Jürgen Kiontke - Kommentare

Alle Kommentare von Jürgen Kiontke

  • 8 .5

    „Der Markt ist links!“ - Der Marx ist links? „Ja, der auch!“
    Gewerkschaftssekretär Nello, Held in Giulio Manfredonias Tragikomödie „Wir schaffen das schon“, auch schon etwas lichter im und auf dem Kopf, ist nicht mehr so ganz auf der Linie seiner Organisation. „Du bist zu modern für die Gewerkschaft“, sagt auch sein Vorgesetzter.
    Aber im Italien der achtziger Jahre stehen die Zeichen ohnehin auf Sturm. Selbst für Arbeiterführer nah am Burn-out-Syndrom gibt es in diesen Tagen noch berufliche Optionen. Und so fliegt Nello noch einmal die Treppe hinauf.
    Bis ins Oberstübchen: Er wird Leiter einer Genossenschaft, deren Zweck es ist, Menschen aus der Psychiatrie in den Arbeitsmarkt zu bringen. Gerade wurde ein Gesetz beschlossen, dass die geschlossenen Psychiatrien aufzulösen sind. Das bedeutet: Ab heute wird Parkett geklebt in der Auffanggesellschaft. Akkord. Und die Präkarisierten haben richtig was zu bieten: Sie sind gnadenlose Autisten und deswegen machen sie Kunst, weil sie anderes kaum können. Aus den ehemaligen Vollidioten werden per Job Experten - welch selige Zeiten.
    Der unerbittliche Charme von Manfredonias Film liegt darin, die Symptomatik des Wahnsinns mit der des Kapitalismus zu verschränken: Der Vatergeschädigte avanciert zum pedantischen Teamleiter. Der Dauermasturbierer fährt den Firmenwagen. Die Nyphomane macht sich gut bei der Auftragsannahme. Kontrollzwang ist besser - „Denn aufs Gefühl verlassen ist nicht drin“, wie es von dem Typen, der mit 16 schon einen umgebracht hat, heißt.
    Und so erfährt der Zuschauer nicht nur etwas über die Aufbewahrung psychisch Kranker, sondern bekommt auch noch eine Parabel auf das Sein des Menschen an sich und seine Stellung auf dem Arbeitsamt. Es kommt, wie es kommen muss: Die Gruppe ist erfolgreich und kann sich am Markt platzieren.
    Man wäre nicht im Kino, wenn dieses kleine Wunderwerk an Film nicht gleich seinen Insassen Macken hätte. Der Plot ist reichlich konservativ erzählt und nach zwei Dritteln kriegen wir den spannungsreichen Rückschlag - von dem man sich natürlich erholt. Ein paar Plattheiten sind auch eingebaut, hier wirkt eben durchaus ein hoher Taschentuch-Faktor.
    Aber wen wundert’s: In den einschlägigen Krankenhausabteilungen und WGs ist es oft genug zum Heulen. Denn auch ganz ohne Maloche ist Wahnsinn gefährliche Arbeit genug, wie der Film eindringlich zu berichten weiß: Er tritt zuweilen selbstverletzend auf. Oder gar als Strick am Dachbalken.

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    • 6

      Geschrieben und verfilmt wurde die Geschichte mit stark autobiografischen Anklängen - das merkt man dem Film auch an: Gekonnt dekliniert er Migration quer durch alle Altersstufen, nimmt jede erdenkliche dramaturgische Hürde und brilliert mit prominenten Gaststars.

      • 6

        Tuschis Film geht auf die menschenrechtliche Situation ein und versucht darüber hinaus, hinter die Maske des charismatischen Magnaten zu blicken.
        Weil der Regisseur dabei seine Neutralität beibehält, ist ihm ein ruppiger, aber guter Dokumentarfilm gelungen.

        • 8

          „Cirkus Columbia“ ist ein bestechend guter Kriegsfilm gegen den Krieg.

