Jürgen Kiontke - Kommentare

Alle Kommentare von Jürgen Kiontke

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    „Wir möchten in unserem eigenen Land in Würde leben“: Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist für die Nepalesin Urmila Chaudhary und ihre Freundinnen alles andere als normal. Sie sind als Kinder weggegeben worden, um in anderer Leute Haushalt zu arbeiten. Chaudhary war gerade mal sechs Jahre alt, als sie von ihren Eltern als Kamalari, als Haushaltssklavin, in die Hauptstadt verkauft wird. Mit 18 Jahren gelingt ihr die Befreiung. Seitdem kämpft sie gegen die Leibeigenschaft. Motto: „Kinder gehen zur Schule! Erwachsene gehen arbeiten!“ Mit Hilfe der von ihr gegründeten Organisation und anderer Verbände wurden mittlerweile 13.000 Mädchen befreit.

    Susan Gluth begleitet Chaudhary, die nun 25 Jahre alt ist, durch den revolutionären Alltag – bis nach Oslo, wo sie auf einer Menschenrechtskonferenz spricht und für ihr Anliegen wirbt. Aber auch ihre Eltern kommen zu Wort, die sie wegen der Armut verkauften – und all die Jahre um die Ecke wohnten.

    Ein anderes Kapitel: Chaudarys Wunsch ist es, Anwältin zu werden. Nun kämpft sie mit dem Schulabschluss – einmal ist sie schon durch die Prüfung gerasselt. Aktivistin zu bleiben und zugleich formale Bildung erlangen erscheint der jungen Frau mit den Hello-Kitty-Ohringen als Belastung. Das macht aus der Protagonistin, die wie beiläufig Demonstrationen auf die Straße bringt, eine sehr sympathische Kämpferin gegen den eigenen Schlendrian. Und aus Gluths Arbeit einen schönen, bunten Protestfilm.

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      über Sonita

      „Sonita“ ist eine rasante Aufstiegsgeschichte der globalisierten Welt. Sonita hat etwas zu bieten, sie ist ein role model und so etwas findet die Kulturindustrie immer gut. Die irre Intelligenz dieses Films: Die Regisseurin kauft sich quasi selbst per Menschenhandel ins Geschehen ein. Preise muss man nach oben treiben, das wissen die Beteiligten sehr genau. Hier sind alle am Rande des Nervenzusammenbruchs, und das in heavy rotation. Genau davon handelt Sonitas Hit und dieser ganze Film.

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        "Du bist das Glied zwischen den Primaten und uns": Raphaël Padilla kriegt eine Menge zu hören in seinem Job. Als Fachkraft, an der ein Mangel zu bestehen scheint, gelingt ihm zwar der rasante gesellschaftliche Aufstieg. Aber der Preis ist durchaus hoch. Er darf sich bei seiner Performance vor allem: in den Arsch treten lassen.

        Als "Monsieur Chocolat" soll Padilla Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem Kollegen George Foottit Karriere machen. Der, eben noch berühmter Clown, dem neuerdings die Ideen ausgehen, hat den entflohenen Sklaven im Wanderzirkus entdeckt. Zusammen ziehen sie nach Paris, um groß rauszukommen. Für Padilla wär's die erste, für Foottits ist es wahrscheinlich die letzte Chance auf die große Nummer.
        Im Zirkus gibt er den erhellerenden Teil von Foottits Interpretation des schwarzen und des weißen Clowns. Die Farbgebung interpretieren die beiden, wie sie gemeint ist: Padilla gibt nicht nur den dunklen Part, sondern auch den dümmeren. Dem Publikum ist es recht, das lacht sich kaputt über die Performance. Die zwei werden reich und berühmt und Chocolat sogar noch Frauenliebling. Aus dem Kolonialstatus in die Unterhaltungsindustrie sozusagen.

        Omar Sy, Vorzeigedarsteller aus solchen perfiden Streifen wie "Ziemlich beste Freunde" oder "Heute bin ich Samba", spielt hier den charismatischen Clown, und der Film hat dabei ganz starke Seiten. Chocolat ist kein Schmusetyp: Er hängt an der Flasche, betrügt und kennt bei Drogen und Spiel keine Freunde. Seine Gagen haut er auf den Kopf, dass ganz Paris über diese neue Form des unvorsichtigen Partymachens redet.

        Sie bringt ihn in den Knast, Papiere hat er nicht. Mit dem Drahtbesen schruppt man ihm die schwarze Haut vom Körper. Kaum wieder draußen, nimmt er die Arbeit an der unsterblichen Künstlerbio wieder auf. Depressiv wie manisch, heimatlos und facettenreich. Taktik gibt's für ihn nicht. Mit Chocolats Karriere geht es bergab, als er beginnt, Foottit in den Hintern zu treten.

        Was mir an diesem Film am besten gefällt: Von den Zirkusnummern der beiden, die vom Publikum frenetisch abgefeiert werden, zündet keine einzige. Der gespielte Rassismus ist ein Zugeständnis ans Publikum. Aber keines ans Kino.

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          Alsbald findet man eine der Film­idee eigentlich erstaunlich zuwiderlaufende Stumpfheit, die vor allem im zweiten Teil des Films uncharmant gehetzte, ja krampfhafte Züge annimmt. Eine Entgrenzung des ­Begehrens über ein bisschen Gender-Crossen hinaus findet nicht statt. Schwierig ist auch das gewollt Komödienhafte: Ein Schuss Trauer hätte dem kleinen Werk durchaus mehr Tiefe verleihen können, vielleicht eine Andeutung, dass das lockere Leben schon bald vorbei sein kann. Außerdem macht der Score das Anschauen zu einem echten Problem: Die Musik besteht meist aus einer Easy-Listening-Kaufhaus-Version diverser HGich.T-Singles. Da wäre eine Pause mal angebracht gewesen, wenn auch der Name des Komponisten eine Bereicherung für die Credits ist: Sören Störung.

