Jürgen Kiontke - Kommentare

Alle Kommentare von Jürgen Kiontke

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    Gewalterfahrung in Kunst zu verwandeln - das war das Programm des israelischen Dramatikers Juliano Mer-Khamis. Mit seinem Freedom Theatre im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin brach er klassische wie moderne Stoffe auf die Situation des Israel-Palästina-Konflikts herunter. Regelmäßig provozierte der Sohn eines kommunistischen Ehepaares sämtliche Beteiligten. Im Jahr 2011 wurde Mer-Khamis von Unbekannten erschossen, ein Täter wurde bis heute nicht gefunden. Um an den ungewöhnlichen Künstler zu erinnern, haben seine Schauspieler um den Regisseur Udi Aloni ein Porträt des Freedom Theaters gedreht, in dem die Darsteller eine besondere Position zur Welt einnehmen. Sie inszenieren "Alice im Wunderland" mit palästinensischen Kindern, adaptieren "Warten auf Godot" als Trauerspiel.
    Wirklichkeit in Dramatik zu übersetzen, ist für die Akteure nicht leichter geworden; sie sagen, es fehle die integrative Figur des Theaterchefs. Man muss sich erst neu zusammenfinden. Ein Programm für die Zukunft deutet sich jedoch an, einfach wie einprägsam. Irgendwann in dieser denkwürdigen Dokumentation fällt der Satz: "Juliano hat uns auf die Bühne gestellt und da bleiben wir."
    (Vollständige Kritik im Oktoberheft des Amnesty Journal)

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    • 7

      "Viele Deutsche wissen nicht, was in Deutschland passiert." Der Musiker Revelino, der im Asylbewerberheim schmachtet, stellt klar: „Es gibt Menschen, die überrascht sind, wenn wir sagen, dass wir mit fünf oder sechs Personen in einem Raum leben.“ Und zwar jahrelang.
      Still sein geht nicht: Dass er dies in eine Kamera erzählt, ist seinem Talent als Musiker geschuldet. Der Musiker Heinz Ratz, Teil der Band Strom und Wasser, besuchte um die 80 Flüchtlingsheime auf der Suche nach tonaler Kompetenz. Und er wollte nicht nur spielen, sondern dies auch politisch tun. Seitdem ziert der Zusatz "feat. Refugees" den Band-Namen. Künstler wie Revelino fanden in Ratz’ Projekt eine Wirkungsstätte. Man praktiziert, es ist naheliegend, einen Multikulti-Stilmix.
      Das Publikum kommt zahlreich. Anschließend wieder die Anstalt. Oder die Gefängniszelle: Auf dem Bahnhof falle man mit schwarzer Hautfarbe auf und werde sofort kontrolliert, sagt Sänger Sam.
      Die Band bietet einen Kurzurlaub von der überwältigenden Isolation. Die Kamera folgt Ratz und seinen Musikern auch ins Bundeskanzleramt. Die Ausländerbeauftragte Maria Böhmer verteilt ihre Integrationsmedaillen. Ratz sagt: Ich bin kein Freund der deutschen Asylpolitik. Er spricht nicht von Heimen, sondern von Lagern. Mit den Auszeichnungen wandert man davon. Es ist ein Witz und doch nicht: Zwei Wochen später kommt der Abschiebebescheid.
      Oelkers Film, ein bedrückendes Dokument über schwer verständliche Zustände.
      (Vollständige Kritik im Oktoberheft des Amnesty Journals)

      • 2 .5

        Sie ist unumstritten der Rolls Royce unter den Blessuren des humiden Millieus: die Analfissur. Der mehr oder weniger dezente Einriss im hinteren Intimbereich gelangte mit Charlotte Roches beeindruckendem Teenie-Roman "Feuchtgebiete" zu angemessener Berühmtheit. So viele Menschen haben das lustig-traurige Buch über Scheidungskind Helen gelesen, welches sich mit der angesprochenen Verletzung im Krankenhaus befindet und sich so sehr die Wiedervereinigung der Eltern wünscht, dass sich eine Verfilmung auf jeden Fall anbot.
        Regisseur David Wnendt versteht am Wort "Scheid-ung" vor allem die erste Silbe. Deshalb hat er ein munteres, zweistündiges Video rund um Helens Aussonderungsorgane gedreht. Die von Kinderschauspielerin Carla Juri nicht in den Griff zu bekommende Figur der Helen ritzt sich bei der Schamhaarkonturierung leider das Hinterteil ein. Da sie ohnehin, neben der Koprolalie, schon an Hämorrhoiden leidet, landet sie ob des malträtierten Darmausgangs in der Anal-Spezialklinik. Ein Identifikationsangebot nicht nur, aber durchaus auch für die ältere Generation! Anders als deren größte Teile ist Helen aber privatversichert (Einzelzimmerzuschlag!).
        Die 18-Jährige - eine Kombination von Tourette und anderen Lebensfährnissen wie Krankheit, Siechtum, fehlgeschaltete Neuronen. Gender Studies wäre noch zu überlegen. Nun wälzt sich die junge Dame in Trauma, Durchfall und Fantasien. Anders als diverse Sekrete ist der Erzählverlauf dabei nicht immer ganz so leichtflüssig.
        Denn in dieser Regie-Phantasie soll man was zu lachen haben. Wnendts Idee von Kino geht dabei ziemlich weit: Spätestens als vier Pizzabäcker das Produkt ihrer Arbeit mit einer ganz besonderen Protein-Botschaft verzieren, erkennt man das geschmacksgrenzverletzende Potenzial dieses leicht lächerlichen Films, sollte man bis dahin nicht schon eingeschlafen sein. Dickes Minus: Wieder keine Gastrolle für die Mutter des gepflegten Small Talks, Lady Bitch Ray.
        Zwei Assoziationen stellen sich ein, die einem echt nicht mehr aus dem Gehirn wollen: Helen ähnelt per Lockenpilzkopf plus Sprachmodulation in frappanter Weise der Figur Pumuckl. Zweitens handelt es sich bei diesem Film um eine gähnige Mädchen-Version von "Das kleine Arschloch".
        Drogen, Ficken und verkommene verzweifelte Menschen: Um die kleine Arschlöcherin hätte sich doch echt ein tolles, versautes Generationenporträt drehen lassen. Mit Helen gesprochen ist das Ergebnis: Da rein, da raus. Echt arschsträubend!