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          • 8

            „Mami hat versucht, sich umzubringen“: France (Karin Viard), die Hauptfigur in Cédric Klapischs dynamischem Film „Mein Stück vom Kuchen“, ist schwer krank: Die Fabrik, der sie die letzten 20 Jahre ihres Lebens gewidmet hat, wurde geschlossen. In Zeiten der Globalisierung wurde das Geschäft aus ihrem Heimatort Dünkirchen nach China verlagert. Wenn überhaupt.
            Alsbald landet die sympathische Kettenraucherin bei Steve (Gilles Lelouche). Der Börsenhai führt eine weitgehend sorgend- und sinnfreie Existenz. Gerade ist er auf dem Weg in die Firmenspitze von Goldman Sachs - oder war’s Merryl Lynch? Was würde sich ändern? Nichts. Steve wacht morgens auf, geweckt von den sanften Tönen seines iPhones. Der erste Blick gilt der Dow-Jones-App.
            Steve ist zu allem zu blöd, was nicht mit Aktien zu tun hat. Davon kann man als Arbeitnehmerin durchaus profitieren. „Ich hab mir den Tariflohn für Putzkräfte angeschaut“, sagt er der verdutzten France, als die um ihr Gehalt verhandeln will. „Das geht gar nicht, ich zahle ihnen das Doppelte.“ Hier stehen die Arbeitsverhältnisse auf dem Prüfstand: Es ist Steve nur deshalb egal, was France verdient, weil er innerhalb von zwei Stunden 60.000 Euro verdient. Das mag riskant sein, allerdings lässt der Börsianer keinen Zweifel daran, dass er beim Geschäfte machen weder sich noch andere zu schonen gedenkt.
            Dieser Film ist anders: Die Anreicherung der Geschichte durch allerlei oberflächlichen Slapstick verschleiert immer weniger die darunter liegende tragische Handlung. Steve ist eine Figur der vollkommenen Entfremdung, irgendwo angesiedelt zwischen dem markenbewussten „Vice President“-Edelkiller aus Bret Easton Ellis’ mörderischem Roman „American Psycho“ und Strauss-Kahn-Affäre. Er und seine Kollegen haben sich eine lebensferne Welt aufgebaut, die sie, und nur sie, als echtes Leben wahrnehmen. Es ist eine narzisstische Welt.
            Kritische Stimmen merken an, „Mein Stück vom Kuchen“ sei in seiner Darstellung und Perspektivlosigkeit doch etwas recht holzschnittartig. Und es stimmt: Mit Sicherheit wurde hier mit dem Hammer gefilmt. Doch offensichtlich war dies in Frankreich die richtige Botschaft: Am Startwochenende im März dieses Jahres lockte Klapischs Film über den Alien von der Börse 370.000 Zuschauer ins Kino: In der Tat spielte er thematisch „ganz oben“ mit: Auf dem zweiten Platz - mit 240.000 Besuchern - lag „World Invasion: Battle Los Angeles“.

            • 4

              Anti-lineare Erzählweise ist das, in Bestform: Alles, was aus einem Film heraus ein Eigenleben entwickelt, schießt über das reine Ziel der Vermarktung des Filmstoffes hinaus. Jeder sieht hier seinen ganz eigenen Film. Wie ist der Zustand der Filmkritik? Ohne solche Filme jedenfalls nicht denkbar.
              Wie ist der Zustand der Filmkunst? Preisverdächtig, wenn’s L’art-pour-l’art-Kino ist: Es hat keine Richtung und befindet sich am Anfang eines Jahrtausends schon im Fin-de-siècle-Zustand. Dann kommt Vater nach Hause, es gibt was hinter die Ohren. "The Tree of Life" ist ganz großes unverstandenes Kino.