          Grausliche Musik, möglichst rasant zur Sache kommen und mit der Zeit auch das etwas verkrampfte Agieren vor der Kamera: Wo ist eigentlich der Unterschied zum herkömmlichen Sexfilm – außer dass dort die Bilder erheblich besser sind? Vor allem gegen das Porno-Einerlei soll sich »Schnick Schnack Schnuck« ja wenden, das Darstellerensemble wirklichkeitsnah rüberkommen. Aber wenn eines fehlt, dann etwas wirklich Wirkliches: Politik oder gar die wirtschaftliche Lage der Twentysomethings? Hinweise dieser Art bieten Filme dieser Art des öfteren. Und hier? Die WG-Zimmer in Köln sind jedenfalls alle quadratkilometergroß. Es wird mal kurz erwähnt, dass Emmi eine heiße Französisch-Lehrerin ist und Felix Programmierer von Sparkassen-Software.

          Vielleicht hätte dem Film eine ­Adaption als Basis gut getan: Aschenputtel, gefährliche Liebschaften, Schneewittchen und die sieben Zwerge oder sonst was. Regisseure wie Bruce LaBruce haben es vorgemacht – der hat schon vor 20 Jahren in "Hustler White" Thomas Manns "Tod in Venedig" als irrwitzige Stricherkomödie angelegt. Brochhaus hätte sich womöglich besser den Details zuwenden können. Und »Schnick Schnack Schnuck« hätte das schöne Gesellschaftsabbild werden können, das die Regisseurin wohl letztlich be­absichtigte. Eine Entwicklung der Figuren hätte auch gutgetan – wir ­reden immerhin von einem Film, der fast 90 Minuten lang ist. Schade, dass die Geschichte nur an der Oberfläche kratzt. Wie eine moderne Beziehung aussieht, wie ein Paar sich durchschlägt, eine Antwort auf allerlei Verlockungen findet; solche Fragen hätten aus ihnen tatsächlich echte und erotische Menschen gemacht.

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            Dies ist kein Film über, sondern mit indigenen Menschen: Regisseur Jayro Bustamante wuchs in der Region auf und veranstaltete Workshops, in denen aus den Geschichten der Teilnehmer mit ihnen gemeinsam ein Drehbuch entwickelte.
            Es ist ein ruppig-schönes Werk geworden, mit Profis von vor Ort: den Ansässigen. "Ixcanul" erzählt von krassen Lebensbedingungen und von lebensstützenden Mythen angesichts von Verdrängung und Landflucht. Bis in den Wettbewerb der Berlinale 2015 hat es dieses basisdemokratische Filmprojekt gebracht – als erster Film aus Guatemala überhaupt.

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              Dörrie hat in Schwarzweiß gedreht, die Kamera verzeichnet die Auswirkungen der Katastrophe fast wie beiläufig. „Was ist denn in den Säcken?“, fragt die Protagonistin Marie einmal, während sie an dicken schwarzen Paketen vorbeifahren, die bis an den Horizont und darüber hinaus gelagert sind. „Das ist Erde“, sagt man ihr. Den ersten Meter Boden dieser Landschaft habe man abgetragen, weil er vergiftet sei. Wie lange die Behälter denn da stehen müssten, fragt die junge Deutsche. „Für immer.“

              Es ist eine Katastrophe mit dieser Katastrophe - aber das Leben ist mit dem Tod nicht unbedingt vorbei, das sollen wir mitnehmen. Das ist die hoffnungsfrohe Botschaft in dieser schönen, dichten Geschichte.

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                Bei der Premiere beim Filmfestival in Toronto gab es recht heftig was auf die Nuss von der Kritik: Unentschlossen sei der Film zwischen Abenteuer und Action-Romanze; dabei reiche es fürs Popkorn-Kino ebenso wenig wie zum Liebesepos.

                Einwenden könnte man: Dieser Film richtet sich mit seiner Hauptdarstellerin an ein junges Publikum, das von der Colonia Dignidad noch nie was gehört hat. Über die prominente Besetzung könnte es durchaus funktionieren, dass sich die Zuschauer stärker mit dem sehr speziellen Stoff und der Geschichte auseinandersetzen. Und ganz nebenbei wird die zwielichtige Rolle des deutschen Botschafters in Chile zerpflückt, der wie viele deutsche Politfunktionäre die Hand schützend über die Kolonie gehalten hat.

                (Amnesty-Journal 2/3 2016)

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                • 7

                  Sara Najafi ist eine junge Komponistin, die in Teheran lebt. Sie schreibt Musik für Frauenstimmen. Und da hat sie auch gleich ein Problem: Die iranischen Gesetze verbieten Solo-Auftritte von Sängerinnen. Allenfalls als schmückendes Background-Beiwerk von Männern dürfen sie auftreten. Aber Sara ist das egal: Entschlossen probt sie in Frankreich mit befreundeten Musikerinnen, um ihre Pläne durchzuziehen.

                  Da trifft es sich gut, dass ihr Bruder Ayat ein Regisseur ist – mit nur einem Dokumentarfilm ist er berühmt geworden: „Football Under Cover“ (2008) zeigt das erste Fußballspiel von Frauen im Iran. Der Filmemacher mit dem Faible für Frauenthemen folgt seiner Schwester, hat aber auch in Archiven nach Auftritten iranischer Sängerinnen in der Vergangenheit gesucht. Und er präsentiert schönes Material, zum Beispiel aus den sechziger Jahren, wo Frauen allein auftreten: Heute undenkbar, singen sie von den Freuden von freier Liebe und wie schön es ist, betrunken zu sein.

