bunterkarl - Kommentare

Alle Kommentare von bunterkarl

  • 10

    „A poet needs to discipline himself everyday.“

    Was Jonas Mekas hier abliefert ist für den Zuschauer ein einmaliges Filmerlebnis. Selten habe ich ehrlicheres, authentischeres, mutigeres gesehen. Zugegeben, er verlangt viel Geduld und Aufmerksamkeit, zu verwackelt, zu unscharf und zu amateurhaft ist „As I was moving ahead occasionally I saw glimpses of beauty“.
    Die wenigen von Mekas gesprochenen und abgetippten Sätze bzw. Mantras wirken auf der Unterlage der wahllos aneinander gereihten Alltagsszenen wie Monolithe im ansonsten planen Gelände. Mekas will nicht unterhalten, er entschuldigt sich an zwei Stellen für seinen Film, denn es passiere nichts. Er bricht das Leben auf im Grunde genommen bei allen Menschen vergleichbar erlebten Alltagssituationen runter, er schafft ein gemeinsames Fundament, ganz nüchtern und unaufgeregt, erschreckend nüchtern, doch räumt er dem Menschen Augenblicke der Schönheit ein, die meistens mit dem Beobachten und Nachsinnen einer Szene verbunden sind.
    Letztlich funktionieren Menschen auf ganz ähnliche Weise, schließlich sind sie von ihren Erfahrungen, ja von ihrem Leben geprägt. Im Verlauf der fast fünf Stunden geht man gerne mit ihm mit, an zahllosen Stellen wundert man sich immer wieder über die Ähnlichkeit der gezeigten Szenen und den eigenen Erinnerungen. Und immer wieder hört man hier, wie bereits im Titel, Goethes Faust höchst selbst von seinem Augenblicke reden: Verweile doch, du bist so schön. BUT: „Life goes on...“, das ist einer der kryptischen auf der Schreibmaschine getippten Sätze, die wie große Bögen, den Film zusammenhalten und nur zu gut in die überwiegende Rolle des Menschen als Beobachter des Lebens passt. Kolossal ist der Dokumentarfilm nicht zuletzt, weil er Szenen aus ganzen 50 Jahren aus einer Perspektive zeigt – ein Gedanke, der tief wirkt.
    Einer der schönsten Aufnahmen sind die aus dem Wohnzimmer Mekas‘: Ein großer Saal mit hohen Decken, schlanken Säulen, Dielenboden und einem beachtlichen Bücherregal, grünenden Pflanzen und warmen Licht, vielleicht ein altes Industriegebäude, durch das ein drei-, vielleicht vierjähriges Kind, vermutlich sein Sohn, schlendert. BUT: „Life goes on...“ Und dann wieder innehalten, auf einer Bank Platz nehmen, Nachsinnen und das Erkennen, was das Leben lebenswert macht: Die Glimpses of Beauty.

    5
    • 8

      Kyoko: „Glaubst du an Gott?“
      Kaito: „Ich weiß nicht wer das sein soll.“
      Kyoko: „Das weiß keiner.“

      „Immer wieder das Meer“ ist eine wunderbar langsame Erzählung, die sich zwei japanischen Familien, im speziellen den beiden Einzelkindern annähert, zwischen denen sich eine sinnlich sanfte Liaison entfaltet. Kyoko, deren Mutter Schamanin, also ein Bindeglied zwischen Menschheit und Pantheon ist, sieht sich mit dem nahenden Tod derselbigen konfrontiert, was sie und Kaito zu ähnlich gearteten Leidensgenossen macht, denn auch Kaito hat mit einem Abschied zu kämpfen: Sein Vater lebt getrennt von seiner Mutter im fernen Tokio. Die sich daraus ergebende Zerbrechlichkeit wird in unzähligen Metaphern und Anspielungen wie in einem großen Resonanzkörper von Wand zu Wand reflektiert und variiert, sei es durch die Meeres- und Wassertranszendierung des fast heilig erscheinenden Vaters Kyokos, der kontrastierenden Mutter Kaitos und ihren Liebhabern oder dem intensiven Blickaustausch zwischen Kyoko und Kaito, der gerade von seiner Wortkargheit tiefe Tiefen erahnen lässt.
      Vieles wäre hier an feinkomponierten Szenen erwähnenswert, das abgemühte Strampeln den Berg hinauf, den feinen Dialog über die Aufgabe der Jugend und die der Alten, die Familienkontemplation auf der Terrasse Kyokos Vater oder der archaische Akt im Grünen gegen Ende der Projektion.
      „Immer wieder das Meer“ ist ein authentisch gespielter Film, der weit über die Einzelschicksale der Protagonisten hinausweißt, der Einblicke gewährt in den eigentlich japanischen Geist, der die meisten Götter kennt, der von Sinnlichkeit durchzogen und weise ist, der schwer für jeden Einzelnen zu tragen ist und zugleich von auslöschbarer Kraft vor sich hinscheint.

