des Regisseurs am Grenzgang. Bei aller Verteidigung dieses Films will ich gar nicht leugnen, dass Refn den Grat in allen Belangen so schmal wie möglich hält und sehenden Auges in die Kontroverse marschiert – doch kennzeichnet dies oft nicht gerade die besten Filme?
                                    ONLY GOD FORGIVES markiert den Moment in der Karriere des Dänen, in welchem er sich die Bild-/Tonmaschine und deren Einklang endgültig zum Untertan macht. Das Todesballett ist angerichtet - unglaublich fatal, aber ebenso verführerisch.
                                    Chaos regiert. Traue deinen Sinnen (nicht)!

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                                    • 7 .5
                                      über Glut

                                      Béla Tarrs Abschied vom Weltkino verleitet zu bitteren Wehmutstränen, und sie werden mit der Zeit bestimmt nicht weniger. Doch kommt der Zeitpunkt, seine Filme einfach trotzig in die Seele einzuschließen, wieder vorsichtig die Tür nach draußen zu öffnen und nachzusehen, was da vielleicht noch so ist.
                                      Meine wichtigste Erkenntnis, nachdem ich mir ein eigenes Regie-Werk seines letzten Stamm-Kameramannes Fred Kelemen zu Gemüte geführt habe: Die sanfte künstlerische Feder des Mega-Magiers aus Ungarn wird weitergeführt. Dass GLUT hierbei den (irgendwo natürlich unfairen) Vergleich im Detail nicht auf allen Ebenen besteht, ist verständlich wie nachrangig – es entscheidet zu seinen Gunsten das allgemeine Kunstverständnis, das Interesse für Menschen und ihre ureigensten Sehnsüchte, Fehler, Irrwege. Wie Tarr vermag es auch Kelemen – stilecht in Schwarz-weiß und zelebrierter Langsamkeit -, aus dieser lethargischen Einbahnstraße namens Leben Anmut und Schönheit herauszufiltern und demonstriert eindrucksvoll, dass es nicht einmal eines großen Budgets bedarf, wenn nur das "Wie" stimmt. So können eine Brücke und zwei Personen ausreichen, um einen großen Stein Richtung Innenleben ins Rollen zu bringen:
                                      Der Buchhalter Matiss überquert eines Nachts eine Brücke und trifft dort auf eine Frau (Alina), die offenbar wenige Sekunden davon entfernt ist, sich in die Tiefe zu stürzen. Er macht Halt, die beiden sehen sich an... doch anstatt eines Bemühens, die Dame von dem Offensichtlichen abzuhalten, bleibt Matiss - geschockt und überfordert mit der Situation - stumm und schreitet schließlich verunsichert weiter. Nach ein paar Metern hört er hinter sich ein Platschen sowie einen kurzen Hilferuf, doch als er daraufhin zurück eilt, ist die Frau spurlos verschwunden. Die Polizei stellt die Ermittlungen bald wieder ein, doch Matiss begibt sich nun – getrieben von Schuldgefühlen und Ungewissheit – eigenmächtig auf die Suche nach Hinweisen auf ihren eventuellen Verbleib. Im Rahmen seiner Nachforschungen sammelt er nach und nach Informationen über die verschwundene Frau, dringt durch Briefe, Dias und Gespräche mit Alinas letztem Liebhaber (Alexej) Schritt für Schritt zu ihrer Persönlichkeit vor - oder, besser gesagt, zu seinem subjektiven Bild von ihr, welches sich immer stärker formt und den jungen Mann schließlich erdrückt.
                                      Der Zuschauer ahnt: Die Dinge liegen womöglich nicht so wie sie (in Matiss' gewissensschweren Augen) scheinen. Der verzweifelte Versuch, wenigstens in seiner Schuld einen Verbündeten zu finden, beschwört schließlich ein weiteres Unglück herauf. Hervorzuheben ist hier ein längerer Schlüsseldialog zwischen Matiss und Alexej, während dem die Kamera mehrmals um die beiden Protagonisten kreist als wären sie Forschungsobjekte. Diese Technik erstaunte mich zuletzt bei Fassbinder, doch während dieser darauf bedacht war, etwas sowieso schon Totes zu Grabe zu tragen, fühlt es sich bei Kelemen so an, als wolle er etwas suchen... ein Aufbäumen gegen das Verlorensein, einen Hoffnungsschimmer von Wahrheit, oder wenigstens eine neue Täuschung.
                                      Es ist Alinas Figur, die – obwohl sie körperlich abwesend ist - diesen Film wie eine unsichtbare Kraft antreibt; verdrängte, unheilvolle Erinnerungen an Antonionis Nihilismus-Mystik treten zutage, als Matiss ihre Spur aufnimmt. Kelemen allerdings ist am Ende einen Hauch weniger gnadenlos mit seinem Publikum als der große Italiener, vielleicht aber fühlt es sich auch nur so an, denn GLUT ist zu jeder Sekunde auch der Film eines melancholischen Schwärmers. Sogar an Jan Ole Gersters OH BOY erinnerte ich mich kurz, als Matiss' schwermütige Herzens-Odyssee zu lakonisch leichter Musik ihren Abschluss in einer Kaffee-Bar findet.
                                      Insgesamt eher ein Film für triste Herbsttage, der aber auch mitten im Sommer die eine oder andere Illusion rauben kann. Und selten sieht es so schön aus.

