Jürgen Kiontke - Kommentare

Alle Kommentare von Jürgen Kiontke

  • 7
    über Cato

    „Ich spürte den Ruck. Und der Kopf fiel ab. Vielleicht in ein Loch, wo schon viele andere Köpfe lagen.“ Die 22-jährige Cato Bontjes van Beek weiß, was kommt. Ihre eigene Hinrichtung hat sie schon geträumt.
    Was Dagmar Brendeckes Dokumentation „Cato ist immer noch hier“ bietet, ist ganz harter Stoff. Der Film erzählt die Lebensgeschichte von Cato Bontjes van Beek - eine der vielen bisher nicht beachteten Biografien aus der Zeit des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.
    Cato, geboren 1920 in Fischerhude bei Bremen träumt viel das Richtige - vom Fliegen, von der Großstadt, von der Kunst. In den dreißiger Jahren zieht sie nach Berlin.
    Doch die Zeichen stehen schon auf Krieg. Als er schließlich beginnt, wird Cato aktiv: Die junge, selbstbewusste Frau kommt in Kontakt mit den Aktivisten der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“.
    Versorgt sie zunächst heimlich Kriegsgefangene, soll sie alsbald mit Freunden agitatorische Flugblätter schreiben. Die Gruppe wird entdeckt, Cato verhaftet und zum Tode verurteilt.
    In Brendeckes Film wird die junge Frau durch ihre Briefe lebendig. Schwester und Bruder, die Freunde kommen zu Wort. Und erzählen, dass es bis 1998 gedauert hat, das Unrechtsurteil zu revidieren. Widerstand im Nationalsozialismus galt auch danach noch als Verrat.
    Niemand kann das Mädchen vergessen, und das ist gut so. „Ich will nur eines sein, ein Mensch“, heißt es in einem ihrer Briefe. Und kurz vor der Hinrichtung: „Es gibt keinen Tod.“
    Ein beeindruckendes Filmdokument: Durch Brendeckes Film erfahren wir von diesen Ereignissen, als seien sie eben erst passiert.

    • 7

      „Zwischen uns das Paradies“ - dieser Titel beschreibt sehr genau die Konstellationen in diesem Film von Jasmila Žbanic.
      Denn in den Menschen - dem Paar Amar und Luna - ist kein Frieden, sie sind orientierungslos und haben wenig Erfahrungen machen können, die ihnen in der Gegenwart helfen könnten.
      Und so sucht Amar seine alten Kumpane aus der Kriegsgarde auf, stellt fest, dass sie sich religiös-fundamentalistisch radikalisiert haben und findet Geschmack am rigiden Leben, weil es Ordnung schafft. Er nimmt allzu gern die rasch versprochene Hilfe seines alten Mitkämpfers Bahrija an, der zu einer streng religiösen islamischen Wahabiten-Gemeinde konvertiert ist: Die Religion verspricht in der gegenwärtigen Unübersichtlichkeit den Durchblick.
      Auch Amar ist dafür empfänglich. Dabei hat die religiöse Wende zunächst mal durchaus positive Züge: Mit dem Alkohol ist jetzt Schluss. Bald stellt sich allerdings ein neues Problem: Amar will ganz Sarajevo das Trinken verbieten.
      Mit ähnlichem Furor wendet er sich seiner Beziehung zu - dass Luna immer noch nicht schwanger ist, schreibt er nicht seiner Alkoholverseuchung an, sondern ihrer Gottesferne zu.
      Und er legt noch einen drauf: Nur die Lockerung religiöser Traditionen und die mangelnde Konsequenz bei ihrer Ausübung habe die muslimische Bevölkerung zum Opfer eines Völkermordes machen können. Luna, die Familien und Freunde, sie sind schockiert von den Ausmaßen der Veränderung und von ihren Anmaßungen.
      Die Grenze des Krieges, erzählt dieser Film, verläuft durchaus einmal quer durch die Menschen, durch jeden einzelnen. Zwischen ihnen mag das Paradies liegen, aber das ist nicht das Leben - Regisseurin Žbanic ist es gelungen, verwirrende Zustände gekonnt ins Bild zu setzen.

      2
      • 7

        Polanskis Film ist eine erstaunliche und sehr direkte Auseinandersetzung mit der Frage von Verantwortung im Krieg: Voller überraschender Wendungen, ein intelligentes Spiel rund um die Macht. Und ein Plädoyer ans Publikum, gerade bei allzu augenfälliger Argumentation möglichst genau hinzuschauen.

        • 6

          Social Networking heißt das Zauberwort in dem Film „8. Wonderland“ von Nicolas Alberny und Jean Mach: Eine weltweit operierende Gruppe Aktivisten findet in einer geschlossenen Internetplattform zusammen, verabredet politisch korrekte und schöne Aktionen und hat sich ganz allgemein dem zivilen Ungehorsam verschrieben.
          Die Mitgliederzahl des „Wonderland“ geht in die Millionen; die globalisierungskritischen Widerständler langweilen sich in öden Jobs, deren Infrastruktur sie effektiv für ihre politischen Ziele benutzen.
          Aber um am Ball zu bleiben, werden die Aktionen zunehmend radikaler. Die Web-Revoluzzer verlieren alsbald den Überblick zwischen Nachrichten und Verschwörungstheorien, Trittbrettfahrer erledigen das Übrige. Alsbald gehören sie selber zu den Gejagten.
          „8. Wonderland“ ist eine geschickte, ironische, wenn auch manchmal etwas durchsichtige Reflexion über die Kanäle moderner Protestkommunikation.