      Kansha, Naomi!

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      • 10

        Heruntergekommen ist der Fabrikkomplex, heruntergekommen und bewusstlos liegt Joe am Boden, es schneeregnet und überall sammeln sich kleine Ströme, die zu Boden kriechen, die im freien Fall auf den Grund prasseln. Ein Ladenbesitzer, der aussieht als würde er insgesamt drei Kunden haben, verkauft frisches Gebäck an Seligman – ein jüdischer Name, der so viel bedeutet wie glücklicher Mann.
        Ein Gespräch führen? Jemand, der sich die Zeit zum Zuhören nimmt, der einem den Raum gibt zum Ausholen, zum sich verständlich machen, weil das Leben nun einmal komplex ist, weil man ständig Gefahr läuft sich während der Bewusstwerdung des eigenen Lebens zu verlieren, in der Selbstverachtung zu versinken?
        Von Trier lässt in Nymphomanic einen geistreichen Hobbyangler auf eine Nymphomanin treffen, die vor ihm ihr Leben entfaltet – man staunt darüber wie es gelingen kann zwei derart gegenläufige Charaktere in ein stundenlanges Gespräch zu verwickeln, ohne den Eindruck von Gezwungenheit entstehen zu lassen. Unermüdlich versucht Seligman die Erzählungen Joes in ein größeres ganzes einzuordnen, Analogien anzubieten, beginnend mit der Nymphe an seiner Wand - „Eine Nymphe ist ein sehr frühes Stadium eines Insekts“ - einzig und allein, so scheint es, um ihr durch verständnisvolle Relativierung ihr das Fundament für ihren Selbsthass zu entreißen, einzig und allein, so scheint es, um der Verzweifelten Mut zu machen.
        Joes Aufrichtigkeit, Joes unerbittliche Härte sich selbst gegenüber einerseit und Seligmans sensibles Taktgefühl, Seligmans virtuosen Angeltricks andererseits erzeugen eine derart intensive Intimität, die sich wie ein endlos erscheinender Orgasmus entwickelt und jeden Moment zu explodieren droht. Annäherung schafft Vertrauen, Annäherung schafft Respekt, und wenn in von Triers Komposition auch nur Seligmans Bekenntnis seiner Einteilung der Menschen in zwei Lager fehlen würde, würde es die beiden Charaktere auseinander reißen.
        So entsteht vor den Augen des Zuschauers ein wunderbares Glasperlenspiel, das vom tiefsten Abgrund einer menschlichen Seele bis zu den himmlischen Klängen Bachs aufgespannt wird. Ein fesselndes, ja überwältigendes Meisterwerk, das auf allen Pfeifen der seelischen Orgel gleichermaßen spielt – gigantisch! Tak, Lars!

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        • 10

          Wenn man den Satanstango tanzt, stolpert man nicht einfach zufällig in die Veranstaltung, weil man gerade am Kino vorbeigelaufen ist oder weil man in einem glücklichen Moment den Fernseher eingeschaltet hat – nein, wer den Satanstango tanzt, hat sich vor einiger Zeit an einer Kreuzung mit geteerten und beschilderten Wegen gesehen und sich für den Feldweg entschieden, ja, wer den Satanstango tanzt, der ist dem Dämon auf der Spur oder besser: Wird von ihm verfolgt und ist auf der Suche nach einem Winkel, der jenem Dämon so zu wider ist, dass er letztlich die Verfolgung aufgibt.
          Die Geschichte des mehr als siebenstündigen Meisterwerks, welches von Sight & Sound unter die 50 besten Filme aller Zeiten gewählt wurde, wäre schnell erzählt, wenn Tarr mit seinen Bildern nicht die tiefsten Regionen der menschlichen Existenz freilegen würde. Jeder Täuschung entledigt, werden die wenigen Bewohner eines trostlosen, ungarischen Dorfes ausgestellt: Der trunksüchtige und vereinsamte Schreiberling, ein alleingelassenes Mädchen, der regressive Wirt der Dorfkneipe, Pläne schmiedende Lohnarbeiter, im Regen und Matsch trabende Kühe – Einsamkeit, Angst, Rebellion, Sinnsuche, Hoffnung.
          Entführt in eine sensationslose Szenerie beginnt man als Zuschauer seinen quasi-meditativen Abstieg auf der vertikalen Reizachse, als würden die ersten fünf Stunden die Rede des lange verschwundenen Irimias – vielleicht der Höhepunkt des Films – nur vorbereiten, als müsste der Zuschauer während der ersten fünf Stunden zunächst die Menschwerdung durchlaufen. Ja, von diesem Irimias scheint ein gewisses Licht auszugehen, das schon bald den Hoffnungsfunken zum Überspringen bringen sollte.
          Ein wundersames, unvergleichliches Filmerlebnis, das sich wohl am besten an den ruhigen, kalten und dunklen Weihnachtsfeiertagen unterbringen lässt. Bravó kiáltás!