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                                      • 8 .5

                                        Dem Film geht es wie seinem königlichen Protagonisten: Der (Dramaturgie-)Motor stottert gewaltig und es bedarf keiner besonders großen Expertenkunde, sein Malen nach Zahlen-Crowdpleaser-Schema à la Hollywood – pathetisches und von der ersten Minute an vorhersehbares Happy End inklusive – zu erkennen und es ihm rechts und links genüsslich um die Ohren zu pfeffern. Eine Ausrede muss also wieder einmal her, um mein nächstes guilty pleasure aus der Schmiede der Traumfabrik rechtfertigen zu können, und leider gestaltet es sich gänzlich banal:
                                        Ich habe mit Colin Firth als grummelig-labilem Thronfolger außergewöhnlich sympathisiert und glaube, der charakterliche Überbau von THE KING'S SPEECH geht im Grunde sogar sehr viele Menschen etwas an; Natürlich ist dort auch die berechnend-rührselige Geschichte zweier grundverschiedener Männer, die mit der Zeit – wer hätte es gedacht? – ziemlich beste Freunde werden, doch wertschätze ich diesen Film für mich persönlich am stärksten als berührendes Charakterdrama, dessen Klasse sich nicht zuletzt (und dabei stellt sich der Oscar-Abräumer von 2011 gar nicht einmal so dumm an!) aus dem Hinterfragen von elitärem Denken, sturer Leistungsorientierung und zwischenmenschlicher Kälte ergibt, welche aus eben jenen Faktoren resultieren kann.
                                        Ein Leben in Glanz und Gloria. Tradition, Ansehen, gehört werden. Eine ganze Nation, die dir zu Füßen liegt und nach jedem einzelnen Wort giert, das deine Lippen verlässt – du hast die Macht, eine Richtung vorzugeben. Einmal König sein, das wär’s doch.
                                        Es kann jedoch auch ganz anders laufen: Sozialer Status als Druck, Ballast, goldener Käfig. "Adel verpflichtet", wie es so schön heißt – dem gewachsen zu sein ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, vor allem dann nicht, wenn man schon als Kind erfahren muss, dass selbst das kleinste Anzeichen von Schwäche gegenüber der Öffentlichkeit schlechthin keine Option in der eigenen Sippe ist. THE KING'S SPEECH behauptet sich allerdings als überhöhte Allegorie losgelöst von seiner Rahmen-Epoche, denn ebenso wenig "normal" wie eine reibungslose Rede vor einem Millionenpublikum ist der Abschluss eines Studiums mit Bestnote, das Retten von Menschenleben durch den Notarzt nach einem schweren Verkehrsunfall oder die Richtigkeit einer in jedem Fall folgenreichen Entscheidung eines Familienvaters.
                                        Die wenigsten bringen es zu einer echten Berühmtheit und trotzdem kennen wir alle das Gefühl der Überforderung, welches an jeder Ecke lauert und die größte Chance im Handumdrehen zu einer Gefahr verkehren kann.
                                        Albert "Bertie" von York schultert seit seiner Geburt eine Erwartungshaltung, die er nie zu tragen wusste und, wie sich herausstellt, ist sein Sprachfehler – vereinfacht ausgedrückt - eine Reaktion psychosomatischer Art auf die nachwirkende unterdrückende Erziehung, die er "genoss" sowie die vollkommen oberflächlichen, keinen Raum für Menschlichkeit einräumenden Ansprüche, welche ihm übermittelt wurden. Ich musste schmunzeln bei der Szene, in der sein Sprachtrainer Logue ihn ausgerechnet den "Sein oder Nichtsein"-Monolog aus Shakespeares "Hamlet" vortragen lässt.
                                        Die Aussicht auf den Thron als Herausforderung zu bezeichnen, wäre jedenfalls eine glatte Untertreibung. Man mag es kaum glauben, aber diesen Mann, der doch eigentlich stark zu sein hat, plagt die blanke Panik – vor noch mehr Verantwortung, aber zuallererst vor der eigenen Courage. Colin Firth verkörpert diese innere Zerrissenheit zwischen Frust, Verzweiflung, Selbsthass und irgendwo in den Tiefen seiner Seele doch schlummerndem Selbstbewusstsein mit einer Nuanciertheit, dass es für diesen Film eigentlich kein detailliertes Drehbuch mehr gebraucht hätte, wohl aber einen Komplementär-Charakter, der ihn Überwindung lehrt, ihm den befreienden Zugang zu sich selbst ermöglicht. Hier bildet der ebenso brillant aufspielende Geoffrey Rush den perfekten Kontrapunkt zu Georg VI, und wenn ich ehrlich sein muss, lässt mich allein die harmonische Leinwandpräsenz dieses Duos THE KING'S SPEECH für die obligatorischen Sentimentalitäten, die er nach allen Regeln der Verführungskunst auffährt (erst die finalen Minuten bemühen sich, das bis dahin fokussierte Einzelschicksal rund um ein Sprachproblem und den Zweiten Weltkrieg, der im Film bis dato lediglich nebenbei stattfindet, in Einklang zu bringen), begnadigen.
                                        Doch möchte ich noch einmal auf die anfangs proklamierte Identifikationsfrage zurückkommen: Ich stottere zwar nicht (bzw. nur in sehr krassen Ausnahmefällen), aber eine große Angst vor Rampenlicht, "großen Auftritten" (und sei es nur ein kleines Referat oder eine mündliche Prüfung) und leider auch dem Urteil fremder Menschen generell war mir schon immer ein ständiger Begleiter;
                                        Ich habe mitgelitten, als Albert am Ende des Films den Weg zur Sprecherkabine antritt. Der Moment fühlte sich endlos an und die Anspannung brachte mich förmlich um. Das gequälte Bemühen um Souveränität in den letzten, unabwendbaren Augenblicken, während man in Wahrheit der Ohnmacht nahe ist, und gleichzeitig dieses innere Herbeisehnen der Sekunden, wenn alles von einem abfällt... das schien mir aus vielen Lebenslagen unglaublich vertraut. Wenn Colin Firth dann schließlich zitternd die Stimme erhebt, besitzt seine Rede mehrere Ebenen – seine aufbauenden Worte sind gerichtet gegen Faschismus und Nazi-Deutschland, aber der neue König führt dabei auch einen höchstpersönlichen Kampf um die eigene Stärke und gegen alle Dämonen, denen er nun endlich entgegentreten kann. Wohl dem, der seinen Lionel Logue gefunden hat.