          • 7

            „Themba“, die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Lutz van Dyk, steht in der Tradition herausragenden sozialen Filmschaffens. Das ist auch der Grund, warum er diesen Sommer beim Filmfest in Emden den DGB-Filmpreis gewann.
            Denn am Fußball wird hier deutlich gemacht, unter welchen Bedingungen Teile der südafrikanischen Bevölkerung leben. Und mit dem Weltklassetorhüter Jens Lehmann, der in „Themba“ John Jacobs, den Leiter einer Fußballschule, spielt, hat der Film auch ganz schön prominente Unterstützung.
            Der Star ist aber der junge Themba, der dem Werk den Namen gibt. Themba ist einerseits ein ganz normaler Junge, der mit seiner Mutter und Schwester in einem kleinen Dorf lebt. Andererseits ist er ein Superfußballer, dessen Talent noch entdeckt werden soll.
            Im Vordergrund steht aber die Armut. So thematisiert der Film Gewalterfahrungen, Einsamkeit und prekäre Lebensverhältnisse. Und während er als Spieler Karriere macht, steht am anderen Ende der Skala dies: Infolge einer Vergewaltigung ist der Junge AIDS-krank.
            „Themba“ ist gelungenes soziales Kino. Der Film verknüpft geschickt Soziales mit Populärem, erzählt gekonnt, was schwer vermittelbar scheint.

            • 2

              Das Dschungelcamp als ganz großes Leinwandspektakel. Aber coole Filme zu machen, ist Rodriguez' Sache nicht. »Predators« fügt dem Weltraum-Jäger-Genre nichts Neues hinzu. Woher auch. Diese Filmemacher haben schlichtweg keine Sprache, Bilder haben sie aber auch nicht. Nicht einmal für die Unsichtbarkeit. Und so ist dies ein Film, der schon tausendmal lief.
              Auch auf dem Sektor Waffen, Ekel und Gewalteinsatz kann dieser Film nicht punkten. Statt dessen gibt es eine Liebesgeschichte, während das Unsichtbare besiegt in der Ecke liegt.
              Nein, es hat hier keine Wiedergeburt erfahren. Der SF-Film wird zum Kleinfamilienkino: »Predators« richtet sich eher ans adoleszente Publikum denn an seine alleinerziehenden Mütter. Sollten diese zufällig Science-Fiction-Filmfans sein, denen nach großen Utopien, überzeugenden Bedrohungsszenarien oder einfach nur interessanten Bildern ist, haben sie wieder einmal Pech gehabt.

              • 8

                „Altiplano“ ist in seiner Bildgestaltung und Grundstruktur überbordend gewaltig. Weil Brosens/Woodworth das Grundprinzip von Fluss und Stillstand in all seinen Emanationen auf die Leinwand zu bringen gedenken: Rennen gegen Liegen, Standfotografie gegen Film, Farben und Masken gegen die Öde, Gegenwart gegen Vergangenheit, Schreie gegen die Stummheit, Mensch gegen Maschine. Es tritt das Bewegte gegen das Starre an, und das in jeder Szene aufs Neue. Immer wieder hält dieser Film an, um seinen Einstellungen ihre notwendige Eigendynamik zu geben. Mit den Mitteln des Theaters und der bildenden Kunst wird gearbeitet, dass einem schwindelig werden mag: Die Dorfbevölkerung staffiert sich selbst mit bunten Farben, den Insignien der Kirche und der Landschaft aus und flankiert ihre Hauptfiguren mit Spalieren aus Tuch. Saturnina/Magaly Solier, die im Blumenbett liegt, das stumm schreiende Gesicht vor der leer gefegten Landschaft oder gar in Kontrast zu den Schwarzweiß-Erinnerungen der Kriegsreporterin.
                „Altiplano“ ist durchaus als cineastische Grenzerfahrung zu rezipieren - auf über 40 Filmfestivals war man ebenfalls dieser Meinung. Die Regisseure sagen, ihnen fehle am heutigen Kino oft das Geheimnisvolle.
                Ihren eigenen Film können sie nicht gemeint haben.