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        • 6 .5

          "Der Sohn vom Nachbarn hat sich in die Luft gesprengt. Und bumm - jetzt hat er 70 Jungfrauen!", erzählt Abdullah. "Das mache ich auch", antwortet die zehnjährige Wadjda. "Und bumm - dann habe ich 70 Fahrräder."
          Der erste saudi-arabische Film einer Regisseurin, das war klar, wird nicht ohne gewisse sarkastische Härten auskommen. Drehbuchautorin und Filmemacherin Haifaa Al Mansour gibt ihrer kleinen Protagonistin wenigstens sprachlich eine Menge Freiheiten. Wadjda, die Schülerin aus Riad, ist nicht auf ihre Klappe gefallen. Mit viel Witz schlawinert sie sich durch den reaktionären Alltag ihres Heimatlandes: Frauen dürfen nicht Auto fahren und keine Männer ansehen, weil die zurückgucken könnten.
          Und Fahrrad fahren geht gar nicht. Frauen auf Drahteseln können nicht schwanger werden, erklärt die Mutter. Frauen sind es, die hier drastisch auf die Regeln pochen. Die Mutter ist selbst mehr oder weniger Zuhause eingesperrt und harrt dem Schicksal, eine Zweitfrau vor die Nase gesetzt zu bekommen - von der Schwiegermutter.
          Auch für das Mädchen ist bald der Vollschleier angesagt. Der Tag, wie ihn die kleinen und großen Frauen in diesem Film erleben, ist eine einzige fortgesetzte Menschenrechtsverletzung. Reglementiert bis ins Detail, dient die Schule vor allem der Disziplinierung. Für Nichts drohen harte Strafen. Die Freuden beschränken sich auf Koran-Rezitations-Castings.
          "Das Mädchen Wadjda": ein politischer Kinderfilm aus dem Kontrollstaat. Aber en passant erfährt man auch von den Dingen, die möglich sind – Frauen gehen selbstbestimmter Arbeit nach, laufen ohne Schleier rum…. Saudi-Arabien erscheint in Al Mansours Film als gespaltene Gesellschaft. Was kümmert es die die altkluge Wadjda – sie lässt sich nicht vom Träumen abbringen. Mit Abdullah, dem gleichaltrigen Freund, will sie um die Wette radeln. Und irgendwann ist es soweit.

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            Die politischen Bilder verschränkt der Film mit einem bizarren Beziehungsgeflecht. Das Thema: Wie kommt die Demokratie in den Hinterhof der Pyramiden? Weil der Kampf um die Demokratie die Klassenschranken überschreitet, verlieben sich auch ganz andere Menschen ineinander. Der Film reflektiert all dies anhand der Diskussionen zwischen den Protagonisten vieler Lager und gesellschaftlicher Gruppen reflektieren. Dabei ist ihm nicht immer leicht zu folgen, nein: Da sind die Einstellungen lang, dieser Vorgang ist quälend, jene Debatte ausufernd. Aber hier liegt auch die Stärke des Films: Er bezieht Position, weil er zur Diskussion stellt. Mit vielen guten Ideen in der halbdokumentarischen Machart eines Pasolini-Films inszeniert Nasrallah die ägyptische Revolte, die noch nicht weiß, wie sie weitergeht. Ende offen – ein spannender Film mit tollen Schauspielern.