                  Sara stellt sich in die Tradition der rebellischen Sängerinnen. Der Film zeigt die Musiker bei den Proben ihrer Werke, Melodien aus einer Mischung traditioneller Weisen und neuer Kompositionen. Musik, so der Tenor, sei ein Geschenk für jeden Menschen, unabhängig von Kultur und Geschlecht.
                  Ayat Najafi, der auch schon Mitglied der Amnesty-International-Jury auf der Berlinale war, hat einen spannenden Dokumentarfilm über coole Frauen gedreht - die ihre Stimme erheben, um mit Musik zu sprechen.

                  (Amnesty-Journal 2-3/2016)

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                    Eine der verrücktesten Geschichten in der Rock-Historie ever schrieb wohl die Band Sumé. 1973 gegründet, gilt sie seitdem als die bekannteste Formation aus Grönland, die zudem als erste in der Landessprache sang.

                    Den Musikern um die Bandgründer Malik Høegh und Per Berthelsen ging es nicht nur ums reine Klampfen - auch wenn das der Gitarrenverstärker, den Inuk Silis Høegh in seinem Dokumentarfilm über Sumé zur Illustration in die Landschaft stellt, suggeriert. Sumé waren eine sozialkritische und vor allem antikoloniale Gruppe. Seit über 200 Jahren gehörte Grönland damals schon zum dänischen Königreich. Besitz war auf der Insel unbekannt, es herrschte eine Allmende-Kultur. In starkem Kontrast dazu steht die krasse Rohstoffausbeutung durch dänische Firmen. Andererseits: Formale Bildungswege bot zu jener Zeit auch nur das Tausende Kilometer entfernte Dänemark. Nicht mal Kennenlernen ging zu Hause: Orte waren nicht per Straße verbunden.

                    Die Lieder beschrieben die Missstände in Grönland an und wurden äußerst populär. Insbesondere dass die marginalisierte native Muttersprache in poetische Texte gegossen wurde, gefiel der jungen Generation Grönlands.
                    So wurden ihre Songs auch der Soundtrack der ersten Jugendproteste gegen die dänische Verwaltung. Drei Platten veröffentlichten Sumé, dann entschieden sie sich verrückterweise gegen eine Profikarriere, obwohl von der Supergruppe Procol Harum als Vorband für eine Tour angefragt. Ein prima Film, der Zugang zu einer höchst interessanten Szenerie findet.

                    (Amnesty-Journal 2-3/2016)

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                      Wenn einem früher Klamotten nicht gefielen, tauschte man sie vielleicht wieder im Laden ein. Heute sind sie so billig, dass man sie einfach wegwirft. Fast Fashion, das ist das Zeug, was man zum Beispiel bei Handelsketten wie Primark erwirbt. „Jeden Tag hatte ich neue Tüten, aber nie was zum Anziehen“, beschreibt Lucy Siegle dieses Prinzip. Früher sei sie auch ein Shopping Victim gewesen, erzählt die englische Journalistin, die seit geraumer Zeit kritisch über die Mode-Großindustrie berichtet. „Gewählte Haut“ nennt sie die billigen Stoffstücke. Offensichtlich habe es sich bei großen Teilen der Konsumenten durchgesetzt, genau die mehrmals am Tag zu wechseln.

                      In anderen Weltregionen, da wo die Ware gewebt und zusammengenäht wird, haben die Modetrends tödliche Folgen: Sei es in den vergifteten Arealen der Lederindustrie am Ganges oder bei den zu traurigem Weltruhm gekommenen Näherinnen in Bangladesh: Dort stürzte vor zwei Jahren eine der Fabriken ein, die auch für viele deutsche Firmen gearbeitet hat: Rana Plaza. 1129 Tote hat es damals gegeben. Es gab keinen Arbeitsschutz und keine Bauaufsicht. Wer protestierte, wurde aus dem Verkehr gezogen. Auf 5000 Fabriken, die so funktionieren, wird das Land geschätzt.
                      Kritikerin Siegle gehört zu den vielen Stimmen, die Regisseur Andrew Morgan für seinen Film „The True Cost – Der Preis der Mode“ gesammelt hat. Er bietet viel und gute Recherche, die Morgan zuweilen drastisch aufbereitet. „True Cost“ leuchtet die Hintergründe der Produktion aus, liefert Fakten und Zahlen zu den größten Modehäusern und den Arbeitsbedingungen. Lange widmet er sich der Näherin Shima, die ihr Kind nur einmal im Jahr sieht, weil der Arbeitsort so weit entfernt ist. Mit Blick auf die prekären Verhältnisse nicht nur in Bangladesh sagt sie: „An dieser Kleidung klebt Blut.“

                      Belegt wird die gewalttätige Komponente auch mit Prügelszenen in der kambodschanischen Stadt Phnom Penh, wo Arbeiter für den Mindestlohn kämpfen. Drastisch sind die Bilder aus Indien, wo Arbeiterinnen in der Lederindustrie von schlimmen Vergiftungen berichten. Das verwendete Chrom zerstört die Haut. Und - wenn das nicht eine irrwitzige Analogie zum Modezirkus ist- führt zu Pigmentstörungen, wie sie „America’s Next Topmodel“-Teilnehmerin Chantelle Brown-Young weltberühmt gemacht hat, die aber an einer seltenen Krankheit leidet.
                      Nun landen die Inderinnen nicht auf dem Laufsteg, sondern ihre „Eltern warten darauf, dass ihre Kinder sterben“, wie Expertin Vandana Shiva ausführt, denn: „Mit der Chemie ist es wie mit Drogen: Je mehr es gibt, desto mehr wird benutzt.“
                      Kontrastiert wird das ganze Elend mit Hochglanzbildern und TV-Ausschnitten von Modenschauen und Talkshows, Ausschnitten aus Youtube-Fashion-Kanälen junger Frauen im Fast-Fashion-Fieber. „Guckt mal, was ich heute wieder gekauft hab. Ich hatte nichts mehr anzuziehen.“

                      Es werden aber auch Gegenstrategien und Menschenrechtskampagnen vorgestellt – Initiativen wie die Clean-Clothes-Campaign finden allerdings keine Erwähnung, mehr Raum wäre hier durchaus angebracht gewesen. Andererseits gehört es zu den echt bemerkenswerten Momenten dieses Films, auch Top-Designerinnen wie Stella McCartney vor die Linse bekommen zu haben. Tenor: Wir haben es zwar nicht gleich gemerkt, aber: Nachhaltige Produktion ist eine Notwendigkeit.