                1
                • 5
                  über Lebanon

                  Der Krieg in Brennglasoptik: In seinem Film „Lebanon“ verengt Regisseur Samuel Moaz den Blick auf die dramatische Vorgänge auf ganz drastische Weise: Durch das Zielfernrohr eines Panzers versetzt Moaz den Zuschauer in die Lage junger Soldaten während des Gefechts. Diesen Blickwinkel soll dieses Waffenkammerspiel erst am Schluss verlieren.
                  Es ist 1982, die israelische Armee hat ihren Feldzug im Libanon gestartet. Die naiven Soldaten kommen gerade aus der Ausbildung - bisher hätten sie nur auf Fässer geschossen, beklagt sich der Panzerschütze.
                  Und nun finden sie sich wieder in einem Feld voller Sonnenblumen am Rande des Krieges. Gemeinsam mit einem Trupp Infanteristen sind sie auf der Suche nach Verstecken der Palästinensischen Befreiungsfront. Blitzschnell kommen die Befehle herein, sofort muss reagiert werden.
                  Bei ihrem Einsatz macht die unerfahrene Crew grundsätzlich alles falsch, was falsch zu machen ist: Während einer Geiselnahme greift die Mannschaft trotz dringender Aufforderung nicht ein. Paralysiert vom Leid der Opfer ist keinem klar, welcher Knopf der Maschinerie zu drücken ist. Als alles vorbei ist, legt sie jedoch das Gebäude in Schutt und Asche. Und die Geiseln gleich mit.
                  „Lebanon“, das ist ein Antikriegsfilm, der aus den Vorgängen jenes Libanon-Feldzugs ein allumfassendes Bedrohungsszenario herausfiltern soll. Er stellt Fragen nach Moral, Überforderung und universellen Menschenrechten in kriegerischen Situationen. Dafür entwirft Moaz eine klaustrophobe Situation, in der jede Entscheidung falsch ist. Er benutzt eine radikal reduzierte Bildsprache, die sich ganz auf die Geschehnisse in und um die Kriegsmaschine herum konzentriert.
                  Dafür verendet er Einstellungen und Elemente des sinnentleerten Horrorfilms in der Machart von „The Cube“, die er auf ein lebensechtes Szenario überträgt. Der Panzer, das ist hier ein rostiger Endzeitapparat, ein als apokalytischer Sarg. Er vermittelt Tod nach innen wie nach außen.
                  20 Jahre habe er gebraucht, um ein Drehbuch zu verfassen, so der Regisseur. Er sagt, er habe selbst an diesem Krieg teilgenommen dort Menschen getötet.
                  Ob solcher Aussagen bleibt einem nicht nur die Beklemmung im Hals stecken: Der Soldat dreht einen Film über sich selbst im Krieg, die Opfer der Kämpfe tauchen nur kurz vor dem Zielfernrohr auf.
                  Sollte ausgerechnet dieser Film auch noch preisverdächtig sein?
                  Bei den Filmfestspielen von Venedig ließ sich die Jury um Ang Lee im Jahr 2009 von dieser Authentizität beeinflussen: Film, entschied sie, müsse radikal sein. Und vergab den Hauptpreis, den Goldenen Löwen, an Moaz für sein Erstlingswerk.

                  • 5

                    Der politische Film mit den Mitteln des Bollywood-Kinos: Der wahrscheinlich beliebteste Filmstar der Erde, der indische Schauspieler Sha Rukh Khan, dessen Fans in Milliarden gezählt werden, hat sich der Entwicklung der internationalen Beziehungen in der Folge der Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 angenommen.
                    In „My Name is Khan“ spielt er den in den USA lebenden, indischstämmigen Moslem Rizvan Khan. Er leidet am Asperger-Syndrom, einer Form der autistischen Krankheit. Der jeglichem Sarkasmus abholde Mann hat sich verliebt - in Mandira. Die beiden heiraten, eine wichtige Aufgabe scheint damit erfüllt: Hat doch Rizvan einst seiner Mutter versprochen, glücklich zu werden - endlich mal eine vernünftige Elternforderung!
                    Dann bringen die 9/11-Anschläge alles durcheinander. Die Welt polarisiert sich schlagartig. „Ich heiße Khan und ich bin kein Terrorist“ - zu diesem Statement ist Rizvan jetzt aufgrund seines muslimischen Hintergrunds gezwungen.
                    Rizvan sieht sich genötigt, einmal quer durch die USA zu reisen, er hat nun dringenden Gesprächsbedarf - beim US-Präsidenten.
                    Ideologien seien zwar gut und schön, aber man müsse ja nicht den ganzen Tag dran denken, kontert Schauspieler Khan jene Kritiken, die dem Film eine gewisse Naivität unterstellen. Sein Medium sei das Kino, ihm gehe es um wunderbare Unterhaltung, sagt der wunderbare Entertainer. Und die diene dem friedvollen Zusammenleben.

                    • 7

                      In »Postcard to Daddy« geben die Protagonisten alles. Stock hat eine Form gefunden, um ein Tabu-Thema zu verhandeln. Der Film läuft an zu einem Zeitpunkt, wo sich ganz Deutschland über wenig anderes als sexualisierte Gewalt unterhält. Stock gewinnt mit seinem Film Festivalpreise. Der Gang zum Vater konnte es nicht, aber vielleicht hilft die Flucht in die Öffentlichkeit, mit der zerstörten Vergangenheit zu versöhnen. Anders ging es nicht.