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            • 6

              Schläge, Tritte und Gebrüll: Murat hat es ganz böse erwischt. Sein Selbstfindungstrip aus dem beschaulichen Bremen ins geheimnisvolle Pakistan endet auf bizarre Wiese im US-Knast Guantanamo. Die Betreiber haben erklärt: Menschenrechtskonventionen gelten hier nicht, die Gefangenen sind Gegner der USA.
              Als sich der junge Mann weigert zu sagen, was die CIA-Verhörspezialisten hören wollen, landet er in der Einzelzelle mit 24-Stunden-Neonbeleuchtung. Dann kommt das Schlimmste: Dauerbeschallung mit übelster Country-Musik…
              Was sich wie Slapstick anhört, ist eine ernste Sache: Fünf Jahre war Murat Kurnaz Gefangener im weltumfassenden "Kampf gegen den Terror". Weil er damit allerdings nichts am Hut hatte, gab es auch nichts, was die Aufseher aus ihm hätten rausprügeln können. Nachgewiesen wird ihm nie etwas.
              Regissseur Schaller stellt den Überlebenswillen des Häftlings ins Zentrum. Angekettet auf dem Boden, aufgehängt an der Decke, inmitten der Häftlinge, die wie er ohne ein Gerichtsurteil festgehalten wird. In Rückblenden wird von der Bremer Zeit erzählt, im Abspann von Talkshow-Besuchen. Schallers Film lässt die Ereignisse authentisch, mit guten Schauspielern und extrem gut fotografiert aufleben. Ansichten einer Existenz in Zeiten eines asymmetrischen Weltkrieges nach 9/11.

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              • 6

                Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag sollen die schlimmsten Verbrechen geahndet werden. Grund genug für den Dokumentarfilmer Michael Vetter, die Kamera in Holland nach dem Rechten sehen zu lassen. Im Zentrum seines an Dokufiction-Formate erinnernden Films "The Court" steht der argentinische Jurist Luis Moreno-Ocampo, Chefankläger des Gerichts bis 2012. Vetter folgt ihm bei der Arbeit. Es läuft der Prozess gegen den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga Dyilo. Der Vorwurf: Dyilo soll Kindersoldaten rekrutiert, vergewaltigt und umgebracht haben. Die Anklage hat Beweise gesammelt, Zeugen befragt, schockierende Videos akquiriert. Der Beklagte zweifelt die Echtheit der Beweise an. Er bekommt 14 Jahre Haft.
                Die Ermittlung sei nicht ganz zufriedenstellend verlaufen - Vetters Kamera hält drauf, wenn der Chefankläger sagt: "Wir haben kein Budget mehr. Ich habe kein Geld für den Fall." Dennoch schaut er zuversichtlich auf seinen Arbeitsplatz: "In 20 Jahren werden alle Konflikte gerichtlich gelöst, ganz ohne Bomben. Kriminelle kommen nicht durch, sondern nach Den Haag." Unterstützung für seine Arbeit erhält er von prominenter Seite: Sowohl Benjamin Ferencz, ehemals Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, der sich über Jahrzehnte für dieses Gericht eingesetzt hat, wie auch UN-Botschafterin Angelina Jolie kommen zu Wort.
                Sich hinter dem Job des Juristen zu verstecken, das gelingt am internationalen Gericht selten. Viele Delegationen, etwa aus Palästina, suchen den Kontakt, tragen ihre Anliegen vor, wollen Einfluss ausüben. Für Politik soll dieses Gericht nicht zuständig sein, will Moreno-Ocampo glauben machen. Und ist es dennoch gerade deshalb. Ein denkwürdiges Institutionen-Porträt.

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                • 5

                  Wird nicht gedroschen, gibt’s Graubrot. Witze über spitze Ohren, die latente bis manifeste Homosexualität von Scotty. Das Paar Ohura/Spock streitet. Konflikte in der Gruppe auf Teenie-Niveau. Die Alten schicken die Jungen in den Krieg, die rächen sich mit Väterkillen.
                  Weil der Film nur Typen zeigt, aber keine Charaktere, kann sowas wie filmische Reflexion schlecht entstehen, sie könnte dieses Werk etwas wertvoller machen. Bio-Waffen gegen Wissenschaft, multikulturelle Gesellschaften, wieso überhaupt noch bemannte Raumfahrt – die Themen werden zwar angerissen, doch wird mit ihnen umgegangen, als seien sie ein drehbuchnotwendiges Übel. Das Finale ist fade, eine recht seltsame Umkehrung des Schlusses von "Zorn des Khan". Es geht hier doch recht einfach zu. Aber wenn es schon im Science-Fiction-Film nicht mehrdimensional zugeht – wo dann?
                  So ein Pech, Freunde der Überlichtgeschwindigkeit: Der neue »Star Trek«, Teil zwei – teurer Film, aber eine halbe Nullnummer. Einmal gibt es eine schöne Einstellung: Kirk, der alte Schwerenöter, liegt mit zwei Frauen im Bett. Als jemand den Raum betritt, springen sie heraus und man sieht, dass sie Katzenwesen sind, lange Schwänze haben. Hier ist das Drama für ganz kurze Zeit mal einfach unterbrochen.
                  Die Szene dauert vielleicht zwei Sekunden. Sie wirkt, als habe man vergessen, sie herauszuschneiden.