          7
          • 7 .5

            Der Traum, das Unbewusste, das Verweben mehrerer Bewusstseinsebenen, die durch die Bilder erzeugte Gefühlswelt, die vom Soundtrack kontrastiert wird – kurz das Mysteriöse ist die inhärente Unterschrift von Lynch. Bezeichnend für die Verwirrungen, die mit Mulholland Drive einhergehen, sind sicherlich die Stapel-dicken Diskussionen, die sich um den Film tummeln. Wie bei einer Reise auf einen Fremden Planet – wo einem neue Phänomene begegnen, für die man erstmal mit der Machete einen Pfad durch den Neuronendschungel schlagen muss, um überhaupt was darüber sagen zu können - führt Lynch seine Regie so fern ab von konventionellen Denkmustern, dass man bereits nach dem ersten Satz des Plots (Es passiert ein Unfall auf dem Mulholland Drive) ins Wanken gerät. Dieses Schicksal ist auch zentral für die Hauptfigur(en), die ähnlich wie der Zuschauer in dem Gefühl zurückgelassen werden, dass doch die Illusion im Grunde das Übriggebliebene ist. Darüberhinaus kann man wenig sagen. Die Heile Welt der einen löst sich auf, während aus dem Nichts der Anderen in kürzester Zeit ein etwas wird und am Ende scheinen die beiden nur einzelne Abspaltungen ein und derselben Person zu sein. Und überhaupt: Sind die anderen Figuren nicht auch nur fragmentarische Teil-Bewusstheiten desselben kollektiven Illusionsbreis? Ein Film zum Staunen, Gruseln und bestens geeignet für steile Thesen! Danke Mr. Lynch!

            • 9

              In dieser trostlosen Sezierung unseres sogenannten westlichen Lebensmodells, bestehend aus Arbeit, Geld, Konsum und Haben, verbirgt sich ein zerschlagendes Grundgerüst aus dem Wahn des so gewachsenen Lebens und ihren hoffnungslos gescheiterten Menschen, das köstlich auf die Spitze getrieben wird. Weder Farben, noch Natur, statt beseelender Musik, gibt es dumpfe Töne, die genauso anmuten, wie die Figuren, die offensichtlich in einer unverständlichen Welt leben. Genau eine Szene, in der das Gefühl der Zuversicht schwebt, nämlich die des gemeinsamen Flötenspiels, der man als Ausweg die Musik und/oder die Liebe andichten könnte, suggerieren die restlichen Analysen das rohe Bild einer vollkommen aussichtlosen Welt, das in Anbetracht des aktuellen Systems außerordentliches Unterwanderungspotential aufweist. Ob das, das nebulöse Ungeheuer des blinden Marktes ist, das Verständnis der Menschen füreinander, die Psyche der einzelnen Charaktere oder der zum reinen Produkt erklärte christliche Glaube: Bei Anderson wird alles zur absoluten Lächerlichkeit zerlegt. Bernhard’sches Holzfällen, Nietzsches Allzumenschlichkeit, Schopenhauers Leben als Leiden, genauso wie Fromms Haben und Gruens Wahnsinn der Normalität. Songs From The Second Floor ist sicherlich einer der bizarrsten Filme, die ich gesehen habe, zunächst bedrückend und alsbald Erleichterung induzierend, wenn er dann vorbei ist. Und dann natürlich Kraft spendend, wenn der eigene Weltblick vergleichsweise in Erscheinung tritt. Großartig! Tak, Roy Anderson!