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                                        • 8 .5

                                          Wow. Also wenn das mal nicht eineinhalb Stunden pure Magie sind, was dann?
                                          Die Handschrift dieses Films lässt sich bereits an seinem Titel ablesen: Nicht etwa "Lust", "Begierde" oder "Vergnügen" heißt er, sondern PLÄSIER – ein nahezu altertümliches Wort, das – ganz nach seinem französischen Ursprung – Eleganz, Verspieltheit, Koketterie, aber auch eine etwas versteckte, und gerade daher verlockende Entschiedenheit in sich trägt, und tatsächlich sind dies Attribute, die sich ohne weiteres und immer wieder mit Max Ophüls' Regie- und Erzählstil in Verbindung bringen lassen - womöglich hat er sie mit diesem Werk zur Perfektion getrieben, denn mit formaler Einigkeit hat es sich hier noch lange nicht:
                                          Auch inhaltlich füllt PLÄSIER seinen Namen mit Leben, beleuchtet ihn aus verschiedenen Blickwinkeln, um schließlich doch einen übergeordneten, wenn auch unausgesprochenen Zusammenhang zu finden:
                                          • Der erste Abschnitt zeichnet das Bild eines alternden Gigolos, der den Zahn der Zeit nicht akzeptieren kann und sich heimlich auf Kostümbälle schmuggelt, während seine Frau sich den Tatsachen im Stillen ergeben hat.
                                          • Teil 2 begleitet die Prostituierten eines Freudenhauses auf einem Sommerausflug – die Frauen sorgen, wo sie hinkommen, für lüsterne Ausnahmezustände und für Betrübnis und Streit, wo sie weggehen.
                                          • Das Finale rundet das Bild schließlich äußerst pessimistisch ab: Der Fokus liegt auf dem traurigen Schicksal eines jungen Pärchens, das nicht mit-, aber auch nicht ohne einander leben kann. Wie der Plot zu Anfang endet auch dieser in Resignation.
                                          Die Ausgangslage barg hierbei erst einmal nicht nur Potenzial, sondern auch die Gefahr eines Reinfalls, handelt es sich doch um einen von seiner Idee her experimentellen Episodenfilm, der drei Novellen Guy de Maupassants unter einen Hut bringt. Damit nimmt sich der "warme" Ophüls den Vorlagen eines Literaten an, dessen Schaffen ein gewisser Sarkasmus in Bezug auf die menschliche Natur nicht immer fremd war, sodass vorab die Vermutung im Raum steht, hier könnten Welten aufeinander prallen. Vielleicht war dies auch wirklich so, doch der Meisterregisseur lässt es sich nicht anmerken: Ophüls entschärft etwaige Bitterkeiten mit seinem ganz eigenen Charme, gibt dem Film damit auch etwas hinzu. Er vermeidet jegliche Herablassung, leugnet jedoch nicht Unheil und Tragik, die vor allem die beiden Rahmengeschichten unverkennbar durchziehen. Dass ausgerechnet die heiterste Episode der drei die mit Abstand meiste Laufzeit einnimmt, ist von leiser Ironie, welche aber durch Anfang und Ende des Films eine stimmige, nachdenkliche Erdung erfährt.
                                          Eine mögliche Gelegenheit, sich all dem zu entziehen, wird gleich zu Beginn vereitelt, wenn sich unser Erzähler aus dem Jenseits direkt an sein Publikum wendet und uns wissen lässt, dass er schon immer die Dunkelheit liebte – Ophüls verstand es wahrlich zu vereinnahmen, zu verzaubern, zu begeistern. Die für ihn kennzeichnende "fließende Kamera" lässt uns mit der Neugier eines Kindes durch Fenster und Türschlösser spähen, scheint ungehemmt und doch beherrscht in ihrer Leichtig- und Beweglichkeit, punktuell unterstützt von dieser so poetischen Stimme aus dem Off, deren Schönheit fast vergeudet wäre, käme sie zu oft zu Wort.
                                          Das Gefühl, mit dem ich nach 100 Minuten zurückgelassen wurde, ist dann auch kaum zu beschreiben... "geplättet" trifft es wohl ganz gut. Geplättet von diesem virtuosen Einklang aus augenzwinkernder Leichtigkeit und substanziellem Drama, durchzogen von einem umfassend zärtlichen Verständnis für Laster, Sehnsüchte und (Selbst-)Lügen seiner Protagonisten.
                                          Doch wie steht der Film am Ende zu seinem Gegenstand? Ophüls konstatiert vor allem die Flüchtigkeit des Begehrens, doch macht diese Eigenheit es gleichsam reizvoll wie kompliziert, da der Mensch zum Festhalten geneigt ist. Dies geht so weit, dass irgendwann Surrogate herhalten müssen, bis letztendlich alles so verklärt ist, dass nur noch die Lust an der Lust und/oder das schlichte Akzeptieren unvermeidlicher Monotonie bleibt. Kein wirklich glückliches Ende finden somit die beiden Geschichten von PLÄSIER mit Ehe/Beziehung als Status Quo. Demgegenüber leichtfüßig wandeln zwar die Prostituierten aus dem Mittelteil des Films durchs Leben, doch fehlt es ihnen an einer emotionalen Konstanten, einem gefühlsmäßigen Rückzugsort [als ungemein subtilen und berührenden Ausdruck hiervon empfand ich die Szene in der Kirche].
                                          Der Weg im Leben führt also immer über Kompromisse, Perfektion ist unmöglich, Ablenkung trügerisch. Der perfekte Nährboden für Ophüls, das Liebeskarussell in Gang zu setzen und es sich scheinbar einfach selbst zu überlassen.