                      (Amnesty-Journal 2-3/2016)

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                        »Oi! Warning« ist eine Geschichte von Selbstfindung, Eifersucht, Gewalt. Eine Liebesgeschichte und eine Erzählung über das Andere. Ein ganz normaler Film eben. Das ist für Deutschland nicht unbedingt normal, und deswegen fand er erst vor kurzem einen Verleih, die Potsdamer Nighthawk Pictures. Im September soll er mit 30 Kopien bundesweit starten.

                        Ein guter Film über Schreckliches ist besser als ein schrecklicher Film über das Gute. So ist die Welt in dieser Geschichte: Sie beginnt mit Gewalt und endet mit Gewalt. Die Bilder dieses Kompendiums bleiben ohne Zweifel noch nach der Filmvorführung im Kopf. Manche Filme haben gute Momente, dieser hier hat keinen einzigen schlechten.

                        In diesem Sinne haben die Redings ein Filmwissen wieder ausgegraben, das es mal vor 25 Jahren bei deutschen Regisseuren gegeben haben muss. Sollte der deutsche Film eine positive Zukunft haben, sie müsste aussehen wie »Oi! Warning«.

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                          Technisch ist alles möglich im Film, aber offensichtlich setzt gerade das der Phantasie enge Grenzen. Der neue »Star Wars«-Film bricht zwar alle Rekorde – 50 Millionen Dollar im Vorverkauf, die Zuschauerzahl wird in die Milliarden gehen und die chinesische Spielzeugindustrie ist auch gerettet – aber ansonsten heißt es wieder: Lichtschwert, Chewbacca, Eltern-Kind-Problematik. Dabei wurden die meisten Modernisierungsauflagen erfüllt: Die »Macht« trägt eine schickere Maske, Luke Skywalker ist eine Luka. Der siebte Teil der Saga ist irgendwie ein Substrat der früheren Filme mit moderatem Update: Ganze Szenen werden einfach nachinszeniert. Und nicht nur »Star Wars« wird ­zitiert. Der neue Superbösewicht ist ein Gollum-trifft-Lord-Voldemort-Crossover, der kugelige Computerroboter hat einmal »Wall-E« zu viel geguckt.

                          Aber die Schauspieler sind ja auch alt und neu. Und die Witze und Kamerafahrten schön. Jede Menge Raumschiffeltern umschwirren die Nachkommenschaft, technisch auf dem Stand von vor 30 Jahren – was ist das denn für eine Galaxie?

                          Das alles minus Politik und Ökonomie: Die »Star Wars«-Reihe zeichnete sich auch durch Darstellung administrativer Ebenen aus, die neben den ganzen Gadgets verdeutlichte, wie Diktatur entsteht. Durch Herbeiführung des permanenten Ausnahmezustands beziehungsweise einfach so. Die Stadtlandschaften als Orte der Gesellschaft fehlen hier folgerichtig. Imperium leitet sich nicht her, es ist gesetzt. Also: Nach furiosem Auftakt werden Menschen in den immer gleichen Dörfern von den immer gleichen Fluggeräten angegriffen, man verhaut sich im verschneiten Wald. Diplomatie existiert nicht, es ist gleich Krieg. Kann sein, dass die Macht hier erwacht – die immergleichen Kämpfe können auch ein Nickerchen zeitigen.

                          Gähn, mecker – Schluss damit. Denn siehe da, der Film wirkt in die Wirklichkeit! Ich fahre nach der Vorstellung durch die Stadt, am Regierungsviertel vorbei. Da steht das monströse Kanzleramt, ist das nicht die Zentrale des Imperiums, herrscht hier nicht auch ein Elternteil? Luke, ich bin deine Mutti! Superfilm, alles echt: Wie auf dem Todesstern kann man sich überall fühlen.

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                            Beim Saufen kommen einem die besten Einfälle. Claude Lorius saß 1965 vor einem Glas Whisky on the Rocks, als er beobachtete, wie das Eis langsam schmolz und dabei Luft freisetzte. "Da hatte ich die Eingebung, dass diese Luftbläschen einzigartige und zuverlässige Zeugnisse für die Zusammensetzung der Luft darstellen."

                            Der darauffolgende Kater dauert bis heute an. Lorius ist Glaziologe, und mit seinen Bohrungen im ewigen Eis des Südpols hat er den Klimawandel nachgewiesen. Anhand eingeschlossener Luftreservoirs ließen sich über tausende von Jahren Bewegungen des CO2-Gehalts und anderer Luftbestandteile in der Atmosphäre nachweisen.
                            Über 20 Mal war der französische Eispionier in der Antarktis, er stieß internationale Programme zur Erforschung der Eisflächen an; in einer Bohrung gelang der Blick zurück über fast eine Million Jahre.

                            Das Thema ist topaktuell: Gerade, bis 11. Dezember 2015, war Klimakonferenz in Paris. Bei den gegenwärtigen Migrationsbewegungen in Richtung Europa mischen sich erste Befürchtungen, dass die Erwärmung der Erdatmosphäre womöglich viel drastischere Flüchtlingstrecks nach sich zieht, als dies Bürgerkriege vermögen. Nicht wenige sehen im Anstieg des Meeresspiegels und einer höheren Taktzahl von Naturkatastrophen erste Vorboten.