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              • 6

                „Huacho“, das bedeutet übrig gebliebenes Stück, etwas Vergessenes. Im gleichnamigen Debüt-Film des Regisseurs Alejandro Fernández Almendras geht es um solche Relikte – die Mitglieder einer armen Familie in der chilenischen Provinz. Wie finden sich Menschen nach langer Zeit der Diktatur unter Pinochet in der Gegenwart zurecht? Welche Problemstellungen ergeben sich heute? Die Kamera folgt den Protagonisten bei ihren Versuchen, mit den temporeichen Transformationen der Wirklichkeit mitzuhalten und dennoch beieinander zu bleiben „Huacho“ handelt vom Alltag in Armut – und bietet eine unprätentiöse halbdokumentarische Erzählung mit schauspielerisch überzeugenden Laiendarstellern.

                • 8

                  Mahamat-Saleh Harouns Meisterwerk »Un homme qui crie« verhandelt einen Vater-Sohn-Konflikt vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs im Tschad und kommt dabei nahezu ohne Gewaltdarstellung aus. Dennoch ist die Brutalität allgegenwärtig.

                  • 3 .5

                    Wie immer, wenn ein Unglück passiert: Das ganze Ausmaß kennt keiner genau. Aber was ganz Großes, das ist es diesmal. "Ich habe in den Reaktor geschaut und es hat mich nach unten gezogen. Ein schwarzes Loch hat sich geöffnet. Ich wollte hineinspringen", sagt der junge Ingenieur.
                    Kurz vor dem Tag der Arbeit, am 26. April 1986, stimmt in der Sowjetunion eine alte, von Revolutionsführer Lenin ausgegebene Losung von elementarer - physisch ebenso wie psychologischer - Bedeutung, nicht mehr: Sowjetmacht plus Elektrifizierung.
                    Zum 25. Jahrestag hat der russische Regisseur und Drehbuchautor Alexander Mindadze seinen zweiten Kinofilm scheinbar über diese Vorgänge gedreht, er heißt "An einem Samstag" und ging dieses Jahr mit 15 anderen Filmen auf Trophäenjagd im Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele. Gewonnen hat er dort nichts.
                    Es reiht sich belangloses Ereignis an Ereignis, so der Kniff dieses Films. Die Handkamera erledigt den Rest: Sie folgt den Darstellern, als sei sie hinter den Ohren montiert, das Stilmittel heißt Gesichtsgroßaufnahme, als könne man über die Optik in die Köpfe gelangen - der Röntgenblick lässt die Gesichter wachsen. So wird Dramatik suggeriert, die der Film an keiner Stelle hat.
                    Je unzugänglicher das Werk, desto großformatiger die Begründung: Er habe die ewige Dialektik seines Lebens und das seiner Freunde zeigen wollen: das Drama von der Unmöglichkeit, dem Leben zu entrinnen. Es ist aber kein Drama, sondern Suff. Ich glaube, hier wurde eine große Chance vergeben.
                    "An einem Samstag" schmilzt der Reaktor. Aber nicht das Zuschauerherz.