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              • 9

                Josef K. führt ein unauffälliges Leben. Doch eines Morgens findet er sich als schuldig vor, schuldig erklärt zunächst nur von Polizeibeamten, die unfähig sind ihm den Tatbestand zu erklären und überhaupt keine Fragen beantworten, sondern Josef K. penetranterweise bedrängen, ja nötigen. Beim Suchen der Wurzeln dieser Begebenheit, muss er feststellen, wie jedes Glied der Gesellschaft - seien es Verwandte, die Arbeitskollegen, die Vermieterin, Sympathisantinnen, verschiedene Instanzen der Juristerei oder der Künstler – scheinbar Teil dieser Maschinerie ist. Warum gemacht wird, was gemacht wird, sei nicht Sache des Machenden; ein Zahnrad der Maschine erkundigt sich schließlich auch nicht, warum es sich fortwährend im Kreise dreht. Welles gelingt es dabei, Josef K. als Einzelkämpfer gegen die einzig anders existierende Vereinigung, also das Konglomerat aus einer riesigen Rechenmaschine und die ihr unterworfenen, gescheiterten Menschen, die, weil selbst gescheitert, nun auch Josef K. scheitern sehen wollen, ins Licht zu rücken. In der Aussage des Advokats „In Ketten zu liegen ist manchmal viel sicherer, als frei zu sein.“, kommt die ganze Perversion zum Ausdruck: Die Maschinerie bietet Sicherheit, sei es in Form von Geld oder schlicht in Form von in Frieden gelassen werden; ihre Arbeit besteht darin, die noch nicht Angeketteten, also Freien, anzuketten oder in den Wahnsinn zu treiben. Dieses Gefühl der Weltverschwörung wird dabei umso erschlagender, je weiter die Handlung voranschreitet. Der Kampf gegen die Maschine, umso aussichtsloser, je näher man dem Kern kommt. Eine ausgezeichnete Romanverfilmung, bizarr, skurril und zutiefst menschlich. Vielen Dank, Mr. Welles.

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                • 8 .5

                  Umsäumt von Bergen und weich bewachsenen Hängen liegt ein kleines Dorf, an dessen Rand, ein wenig abgelegen auf einer Anhöhe, der kleine Junge Yusuf mit seinem Vater, Imker und Vertrauter, und seiner Mutter lebt. Begeistert dem lebensweisen Vater gegenüber, verschlossen der Mutter gegenüber, folgen wir Yusuf durch seinen Alltag, den er scheinbar längst durchschaut hat. Neugierde, die väterliche Ruhe, Lyrik und Honig – Lebensunterhalt, Nahrungsquelle, klebrig, zuckersüß - sind Yusufs heimliche Freuden; Maskieren und Heucheln wird kategorisch abgelehnt; Verständnis will Yusuf haben. Und einsam seinen Weg beschreiten. Von Träumen dürfe er niemand erzählen sagt der Vater, seine Milch solle er trinken sagt die Mutter. Die Milch trinkt der Vater, den Traum erzählt die Mutter:
                  „…Da unten am Bach, wo wir die Bienenstöcke schon immer aufgestellt haben, wächst eine schöne Blume. Ich pflücke sie also ganz vorsichtig und nehme sie mit nach Hause. Doch zu Hause ist diese Blume schon überall: in der Küche, im Wohnzimmer, im Schlafzimmer.“

                  Störende Gleichheit in den Augen des Vaters, der ohnehin neue Bienenstockplätze sucht. Und plötzlich trinkt Yusuf die Milch aus.
                  Feinfühlig langsamer und idyllisch ruhiger Film in der Hermetik des Honigs.

                  Vaters Honig,
                  Mutters Milch,
                  Beides Angenommen,
                  Schon Verronnen?

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                  • 9

                    Im Winter ein Jahr ist eine ganz wunderbare Geschichte über eine gut situierte Familie, deren Schuld, und Verdrängung überwunden werden sollte. So wird, hiervon noch völlig unwissend, ein Maler beauftragt ein Bild im Sinne der Mutter anzufertigen, womit der Künstler beginnt an den Illusionen der Mutter und Tochter zu bohren. Dem entgegen tritt der Vater als kontrastierender Wissenschafter, der nicht nur dem Bild ausweicht; sich rühmen im Rampenlicht des Erfolges, vielleicht ein kleines Stadtapartment und weitermachen denkt er sich hierfür. „Aber was würden wir nur ohne die Reichen tun!“. Max, der Maler wüsste es jedenfalls nicht und so gräbt er weiter und weiter, bis das von der Mutter gewollte Werk nicht mehr das ist, was sie wollte, aber „richtig anfühlen“ täte es sich. Dabei windet sich die Handlung stetig um das Kennenlernen der anfangs rebellischen Lilly und dem Maler, wobei Lilly eine regelrechte Metamorphose durchlebt, die nicht zuletzt vom analytischen Max eingeleitet wird. Ganz beiläufig werden die gescheiterten aber akzeptierten Familienverhältnisse des Künstlers dargelegt. Auf die Frage ob er nicht wolle glücklich sein, fragte er was das denn heiße. Als dann aber Lilly nach oben blickend Schneeflocken fallen sieht und Max zu lachen beginnt scheint die Welt wieder Heile zu sein, als hätte sich das kräftige Stoßen gegen das alte verrostete Gartentor positiv ausgewirkt. Dankesehr, Frau Link!