                            Da würde die filmische Ehrung des Forschers, der mit als einer der ersten hier Zusammenhänge erkennen konnte, doch passen. 83 Jahre alt ist Lorius heute, mit 23 fuhr er das erste Mal ins Eis.

                            Ein Leben für die Klimaforschung – Grund genug für den Regisseur Luc Jaquet, ihm einen Dokumentarfilm zu widmen. Jaquet ist vor allem berühmt geworden mit seiner Sprechende-Tiere-Fiction-Doku "Die Reise der Pinguine" (F 2005) – jetzt mal nichts Schlechtes über die Dialoge philosophierender Vögel. Aber ob Jaquets Zugang zu Lorius‘ Lebenswerk der richtige ist, lässt sich durchaus bezweifeln.

                            Denn "Himmel und Eis" ist nicht nur Dokumentarfilm, sondern auch Dokument einer völlig überzogenen Personalisierung des Themas. In weiten Strecken genügt sich Jaquet darin, Lorius zwischen Eisblöcken abzufilmen, gern dramatisch aufgeladen per Drohnenkamera und off-kommentiert durch einen nervenden Sprecher Max Moor. Nicht Ergebnisse und Folgen der Forschung stehen hier im Mittelpunkt, der Mensch Lorius soll es sein. Der aber erschreckend wenig zu berichten hat, zumal er mit einer ebenso erschreckend pathetischen musikalischen Unter- bzw. besser: Übermalung zu kämpfen hat.

                            Dass der Film nach einer Weile aber dennoch Informationen liefert, ist den Rückblenden in Originalaufnahmen der zahlreichen Expeditionen geschuldet. Allerdings auf andere Weise, als das vielleicht didaktisch gewünscht war. Sie liefern weniger Wissenschaftliches, als vielmehr Eindrücke einer viril-technoiden Wissenschaft, deren Ausführung an Militäroperationen erinnert. Panzer fahren durchs Eis, durchweg sind Großmaschinen im Einsatz, Transportflugzeuge brechen auseinander und werden mir nichts dir nichts durch neue ersetzt. Dabei lässt man unfassbare Mengen Müll in der fragilen Natur zurück. Der Höhepunkt: Die teils kilometertiefen Bohrlöcher werden mit Kerosin gespült, um sie offenzuhalten.

                            Was hier zum Einsatz kommt, ist eine großindustrielle Mechanik, eingesetzt von technikbegeisterten Freaks, die offensichtlich über unerschöpfliche Mittel verfügen. Die Menschen, die mit ihnen arbeiten, sind saufende Raubeine, harte Typen, die zuweilen harte Fakten zum Ausdruck bringen: "Es ist kalt."

                            Alles Nachdenkliche – und Nachhaltige - soll hier keine Rolle spielen. Inmitten dessen liefert der eingesprochene Kommentar eine unsympathische Selbstbesessenheit des Klimaexperten. "Wir leisten fast Übermenschliches." Den Pinguin lässt man an der Zigarette ziehen. Dann brettert die junge Crew mit ihren Kisten übers sensible Antarktis-Eis, abends gibt’s die Party.

                            Gut, passiert. Aber was für ein Mensch Lorius ist, in welchen Zusammenhängen er lebt, was mit den privaten Verhältnissen ist, das erfährt man auch wieder nicht: Hat er das alles allein geschafft, was ist mit diesen Kollegen, was wurde aus ihnen, was mit Familien und Freunden? Warum gab es nicht den Nobelpreis? Wüsste man alles gern. Aber keiner sonst kommt hier zu Wort.

                            "Wir leisten Übermenschliches" - ja, das stimmt. Aber eben auch Unterirdisches. Statt den Zuschauern zu erklären, welche politischen Implikationen diese Forschung hat, welchen systemkritischen Gehalt sie haben könnte - also was das alles mit uns zu tun hat -, muss man leider konstatieren: Diese Analyse der Klimakatastrophe hat selbst einen Klimaschaden.Q

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                              Das gefährliche Terrain ist Tummelplatz von Menschenschmugglern, wie Chryssa: Um Vater und Bruder zu unterstützen, schleust sie Flüchtlingskinder nach Griechenland, im Rucksack Drogen der Mafia. Sollten die Kinder erwischt werden, sind sie eh nicht strafmündig.

                              Eines Tages trifft sie auf Yannis, Minenräumer der griechischen Armee. Immer wieder muss er erleben, dass Flüchtlinge, die nicht einmal seine Warnrufe verstehen, in die Sprengfallen laufen. Ein wenig hat er mit dem leben abgeschlossen, aber nun kommen sich Soldat und Schlepperin nah. Aber geht Liebe überhaupt an diesem unwirtlichen Ort? Welche Zukunft können solche zwei haben?

                              Die aktuelle politische Lage gibt den Takt vor für diese Liebe ohne Aussicht. Derzeit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Der Weg über die Türkei nach Europa zählt zu den am häufigsten genutzten Fluchtrouten. Hier eine Liebesgeschichte erzählen zu wollen, kündet von ordentlich cineastischem Mut. Und wenn "Riverbanks" auch manche dramaturgische Extraschleife dreht, so ist der Film doch gelungen wie auch sehr sehenswert.