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                  • 6 .5

                    Faigle hat einen imposanten Film gedreht, der nicht immer die rechten Bilder findet. Da wird es wortlastig, ein Spielfilmregisseur ist Faigle nicht. Aber seine filmische Reise bringt durchaus interessante, unerwartete Weisheiten an den Tag bzw. an den Abend: Auf Hans-Werner Sinns Drohung: "Wir werden immer arbeiten müssen, weil die menschlichen Bedürfnisse nie befriedigt werden. Nicht in den nächsten tausend Jahren!" kontert der lustige Jeremy Rifkin mit einem lebensnahen Zusammenhang zwischen Religion und Arbeitszeit, vor allem ihrer Verkürzung: "Meine Frau hat mal bemerkt: Wer würde auf dem Sterbebett sagen: Wäre ich doch länger im Büro geblieben."
                    Aber wie schon Georg Büchner wusste: Wenn die armen Leute in den Himmel kämen, müssten sie glatt beim Donnern helfen. Im tausendjährigen Reich der Arbeit des Hans-Werner Sinn jedenfalls dürfte eine Menge Schufterei noch über ein Leben hinaus bereitstehen.
                    Ob diese Aussicht die Arbeitsmoral, wie beabsichtigt, senkt? Im Film grölt einer: "Jesus war ein glücklicher Arbeitsloser. Früher wurde man dafür wenigstens gekreuzigt."
                    Jesus, der Faulenzer: Der hat es immerhin bisher auf ein zweitausendjähriges Reich gebracht.

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                    • 7

                      Wie Menschen extreme Zeiten überleben können, zu welchen Einschränkungen sie dabei fähig sind, davon handelt der Dokumentarfilm „No Place on Earth“. Regisseurin Janet Tobias begleitet Christopher Nicola bei der Erkundung eines unterirdischen Tunnelsystems in der Ukraine. Der Höhlenforscher hatte dort eigentümliche Spuren entdeckt: In relativ junger Vergangenheit, in den vierziger Jahren, muss hier eine größere Gruppe Menschen gelebt haben. „Wir hatten keine Freunde, die hatten die Nazis erschossen“, sagen die Protagonisten. Dabei verlief das Zusammenleben unter Tage nicht unfallfrei: Streitereien und gar Schlägereien hat es gegeben. Die Wohnverhältnisse sind selbst für den Höhlenprofi ein Problem. Dennoch sind sich alle einig: Zum Leben war kein Platz auf der Erde, wohl aber darunter: „Man sagte uns, die Dämonen würden in den Höhlen leben. Wir wussten es besser: Sie waren draußen“, berichten die Zeitzeugen.
                      Regisseurin Tobias erzählt die Ereignisse nach, in dem sie Interviews mit nachgespielten Szenen kombiniert, historische Sequenzen mit Erklärungen einbaut. Ihr Film legt Zeugnis davon ab, wie Menschen unter schwierigsten politischen Bedingungen überleben können.

                      • 7

                        Regisseurin Deepa Mehta knüpft geschickt die Fäden und setzt Rushdies Buch kongenial in Szene, findet wunderschöne Bilder, lässt den Zuschauer gar manchmal Ruhe. Geradezu ein Anti-Bollywood-Film, der die Standards des populären Kinos bisweilen auf den Kopf stellt.
                        „Mitternachtskinder“ ist ein großer Wurf von filmischer Beschreibung - romantischer Realismus der ganz großen wie auch kleinen Verhältnisse.

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                        • 6

                          Die Darsteller, allesamt ideal für ihre Rollen, haben hier genug Freiheit, ihren jeweiligen Part auszuleben. Gesten, Aktionen, Dialoge: Die feinen Unterschiede zeigen sich am Rande, im kleinen oder im ganz großen, wörtlich. In einer Szene wollen die Darsteller in Sebastians riesigen Mercedes einsteigen. Die schwarz glänzende Luxuskarre füllt das ganze Bild aus, die Schauspieler müssen sich am Leinwandrand zusammenquetschen. Kaum möglich, dass man überhaupt die Türen aufkriegt! Das teure Fahrzeug will eben nicht jeden in sich drin haben, für Putzfrauen ist es nicht gebaut.
                          Ob die Regisseurin auch so gedacht hat, sei dahingestellt. Sie selbst sieht in ihrem sozialen Kammerspiel verschiedene Themen im Vordergrund: „Wie genau sehen die tief verankerten emotionalen und kulturellen Einstellungen aus, die wir bei den Einheimischen einerseits und bei den Zugewanderten andererseits finden, und welche Haltung zum jeweils ‚Anderen’ ergibt sich daraus?“ Nicht nur Sebastian gelange in diesem Kampf an seine Grenzen, sondern auch Jana, die ebenso voller Vorurteile gegen den Arzt stecke wie umgekehrt - gegenseitige Verachtung als Kommunikationsgrundlage. „Die feinen Unterschiede“ ist ein Berlin-Film der etwas anderen Art, ein Film des neuen Europas.