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                    • 9

                      Das blinde Auspeitschen des Turiner Pferds ist der Geschichte nach der Trigger für den Beginn der letzten 10 Jahre Nietzsches, die er mit dem legendenumwobenen Ausspruch „Mutter, Ich bin dumm!“ als seinen letzten Satz besiegelte. Tars Film ist ein Versuch des Verstehens dieses Ereignisses; sowohl auf der Seite des peitschenden Kutschers, als auch auf der des Philosophen. Welches Menschenbild steckt hinter solchen Handlungen? Was verbirgt sich hinter dem Leben? Und wie lässt es sich ertragen? Tar hat ein Werk von selten gesehenem Mut erschaffen, das in seiner Reduzierung des Lebens radikal anmutet – radikal auch wegen der alles überschattenden Bedrückung der gesamten Szenerie, allem voran Vigs unsagbare Musik. Das Turiner Pferd wird so zum Gegenpol des medial geformten, kapitalistischen Weltverständnisses - was kann vom Leben überhaupt erwartet werden? Dann geht das letzte Licht aus und es ist Dunkelheit. Köszönöm, Bela!

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                      • 9

                        Eingerahmt von einem Szenario, das in typisch Trier‘scher Alles-steht-auf-dem-Spiel Manier den Planeten Melancholia auf Mutter Erde zufliegend inszeniert, wird eine Familienzusammenkunft anlässlich einer Hochzeit gezeigt. Hoch geht es hinauf zum imperialistischen Landsitz der Schwester der Braut; dabei findet man sich, freilich auch wegen der Inszenierung Justines als übernatürliches Wesen, in gedanklicher Nähe zum Homer‘schen Olymp - zugegeben, die Ästhetik der Szenen mit all der Belichtung, dem Schlossgarten und der traumartigen Zeitlupen, mag an so etwas wie Götterdämmerung denken lassen. Offenbar der künftigen Geschehnisse kundig, zeigt sich Justine in erschöpfter und mismütiger, aber, doch bei aller Einsicht sehr verständlichen Stimmung, die von den meisten auf Festlichkeit gestimmten Gäste kontrastiert wird. Heucheleien und Illusionierungen, seien sie aus den Reihen der Gäste, der Familienmitglieder oder des Ehemannes, prallen genauso ab, wie die vermeintliche Gewissheit aus der naturwissenschaftlichen Zunft. Die Zukunft mag zeigen: Kommt Gewissheit, kommt Verzweiflung. Verzweiflung aus der es keinen Ausweg gibt, wie es früh bei Justines Pferd, später bei Claires Golf-Caddy auf Wirklichkeitsebene zu Tage tritt. Nur der Umgang damit scheint schwierig zu sein, und vermeintliches Davonstehlen von Unannehmlichkeiten bis hin zum Märtyrertod scheinen die gewöhnlich, menschlichen Antworten darauf zu sein. Das bereits im Prolog vorweggenommene Weltuntergangsszenario liegt dabei stets in der Luft, oft kurz davor sich in der Wirklichkeit zu manifestieren, manchmal mit einem Funke Hoffnung davongleiten. Ein bildgewaltiger Film, von Sehenden und Nicht-Sehenden, mit köstlich gewählter Musik und einer großartigen Kirsten Dunst. Tak, Mr. Trier!

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                        • 9

                          Finsterworld ist ein kritisches Gesellschaftsporträt der 2010er, ein Porträt einer Gesellschaft die sich in puncto Toleranz, Einsamkeit und Individuation vor eine große Aufgabe gestellt sieht. Die große Aufgabe scheint das Auflehnen gegen die allzu oft gehörte Was-kann-ich-da-schon-machen-Attitüde zu sein, was wiederum die Bedeutung eines jeden Einzelnen und seine Handlungen in den Fokus rückt. Aber wohin? Verantwortung übernehmen und die Haltung wahren – nicht nur für die anderen, sondern auch für sich Selbst. Finsterworld zeigt dabei auf dialektische Weise verschiedene Entwürfe von dem was man Leben nennen könnte, bezieht dabei unverbindlich Position und lässt die einzelnen Seins-Weisen gegeneinander antreten. So werden die einzelnen Handlungsstränge auf fast magische Weise, wie von einer unsichtbaren Hand zusammengeführt, gerade so als hätten die Handlungen der Einzelnen eine gewisse kollektive Zielgerichtetheit. Finsterwalder gelingt hier der Spagat zwischen einerseits breit aufgestelltem Zielpublikum und andererseits gesellschaftlich relevantem Inhalt. Die Gattin Christian Krachts‘ beschert uns hier ganz besondere 90 Minuten, die uns erleuchten, aber als bald im Dunkel lassen, die zu keiner Zeit langatmig, meist provokativ und immer kristallklar sind. Ein Film für die Menge, wie man ihn sich nur wünschen kann.
                          Schön wenn das dabei herauskommt, wenn Kracht, stellvertretend für den Film, über eine Szene spricht: „Das ist absolut nicht intendiert, das ist Zauberei.“