                    • 3 .5

                      In die Alkoholsucht gerät man irgendwie. Hinaus gibt es nur zwei Wege: Tod oder Entzug. Das erste beiseite: Ein Alkoholentzug ist Extremsport. Nicht nur, dass man ihn womöglich nach langer Abhängigkeit unter großem Einsatz geschafft hat. Das Thema bleibt einem auch ein Leben lang erhalten. Denn auch wenn die Abstinenz erreicht wird, der Rückfall droht doch jeden Tag.
                      Wie speziell deutsche Menschen mit dem Problem umgehen - das will Carolin Schmitz mit ihrem Dokumentarfilm „Portraits deutscher Alkoholiker“ zeigen. „Deutsch“ stimmt, „Alkoholiker“ auch, nur „Portraits“ - da ist der Titel vielleicht etwas verwirrend: Die Protagonisten kommen zu Wort, doch sie bleiben anonym. Ins Bild rücken sie auch nicht. Schmitz unterlegt die Berichte dieser Opfer im Krieg mit dem Stoff und sich selbst dem mit Bildern aus dem schönen Rheinland, das aus Gründen der flächendeckenden Durchalkoholisierung seiner Einwohnerschaft durchaus zu Recht als Illustration dienen kann.
                      In der Mitte der Gesellschaft, in der Mitte von uns allen, schreibt uns der Subtext dieses Films in die Gedanken, da lebt der Alkoholiker. Er ist Anwalt, Beamter, sie Hausfrau bzw. Krankenschwester oder eine andere Stütze der Gesellschaft. Er wohnt nebenan, hat keine Fahne, sie ist nicht obdachlos. Die Sucht begann mit Kontrollverlustängsten, der Abschlussprüfung, Leistungsdruck.
                      Vermeidungsstrategie, die Kinder haben das nicht mitgekriegt: So sehen die Muster des Trinkens und seinem Umfeld aus, so wird aus der Krankenhausmitarbeiterin eine Patientin, aus dem IT-Spezialisten einer, der die Anonymen Alkoholiker aufzusuchen hat.
                      Hier kommt der rohe Text zu Wort, Veteranen erzählen von ihren Schlachten. Schmitz hat damit eigenen, einen vielleicht künstlerischen Zugang gefunden. Er ist hoffnungslos unspektakulär.
                      Aber auch dies ist ein Film, der den Gesetzen des Kinos folgt. Und da muss man sagen: Die Regisseurin geht mit der Kamera nie dorthin, wo es wehtun könnte. Keine Psychiatrie, keine Fettleber, kein Familienterror.
                      Und wer hätte es gedacht: Trinken tut auch keiner. Ein Klassiker des Alkoholiker-Filmgenres ist Schmitz damit leider nicht gelungen.

                      • 7 .5

                        Den Himmel Spaniens wie auch sein Meer sieht man in diesem Film selten - und wenn, dann in Verbindung mit jenen angeschwemmten Toten am Strand, die von untergegangenen Schlepperbooten stammen. Iñárritu wirft einen spröden, harten Blick auf die europäische Migrationspolitik: Die Dienste des Schleppers kommen beinahe als alltägliche Normalität des globalisierten Arbeitsmarktes daher. Parallel wird aufgezeigt, wo es mit Europas Jugend hingeht: Eingezwängt in einer heruntergekommenen Bude versucht der Protagonist, der Kleinbandit Uxbal, seinen Kindern die Schule schmackhaft zu machen. „Beautiful, wie schreibt man das?“, fragt das Kind. „Mit zwei i“, antwortet Uxbal.
                        Genau wie das Urteil über dieses Werk: Spitzenfilm.

                        • 8

                          Das Highlight der diesjährigen Berlinale. Regisseur Dirk Lütter hat sehr gut recherchiert - und all die Untoten des prekarisierten Arbeitsmarktes - Leih- und Zeitarbeit, befristete und Kettenverträge, fehlende Perspektive - sind hier gecastet worden.
                          Mit Joseph Bundschuh, der die Rolle des Jan spielt, wurde ein hervorragender Darsteller gefunden; ebenso wie seine Partnerin Anke Wetzlaff kongenial ihren Part als Zeitarbeiterin Jenny umsetzt.
                          Dem Regisseur ist mit seinem ersten Kinofilm ein Generationen-Porträt gelungen, abseits von Studium und Hochschule: Die Personen in seinem Film hätten Stellvertreter-Funktionen, da er keine einzelnen Schicksale zeigen wolle, sondern Strukturen in unserer Gesellschaft, wie er sie wahrnehme, sagt Lütter.

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                          • 7 .5

                            Hier geht es um den als "Wasserkrieg" in die Geschichte eingegangenen Konflikt in bolivianischen Städten im Jahre 2000 und 2005. Die Wasserrechte waren an Konzerne verkauft worden, angeblich zur Haushaltssanierung, wie überall in der Welt. Die Bevölkerung hat es mit gewerkschaft­licher Unterstützung tatsächlich geschafft, die international aufgestellten Firmen wenigstens aus der Stadt zu drängen. Regisseurin Iciar Bollaín hat daraus einen äußerst intelligenten Film gemacht: Sie lässt ein Filmteam durch die Szenerie stapfen, das einen Film über die Landung der Spanier vor 500 Jahren drehen will. Na, wenn es da keine Parallelen gibt – Taschentuch, bitte!