                          • 8

                            Kaum ist Ahlo auf der Welt, da verlässt er sie beinahe schon wieder. Denn bei seiner Geburt kommt nicht nur er, sondern auch sein Zwillingsbruder auf die Welt. "Die bringen Unglück", sagt die überaus weise Großmutter. "Wir müssen sie umbringen." Aber Ahlos Bruder ist bei der Geburt bereits gestorben. "Also das sind ja nun keine wirklichen Zwillinge", bringt seine völlig fertige Mutter vor. "Den können wir leben lassen."

                            Was für ein Anfang, denkt man, und atmet erstmal durch: Kim Mordaunts Film "The Rocket" beginnt überaus drastisch, und Szenen wie diese bleiben kein Einzelfall. Tod und Leben können im selben Moment auftreten, ja sogar in ein und derselben Sache verborgen sein. Mordaunt hat dieses Leitmotiv unglaublich konzentriert und kunstvoll in die Geschichten des Films verwoben. Auch in der Struktur bildet sich dies ab: rasche Schnitte, schnelle Wendungen, ungewöhnliche Ein- und Ausstiege bietet das Spielfilm-Debüt des australischen Regisseurs.

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                            • 7

                              Dokumentarfilmer Marcus Vetter hat vor einiger Zeit mit seinem Film "Herz von Jenin" einen Hit gelandet. Die Geschichte von Ismail Khatib, einem palästinensischen Vater im Westjordanland, der die Organe seines erschossenen Sohnes an Israelis spendet, sorgte vielerorts für Aufsehen. Aber den wirklich richtigen Vorführsaal hatte der Regisseur offensichtlich noch nicht gefunden.
                              Das Cinema Jenin ist ein Kino, das durch Intifada und israelische Angriffe stark mitgenommen wurde. In den sechziger Jahren errichtet, einst ein schönes Haus und später vor allem als Taubenschlag dienend, fiel der Bau Vetter bei den Dreharbeiten auf. Gemeinsam mit Khatib fasste er den Plan, das Kino wiederzueröffnen. Und Vetter machte daraus, was er am besten kann: Er drehte den nächsten Film über sich. Naheliegender Titel: "Cinema Jenin".
                              Und der ist spannend: Da wird hoffnungsvoll nach Sponsoren gesucht, wo es keine Wirtschaft gibt, es müssen Widerstände bekämpft werden, wo es kaum Förderung gibt. Denn, man glaubt es kaum, so groß ist das Interesse am Film vor Ort nicht: Alles was aus dem „Westen“ kommt - und dazu gehört das Kino wohl im Allgemeinen und Vetter im Besonderen -, wird verteufelt. Es gibt Kräfte, die sagen, jetzt geht die eigene Kultur zugrunde. Der Spielplan muss mit dem Mufti abgesprochen werden, und was die Israelis zu dem Projekt sagen, ist noch gar nicht raus. Nichts ist einfach, nichts klappt beim ersten Mal. Eine irrwitzige Dokumentation über ein irrwitziges Projekt.

                              • 6
                                über Yossi

                                Ein grundpositiver Film: Fazit: Auch für schwere Fälle gibt es ein Leben jenseits von Arbeit und Trauer. "Yossi" ist eine gewagte Mischung aus Krieg und Zukunft.

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                                  über No!

                                  "No!" ist der letzte Teil von Pablo Larraíns Diktatur-Trilogie. Während in vorangegangenen Filmen die Anfänge und Hochphase des brutalisierten Pinochet-Regimes standen, steht hier ihr vermeintliches Ende im Vordergrund. Dabei steht die Figur des René prototypisch für den jüngeren Teil der Mittelschicht Chiles: Man hat zwar Opfer in der Familie, lebt aber nicht schlecht mit den neoliberalen Attributen der Gegenwart. Und so muss sich René mit seinen flotten Kampagnen-Ideen vor allem vor jenen Politikern rechtfertigen, die selbst verfolgt sind und so alt wie seine exilierten Eltern sind.
                                  Die "No"-Kampagne, so wichtig sie gewesen sei, habe erst recht zur Konsolidierung des Kapitalismus als einzig möglicher Form des Zusammenlebens geführt, so Larraín. Nicht immer kommt diese komplexe Sicht der Dinge im Film zur Geltung. Der Grund: Die Leistung der Schauspieler, allen voran die von Gael Garcia Bernal als René, ist so gekonnt, das die Figuren völlig sympathisch wirken. Aber dies kann auch als doppelte Botschaft dieses wunderbaren Films gelesen werden, der wenig Schwächen hat außer dass er manchmal ein wenig auf der Stelle tritt: Trau nie den schönen Sprüchen der Politik. Sie könnten schnöde Werbung sein.