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                          • 9

                            Was für Goethe eine edle Farbe war, zeigt sich in Clockwork Orange eher als menschlicher Abgrund; und trotzdem weht in einigen Szenen ein edles Lüftchen vorbei. Vor allem die Musik scheint dafür verantwortlich zu sein; wenn Rossini spielt, wirkt eine Massenprügelei wie eine Ballettaufführung, die Neunte vom Ludwig Van wie eine Triumph-Hymne auf die Kreuzigung Jesu und man fragt sich, ob die Musik damit gesprengt werden oder ob dem Abgrund sein Schrecken entzogen werden soll. Sicher ist vor Alex und seinen Troops jedenfalls weder Arm, noch Reich – für den napoleonischen Alex wohl kein Unterscheidungsmerkmal. Überhaupt muss man sich fragen, welche Grenzen es überhaupt gibt, wenn man Alex bei seiner Gelegenheitsarbeit zusieht. Eine wahrhafte Komposition aus Skurrilität und bizarren Gestalten, packend wie ein Trip, bis seine Troops einen Job für Erwachsene antreten wollen – Dann muss ich es eben selbst machen, denkt er. Vom Eingesperrt-Sein über den Glauben, zur Wissenschaft, um am Ende wieder frei zu sein. Was war hier der ärgere Trip? Irgendwie glaubte ich, der Film weiche viele Grenzen auf, nehme Kunst und Geist und Naturwissenschaften aufs Korn; auf Familie und Freunde ist längst kein Verlass mehr; nur Beethoven und das alte Rein-Raus-Spiel scheinen ihre Berechtigung zu haben. Die danach erlebte Sprachlosigkeit hat psychedelische Ausmaße, vermutlich auch weil der Film sehr dicht gepackt ist. Ausgepackt hat Kubrick seinen gedanklichen Zauberwald jedenfalls in bester Manier, ich denke mit der Eröffnung einer derart gezeigten Milchbar, hätte man ausgesorgt. Ein Auffangbecken für Menschen die keinen Job für Erwachsene haben wollen. Thank You, Stanley!

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                            • 9 .5

                              Obwohl Apocalypse Now! eines der dunkelsten Kapitel über den Menschen im 20. Jahrhundert überhaupt zeigt, scheint der persönliche, innere Kampf von Captain Willard mit sich selbst im eigentlichen Fokus zu stehen. Dem Wahnsinn bereits Nahe, aber – oder gerade deswegen - durchaus Kriegs-gläubig, nimmt er unwissenderweise seinen letzten Auftrag im Zeichen des Dienstes an, der ihn von Beginn an herauszufordern vermag. Die gefährliche Reise in den tiefsten Dschungel Südost-Asiens auf der Suche nach Colonel Kurtz, Gegenstand seiner Mission, ist gleichermaßen eine psychologische Reise in den Gedanken-Dschungel Kurtz‘, den Willard anhand einer Mappe mit Zeugnissen und Schriftstücken von und über Kurtz ergründet. Getragen von der immer tiefer reichenderen Identifikation mit Kurtz, bleibt Willard die Frage nach der Abkehr Kurtz‘ von seiner militärischen Glanz-Karriere, Traum vieler Soldaten, im Verborgenen. Was wollte Kurtz? Frei nach dem Motto „Erkenne dich selbst im Anderen“ kommt sich Willard selbst Stück um Stück näher. Diese Selbstfindung wird kontrastiert mit Spezialisten der Verdrängung und Ablenkung, die in dem mitten im Krieg Surfen Wollenden, beim Auslöschen eines Dorfes Wagners Walküren-Ritt Hörenden Colonel Kilgore gipfeln. So wird die Kulisse des Vietnamkriegs zur ausdrucksstarken Metapher auf das Leben derjenigen, der sich ihrer, der Kulisse, bewusst hingeben. Das Vorhaben zu sich selbst zu kommen, scheint in einer solchen Welt das Moment des Wahnsinns bereits zu beinhalten; zu groß wird die Kluft zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst. Ein Film, der den Spagat zwischen Menschheit und Mensch in seltener Weise vollzieht.
                              „Wir waren im Dschungel, wir waren zu viele und wir hatten zu viel Geld und zu viele Geräte, und nach und nach wurden wir alle verrückt.“ F. F. Coppola