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                                Es sind spröde Bilder in und zwischen düsteren Wohnblocks, die Sonne kommt nur selten mal heraus. Das Filmmaterial wirkt körnig, die Ausleuchtung ist spärlich – fast wie einen Dokumentarfilm schaut man sich "Dheepan" an. Als stilistisches Element kommt das Bild eines bemalten Elefanten zum Einsatz; es deutet Kontraste an zwischen altem und neuem Elend. Dämonen und Wunder, wie der deutsche Filmtitel verheißt, dominieren hier zumindest nicht als romantisch-bunte Beigaben. Hier wird mehr verzeichnet als ausgemalt.

                                Audiards Held weiß, dass er die Fähigkeit hat zu töten. Und so zieht er, Hausmeister und Platzwart, der er ist, einfach Linien durch das Quartier wie auf dem Fußballfeld. Ihr kommt so langsam in den Strafraum, scheint er den Kleinkriminellen mitteilen zu wollen. Die Protagonisten sind hier Täter und Opfer zugleich.

                                Regisseur Jaques Audiard hätte gern, dass die Guten gewinnen, vielleicht die große Schwachstelle des Films, der nun ins Kino kommt: Menschen an der Unterkante der Gesellschaft sind nicht dafür bekannt, viele Wahlmöglichkeiten zu haben.

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                                  3D ist super, meint Gaspar Noé, französische Regie-Skandalnudel. Deshalb hat er jetzt einen dieser typisch französischen Pornos ab 16 gedreht, der so heißt wie das, was er zeigt: "Love 3D". Der beinahe zweieinhalbstündige Film ist ein echter Schocker. Das Kondom ist geplatzt. Filmstudent Murphy (Karl Glusman) und Kunststudentin Elektra (Aomi Muyock) hatten so eine schöne Beziehung. Leider haben sich beide mit der schnuckeligen Nachbarin Omi (Klara Kristin) eingelassen. Als Elektra mal nicht mitschmusen kann, tun’s Omi und Murphy allein, besagtes Missgeschick passiert. Die junge Frau wird schwanger, Elektra sucht das Weite. Wehmütig erinnert sich Murphy an die schöne Zeit in diversen Rückblicken, irgendwie jenseits der nun folgenden Heteronormalität.

                                  Das ist die Handlung, nötig ist sie nicht. Es wird gevögelt in diesem Film, und es soll schön aussehen. Die Hauptdarsteller sind sowas von süß, dass 3D echt gefährlich ist: Womöglich wollen die Zuschauer, wenn sie einen sitzen haben, in die Leinwand steigen zum Mitficken.

                                  Ein erotisches Märchen mit tollen falschen Gefühlen und Sätzen zum Mitlachen: »Du, mein Schwangerschaftstest ist positiv« – »Ach, wir machen einfach noch einen!« Dass Menschen unter 25 in Paris eine Wohnung für sich haben, ist auch eine Lachnummer. Paris ist dies momentan nicht und wohl auch eher weniger die Stadt der Liebe.

                                  "Love 3D" schrumpft die Welt, die gerade in Paris eine so andere ist, auf Liebesgeschichtenformat mit all den üblichen Drogen und der ganzen Eifersucht in Zeiten der TTIP-Verhandlungen. Murphy haut Elektras Ex die Flasche über den Kopf: "Sie gehört mir", brüllt er dem Polizisten entgegen. Nein, meint der. "Vergessen Sie mal Ihr amerikanisches Besitzdenken. Gehen Sie mit Ihrer schönen Freundin in den Swingerclub, schenken Sie ihr dieses schöne Vergnügen, mit vielen Menschen Sex zu haben. Ich geh da auch hin und bin immer ganz entspannt."

                                  Na siehste, Filmbranche, geht doch! So resozialisiert zieht man von dannen, ganz verliebt ins Kino. Der Film ist schön, leicht und lustig und ein bisschen blöd. Und das ist derzeit beinahe ein Politikum.

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                                    Der neue James-Bond-Film "Spectre" ist Zombie-Genre: Gebäude stehen ausgebombt aus dem vorletzten Daniel-Craig-007 an der Themse herum, die Geheimdienstchefs wirken, stoppelbärtig wie sie sind, untot, und ansonsten so, als hätten sie vergessen, sich nach dem Klobesuch den Reißverschluss zuzuziehen.

                                    Zombie-Genre ist auch der Plot. Bei der Story geht's um totale Überwachung wie anno 1984 – 50 Typen sitzen vor Bildschirmen. War da die Wirklichkeit nicht schon weiter, hält die sich nicht ganz von selbst in Schach? Na gut. Der neue Chef will die Geschäftssparte mit den Lizenz-zum-Töten-Agenten abschaffen – mit Betonung auf Doppelnull. Sie sind eine überkommene Garde von Attentätern. "Die Drohnen arbeiten besser als ihr", weiß der Yuppie, der mit dem Innenminister zur Schule gegangen ist.

                                    Das hätte durchaus Potential, selbst der Killer muss aufs Sozialamt … Doch es gibt nichts Kluges in diesem Film. Der Bond-Darsteller Craig ist eine Fehlbesetzung, er hat keine Lust auf das hier; bei den Kusszenen mit Monica Belucci und Léa Seydoux, den Bond-Girls, schaut man lieber nicht so genau hin, die Witze sind von gestern. Man tut das hier nur, weil es im Drehbuch steht.

                                    Über zwei Stunden hauen sich zwei Frührentner auf die Fresse. Der eine passt nicht in die Rolle, der andere ist Christoph Waltz. Vielleicht das Schlimmste, der hat noch jeden Film zu einer deutschen Vorabendserienepisode heruntergebrochen. Dies hier ist gestorbene Kunst, wenn überhaupt. Mag sich das englische Königshaus genauso fühlen, kann ja sein. Es rannte jedenfalls mit Begeisterung in die Londoner Premiere.