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                                          • 8 .5

                                            Das Erwachsenwerden ist ein Prozess, den jeder durchlaufen muss. Wohl wir alle bringen damit konkrete Erinnerungen und vielleicht sogar ein bestimmtes "Grundgefühl" in Verbindung. Das kann ein Gefühl der Nostalgie und Unbeschwertheit sein, aber auch ein zuckender Schmerz, den bittere Lektionen oder sogar frühe Traumata hinterließen. Nicht selten, wahrscheinlich sogar meistens, ist es von allem ein Bisschen. All dies, was Heranwachsen bedeutet oder zumindest bedeuten kann, habe ich in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit in der Kunst bis heute nirgends so unbestechlich wie selbstverständlich aufarbeitet erlebt wie in den Werken Louis Malles. Die virtuose, für den Franzosen kennzeichnende Balance zwischen schwebender Leichtigkeit und subtilem Drama mag sich ergeben, wenn ein inzwischen älterer und damit gereifter Regisseur auf seine Generation zurückblickt, herausragend und bis heute unerreicht ist sie dennoch.
                                            Die Geschichte um die titelgebende Hauptfigur Lucien Lacombe ist hierbei nicht nur - wie auch das bekanntere AU REVOIR, LES ENFANTS – im von Deutschland besetzten Frankreich des Jahres 1944 angesiedelt, sie nimmt ebenso einen sehr tragischen Ausgang:
                                            Der 17-jährige Lucien fristet ein trostloses Dasein als Putzkraft in einem Altersheim. Als er seinen Urlaub für eine Rückkehr auf den heimischen Bauernhof nutzt, findet er dort alles andere als häusliche Obhut. Seine Mutter hat den Hof inzwischen umfunktioniert und sich einen neuen Liebhaber genommen, während sich Luciens Vater in deutscher Kriegsgefangenschaft befindet. Der junge, sinnsuchende Mann fühlt sich unerwünscht, doch ebenso scheitert sein Versuch, der Résistance beizutreten – Lucien wird abgewiesen. Eher zufällig verschlägt es ihn kurz darauf ausgerechnet in das Hauptquartier der Französischen Gestapo, wo er schließlich aufgenommen und immer stärker in die Aktivitäten der Geheimpolizei eingespannt wird. Das heimtückische, skrupellose und grausame Vorgehen seiner Vorgesetzten bleibt Lucien zwar nicht verborgen, allerdings findet auch er sich nun in einer gewissen – wenn auch vergleichsweise eingeschränkten - Machtstellung gegenüber anderen Dorfbewohnern wieder, was großen Reiz auf den einstigen Bauernjungen ausübt und wovon er fortan - nicht frei von Stolz und jugendlicher Überheblichkeit - Gebrauch macht. Respekt vermag er jetzt allein durch das Vorzeigen seines Ausweises und seiner Waffe zu erzwingen.
                                            Als Lucien Bekanntschaft mit dem jüdischen Schneider Albert Horn schließt und sich in dessen Tochter verliebt, gerät die Lage jedoch unweigerlich aus den Fugen und Lucien begreift langsam, aber erst zu spät die Tragweite früherer Entscheidungen des Leichtsinns sowie das gefährliche Ausmaß der Situation, in welche er sich selbst und andere gebracht hat.
                                            Zwar erwies sich LACOMBE LUCIEN seinerzeit als alles andere denn ein Publikumsflop, aber auch kritische Stimmen, die eine klare Stellungnahme des Films zu seinem ambivalenten Protagonisten bemängelten, ertönten laut und zahlreich. Tatsächlich jedoch liegt die große Qualität dieses Werks wie freilich auch Malles originären Blicks im Allgemeinen gerade in dem Bestreben, "lediglich" zu beobachten und den Zuschauer somit in eine Position der (hier – zugegeben – besonders unangenehmen) Objektivität zu versetzen, denn niemand handelt konsequent nach abgesteckten Mustern, ist nur gut oder nur böse – vor allem nicht ein noch so junger Charakter wie der Luciens, welcher nun einmal mitten in der Entwicklung begriffen und daher besonders anfällig für impulsives Handeln und Beeinflussung ist. Leider fragen nach dieser obligatorischen kindlichen Instabilität, die nicht zuletzt zu großen Teilen eine unverschuldete Hilflosigkeit in sich trägt, auch nicht die zeitlichen, politischen und gesellschaftlichen Umstände (wie z.B. Krieg), in die ein Mensch hineingeboren wird.
                                            Es ist zweifellos nicht lediglich die kalte Abgebrühtheit, die Lucien beim Jagen von Hasen und Hühnern an den Tag legt, welche im Rahmen einer Gesamtbetrachtung beunruhigt, und dennoch liegt gleichsam ein naiver Wunsch nach Liebe und Anerkennung in seinen Augen, der nicht trügt und den Betrachter der Waffe eines einhelligen Urteils beraubt – eine nur allzu natürliche Sehnsucht, für die 1944 kaum Raum bestand, ohne (im schlimmsten Fall unwissend) als Preis mindestens ein Todesurteil unterzeichnen zu müssen, womöglich gar das eigene.
                                            Unschuld erfährt das Ende ihres Wesens, wenn sie korrumpiert wird – was wiegt da noch ihr Verlust?