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                              • 9

                                So kommt der laut „Sight & Sound“ beste Film aller Zeiten also daher: In knappen zwei Stunden wird der American Dream von Charles Foster Kane gezeichnet, und zwar von der Wiege bis zum Sterbebett. Umgesetzt durch ein brillantes Story-Telling, das sich im ganz großen Stil der Montagetechnik bedient, wird die Hauptfigur aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeiten belichtet, woraus ein Kunstwerk eines ausgesprochen kühn entworfenen Lebens erwächst, an dem Kane letztlich bricht. Niemals langatmig, stürmt die Handlung in verblüffend modernem Anstrich voran. Vermutlich auch wegen der noch immer anhaltenden Aktualität im großen Zeitalter der Selbstsucht. So scheinen auch die Ansprüche Fosters, „des Treibers“, – beispielhaft angedeutet durch seinen Sekundanten Bernstein: „Ein Mensch macht das, was man ihm sagt“ – ihm einen solchen Entwurf zu ermöglichen. Folglich konnte dadurch sein Handeln in wohl pathologischer Weise von seinen Idealen abdriften und so bleibt am Ende im Meisterwerk des damals 24-jährigen eben „Rosebud“ – Thank you, Mr. Welles!

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                                • 10
                                  über Stalker

                                  Tarkovsky lässt in „Stalker“ 3 Figuren – den Wissenschaftler, den Schriftsteller und den „Suchenden“ – eine düstere Reise in ein verwahrlostes, von Zerstörung gezeichnetes Brachland antreten. Angekommen am unausweichlichen Rande des Rationalen treibt es die drei in eine Welt, die anderen Gesetzen zu gehorchen scheint; Gesetze die individueller nicht sein könnten. Keine Universallösung, keine genauen Hinweise, alles scheint im Verborgenen, im Dunkel zu liegen. Vertrauen? Ja, aber wem. Einzig der Stalker verfügt über abenteuerliche Strategien, zwar unbeholfen anmutende, dennoch funktionierende. Wohin die Reise geht ist nicht absehbar. Zunächst einmal in dieser Welt Sein und sich Zurechtfinden. Wurde das erreicht, wird sich ein Ziel wie von Selbst ergeben.
                                  Zusammen mit der Bildästhetik, die nicht von dieser Welt zu sein scheint, erwecken die einzelnen Einstellungen einen oft traumartigen Eindruck; nicht zuletzt schleicht sich der Gedanke an, man hätte es mit dem Versuch einer Ausgrabung des Unbewussten aus dem Verbogenen zu tun. Ein existenzialistisches Meisterwerk, eine Topografie der Psyche, ein herausragender Versuch. Spaciba, Andrei!

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                                  • 10

                                    Kubricks überwältigendes, filmtechnisch wunderbares Kunststück ist ebenso eine Reise in das Innerste des Menschen, wie eine Reise in das Äußerste der er-fahrbar-en Welt. In an Ausdruck kaum zu überbietenden Szenen wird die Entwicklung des Be-greifens von der Entstehung bis zur scheinbaren Krone – die Raumfahrt mit dessen Rechenungeheuer „Hell“ – inszeniert, um später schlagartig zur Bedrohung zu werden. So läuft die vom Menschen konstruierte Welt Gefahr, dem Menschen aus der Hand zu gleiten. In „2001“ jongliert Kubrick förmlich auf der Reise ins Innere mit Komplementaritäten wie Angst/Vertrauen, Panik/Kontrolle, Vernunft/Intuition und Bewusstes/Unbewusstes, übt wie im Vorbeigehen scharfe Kritik am westlich-naturwissenschaftlichen Lebensmodell und würzt die ganze Sache mit einer unter die Haut gehenden Klangwelt. Ein wahrlich holotroper, schier erschlagender Schöpfungsakt, der an Intensität seines gleichen sucht. Thanks for having you, Stanley!