                      • 7

                        Es ist das dicke Ding dieses Sommers: die Fußballweltmeisterschaft. Sie findet in Südafrika statt, und damit das erste Mal überhaupt in einem afrikanischen Land. Das Ereignis ist also eminent wichtig, denn die ganze Welt wird darauf schauen, wie Südafrika die Aufgabe stemmen wird. Derzeit sieht es so aus, als würden sämtliche Planungen übererfüllt - und alle Stadien, Quartiere und Straßen vorzeitig fertig.
                        Dennoch darf die soziale Wirklichkeit hinter dem Großereignis nicht vergessen werden, sagen die Kölner Dokumentarfilmer Alexander Kleider und Daniela Michel.
                        „Im Schatten des Tafelberges“ ist ein Beitrag über die Rückseite jener Gesellschaft, die jetzt im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht: ihre Art zu leben, ihre Art der Arbeitsverhältnisse, ihre Widersprüche.
                        Der bemerkenswerte Film befindet sich derzeit auf - sehr erfolgreicher - Deutschlandtournee.

                        • 6

                          »Sin Nombre« ist ein durchaus zynischer Film, der mit den Schau- und Schauerwerten der Peripherie spielt. Die Logik des Lebens am Rande eines guten Lebens wird durch intelligente wie drastische Regiekniffe geschildert.
                          Erzählt wird von einer Realität, in der Kindlichkeit eine militärische Qualität ist, und oft folgt auf die Kindheit nicht einmal eine prekäre Jugend, sondern gleich der Friedhof.

                          • 8

                            Der Dokumentarfilm "Waste Land" von Lucy Walker ist ein Film über die menschliche Würde. Der Künstler Vik Muniz, in São Paulo geboren und in Rio de Janeiro heimisch geworden, ist der Star der New Yorker Szene. Zu Beginn des Films sagt er: "Ich möchte den Leuten meiner Heimatstadt etwas zurückgeben."
                            Dafür zieht er auf Rios größte Müllkippe, den Jardim Gramacho, wo Lucy Walker unter anderem seine Arbeit mit der Kamera verfolgt. Hier arbeiten Menschen, denen für das, was sie täglich bewegen und in dem sie knietief stehen, das Wort "Müll" gar nicht in den Sinn kommt: Sie sortieren die Reste der brasilianischen Gesellschaft, von recyclebarem Material ist die Rede. Blech, Plastik, Metall - das sind die Rohstoffe, die sie sammeln und zum Händler bringen.
                            Man nennt diese Leute "catadores", Pflücker, und ihnen widmet Muniz seine Kunst: Er macht Porträtfotografien, die er aus großer Höhe auf den Boden einer leeren Fabrikhalle projiziert. Ihre Bilder legen die Sammler dann mit Recycling-Stoffen aus. Muniz fotografiert auch dies, und zieht die Bilder groß ab.
                            Dass der Film etwas von der "Größe, Würde und emotionalen Intelligenz" der Menschen transportiere, dies sei sein größter Verdienst, sagte Laudatorin Sukowa. Sollte irgendjemand den Menschen am Rande der Gesellschaft mit Vorurteilen begegnen, so "stellt sie dieser Film in Frage".
                            Lucy Walker ist ein Film gelungen, darüber, wie man in schwierigsten Situationen die Haltung bewahrt.

                            2
                            • 7

                              "Son of Babylon" produzierte Regisseur Mohamed Al-Daradji selbst, denn das Budget war klein. Dieser Umstand hatte praktische Folgen: Es wurde an Originalschauplätzen mit Laien gedreht. Und das war eine gute Entscheidung.
                              Mit großer Eindringlichkeit spielen die Akteure vor dem leergefegten Land.

                              • 8

                                Okay, es war vorher auch schon schlimm. Aber es ist ein Wirtschaftsgesetz, dass sich negative Schübe auf dem Arbeitsmarkt bei den Berufseinsteigern - oder besser: bei allen, die ohne Absicherung und doppelten Boden am Rand zur Prekarität leben, am deutlichsten äußern.
                                Und Jugend! Sie ist ohnehin ein Gesellschaftsteil, der per se prekär ist. Und delinquent, sexsüchtig und suizidal.
                                Wofür diese Suada? Die genannten Ingredienzien sind nun für das Kino auf eine einzigartige Weise neu abgemischt worden: „Tutta La Vita Davanti“ heißt Paolo Virzìs wahnsinnige italienische Variante dieser europäischen Schadensökonomie, die die Verhältnisse südwärts der Alpen so schön abbildet. In Deutschland ist die Komödie unter dem Titel „Das ganze Leben liegt vor dir“ unterwegs.
                                Im Zentrum steht Marta (Isabella Ragonese), die zu Beginn hocherfreut ins Leben schaut: Sie ist Mitte 20, hat einen tollen Freund und tolle Freunde und einen Superabschluss mit ein paar Lorbeeren („Summa cum laude“) vor ein paar alten Professoren abgelegt. Nun lernt sie die Arbeitswelt kennen - im Callcenter. Und es wird turbulent.
                                Je mehr Erzählstränge Virzì zusammenmischt, desto besser. Er operiert hart an der Kante, aber es funktioniert. Dies ist ein schöner zynischer Film, der die Diskurse und Pseudo-Debatten rund um das Thema Arbeit exakt zusammenfasst - nichts von dem, wovon diese Komödie auf ernstem Grund erzählt, ist in irgendeiner Weise witzig. Lachen muss man genau deswegen.