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                                            • 9 .5

                                              Ein Gefühl, das für Lars von Trier zu einem Zustand wurde; so bestimmend, vereinnahmend, kräftezehrend, dass es nach ANTICHRIST eines weiteren Befreiungsakts bedurfte. Warum also nicht einen ganzen Planeten nach der allzu vertrauten Begleiterin benennen?
                                              Melancholia, der Himmelskörper und äußere Spiegel, ein Stern von großer Schönheit, aber nicht minder großer Zerstörungskraft - MELANCHOLIA, der Film, von Triers zweites opus magnum.
                                              Wahrlich selten findet man in einem einzigen Werk auf so schwindelerregend phantastische Weise Gegensätze wie Mikro- und Makrokosmen vereint. Der erste Teil des Films bemüht nicht zuletzt – pechschwarze Situationskomik inklusive – unter dem Aufhänger einer (ausgerechnet!) Hochzeit das Abbild einer bis ins Mark zerrütteten Familie, bis im zweiten Teil schließlich der Untergang körperliche und (im wahrsten Sinne des Wortes) globale Ausmaße annimmt.
                                              Mittendrin befinden sich die beiden Protagonistinnen: Zum einen Claire, die "Normale" und damit Identifikationsfigur, mit nachvollziehbaren Wünschen und Ängsten, einfach nur verzweifelt bemüht, ein Mindestmaß an Harmonie um sich und ihre Lieben herum aufrecht zu erhalten. Daneben ihre Schwester Justine (zu 101% authentisch verkörpert von Kirsten Dunst), für viele ein rotes Tuch in ihrer launenhaften Unberechenbarkeit, tatsächlich jedoch ein zerbrechlicher, feinfühliger, missverstandener Mensch mit einer Unmenge Potenzial. Eben so jemand, der – von Trier-typisch – prädestiniert dafür ist, an seiner Umgebung zu zerbrechen.
                                              Es existiert kein Film des sanften Provokateurs ohne Liebesbekundung an seine weibliche Hauptfigur, und hier vollzieht sie sich vielleicht so intensiv wie seit BREAKING THE WAVES nicht mehr. Justine mag es nicht ohne Hilfe in ein Taxi oder in die Badewanne schaffen ("lebensmüde" ist in ihrem Fall wörtlich zu verstehen), ist aber diejenige, welche aufrechten Hauptes dem Ende der Welt in die Augen blickt, als es soweit ist. Ironischerweise scheint ausgerechnet die Depression der jungen Frau quasi Folge ihrer inneren Sehkraft zu sein. Justine hat die Bedeutungslosigkeit von Besitz, Wissenschaft, Gewohnheitsritualen, Beteuerungen und Oberflächlichkeiten durchschaut und damit insgeheim all dem den Rücken zugekehrt, woraus die meisten anderen aus ihrem Umfeld Sinn und Status zu schöpfen geneigt sind. Für die junge Frau bleibt somit nichts mehr übrig, woran sie ihre Existenz klammern könnte – nicht einmal der Glaube an die Liebe, denn bereits die Wiege der dauerzerstrittenen Eltern diente offenkundig nicht gerade als Hort der Geborgenheit.
                                              Justine findet ihre Entsprechung in dem Planeten Melancholia, nicht nur des Namens wegen. Sie "sonnt" sich, beinahe tranceartig, zur - so scheint es - Kraftschöpfung in seinem Licht, eine Geste so deterministisch bezeichnend wie der sehnsuchtsvolle Ton im Heulen eines Wolfs, vorliegend in Ausprägung einer Todessehnsucht – formal durch betörende Bilder und Klänge sowieso, wie also auch inhaltlich angelehnt an Wagner sowie generell die deutsche Romantik. Eine Renaissance im ganz großen Stil.
                                              Doch wo von Triers auserkorene Heldin Justine die vernichtende Kollision mit Mutter Erde geradezu herbeisehnt, ist der Effekt auf den Zuschauer ein gänzlich anderer. Die gesamte Schöpfung, zuvor zelebriert von MELANCHOLIA in all ihrer Anmut, ist in totaler Zerstörung begriffen und der Betrachter findet sich nunmehr, ebenso wie Claire, in der albtraumhaften Lage wieder, sich innerhalb von sehr kurzer Zeit damit abfinden zu müssen. Dabei ist nicht einmal unbedingt die Gewissheit um das Ende an sich das Bedrückende, sondern die Machtlosigkeit, nichts dagegen ausrichten zu können, also die schlagartige Erkenntnis um Grenzen.
                                              Wie oft wähnt der Mensch sich doch in beruhigender Kontrolle über alle möglichen Dinge... die Wahrheit ist aber wohl die, dass es mit uns allen auf einen Schlag aus sein kann, so als wären wir nie dagewesen, wenn (je nachdem, woran man glaubt oder auch nicht glaubt) unser Schöpfer auch nur eine Millisekunde lang blinzelt oder der Zufall schlecht gelaunt ist.
                                              Natürlich kann ich nur für mich sprechen, aber das radikale Vor-Augen-Führen einer möglichen Endlichkeit von allem, was wir kennen, bewegt in mir sehr viel mehr als das reine Beweihräuchern der majestätischen Natur in ihrem Ist-Zustand – MELANCHOLIA jedoch, und das macht diesen Film so effektiv, tut beides.
                                              So kann das Werk einerseits freilich dazu führen, sich nach dem Abspann richtig klein und unwichtig zu fühlen, lehrt uns aber daneben auf ganz besondere Weise das Schätzen jedes einzelnen Atemzugs, den wir tätigen – wie beruhigend es doch auf einmal anmutet, das Grummeln aus der Ferne lediglich als handelsübliches Gewitter klassifizieren zu können. Es mag sein, dass die Erde für niemanden im Universum außer uns eine Bedeutung besitzt, doch versagt ihr das automatisch einen kostbaren Wert? Ich meine nein.
                                              Justine nimmt demzufolge eine ganz herausragende Position ein: Sie ist, wenn man so möchte, die erste echte Meta-Hauptfigur bei Lars von Trier, denn ihr Opfer (im Sinne ihres depressiven Leidens) fällt nicht etwa einem anderen Charakter im Film selbst, sondern dem Publikum zu – auf dass dieses im Idealfall durch Justines Brille das eigene Wertesystem und die vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber essentiellen, allgegenwärtigen Gefahren hinterfragen mag. Durchatmen und innehalten für wenigstens ein paar Minuten. Viel mehr kann Kunst nun wirklich nicht bewerkstelligen. Ein Meisterwerk galaktischer Größenordnung. Wie sehr ich diesen Film doch liebe...