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                                    Die Industriegesellschaft macht Müll. Und der muss irgendwo hin. Zum Beispiel auf die Müllkippe.
                                    Die schönste aller Müllkippen ist die in Çamburnu, einem Bergdorf im Nordosten der Türkei. Da ist sich zumindest deren Bauleiter vollkommen sicher. Zu seinem Glück darf nun die ganze Welt von seinem sexy Projekt erfahren. Denn Çamburnu ist auch das Heimatdorf der Großeltern von Regisseur Fatih Akin. "Müll im Garten Eden" nennt er seine Langzeitdokumentation über den Untergang der Gemeinde, die er zusammen mit den Einwohnern sechs Jahre lang gedreht hat.
                                    Angeblich ist das Lager sicher. Bald aber sind Risse im Gummiboden, Giftströme schwappen durchs Dorf - den Regen hatte man nicht auf der Rechnung. Man hat auch gesagt, der Müll würde nicht stinken. "Stimmt", merkt ein Anwohner an. "Zumindest nicht nach Müll. Die angelieferten Pakete waren mit Parfüm besprüht."
                                    Allen Ernstes stehen auch jetzt am Rande des ehemaligen Kupfertagebaus Parfüm-Sprüher. Ein schlüssiges Müllkonzept hat der Distrikt einfach nicht. Man hofft, dass das Zeug von allein vermodert. In den nächsten paar Jahrhunderten.
                                    Çamburnu lebt vom Teeanbau - mit den Giftstoffen im Wasser kann man den getrost vergessen. Aber die Menschen lassen sich keinesfalls unterkriegen: Sie demonstrieren, blockieren, reichen Protestnoten ein - und behelfen sich mit Alltagswitz. Ihrem gemeinsamen Engagement ist dieser Film gewidmet.
                                    Aber in Akins wunderbarem Film kommen alle zu Wort: Ingenieure und Umweltminister, die Natur und sogar der Müll selbst: Der lässt nämlich fröhlich Gas ab. Verschwiegen wird dabei nichts: Zum Beispiel, dass bis dato der Müll einfach an den Strand gekippt wurde - auch der von Çamburnu.

                                    • 9

                                      Mit "Searching for Sugar Man" hat Regisseur Bendjelloul einen herzergreifenden Film über die Suche nach Sixto Rodriguez gedreht. Zudem ist daraus ein überzeugendes Porträt der siebziger Jahre entstanden. Aus den Statements vieler Zeitzeugen dieses besonderen Musikers und Originalaufnahmen aus den USA und dem Südafrika der siebziger Jahre ist das zu Recht preisgekrönte Werk gelungen zusammengesetzt und mit dem nötigen Drive geschnitten. Es ist auf vielfältige Weise einfach unterhaltsam, anregend und mitreißend. Rührendes Finale!

                                      • 6

                                        Wie lebt es sich, wenn man in Europas Peripherie auch noch Außenseiter ist? Darragh Byrnes dokumentarischer Spielfilm „Parked - Gestrandet“ gibt darauf eine Antwort.
                                        „Parked - Gestrandet“ heißt nur allzu sinnbildlich Darragh Byrnes Spielfilm, dessen Held sich zwischen allen Parklücken wiederfindet. Weil Fred keine korrekte Adresse vorweisen kann, bekommt er keine Sozialhilfe. Und weil er die nicht hat, keine Wohnung. Das ist die gelebte Tautologie des westlichen Abstiegs: Weil Fred keinen Wohnsitz hat, hat er keinen Wohnsitz.
                                        Eines Tages kommt Besuch. Der junge Cathal (Colin Morgan) zieht „nebenan“ ein - er stellt seine Karre neben Freds. Man kommt sich näher. Doch zunächst werden die beiden zentralen Figuren mit wenig Hintergrund exponiert. Cathal kennt nichts außer seiner Drogensucht, von Fred erfahren wir nur so viel, dass er mal als Uhrmacher gearbeitet hat, einem Gewerbe, dem es nicht mehr gut geht.
                                        Die filmische Absicht ist: Die beiden Männer sollen soziale Verhältnisse widerspiegeln. Folgerichtig müsste nun Fred kriminell werden und Cathal bürgerliche Karriere machen. Aber mit Filmlogik kommt man hier, wie an manchen Stellen des Films, nicht weiter. Es ist eher eine Bestandsaufnahme, denn Europa hat sich in ein Armenhaus verwandelt.
                                        Man ahnt: Für die beiden wird es keine glückliche Wendung geben. Die prekarisierten Gestalten, Randfiguren in der Mitte der Gesellschaft, finden in Byrnes Sozialdrama keinen freundlichen Ausgang. Der angedeutete Gemeinschaftsgeist der Iren, der das Schicksal der Armut für Momente aushebelt - im Schwimmbad oder bei Chorstunden - konnte zwar die Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt rücken, aber angesichts der bedrückenden Lage findet er wenig Hebelwirkung. Nicht nur die Banken und der Staat, auch die Gesellschaft ist irgendwie pleite gegangen.