                                1
                                • 6
                                  über Ajami

                                  Der Episodenfilm »Ajami« wurde von Kameramann Boaz Yehonatan Yaacov perfekt fotografiert.
                                  »Ajami«, das ist ein großer Eintopf, in dem Erzählungen wie auch Erzählweisen mit viel Energie zusammengemischt werden. Die Regisseure spielen mit hohem Einsatz, wenn sie das Leben aller Protagonisten auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpften. Sie haben es aber dennoch geschafft, dass Handlung, Figuren und Konstellation nicht konstruiert wirken. Das Charakteristische des Films ist der Verzicht darauf, Schuldige für Vorgänge zu suchen, die sich mit ein wenig Glück auch anders ereignet haben könnten. Hier treffen Menschen unterschiedlicher und durchaus rabiater Weltreligionen unter komplizierten Bedingungen in einer brisanten Weltregion zusammen. Armut und auch die Beschränktheit aller Beteiligten lassen die scheinbar unausweichlichen Konflikte entstehen. Ein wenig klaustrophobisch kommt das rüber.
                                  »Ajami« ist auch ein Film über die prekäre Zeit des Erwachsenwerdens. Die Jugend ist vorbei, ab jetzt dürfen keine Fehler mehr gemacht werden.
                                  »Die Idee war, verschiedene Geschichten zu erzählen, eine nach der anderen«, sagt Regisseur Yaron Shani. Aber dann wurde es eine, die aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird. Eine gute Wahl.

                                  Sein Kollege Scandar Copti sagt, dass er sich an diesem Ort nun einmal auskenne. »Solche konfliktbehafteten Orte bieten sich an, wenn man dramatische Geschichten erzählen will.« Es wurde meist mit Laiendarstellern gearbeitet. Und auch das war eine gute Wahl.