                                              »The magic cave, is that something everybody can make?«
                                              »Aunt Steelbreaker can.«

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                                                Nicolas Winding Refn "mausert" sich mehr und mehr zu meiner persönlichen Regie-Nemesis, an deren Werk ich Mal für Mal ebenso viel Abstoßendes wie Faszinierendes entdecke, ihm insgesamt aber ausgeliefert bin wie ein kleines Kind dem Drang, mit voller Handfläche einfach mal die Temperatur einer Herdplatte zu testen.
                                                Der Skandinavier dreht Männerfilme ohne Macho-Pathos, interessiert sich kaum bis gar nicht für Dinge wie Charakterentwicklung, verpackt selbst (nicht gerade spärlich gesäte) grausame Gewaltszenen irgendwie so, dass man das Gefühl hat, sie "gehören" schlicht in diese Welt, welche Refn uns da präsentiert. Kurzum: Seine Filme bestehen nicht selten aus einer Reihe Ingredienzien, die, weder einzeln noch in dieser Zusammenstellung, eigentlich gar nicht bei mir zünden KÖNNEN, es aber nun einmal trotzdem auf wundersame Weise tun – und ich verbleibe erneut ra(s)tlos.
                                                Dass Werner Herzog und Andrei Tarkovsky einst zusammen einen Film gedreht haben, hätte mir allerdings ruhig vorher einmal jemand sagen können – dann nämlich hätte ich WALHALLA RISING nicht monatelang vor mir hergeschoben.
                                                Refn platziert also die ganz großen Sinnfragen hinter einer breiten Nebelwand aus existenzialistischer Naturmystik, deren Dechiffrierung dem Zuschauer aufgebürdet wird. Dabei vertraut der schaffende Regisseur ganz auf seine Bilder – Bilder, die unendliche Weiten zeigen und einem in gewissen Momenten doch die Kehle zuschnüren können, so beschwörend, düster und erdrückend sind sie. Denn dort ist auch die Angst vor dem, was man nicht sieht oder lediglich anhand Mads Mikkelsens Gesicht erahnen kann. Vielleicht eine Art Nahtod-Vision auf Zelluloid.
                                                Wohl dem, der diese Last tragen kann und bereit ist, mitsamt Film aus der Zeit zu fallen. So entfernt erscheinen einerseits Setting und Figuren, und doch wird unsere Vorstellungskraft niemals ganz ausgehebelt, sondern behutsam, aber gleichfalls kompromisslos an ihre Grenzen geführt – auf Pfade, denen man sich intuitiv bewusst ist, die man für gewöhnlich aber nur sehr ungern beschreitet. Wir werden Teil dieser vernichtenden Legende, und vielleicht sogar noch mehr: WALHALLA RISING erprobt den Urzustand, der womöglich niemals wirklich überwunden wurde, sondern durch zivilisatorischen Fortschritt im Laufe der Jahrhunderte bestenfalls kaschiert. Die Hölle auf Erden, zum Greifen nah, verspottet und verschlingt die mickrige Kreatur namens Mensch mit seinen niederen Trieben, blind beherrscht (und schlussendlich besiegt) von der eigenen Hybris – an einem Ort, auf dessen Boden sich Gott und Teufel die Hand zu geben scheinen und nichts seinen Erhalt wert ist. Es kommen Zweifel auf, ob der Film dem Anbeginn oder der Apokalypse näher steht. Kein Wunder, dass ein stummer Einäugiger und einstiger Sklave hier den offenbar größten Durchblick hat, gar ein [SPOILER!] Opfer aus Nächstenliebe (?) vollbringt... für ein Kind, die einzig unschuldige Figur des gesamten Films. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, dessen erhaltende Kraft jedoch im Unklaren bleibt.
                                                Apropos Aufopfern: Bekanntlich ist das auch ein typisches Motiv bei Refns Landsmann Lars von Trier – doch hätte der WALHALLA RISING mit weiblicher Hauptfigur abgedreht, wäre das Ergebnis selbstverständlich als frauenverachtend zu deklarieren. So aber erklingen diejenigen Anschuldigungen, die nun einmal Refn für sich gepachtet hat – ob mit Recht oder zu Unrecht, vermag ich (wenn es denn überhaupt möglich ist,) jedenfalls nach der Erstsichtung nicht abschließend zu beurteilen. Es handelt sich mit Bestimmtheit um einen echten Kunstfilm, dessen Wert in besonders extremem Maße mit seinem Betrachter und dessen Mut, in den wortlosen Abgrund zu blicken, steht und fällt. Ist WALHALLA RISING aber doch nur eine bedeutungsschwangere ("Die Hölle"! Rote Farbfilter! Wie subtil!) Nichtigkeit, dann in jedem Fall eine verdammt beeindruckende. Ein ganz und gar rätselhaftes, unangenehmes Experiment ist diese Odyssee ins (heimische) Verderben allemal.