                                    Gebrauchte Bilder, schaurige Darsteller, wie für einen Tele-5-Film morgens um drei: Die Frage ist, warum der Quatsch so dermaßen durch die Decke geht. Die Bond-Filme mit Craig sind enorm erfolgreich. Das wirft Fragen auf: Wenn es ein Publikum gibt, das solche Filme liebt – muss man sich da über irgendetwas wundern in der Welt?

                                    Ein einziger programmatischer Satz fällt in diesem ominösen Werk. Als Bond einem untergetauchten Spion außer Dienst gegenübersitzt: "Zwei Tote machen sich einen schönen Abend." Das ist inhärente Filmkritik: Genauso fühlt man sich, wenn man "Spectre" schaut.

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                                      Seit 2008 sind Lebensmittel Spekulationsgegenstand, seit Ausbruch der Finanzkrise suchen die Fonds Anlageplätze. Die industrielle Produktion verschluckt dabei irrational viele Fördermittel: Denn immer noch werden 70 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel von kleinen Höfen hergestellt. Insgesamt betrachtet arbeiten die auch ökonomischer: Sie produzieren zehnmal mehr Energie als sie verbrauchen. Bei der Agrarindustrie ist dies laut Film umgekehrt: Sie soll zehnmal mehr Energie schlucken als sie produziert.

                                      In "Landraub" kommen Profiteure wie Opfer zu Wort. Die einen schwärmen von Sicherung der Nahrungsversorgung, Arbeitsplätzen und Wohlstand für alle. Die anderen haben gerade deswegen ihre Lebensgrundlage verloren.
                                      Krasser prallten die Positionen in Sachen Landwirtschaft selten aufeinander im Kino. Glücklicherweise gibt es auch ein paar Beispiele, wie es besser funktionieren kann - so geht man wenigstens nicht nur traurig aus dem Kino. "Landraub" dürfte ein Klassiker des Umweltfilms werden.

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                                        über Heil

                                        In dieser Komödie geben sich Behördenskandale, mediale wie politische Verwurstung von Neonazis und Integrationsdebatte die Hand. Das hätte was werden können - hätte Brüggemann einen Spielfilm gemacht, der auch mal was hinterfragt. Stattdessen steht das Kinoformat „Deutsche Komödie“ im Vordergrund: Die deutsche Wirklichkeit bildet nur den Hintergrund für meist simpel gestrickten Humor.
                                        An den Schauspielern liegt‘s nicht. Bestnoten verdient die Performance, wenn die Leute aus dem Komödienstadl heraustreten: etwa der wie immer brillante Jacob Matschenz als brutalisierte SA-Nachwuchskraft, der offenkundig ausblendet, dass er in irgendetwas Spaßigem mitspielt. Anna Brüggemann als Nazibraut hält locker mit.
                                        Aber ehrlich gesagt war der Film für mich schon nach 20 Sekunden beendet. „Heil“ beginnt mit drei kurzen Einstellungen, dazu eingeblendet die Zeile „Deutschland 1945“: Zuerst sieht man die deutsche Wehrmacht im Einsatz, dann Adolf Hitler, dann einen Leichenberg im KZ. Dann beginnt dieser lustige Film.
                                        KZ-Opfer als Opener für eine Parade lauwarmer Gags: Brüggemann und seine Geldgeber von der öffentlich-rechtlichen Filmförderung sollten sich mal fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben.

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                                          Autoritäten angreifen ist das Geschäft der „Yes Men“ Andy Bichlbaum und Mike Bonanno. Als Sprecher von Dow Chemical getarnt verkündeten sie einst im Namen des Unternehmens die milliardenschwere Entschädigung aller Hinterbliebenen der Chemie-Katastrophe im indischen Bhopal, bei der 2500 Menschen starben.
                                          Jetzt präsentieren sich die beiden Weltmarktführer der Anti-PR in ihrem mittlerweile dritten Film als in die Jahre gekommene Gerechtigkeitsaktivisten. Bonanno muss an die Familie denken – da wird man vorsichtiger. Und bei Bichlbaum lautet das Fazit: Jude, schwul, Beziehung kaputt. „Arbeit ist einfacher als Menschen“, sagt er nach beinahe zwei Jahrzehnten Guerilla-Aktivismus, mit dem die Zwei-Mann-NGO Konzernen Dampf machten, sei es den Chemie-Multis, der Fracking-Industrie oder auch den neuen Öl-Projekten in der Arktis.
                                          Was macht das Leben mit einem, wenn man jahrelang ein weltweit agierender Polit-Clown war? Bichlbaum und Bonanno leuchten die ergrauten Schläfen beim Selber-in-der-Limousine fahren - die Ideale sind nicht mehr ganz so transparent.
                                          Und das erste Mal droht ein Gerichtsverfahren, angekurbelt von der US-amerikanischen Handelskammer, in deren Namen die beiden eine Kohlenstoff-Steuer zur Rettung der Umwelt einführen wollten. Richtig eingeschlagen ist das nicht, der Spuk war schnell enttarnt. Eine erneute spektakuläre Aktion soll die Protestwelt wieder ins Lot bringen…
                                          Ein Dokument des in die Jahre gekommenen Polit-Aktivismus, für hartgesottene Fans. Es ist als Anregung zu verstehen, nach neuen Protestformen zu suchen.

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                                            Hat meine Familie vielleicht weltpolitische Ambitionen? Regisseur Samir, Schweizer mit irakischer Geschichte, hat sich dieser Frage gestellt. Und als Antwort ein 3D-Meisterwerk gedreht, wie man es selten gesehen hat: Hundert Jahre irakische Geschichte werden mit den neuesten filmischen Animationsverfahren erzählt, im Vordergrund immer der Mensch.
                                            Die Familiensaga als eine über Generationen tradierte Poetik des Widerstands: Samir lässt seine Angehörigen zu Wort kommen, in alle Welt sind sie verstreut, weil sie immer in der Opposition waren: Russland, Schweiz, Australien. Die Familie besteht aus Akademikern, Schriftstellerinnen, Schustern – aber immer standen sie auf der Seite derer, die die Gesellschaft friedlich weiterentwickeln wollten.
                                            Nach den Erfahrungen mit diesem filmischen Meisterstück will der Regisseur nun auch anderen ermöglichen, ihre Erinnerungen zu veröffentlichen. „Alle eure Geschichten ergeben zusammen die Geschichte des Irak. Es soll eine private, subjektive Geschichte werden, die zum Entdecken einlädt.“ Infos dazu gibt’s auf der Homepage www.iraqiodyssey.ch.