                                  • 3

                                    Eine Nadel in einer Plattenrille, unscharfe Paare, menschengroße Hasen, die dubiose Nachbarin, mörderische Schraubenzieher, Augen in klaustrophobietreibenden Fluren: in David Lynchs „Inland Empire“ baut sich eine Atmosphäre auf, die Bedrohung als Dauerzustand verheißt. Jede Einstellung Terror im depressiven Nervenkrieg: Diese Geschichte einer doppelt gespiegelten Filmschauspielerin enthält nichts, was für Klarheit sorgt, und alles, was zusätzliche Verwirrung stiftet.
                                    „Inland Empire“ Lynch benennt sein neuestes Werk nach einem Landstrich in Kalifornien, einer Gegend, der er ein ausgeprägtes Eigenleben attestiert. Der Name soll für sich selbständig machende Prozesse stehen, das ist das Grundthema: die sich unkontrollierbar ausbreitende Furcht davor, dass man lieber da ist als viel lieber nicht.
                                    Dafür braucht es kein Drehbuch; Lynch drehte ohne. Wohl aber einen Plot, dessen Arbeitstitel lautet: „Der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben.“ Eine Prinzipienfrage: Verkörpern normalerweise Schauspieler Vorgänge und Handlungen, so spielen hier Seelenzustände mit dem Gesicht der Hauptdarstellerin Laura Dern. Sie zerreißen es, drücken es zusammen, machen es zum Spielplatz. Mit Lynch gesagt: „Es geht um eine Frau in Schwierigkeiten.“
                                    Das stimmt. Laura Dern gets in trouble, keine Frage. Sie bewegt sich im Rahmen einer losen Film-im-Film-Geschichte; sie spielt die Schauspielerin Nikki Grace, ihrerseits Hauptdarstellerin in dem Film „On High in Blue Tomorrows“.
                                    Grace kann bald nach Beginn der Dreharbeiten feststellen, daß was nicht stimmt. Der Film ist schon einmal gedreht worden. Diese erste Fassung wurde aber nie fertiggestellt - beide Hauptdarsteller wurden vor Ende der Dreharbeiten ermordet! Vermutlich vom eifersüchtigen Ehemann der Hauptdarstellerin, der ihrer Affäre mit dem Hauptdarsteller auf die Schliche kam.
                                    Bei den Dreharbeiten zum Remake kommen sich wiederum Nikki und ihr Filmpartner Devon Berk (Justin Theroux) näher; Grace ist mit einem eifersüchtigen Mann verheiratet - Filmgeschichte wiederholt sich.
                                    Nicht nur Grace weiß bald nicht mehr, wo oben und unten ist. Wen kümmert’s: Die angstverzerrte Pose bildet das Zentrum dieses Films. Für sie erleidet die Nikki einen Reigen der Passion: als Filmschauspielerin, als Prostituierte in einem polnischen Mädchenhändlerring, Anruferin in einer Hasensoap, Mörderin und Mordopfer.
                                    Das sind Stresszustände. Nikki verglimmt in Einbahnstraßen, Sackgassen, Wiederholungen. Spätestens wenn die beklemmenden, redundanten Einstellungen in den Lynch-typischen Fluren zum Ende hin immer düsterer werden, glaubt man, daß Beleuchtung auch ein erheblicher Kostenfaktor sein muss. Alles wird hier langsam, das Sterben, das Spielen, das Licht. Hier schwindet die Kraft zu erzählen, zu zeigen -dieser Film ist ein einziges retardierendes Moment.
                                    Indem er die Regeln des Unterhaltungskinos umkreist, wie sonst nur die transzendentale Meditation beim Yogi-Fliegen, dessen lautstarker Propagandist Lynch in seiner Freizeit ist, prüft Lynch die psychische und bald noch mehr die physische Beschaffenheit des Zuschauers, der, man kann es nicht verschweigen, oft vor der Entscheidung steht: Drinbleiben oder gehen. Wird das vielleicht doch noch wieder besser?
                                    Nein, das Schreckliche soll in „Inland Empire“ Überstunden machen, selbst auf offener Straße funktioniert die Klaustrophobie, noch an der frischen Luft sehen die Leute aus wie eingesperrt. Lynch degradiert jede Lebensäußerung als eine Krankheit zum Tod, die als Schraubenzieher in der Leber von Nikki Grace steckt. Zum Kotzen ist das, also hat sich die Schauspielerin zu übergeben - auf die Sterne des „Walk of Fame“, wo prominenten Schauspielern, auch und gerade solchen aus Lynch-Filmen, Denkmäler gesetzt werden. Das Hollywood des Erzählkinos verdammt sein.
                                    Daß Lynch mit „Inland Empire“ ganz Polen integriert - nebenbei bemerkt: der Film ist zur Hälfte auf Polnisch - und im Genre des Hasenfilms neue Maßstäbe setzt, ließe die Betrachtung noch auf der Oberfläche symbolisch-therapeutischer Zitate verharren. Wenn auch die im Film integrierte Langenohren-Soap, in der immer dann das Telefon klingelt, wenn aufgeregte Menschen eigentlich Freunde anrufen wollen, und sich dann wundern, das sie mit der Klingel in die laufende Fernsehshow eingreifen, eine völlig neue Qualität der Wirrnis darstellt. Wichtig ist das stramm antilogische Konstruktionsprinzip von „Inland Empire“, das ungefähr wie Sudoku funktioniert: Wenn es an einer Stelle nicht weitergeht, dann eben woanders. Metapher raus, Metonymie rein.
                                    Mit seinem fragmentierten Erzählen tritt Lynch zwar nicht unbedingt neue Türen ein. Aber er hat nun ein relativ junges technisches Verfahren des Kinos eingesetzt, dass sich hervorragend für endlose Einstellungen eignet: Digital-Film (DV). Mal sehen, was die Schauspieler draus machen. Da spielt das DV-Format die Hauptrolle: Filmmaterial kostet nichts und ist nahezu unbegrenzt verfügbar. Im Prinzip kann man so lange drehen, bis alle keine Lust mehr haben. Lynch, das kann man beruhigt feststellen, hat es getan. Autonomie von Regisseur und Schauspielern ist möglich. Die Gefahr: völlige Beliebigkeit, Abdriften ins Bedeutungslose und die reine Selbstreferentialität.
                                    DV ist die Domäne von Leuten, die kein Geld fürs teure Equipment haben. In Nigeria basiert die gesamte Filmindustrie auf DV-Technik. Mit David Lynch nimmt sich aber der erste weltbekannte Regisseur dieser Produktionsweise an.
                                    Waren seine Filme bisher schon Experimente psychotischer Bilderbäder, ist die Psychose in „Inland Empire“ entfesselt. Denn Psychose heißt: Dinge, die nur im eigenen Kopf sind.
                                    Und man sieht es den Figuren an - sie leiden an Dingen, die nur David Lynch hört und sieht. Das ist der rote Faden in diesem Film; von ihm aus blättern sich die optischen Untererzählungen nur wie Panorama-Karten auf.
                                    Das zu ertragen erfordert eine andere Einstellung zum Kino: Lineare Abfolge vergessen, statt dessen Eintauchen in Atmosphäre. Assoziative statt nachvollziehbare Verlinkung. Nebeneinander statt nacheinander - das ist die natürliche Ordnung der Dinge.
                                    Dieser Film fördert weniger Erkenntnis, als daß er die Situation im Kino umdefiniert und an kinematographische Ursprünge erinnert: als ein Raum mit Lichtspielen. Die konsequenterweise bei Lynch, den nur die Hinterseite der Seele interessiert, zu Dunkelspielen werden.
                                    Film sei der Fluss einzelner Sequenzen, sagt Lynch. Das Gemälde stehe still, aber im Film sei Bewegung und Zeit, Sequenz und ihre Wiederkehr - wie in der Musik.
                                    In diesem Sinn ist „Inland Empire“ mehr Komposition als Film. Und wie in der klassischen Musik mag sich das Publikum einklinken, wo und wie es will: Lynch hat mit „Inland Empire“ ein Paradoxon geschaffen: Das Musical ohne Musik. Verstummen bei aufgerissenem Mund. Der Lynch-Mensch ist einer, der leidet. Eines hat er mit Sicherheit nie kennen gelernt: freudige Sinnlichkeit. Ihr Regisseur gibt ihnen nur selten etwas zu essen. Wahnsinn, der vom Hunger leiden kommt, das ist Lynchs traurige Leinwandsprache.
                                    Eine Brigitte-Diät ist das nicht. Dieser Film zeigt eine Hölle und ist auch die Hölle.