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                                          Käpt’n Ahab trifft Dorian Gray, während das "China Syndrom" läuft und Woody Allen einen Seniorenstift aufmischt, unterbrochen vom Hello-Kitty-Kellnerinnen-Plot im Matrix-Style. Dann gibt’s noch ein bisschen "Underworld"/"Mad Max" zum Ausstieg. Das setzt allerdings voraus, dass man überhaupt einen Einstieg gefunden hat.
                                          "Cloud Atlas" ist eine Literaturverfilmung, der Roman "Der Wolkenatlas" von David Mitchell hat 600 Seiten – Literaturverfilmung, een janz schwierijet Kapitel. Bücher im Kino: zerhackt, zerstückelt, verfälscht. Aber mal ehrlich, wer geht ins Kino, um den Abgleich mit der Vorlage zu machen? Geht man nicht eher in den Film, um das Buch nicht lesen zu müssen?
                                          Im Fall von "Cloud Atlas" gibt es allerdings schon bei der Vorlage ein gehöriges Hindernis für eine mögliche userfreundliche Umsetzung: Es werden sechs Geschichten parallel erzählt. Das Buch galt als unverfilmbar. Recht so.
                                          Was sich in literarischer Form gut ausnehmen mag, führt im Kino denn auch zu einem psychoseartigen Zustand. Es schnattert gewaltig mal sechs. Und das in einem topmodernen Erzählmodell. Alle geschätzten 45 Sekunden wechselt die Szenerie, das dürfte der durchschnittlichen Dia-Show-Taktrate des neuen Apple MacPro entsprechen – das große Zugeständnis an die Sehgewohnheiten. Wie Zappen, aber ohne Fernbedienung. Als wenn dieser optische Terror nicht genug wäre, spielen dieselben Schauspieler in sechs Erzählsträngen unterschiedliche Figuren. Nach Aussage der Regie sind aber alle Stories miteinander verbunden. Hoffentlich stimmt’s!
                                          Manche Filmkritiker liefen schon schreiend durch die Straßen und luden sich schnellstens die Motz-App vom Synonym-Lexikon herunter, um dem Werk angemessene Beschimpfungen zu finden. Einer hat sogar die Absätze seiner Kritik nummeriert, um die Steigerung des Ärgers zu versinnbildlichen! Auch sei der Film nicht werkgetreu und verkehre die Botschaft des Buchs ins Gegenteil. Scharen von lustigen Blog-Einträgen gutmeinender Filmliebhaber werden folgen. Gern sagt man in so einem Fall: Der Film wird für Diskussionen sorgen.
                                          "'Cloud Atlas' zeige, dass man in der Lage sei, mit dem Know-how in Deutschland solche großen Filme, solche herausragenden Bücher mit kleineren Mitteln umzusetzen, sagen die Macher. Von einem Hollywood-Blockbuster unterscheide der Film nicht viel.
                                          Der Verdacht liegt nahe, dass man im Kino kein Zuschauer mehr ist, sondern Kunde. Was macht eigentlich die Filmkunst so?
                                          "Cloud Atlas" ist der erste Hollywood-Blockbuster aus Deutschland, ganz ohne in üblichen Hollywood-Schnickschnack wie zum Beispiel – nennen wir es neudeutsch: Viewability. Den herkömmlichen Hollywood-Streifen kann man sich immer noch ansehen, ohne nachhaltig krank zu werden. Das Buch war zwar nicht unverfilmbar, aber der Film ist mehr oder weniger unansehbar.

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                                            Zu Wort kommen in dem Film Wissenschaftler und Aktivisten aus verschiedenen Ländern. Der rote Faden ist relativ offensichtlich: Allen ist klar, dass man so wie bisher diesen Planeten nicht mehr lange wird ausbeuten können.
                                            Der Film muss schnell auf den Punkt kommen. Er dauert nur knapp eine Stunde und seine antiimperialistischen Botschaften sind ja auch nach relativ kurzer Zeit verständlich. Man wünscht sich schnell einen anderen, einen vernünftigen Kapitalismus.
                                            Der Film zeigt mit vielen Vereinfachungen, dass sich die Welt derzeit in mindestens zwei große gegensätzliche Richtungen entwickelt - einerseits als Filz aus Regierungen und Großindustrie. Globalisierung wird als Verfestigung der Macht von Eliten interpretiert. Andererseits widersetzen sich dem an vielen Stellen Menschen mit der Forderung die Macht zurückzudrängen. Handel und Finanzen dürfen das tägliche Leben nicht zerstörerisch beeinflussen. Menschlichkeit und Ökologie sollen den Alltag bestimmen.
                                            Die Ökonomie des Glücks“ ist ein furchtbar emphatischer Film. Dass die guten Menschen vor der Kamera vor Engagement nicht anfangen zu weinen, ist erstaunlich. Oft treten die seichten Bekenntnisse in brutalen Widerspruch. Die alternativen Experten, die da in ihren Büros Berechnungen anstellen, sitzen allesamt inmitten von High-end-Maschinen; Computern, die nur mit der Technologie ebenjener kritisierten Großkonzerne entstehen konnten. Fortschrittliche Bereiche - wie etwa die medizinische Versorgung - werden komplett ausgeklammert, Investitionen und Industrieansiedlungen in strukturschwachen Regionen werden nicht weiter thematisiert.
                                            Nichts destotrotz behandelt der Film diskussionswürdige Prozesse. Auch angesichts der hiesigen Wirtschaft sollte man sich das alles Mal genau ansehen. Großprojekte haben regelmäßig Vorfahrt vor dezentralen und sinnvolleren Praktiken.