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                                    • 9

                                      Was geschieht, wenn ein Mädchen nachts, alleine nach Hause läuft? Die ausgelutschte Story – Nacht, Allein, böser Mann, Vergewaltigung, Angst – wird in Amirpours Debut-Film auf kunstvolle Weise umgeschrieben, die vermutlich nicht nur bei Hildegard von Bingen auf positive Resonanz gestoßen wäre: Ein scheinbar zartes Mädchen zeigt sich als Moral-Vampiristin, die in einer Art Selbstjustiz ihr Umfeld richtet; die angelegten Maßstäbe scheinen hier häufig mit den humanen zusammenzufallen, sodass die eigentlich humanen Züge eher dem hippen Vampir als den Gerichteten zuzuweisen sind. Das Menschliche zeigt sich auch freilich in ihrem als Liebe zu verstehenden Verhältnis zu Arash, ein gewissenhafter earth-warrior mit dem Herz am rechten Fleck. Ästhetisch und atmosphärisch schreitet der Film voran, mal mit Fokus und Unschärfe spielend, mit auffallend guter Ausleuchtung der Szenerie, die vor allem die Langsamkeit des Films entdecken lässt; ausgerüstet mit einem mehr als hörenswerten Soundtrack, verzichtet “A Girl Walks Home Alone At Night“ auf Handlungsdichte, was den Film keineswegs schmälert. Wenig wird gesprochen, das allerdings was gesprochen wird mutet provokant, fundamental und gewichtig an; zusätzlich an Fahrt gewinnen die Worte durch den Aufzug der Hauptfigur: Ein schwarzer Umhang, der an vermummte Musliminnen denken lässt, ein Kostüm so exzellent gewählt, dass ohne jenes die ein oder andere Kontur im Film fehlen würde. Längst fällige Umbrüche im gesellschaftlichen Denken werden mit wohl gewählter Färbung gezeigt, sodass auch eine Art gegen das Establishment gerichtete Ideologie herausgelesen werden könnte. Ein Schreck für das klischeehaft männliche Denken, auch ein geheimnisvoll romantischer Film, auch ein authentischer Drogenfilm. Ein sehr erfrischender Kinogenuss, weil auch vergleichbares in weiter Ferne liegt. „Warum bist du eigentlich hier?“ wird man sich wundernd fragen müssen. Motsahkerm, Ana Lily Amirpour!

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                                        „El Abrazo de la Serpiente“ erzählt die bleibende Geschichte des Ethnologen Theodor Koch-Grunberg und des Biologen Richard Evans Schultes. Kurz: Koch-Grunberg hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den tiefsten Dschungel Südamerikas begeben, um dort eine halluzinogene Pflanze, Yakruna, zu suchen, wobei er unterstützt wurde von zwei Native People. Der Nachlass Koch-Grunbergs war 30 Jahre später Inspiration genug für Schultes, um den Pfaden des verstorbenen Koch-Grunbergs nachzuspüren. Neben der gleichen Mission, die Suche nach der Yakruna, bildet einer der beiden Native People, Karamakate, das entscheidende Bindeglied. So half letzterer im Abstand von 30 Jahren, zunächst freilich als junger Mann noch, Koch-Grunberg; als betagter Mann hingegen stand er Schultes bei. Der Film zeigt episodenartig, abwechselnd die Erlebniswelten beider und speist sich dabei aus beider Reisetagebüchern.

                                        Aufgezogen als Spielfilm, brillieren die 2 Stunden vor allem durch zweierlei: Die schiere Gewalt der Geschichte einerseits und die Urinstinkte auslösende Dschungel-Szenerie Kolumbiens mit allem was daran hängt. So flattern nicht nur des Handlungsdrifts wegen Parallelen zu Apocalypse Now im Kopf herum, sprich die anfängliche Mission beider Hauptfiguren – Captain Kirk bzw. Yakruna – entwickelt sich zusehend in eine Selbsterfahrung; die eigentliche Suche nach etwas scheint in eine Selbstsuche zu münden, was dem Mythos der Yakruna freilich als Zündstoff gereichen mag. El Abrazo ist auch ein gegenseitiges Annähern zweier denkbar verschiedener Spielarten des Homo Sapiens; so verlieren Selbstverständnisse beider Seiten im Zusammenstoß ihre Fahrt und fallen auf den Grund der Seele, wobei stets die Zeit zum vorsichtigen Hinterhersehen eingeräumt wird. Jedenfalls scheinen die Ethnologen sich neben Völkern vor allem Bewusstsein verändernden Pflanzen zu widmen, als liege in der Kraft dieser Pflanzen der Schlüssel zum Verständnis dieses Volkes. Schließlich ist El Abrazo de la Serpiente ein authentischer Film über Urzustand, Schamanismus und wilde Natur, über Wahnsinn und die Frage nach dem Haben oder Sein. Ein feines Stück Film, das auch an "Into the Wild" und "Aguirre" denken lässt und nichtsdestoweinger zu überraschen weiß. Muchas Gracias, Ciro Guerra!

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