                                    3
                                    • 7

                                      Weil die Filmarchive in Osteuropa seit dem Ende des Sozialismus neu sortiert werden, erreichen seltene Filmdokumente auch den internationalen Markt. Derzeit kursiert in den Kinos mit "East Side Story" eine Dokumentation über das sozialistische Musical. Die in Bukarest geborene 33jährige Regisseurin Dana Ranga arbeitete bisher im TV- und Radiobereich, unter anderem drehte sie 1993 einen Dokumentarfilm über Frauen in der Moldawischen Republik.
                                      Bei aller ironischen Brechung oszilliert der Film zwischen Denunziation und Darstellung, indem mit ihm nicht nur ein Teil der osteuropäischen Alltagskultur, sondern auch der Sozialismus - als gefahrloser Ideengeber ästhetischer Konventionen - selbst rezipiert wird. In den Grenzen des spätbürgerlichen Kulturbetriebs, in dem er zur Zeit sein Dasein fristet.

                                      • 6
                                        über Volcano

                                        Einen Feind gibt es nicht, aber einen Kampf. Wie sich das für die Abteilung Katastrophe gehört, ist der Lava-Strom der bad guy - er "ist einfach nicht totzukriegen" und deshalb kaltzumachen. Dabei besticht "Volcano" gegenüber seinem äußerst biederen Vorgänger "Dante's Peak" (1996) durch ein für Familienfilme hohes Maß an Brutalität. Kostproben: - Sieben Männer verbrennen und ersticken dann erst in der Kanalisation. Die Forscherin-Freundin von Amy Barnes windet sich überzeugend in einem langen Todeskampf, bevor der Lava-Strom sie einsaugt. Mike Roark möchte einem eingeklemmten Feuerwehrmann das Leben retten, der schon vor Angst schreit. Aber dann kommt Roarks Tochter in die Quere. Der Hilflose schmilzt qualvoll mitsamt seinem Fahrzeug. - Stan Olber (John Carroll Lynch), beleibter Chef des Verkehrsamtes, kann zwar einen seiner U-Bahn-Fahrer aus einem steckengebliebenen Gefährt retten. Als er aber mit dem Bewußtlosen auf dem Arm wieder zurück will, ist die 2 000 Grad heiße Lava schon überall. "Spring! Spring!" rufen die Kollegen. Olber nimmt Anlauf, hopst zu kurz und landet in der Masse. Mit letzter Kraft kann er den Verletzten noch aufs Trockene werfen. Dann zerrinnt er nach und nach bis ans Zahnfleisch, wobei ihm die Freunde zusehen können.
                                        Ist das Katastrophen-Genre damit am Ende? Ja, na und. Rein menschliche Konfliktstellungen seien viel interessanter, erklärten wichtige Filmjournalisten anläßlich des neuen John Woo-Films "Im Körper des Feindes" letzte Woche. Der Kampf zwischen Mensch und Natur lasse sich einfach deutlicher herausarbeiten am Thema "Natur des Menschen". Unser Tun ist also grundfalsch.
                                        Aber wenn sich mit "Volcano" ein vorläufiges Ende abzeichnet, dann wenigstens ein außerordentliches. Heiß Scheiß und trotzdem schön.

                                        1
                                        • 6
                                          über Contact

                                          "Wenn wir wirklich die einzigen intelligenten Lebewesen in diesem Universum wären, wäre das doch eine unglaubliche Verschwendung von Platz." Vielleicht haben die anderen All-Bewohner die Menschheit aber auch bloß möglichst weit weg plaziert, um Ruhe vor ihr zu haben. Dort, wo sie sich ganz allein über Außerirdische, das Böse und Jodie Foster streiten können.