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                                                  Man tut, was man kann. Ryan Gosling, ganz im DRIVE-Modus, überzeugt erneut als cooles Einzelgänger-Raubein mit weichem Kern und Trendsetter in Personalunion (der neueste Mode-Schrei: T-Shirts in übergroßem Zeltformat auf links tragen), Regisseur Derek Cianfrance erweist sich als Meister der Zwischentöne und Bradley Cooper etabliert sich doch glatt allen Ernstes als seriöser Schauspieler.
                                                  Allzu verkopft und oberflächlich ins Visier genommen, kann man THE PLACE BEYOND THE PINES sicherlich ankreiden, seinem Publikum nicht besonders viel Neues zu kredenzen, jedoch mag man dabei vorschnell der Versuchung erliegen, diesen Film auf dem Rücken lediglich einem seiner (zahlreichen) Themenkomplexe und Verstrickungen totzustampfen (und schließlich womöglich wegen Ideenlosigkeit zu verurteilen).
                                                  White trash-Familien, ein korruptes Justizsystem sowie Generationenkonflikte einmal außen vorgelassen, sind hier vor allem die übergeordneten Zusammenhänge von großer Bedeutung. Der Film ist in drei Episoden gegliedert, die einerseits selbstständig für sich stehen (man könnte jede von ihnen problemlos als eigenständiges Werk weiter fort- und zurückspinnen), andererseits aber doch aufeinander Bezug nehmen und am Ende eine kohärente Geschichte erzählen, die gerade keine Lücke vertragen könnte, ohne, das etwas Wesentliches verloren ginge.
                                                  Für mich handelt THE PLACE BEYOND THE PINES in erster Linie davon, wie schwer es ist, im Leben fortwährend die richtigen Entscheidungen zu treffen, bzw. von dem existenzimmanenten Dilemma, dass sehr viele unserer Taten – oftmals gerade auch die gewichtigsten - gleichsam positive wie negative Konsequenzen nach sich ziehen... für den Handelnden selbst, aber auch für andere.
                                                  Bradley Coopers Charakter Avery Cross zum Beispiel, ein junger Polizist und Familienvater, wird von Kollegen und Medien dafür gefeiert, bei einem brenzligen Einsatz großen Mut bewiesen zu haben – dabei wurde jedoch der gejagte Bankräuber nicht bloß gefasst, sondern auch unabsichtlich getötet, womit Cross' Gewissen auch noch Jahre später im Stillen hadert, denn auch der nunmehr tote Verbrecher hinterlässt eine Familie.
                                                  Sehr schnell sind Ungerechtigkeiten in der Welt und Unbeteiligte zu Schaden gekommen, womit es für alle Betroffenen irgendwie klarzukommen gilt – was leichter gesagt als getan ist, denn so manche Aktion beginnt überhaupt erst nach weiteren Generationen, Früchte zu tragen, bis schließlich die Grenze zwischen Tätern und Opfern bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt.
                                                  Beeindruckend an THE PLACE BEYOND THE PINES ist vor allem seine Figurenzeichnung, welche mit dieser eigendynamischen Nachdenklichkeit sozusagen konform geht: Jede hier anzutreffende Person ist ambivalent und damit menschlich, strebt nach persönlicher Erfüllung nicht ohne die Möglichkeit zur Empathie, bleibt auch im Angesicht tiefer Traurigkeit fähig zu lernen und zu vergeben. Zu diesem Ergebnis kommt das mutige Drehbuch wohlgemerkt, ohne unter den Tisch zu kehren, dass ein jedermann nicht zuletzt das Produkt seiner Umwelt ist – so umgeht man Klischeefallen.
                                                  Wenn ich überhaupt etwas an diesem Film monieren möchte, dann die holprigen Übergänge zwischen den verschiedenen Erzählsträngen. Einige Male kommt es zu gefühlten Dramaturgie-Brüchen, was dem Fluss der Darstellung etwas schadet. Dass Cianfrance sich mit dem Projekt viel vorgenommen hat, ist unverkennbar, und so fühlt sich dieses 146 Minuten-Mammutwerk alles in allem leider doch ein wenig konstruiert an. Nichtsdestotrotz überwiegen eindeutig die positiven Aspekte – dem Zuschauer eine gute halbe Stunde vor Schluss zuzumuten, sich auf der Zielgeraden noch einmal mit einem ganz neuen Protagonisten auseinanderzusetzen, zeugt beispielsweise durchaus von einer beachtlichen Regie-Courage.
                                                  "Der Ton macht die Musik" gilt hier wirklich in ganz besonderem Maße. Der Weg zur schlichten Akzeptanz gewisser Umstände ist nicht selten gepflastert von gewaltigen Stolpersteinen, führt aber immer auch durch Türen persönlicher Reifeprozesse, bis schlussendlich der ersehnte wie befreiende Blick nach vorne, hin zu neuen Abenteuern erfolgen kann – mit den Erinnerungen, Fähigkeiten und Erfahrungen im Gepäck, die man angesammelt hat und nun vielleicht als Fundament für einen neuen Anfang zu nutzen weiß. Und nein, das ist weder banal noch selbstverständlich.
                                                  Ich hatte nach dem Abspann selten den Eindruck, so unaufgeregt inszeniert so viel wahrhaftiges Leben in einem einzigen Film gebündelt gesehen zu haben. Dabei hatte ich schon Angst gehabt, die Kinovorstellung zu verpassen, da ich wegen eines Staus kurz vor der Innenstadt 15 Minuten zu spät kam und bereits wie ein Rohrspatz vor mich hinschimpfte – zum (wie man's nimmt) "Glück" jedoch war ich (wieder einmal *schnarch!*) die einzige, die sich im Saal eingefunden hatte, und der Projektor wurde freundlicherweise nachträglich (für mich alleine!) angeschmissen. Da konnte ich auch leicht verkraften, dass es wie aus Kübeln goss, als ich (natürlich, ohne einen Schirm bei mir zu haben) nach dem Film wieder auf die Straße trat. Nach diesem sensibilisierenden Erlebnis spürte ich mit jedem Regentropen, der auf mich einprasselte, dass auch ich lebe - mit Höhen, Tiefen und zweiseitigen Medaillen. Ein schönes Gefühl.