                            • 5 .5

                              "Margin Call" , J. C. Chandors Kammerspiel zur Finanzkrise, ist ganz flott, hoffentlich ist jetzt keiner der Heuschrecken-Banker von sich eingenommen, die da so topsympatico besetzt sind mit Jeremy Irons und Kevin Spacey. Trotzdem macht es Spaß, ihnen dabei zuzusehen, wie sie die Weltwirtschaft ruinieren. Richtig wegweisend ist das aber nicht. Der von Jeremy Irons gespielte Superkapitalist soll uns eine Identifikation im Sinne der Freudschen Übertragung ermöglichen: Ich hasse meinen Vater, deswegen ist das Geld alle. Was ist das Kino anderes als Massentherapie? Man sitzt im Sessel und hört der antisozialen Persönlichkeit namens Film beim Erzählen zu.

                              • 6
                                über Pina

                                Ich habe mich sehr über den Wim-Wenders-Film »Pina« gefreut. Von den vielen Regisseuren der diesjährigen Berlinale gehört der deutsche Filmzausel zu jenen, die ihren Bildern vertrauen. Kein Wunder. »Pina« ist ein Dokumentarfilm über das nunmehr verwaiste Tanztheater Pina Bauschs in Wuppertal. Die Choreographin starb unerwartet im Sommer 2009. Ihre Tänzerinnen und Tänzer hüpfen nun in Wenders’ Film umher, sie tanzen an der Straßenkreuzung und, wie passend: in der Wuppertaler Schwebebahn.

                                Eines tun sie nicht, im Unterschied zu den Figuren in vielen anderen Filmen: endlos palavern. Regisseure: Wenn ihr Talkshows ins Kino bringen wollt, bitteschön. Zu bedenken ist jedoch, dass das Kino mal ganz erfolgreich ohne Ton war, als Stummfilm. Da sind die Leute tatsächlich gern reingegangen. Bewegung, Mimik, Gesten – das sind alles zulässige Stilmittel im Kino.

                                • 8

                                  Durchaus wird in „We want Sex“ etwas aufgetragen, es gibt alberne, klischeebehaftete Stellen, etwa wenn Betriebsrätin Rita und Arbeitsministerin Barbara ihre Kostüme und deren Preise vergleichen. Und beide voreinander angeben, wo sie das Schnäppchen gemacht haben. Kitsch ist auch, wenn Rita gemeinsam mit der Frau des Ford-Personalchefs dafür sorgt, dass der Lehrer gefeuert wird, der beide Söhne in der Schule schlägt. Weder dürfte die Unternehmerfamilie ihr Kind auf dieselbe Schule geschickt haben wie die Arbeiter aus der Arbeitersiedlung, noch wird der Alltag der Arbeiterkinder zu Hause so gewesen sein wie hier dargestellt.
                                  Aber das sind Petitessen am Rande. Hier geht eine in weiten Teilen meisterhafte Kino-Produktion – so liebevoll, wie hier das Filmsetting geschaffen und fotografiert wurde, kann man fast von einem Kostümfilm reden - mit einem komplizierten Thema aus der Arbeitswelt mit vollem Druck auf die Tränendrüse an den Start. Das ist selten genug.