                                          • 2 .5

                                            Wolfgang Petersen ("Die Konsequenz", "The Boot", "In The Line Of Fire", "Outbreak"), der neue Stern an Hollywoods Himmel, hat auch Humor! Gleich zu Beginn fliegt die Air Force One über Ramstein. Dort, wo einst um die 70 Menschen während einer Flugschau verschmorten.
                                            Unverhohlen wirkt der Kalte Krieg weiter, weil einem sonst nichts mehr einfällt. Der ganze russische Staat wird komplett zur Terror-Heimstatt. Ganz wie früher. Aber da war wenigstens noch der Eiserne Vorhang dazwischen. Hoffentlich holt sich Petersen nicht die Organisierte Kriminalität. Auch könnte ihm eine Atombombe auf den Kopf fallen, von denen neuerdings so viele verschwinden. Man denke an die Nato-Ost-Erweiterung. Petersen zündelt am Weltfrieden, so viel ist klar.

                                            1
                                            • 6 .5

                                              Dieser Film enthält zwar kaum eine Sexszene, dafür aber eine umso längere Piß-. Die Ärzte hören staunend dem Geplätscher zu. Und wem gehört der bescheuerte Schwanzvergrößerer, über den man in den sittenstrengen Neunzigern nicht reden darf? Vorbei die Tage des unbelasteten Sexperimentierens, der Drogen und - überhaupt, der freaky styly Weltverschwörungen. Der Kalte Krieg ist vorbei, sogar die Russen sind jetzt Freunde.
                                              Aber der flexible Austin stellt sich ein. "Kapitalismus war schon immer mein Ding!" sagt er, und was man einmal gelernt hat, ist Kapital und immer da. "Austin Powers" besteht aus anderthalb Stunden Musik, Schauspielern, Klamotten, Witzen, Bildern - wie sie auch in Filme hineingehören! Alles wunderbar also, keine Frage. Koproduziert von der Göttin fürs Geschmacklose: Hollywoods Mother Trash Demi Moore.

                                              • 6

                                                Überhaupt keinen Grund, sich mit der Vergangenheit abzugeben, hat Martin Q. "Blank" (John Cusack) in "Ein Mann, ein Mord". Denn Martin ist erfolgreicher Berufskiller und ebenfalls von der Provinz in die Großstadt gezogen. Auch er reist zum Highschool-Treffen, obwohl er kaum weiß, was er zu den üblichen Floskeln beitragen soll. Er kann ja schlecht zugeben, daß er den Präsidenten von Paraguay kürzlich mit einer Gabel liquidiert hat.
                                                Im Heimatort trifft er auf die schöne Jugendliebe Debi (Minnie Driver), die eine Radiostation betreibt. Gemeinsam beschließen sie, das Fest zu besuchen. Wie bei "Romy und Michele" läuft dort einschlägiger Musik-Schmand, gespielt von einer zweitklassigen Band. Der Raum ist drapiert mit Lampions und Luftschlangen, ganz wie bei einer Teenie-Fete. Martin taucht ebenso in die vergangenen Zeiten ein, und versucht seinerseits die Gegenwart - seinen Serienkiller-Beruf, hier das gewalttätige Zeichen eines modernistisch ausgeformten Lebensstils - als Vergangenheit zu entsorgen. Bald bekommt er Besuch von den Stadtkollegen, die ihm an die Wäsche wollen. Martin, dereinst nach einer heißen Nacht mit der Freundin verschwunden, rettet nicht nur die eigene Haut, sondern auch gleich die Debis und ihres Vaters. Dafür verliert er den Status des erfolgreichen, aber alleinstehenden Unternehmers mit Büroetage.

                                                • 6

                                                  In "Sling Blade" verknüpfen sich mehrere Ebenen zur Lebenswelt-Retrospektive, und die Erzählstruktur wird auch hier von der Musik flankiert: So versucht Doyle mit Freunden, eine Band aufzubauen, doch niemand meint es damit wirklich ernst. Der Stil gehört der Vergangenheit an wie seine Interpreten: Country und Rock'n'Roll. Ein perspektivloses Unterfangen, wie ihr verunglückter Song "Plunger" zeigt. Der Regisseur riet dem Komponisten Pete Anderson, lediglich einen Anfang, jedoch keinen Schluß zu komponieren. Ähnlich wie in den beiden anderen Filmen deutet die Musik den totalen Stillstand in einer Welt an, die ihre Bewohner zur Bewegung nötigt.
                                                  Die Figuren sind wandelnde Katastrophen zwischen allen Welten, solange sie ihre Prüfung - die Festlegung des Ich - noch nicht ablegen mußten, man könnte sagen, sie waren glücklich, weil sie nichts wußten.

                                                  1
                                                  • 5

                                                    Weil "Das fünfte Element" kein echtes Geheimnis birgt, empfindet man die zahlreichen Zitate nicht unbedingt als störend. Weder werden echte Identifikationsfiguren entworfen, noch prägt sich ein besonderer Wendepunkt des Films ein. Es ist nach den Gesetzen eines Pop-Songs komponiert: Das Sample ersetzt die lineare Handlung. Die Werte sind diejenigen gängiger Filmwelten, erkennbar an den großen V-Wörtern Victory, Verwegenheit und Verfremdung. Oder auch Vollkommenheit, die Leeloo von den anderen unterscheidet, wie Cornelius sagt. Im Ergebnis also das Love-Parade-Wahlprogramm: Vriede, Vreude, Veierabend.

                                                    1