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                                              Jafar Panahi ist der Meister der Schlüsselsituation. „Aufhängen“, brüllt der Mann – „Alle hinrichten.“ Wer andere beklaut, zum Beispiel, Autoräder, der muss sofort umgebracht werden, von Staats wegen. „Sagen Sie mal, was arbeiten Sie denn?“, fragt die Frau, die im Taxi neben ihm sitzt. Der entgegnet: „Ich bin selbstständig tätig. Als Straßenräuber.“
                                              Panahi liebt sein Publikum. In gerade 80 Minuten entwirft er ein Gesellschaftsbild der islamischen Republik Iran, vielleicht sogar ein sympathisches, denn es steigen noch ganz andere Charaktere in Panahis Fahrzeug, der sich hier als Chauffeur verdingt. Und sich nicht ganz uneitel mit versteckten Kameras filmt, mit seinen Gästen.
                                              Die Sprache dieser Art Kino ist rudimentär und gleichzeitig cool, ihre Struktur die des Selfie. Kino als Introspektion eines globalen Geschehens.

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                                                Das gute Leben startet in Deutschland: Feierlich wird die Kohlemine im Ruhrpott geschlossen – ein Abschied mit Wehmut für die Beschäftigten, die Gewerkschaft lässt traurige Lieder singen. Hier kommt jetzt die Energiewende hin, bis 2018 soll mit dem Kohleabbau Schluss sein.
                                                Woanders sind sie darüber auch nicht happy. Denn der Brennstoff wird weiter benötigt. Nimmt man eben den aus Kolumbien. Und dort erklärt der Sprecher des Konzerns El Cerrejón den Indianern der Wayúu-Gemeinschaft Tamaquito, warum sie jetzt ihr Dorf räumen müssen: Sie wohnen auf 500 Millionen Tonnen Kohle.
                                                Jens Schanze hat diese Verhandlungen für sein überzeugendes Filmprojekt „La Buena Vida“ begleitet. Die Wayúu führten bis dato ein recht naturbelassenes Leben, das sie nun vergessen können: Denn nicht nur der Abbau der Kohle droht. Sondern auch der von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten.
                                                Die Indianer wissen, dass die Firma sie betrügt und das gesamte Areal in eine Giftwüste verwandeln wird. Der Konzern verspricht viel, Saatgut soll‘s geben und Wohnhäuser, aber sicher. Am neuen Ort angekommen, findet sich nichts dergleichen. Der Ton der Konzernmitarbeiter wird ruppig. Drohungen folgen.
                                                Topfitte Subjekte des Kapitalismus sollen aus den friedlichen und intelligenten Menschen werden. Die Firma bietet Kurse in Marktwirtschaft an. Man ist ja nicht auf den Kopf gefallen, deren Lehre ist schon allzu bekannt: „Unsere Geister sagen, heißt es in einer Diskussionsrunde, „der Profit des Konzerns muss mit den Wayúu geteilt werden.“

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                                                  Reduziert, roh und ruppig: Der georgische Film „Die Maisinsel“ widmet sich recht reduziert den Begegnungen von Menschen in Konfliktsituationen. Es ist das Jahr 1992, die Sowjetunion ist gerade zusammengebrochen. Zwischen Georgien und Abchasien herrscht Krieg, am Grenzfluss Enguri stehen sich die Truppen gegenüber. Mittendrin beackert der alte Bauer Abga mit seiner Enkeltochter das Schwemmland – einer von wenigen fragilen Klumpen Insel, auf denen im Frühjahr traditionell Mais angebaut wird.
                                                  Während die beiden das dürftige Eiland bearbeiten, abends vor der Hütte sitzen und sich als Figuren entwickeln, hört man von fern immer wieder Ballerei. Soldaten verschiedener Armeen lassen sich sehen, suchen desertierte Truppenangehörige und ergehen sich in wenig zweideutigen Anspielungen. Als sie einem verwundeten Soldaten Unterschlupf gewähren, wird die Lage schwierig: Im Fluss wie an seinen Ufern wartet Lebensgefahr.
                                                  Die brüchige Insel wird zur Metapher des Ausgeliefertseins. Die Bedrohung durch den Krieg ist jederzeit spürbar; hier wird mehr Atmosphäre erschaffen als Geschichte erzählt: hocharrangierte Landschaftsfotografie trifft aufs politische Kino.
                                                  Die flüssigen Bilder, an denen Regisseur George Ovashvili insgesamt vier Jahre gearbeitet hat, sind definitiv nicht als Samstagabend-Unterhaltung gedacht. Damit gewinnt man international angesehene Filmfeste - wie jenes von Karlovy Vary im letzten Jahr.

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                                                    Mit seinem neuen Film „Mein Herz tanzt“ widmet sich Regisseur Eran Riklis den Arabern, die in Israel leben.
                                                    Mit seinem neuen Film „Mein Herz tanzt“ widmet sich Regisseur Eran Riklis den Arabern, die in Israel leben.Dies ist ein schönes, manchmal nervenzerrendes, immer aber komplexes Kunstwerk, Entwurf für die Zukunft inklusive: Sie ist offen, lose, brüchig.

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