                                  • 6
                                    über Drei

                                    Hilfe: Mutti und Vati haben Pubertät! Hanna (Sophie Rois) und Simon (Sebastian Schipper), wie sie in Tom Tykwers Komödie „Drei“ heißen, haben schon jede Menge hinter sich, was unsereins noch bevorsteht: Küssen, Snickers Mini, Ladendiebstahl, Führerschein, Kennenlernen...
                                    Jetzt sind die beiden sympathischen Leutchen in den besten Jahren - was ja eigentlich bedeutet, das sie genau die schon hinter sich haben: Sie sind über 40.
                                    Bisher war das Leben voller Geld, Partys und toller Jobs als Fernsehtussi bzw. Kunsttyp. Die beiden warten so busy mit sich selbst, dass sie sogar das Kinder machen ganz vergessen haben: Sie haben nämlich gar keine.
                                    Macht nichts, denn was jetzt kommt, ist auch nicht schlecht: Affären, Homosexualität, Hodenkrebs. Und da hält Tykwer, der brutale Kerl, nicht nur eine, sondern bis zu vier Kameras drauf. An dieser Stelle ist der Film so zusammengeschnitten wie der Sparkassen-Spot mit Jürgen Vögel: Oben links wird telefoniert, oben rechts Simons Hoden rausoperiert, der ist nämlich ganz krank. Unten rechts fährt ein Auto und links schläft Hanna mit einem anderen Mann, dem Arzt und Spezialist für künstliche Befruchtung Adam (Devid Striesow). Vielleicht klappt es ja auf die Tour doch noch mit der Schwangerschaft, man muss nur mit dem richtigen kuscheln. Und wer würde sich da besser anbieten als ein F o r t p f l a n z u n g s e x p e r t e?
                                    Niemand! Weshalb auch Simon mit ihm rummacht. Der entdeckt nämlich, dass er schwul ist. So verrückt und vor allem: versext, wie das Leben im Kino ist, könnte das Baby ja auch gleich 13 Jahre alt sein und damit zur Zielgruppe der Bravo World gehören - ej, ich hab ich Kino schon Schweine fliegen sehen. Hier geht’s ganz schön drunter und drüber - „Drei“ ist ein Mix aus Tykwers besten Filmen: Schnell wie „Lola rennt“, lecker wie „Das Parfüm“, mörderisch wie „The International“.
                                    Und, Jungs: Bei der Autsch-Szene - nee, nicht der, der anderen - dürft ihr auch ruhig mal weggucken. Im Dunkeln auf’m Kinofußboden soll’s auch ganz interessant sein.

                                    (Dieser Text erschien in einer Sonderbeilage der Jungle World)

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                                    • 7

                                      Papa ist krank und liegt in der Ecke - gerade war Wochenende. Der Anblick ist so ungewöhnlich nicht, trotzdem staunt der Sohn Abila nicht schlecht.
                                      Vaters glasklare Selbstdiagnose: Man hat mir die Seele geraubt, am Suff lag’s jedenfalls nicht. Natürlich macht sich das Kind umgehend daran, Vaters Urzustand wieder herzustellen.
                                      Abila begibt sich auf die Suche nach möglichen Heilverfahren. Und findet heraus, dass sein Alter das Innenleben bei der Geisterfrau verspielt hat. Als er die in den dunkelsten Winkeln aufspürt, stellt die Dame ihm einige knifflige Aufgaben, um Vatterns verlorene Seele zu retten. Man muss ja auch an seinen Aufträgen wachsen. Der „Soul Boy“ macht sich dran. Einfach wird’s nicht und schnell muss es gehen. Ein Job, eine Richtung: Die Tour de Force wird größtenteils zu Fuß erledigt, „Soul Boy“: ist ein Road Movie auf Schlappen.
                                      Kenianische Mythen treffen hier auf Sorgen, die die gesamte Weltbevölkerung plagen. Denn erstens kann Abilas Vater die Miete für seinen Laden nicht mehr aufbringen, ein Problem, dass so gravierend ist, dass er die Geister reden hört. Der zweite dramaturgische Kniff ist ein Handy-Diebstahl, der die Handlung rasant beschleunigt.
                                      Es sei Ziel gewesen, so genannte Drittweltstoffe erzählen zu lassen, ohne das die Leute hilfebedürftig erscheinen, erklärt Produzent Tom Tykwer. Der Film solle die Energie des kenianischen Alltags widerspiegeln. Diesen Kosmos müsse man einfangen, ohne ihn zu stark zu kommentieren.
                                      Dieses Ziel wird durchaus erreicht. „Soul Boy“ spielt gekonnt und äußerst kurzweilig mit Klischees wie auch mit tradierten Märchen - und verpasst dem Ganzen ein reichlich gegenwärtiges Aussehen.