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                                              Warum solch eine Komödie? "Um widersprüchlich zu sein", sagt der Regisseur. Die Figuren erlebten eben Dinge, die manchmal lustig seien, manchmal nicht. "Wir dachten, wir suchen uns einen der komischen Momente heraus." Bemüht, einen charmanten Helden zu zeigen, der von ganz unten aufsteigt, um mit der Liebsten in den Sonnenuntergang zu fahren, denunziert der Regisseur das gesamte Personal: Nach dem dritten schlechten Gag ist jedem bewusst, dass die da unten grenzenlos doof sind. Einige aber sind fit genug, um ihr Ding zu machen, mit denen lässt sich reden.
                                              Der Verdacht drängt sich auf, dass hier in eine bestimmte Richtung gelacht werden soll: aus der Mittelschicht nach unten.
                                              Und so wirkt der Film bisweilen wie eine Karikatur der Ken-Loach-Filme, wie man sie kannte. "The Angels’ Share" ist, leider und ganz untypisch, soziales Kino mit den Mitteln von Matthias Richling. An den Schauspielern liegt es im Übrigen nicht: Die sind zum großen Teil Laien und machen ihr Ding.
                                              Loach hat Recht: ein Film, der Widerspruch erfordert.

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                                                Die Figuren agieren recht holzschnittartig. Und erzählt wird, wie in solchen Filmen üblich, ahistorisch. Eine politische Analyse des Ost-West-Konflikts erschließt sich in Spurenelementen, Hinweise gar auf den Zweiten Weltkrieg sucht man gar vergebens.
                                                Stärken entwickelt der Film allerdings in der Schilderung des Gefängnislebens. Was es bedeutet, wegen einer Nichtigkeit eingesperrt zu sein, wie sich der Druck zwischen den Insassen aufbaut, das vermittelt "Wir wollten aufs Meer" recht eindrücklich.

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                                                  Menschenrechte, Krieg und Frieden bringt "Parada" mühelos mit viel Irrwitz zusammen.
                                                  Publikumserwartungen aufzubauen und zu dekonstruieren, das ist hier das Strukturprinzip. Tempo- und ideenreich, bunt und schön und auch traurig.

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                                                    Wer einen Homosexuellen kennt und ihn nicht meldet, kann mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden: Gesetzentwürfe in Uganda sprechen, was den Umgang mit Minderheiten angeht, eine deutliche Sprache. Der angeführte Wortlaut stammt aus dem Jahr 2009, auf internationalen Druck wurde er auf Eis gelegt. Zunächst. Wie lebt es sich in diesem Land?
                                                    Das wollten die Filmemacherinnen Katherine Fairfax Wright und Malika Zouhali-Worrall genau wissen. In ihrem Dokumentarfilm "Call me Kuchu" wollten sie offen gleichgeschlechtlich lebende Menschen in Ugandas Hauptstadt Kampala porträtieren. Viel suchen mussten sie dafür nicht: David Kato war zunächst einmal der erste und einzige, der sich das traute. Wenige folgten ihm. Die vielen anderen umgeben sich mit Schein-Ehepartnern oder Anonymität. Vorsichtig gefeiert wird hier hinter hohen Mauern. Die zwei Regisseurinnen begleiten den Aktivisten durch den Alltag. Dabei kommt zur Sprache, in welcher Atmosphäre die Rechtsprechung entsteht: 95 Prozent der Bevölkerung sprechen sich gegen Homosexualität aus. Und es kann durchaus sein, dass auch Schwule dies aus Angst selbst angegeben haben. In der Kirche werden sie verdammt, die Politik treibt sie in die Illegalität. Und die Medien fordern unverhohlen dazu auf, Homosexuelle aufzuhängen. Die entsprechenden Adressen werden gleich mitveröffentlicht. Auch die David Katos ist dabei. "Kuchu", das ist das Wort für Leute wie Kato.
                                                    Ein atmosphärisch dichter Film, der Bilder aus einer Kampfzone liefert. David Kato wird noch während der Dreharbeiten ermordet. Es ist das Jahr 2011, und bald darauf wird die Diskussion um das verrückte Gesetz, das einen ins Gefängnis bringt, sollte man einen Homosexuellen kennen, wieder aufgenommen.
                                                    Dieser Film kommt ohne jeden Off-Kommentar aus, die Arbeit der Regisseurinnen besteht nicht im Werten. Das brauchen sie auch nicht. All zu vieles in diesem bedrückenden Film spricht für sich selbst.

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