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                                                    Mit der Marschroute wird nicht lange gefackelt: Eine Gruppe von Kindern lässt Skorpione gegen einen Haufen Ameisen antreten, um das gesamte Kriechtierbündel schließlich mit geradezu selbstverständlichem Sadismus zu verbrennen.
                                                    Diese Eingangssequenz mag in ihrer Symbolik rückblickend wenig subtil erscheinen, als vorzeitiges Warnschild jedoch schindet sie ungemein Eindruck. Über THE WILD BUNCH liegt ein verstörender Schleier von Unruhe. Ob unbarmherzige (Natur-)Gesetze im weiteren Verlauf mit aller Macht des (vermeintlich) Überlegenen bekämpft, komplett außer Kraft gesetzt oder womöglich (also in umgekehrter Richtung) in grausamster Manier zementiert werden, bleibt abzuwarten – fest steht erst einmal nur, dass ein sinnloses Maß an Destruktion unumgänglich sein wird.
                                                    Sam Peckinpah denkt gar nicht erst daran, auch nur den kleinsten Funken Hoffnung in Kopf und Herz des Zuschauers aufkeimen zu lassen, erstickt jegliche Illusion, hier könnte es ein Happy End geben, gleich mitsamt den Tieren im Feuer.
                                                    Sicher nicht zu sehen bekommen werden wir jedenfalls coole Identifikationsfiguren, die sich nach "getaner Arbeit" (ergo Morden und Vergewaltigen) mit einer Kippe im Mundwinkel für (gefühlt) minutenlang den Cowboyhut zurechtzupfen, um in einem "epischen" Schlussbild gen Sonnenuntergang zu reiten. Peckinpahs Berufung ist der Abgesang, und den erledigt er so dreckig, schnörkel- und schonungslos wie nur möglich. Wer Helden sucht, wird hier mit alten Idealen untergehen.
                                                    Doch es ist nicht allein der Mut zur Hässlichkeit, den ich in der Handschrift des Regisseurs bewundere, es ist auch das nihilistische Kunststück, (fast) alles zu verneinen und einer Gesellschaft ohne das Aufzeigen von Alternativen doch höchst effizient den Spiegel vorzuhalten, also irgendwie am Ende doch zu einer Moral zu kommen. Konsequenter geht Kino praktisch nicht und ich müsste lange nachdenken, bis mir ein Film einfiele, der mir mit vergleichbarem Nachdruck vermittelt hat, dass industrieller Fortschritt auch eine düstere Kehrseite besitzt. Errungenschaften werden zu Waffen umfunktioniert oder gar zweckentfremdet, sofern es nötig ist, eine Vormachtstellung zu erhalten, und natürlich gibt es immer Leidtragende – manchmal (und dies zeigt der Film) sogar eine ganze Gesellschaft, die im Werteverfall begriffen ist, Gut und Böse nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Jede Gefühlsregung wird als Zeichen von Schwäche gnadenlos ausgeschlachtet, doch auch die zynische Flucht in die Gewaltoffensive bewirkt, und das auch nur im Idealfall, natürlich lediglich einen Aufschub des eigenen Verderbens – wiederum auf Kosten anderer. THE WILD BUNCH zeichnet eine Dystopie (?), in der es nicht mehr Sitte von Unsitte zu unterscheiden gibt, sondern nur noch verschiedene Stadien von Agonie.
                                                    Da ist zum Beispiel ein Kopfgeldjäger, der sich gezwungen sieht, einen ehemaligen Weggefährten zur Strecke zu bringen, möchte er nicht selbst den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Oder die kolossal missglückte Verhinderung eines Überfalls, bei der vor allem unschuldige Passanten umkommen. Oder ein Mexikaner, der ausgerechnet nach dem gescheiterten Versuch, seine unterdrückten Landsmänner zu unterstützen, das qualvollste Ende aller Beteiligten erleiden muss.
                                                    Peckinpahs Protagonisten, eine ehemals eingeschworene Bande von Outlaws, wissen, dass es für sie in dieser Welt des Umschwungs nichts mehr zu erobern gibt (symptomatisch: Bei dem bereits erwähnten verheerenden Raub erbeuten sie nur Blech) und so ist es mehr das verzweifelte Anrennen gegen einen Zeitgeist, der diese Männer in Wahrheit längst überholt hat und keinen Platz mehr für sie kennt, sogar ein stärkendes Bindeglied wie Loyalität plötzlich zu etwas Zweckmäßigem und demzufolge Dehnbarem herunter degradiert. Um sie herum: Korruption, Misstrauen und Ungerechtigkeit. Die sarkastische Resignationserklärung an diesen Teufelskreis: Mit wehenden Fahnen in den Tod, auf dass wenigstens dort eine winzige Glut von Ehre zu finden sein mag... Kill it with fire!
                                                    Um schlussendlich noch einmal zu der Sache mit den Naturgesetzen zurückzukommen: Der Kulturpessimist in mir sieht sich nach diesem Film bestätigt – vielleicht wird ausgerechnet die intelligenteste aller Spezies, der Mensch, diejenige sein, welche sich irgendwann selbst ausrottet – und die, die nach uns kommen, werden protokollieren müssen, dass der nicht selten als Misanthrop diskreditierte Peckinpah recht behalten sollte. Der Letzte sammelt die Leichen ein.

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