                                      Der Film ist schön. Ich hatte die Gelegenheit, mit Tom Tykwer ein Interview für das Amnesty-Journal zu "Soul Boy" zu führen. Siehe Link "Kritik im Original".

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                                      • 7

                                        Der Macher populärer Filme wie "Lost Children"und der erfolgreichen Sommerkomödie "Salami Aleikum" geht mit seinem neuen Werk auch gänzlich neue Wege: Interviews kombiniert er mit Zitaten aus Blogs, Einträgen in Internetforen oder auf Twitter; mit Handyfilmen aus den Tagen rund um das Wahlereignis - wie auch mit im Graphic-Novel-Stil gezeichneten Sequenzen. Zwei fiktive Protestteilnehmer führen den Zuschauer durch die Szenerie.
                                        Auf diese Weise ist Ahadi ein vielschichtiges Protokoll der Ereignisse jenes Tages und seiner Folgen gelungen.

                                        • 7

                                          Private Public Partnership lautete die Zauberformel der letzten 20 Jahre, mit der sich überschuldete Kommunen refinanzieren wollten – und oft die gesamte Wasserwirtschaft in die Hände privater Firmen legten. Preissteigerungen von bis zu 100 Prozent, Wasser, das nie dort ankommt, wo es hin soll, Chlor statt Infrastruktur: Überall dort, wo finanzschwache Kommunen nach Einnahmequellen und Ausgabenminimierung suchten, müssen sie sich mit denselben Folgen herumschlagen.
                                          Die Dokumentarfilmer Franke und Lorenz fragen, wie man mit einem Stoff, der eigentlich frei zugänglich in der Landschaft liegt, wenn er nicht vom Himmel regnet, erstaunliche Profitraten erwirtschaften kann: Haarsträubende Verträge und seltsamste Abrechnungsmodalitäten sind die Begleitumstände, die die Bürger zu bewältigen – und zu bezahlen haben.
                                          Die Filmemacher haben eine beachtliche Materialsammlung zusammengestellt. Ihr Fazit: Privatisierung von Wasser macht soviel Sinn wie Sozialabbau: gar keinen.

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                                          • 5 .5

                                            Die randalierenden Figuren in Allens neuestem Film versuchen verzweifelt, ihrem Leben mehr Sinn zu verleihen, als es für sie geben kann. Sie verfolgen lauter dubiose Ziele wie Erfolg, Geld und Liebe. Sie puzzeln, verletzen und produzieren Fehler, von denen jeder das Ende bedeuten kann.
                                            Der Morgen nach der Party? Bald, sagt Regissseur Allen, "wird jeder, der auf der Erde gemeinsam mit ihnen gelebt hat, nicht mehr da sein, und nach 100 Jahren wird es kompett andere Menschen auf der Erde geben".
                                            In vielen Jahren sei die Sonne vermutlich ausgebrannt und die Erde verschwunden. Ein paar Jahre drauf sei dann das komplette Universum weg. Auf die Frage, wieso man da noch Filme machen solle, sagt Allen: "Es lenkt ab."
                                            Welch’ hoffnungsfrohe Kunst.

                                            • 6 .5

                                              Der Film verfällt zuweilen etwas ins Bürgerlich-Betuliche.
                                              »Berlin: Hasenheide« operiert aber auch auf einer Bruchlinie – in ihm befindet sich Neukölln am Anfang des Weges vom farblosen armen Viertel hin zur international besetzten Mittelklassewelt – was mit einem einfachen produktionstechnischen Detail zu tun hat: Große Teile des Films sind bereits vor drei Jahren gedreht worden, der Film aber konnte erst jetzt fertiggestellt werden. Von der ganzen Gentrifizierungsdebatte aber, den längst nicht abgeschlossenen Transformationen des Stadtgebietes und seiner Einwohnerschaft ist Rebhans Film daher noch nicht gar so gefärbt.
                                              Die größeren Veränderungen gibt es erst seit 2008: Mietensteigerungen, Altenvertreibung, junges bürgerliches Publikum, die ganze Kunst mit ihren Ateliers, die Massen von Kneipen, all dies ist erst später entstanden. Einmal anrühren, bitte.
                                              Hat der Film »Berlin: Hasenheide« etwas zu sagen? Womöglich: Wenn in Berlin ein Sack Reis umfällt, ist es Kultur. In Stuttgart müssen sie schon einen schönen neuen Bahnhof wegdemonstrieren, wenn sie mal in die Nachrichten wollen.
                                              Achtung, bitte – das ist nicht nur ironisch gemeint: In der Hauptstadt werden Trends gesetzt. Die Kinderwagen, die die Mütter in Berlin fahren, die werden überall gefahren. Die Kneipenbestuhlung, die hier steht, wird überall den Rücken drücken. Und die Stadtteilpolitik, die hier gemacht wird – wie mit dem Neuen im ­Alten umzugehen ist –, dürfte unter Umständen vorbildlich sein. Nehmt euch Kameras, filmt eure Parks.

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                                                „Live aus Peepli“ beginnt mit viel Geschrei, verläuft eckig, wird traurig und endet als Farce - ein brillanter, sozialkritischer Wurf im Windschatten Bollywoods, der größten Kinomaschine der Welt.

                                                • 6

                                                  »Schnupfen im Kopf« ist ein intensiver und auch mutiger Film, hier hat jemand alles gegeben, der sich täglich auf besondere Weise mit sich selbst auseinandersetzen muss und dabei mit der ständigen Überschreitung und Überforderung zu kämpfen hat. Dinge, die den innersten Kern der Kunst betreffen.

                                                  • 7

                                                    Ein durch und durch ungewöhnlicher Menschenrechtsfilm ist Uwe Bolls „Darfur“.
                                                    Boll, der sich mit - oft von der Kritik eher weniger gelobten - Horrorfilmen und innovativen Finanzierungskonzepten einen Namen gemacht hat, lässt einen Trupp Journalisten im Sudan landen. Die US-Amerikaner besuchen für ihre Reportage ein Dorf in Darfur. Jener Region Afrikas, in der seit 2003 ein blutiger Bürgerkrieg tobt, der bis heute ca. eine halbe Million Menschen das Leben kostete. 2,5 Millionen Menschen sind vertrieben worden.
                                                    Der Film beginnt langsam und führt anhand der Dialoge in das Thema ein. Es dauert nicht lange dauert, bis eine feindliche Miliz auftaucht - die Soldaten sind auf Plünderungen aus. Unversehens landen die Medienleute im Krieg. Das bedeutet: Grausame Morde, Rekrutierung von Kindersoldaten und Vergewaltigung als Kriegswaffe. Die Kamera hält drauf, während sich die starke Schauspielerriege ohne große Drehbuchvorlage in Szene setzt.
                                                    Der Regisseur möchte diesen ungelösten und ungemein brutalen Konflikt mit unverblümter Direktheit ins Bewusstsein bringen - und versetzt den Zuschauer per wackeliger Handkamera mitten ins Geschehen.
                                                    Auch wenn Boll die Filmmusik entgleitet und der Einsatz des Streichorchesters zuweilen etwas intensiv ist: „Darfur“ ist ein durchaus ernstzunehmender Film, der versucht, öffentliches Bewusstsein für eine oft vergessene Tragödie herzustellen.

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