Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

    • 8 .5
      über Tenet

      Wie sehr das Blockbuster-Kino in den vergangenen Monaten vor dem bis zuletzt unsicheren Start gefehlt hat, verdeutlicht “Tenet” schon mit seinem furiosen Prolog. Wieder mal eröffnet Christopher Nolan seinen Film mit einem atemlosen Paukenschlag, bei dem das Aufeinanderprallen von Terroristen und einer Spezialeinheit in einer Oper zum famos orchestrierten Verwirrspiel wird, bei dem sich der Zuschauer erschlagen zurechtfinden muss.
      Wer bisher angenommen hat, dass “Inception” bereits den Höhepunkt in Nolans Karriere an komplex verschachtelten Erzählebenen markiert, wird hier bald umgestimmt. Trotz des gigantischen Budgets, durch das der Regisseur rund 200 Millionen Dollar für seine originelle Vision zur Verfügung bekam, ist “Tenet” so komplex und kompromisslos erzählt wie kaum ein anderer Film des Regisseurs. Der üblicherweise hohe Anteil an Exposition, mit der Nolan ein Massenpublikum meistens sehr sorgfältig an seine mittlerweile unverwechselbare Mischung aus Blockbuster-Spektakel und tieferem Anspruch führt, wird hier auf ein nötiges Minimum reduziert.
      Die Regeln dieser unkonventionellen Spionage-Welt, in die John David Washingtons Hauptfigur unvermittelt gestürzt wird, erklärt Nolan mit knappen Erklärungen und Dialogen, die das Konzept von Inversion und der umgekehrten Entropie von Objekten wie anspruchsvollen Physikunterricht erscheinen lassen. Zum überfordernden Experimentalfilm wird “Tenet” dadurch aber zunächst noch nicht. In der ersten Hälfte nutzt der Regisseur sein neues Spiel mit dem Wesen der Zeit vielmehr für spektakuläre Einlagen, die die eigentliche Geschichte rund um Spionage, Tarnung, Infiltration und Maskerade bereichern. Als rekrutierter Geheimagent einer mysteriösen Organisation namens Tenet muss der Protagonist nichts weniger als den 3. Weltkrieg der Zukunft verhindern. Dabei verdichtet Nolan das gewaltige Ausmaß seiner Handlung auf vereinzelte Set-Pieces, mit denen der Regisseur seine persönliche Version eines modernen James Bond-Films zu inszenieren scheint.
      Dass sich der Regisseur und seine Crew vom Spionage-Genre generell beeinflussen ließ, wird in “Tenet” überdeutlich. So schickt er den Zuschauer mit den Hauptfiguren, zu denen neben Washingtons Protagonist auch Robert Pattinsons ebenso geheimnisvoller wie aufgeweckter Neil zählt, kreuz und quer durch die Kontinente auf eine Reihe von Manövern und Missionen, hinter denen mehr und mehr ein rätselhafter Masterplan zum Vorschein kommt. Schlüsselfiguren in diesem Katz- und Maus-Spiel sowie Wettlauf gegen die Zeit, die wiederum nach völlig anderen Regeln tickt, sind der russische Oligarch Sator, den Kenneth Branagh wie einen teuflischen Bond-Bösewicht spielt, und Elizabeth Debicki als dessen Frau Kat, die Nolan als emotionalen Anker in die Handlung einbaut.
      Lange Zeit entfaltet sich “Tenet” als bombastischer Sci-Fi-Action-Blockbuster, der die Leinwand mit fabelhaften Bildern und dem wuchtigen Score von Hans Zimmer-Ersatz Ludwig Göransson zum Beben bringt. Spätestens ab der zweiten Hälfte treibt Nolan seinen Film dann in komplex-verwirrende Höhen, bei denen das Spiel mit dem Lauf der Zeit zum grenzensprengenden Spießrutenlauf wird. Logisch greifbar ist “Tenet” hier längst nicht mehr. Wie ein Dialogausschnitt im ersten Trailer und auch im Film selbst aber nochmal verdeutlicht, ist es besser, gar nicht mehr alles verstehen zu wollen und sich am besten von Nolans ununterbrochenem Fluss aus Action, Bombast, Bewegung und Verwirrung mitreißen zu lassen.
      Von allen Filmen aus der bisherigen Karriere des Regisseurs erinnert “Tenet” am stärksten an “Inception”, was verständlicherweise schon im Vorfeld viele Theorien über eine Verbindung zwischen den beiden Blockbustern oder womöglich eine überraschende Sequel-Enthüllung hervorbrachte. Tatsächlich ist “Tenet” aber mehr eine thematisch verwandte und strukturell stark ähnlich angelegte Fortführung des Stils von “Inception”, den Nolan hier noch radikaler zuspitzt. Sein gnadenloses Vorantreiben des Plots führt jedoch auch dazu, dass die Figuren wieder funktionaler ausfallen. Nachdem Nolan in “Interstellar” und “Dunkirk” zuletzt sehr nah an seinen Charakteren war, wirkt “Tenet” deutlich kühler, verkopfter und abstrakter in der Figurenzeichnung. Nolan scheint diesen Schritt diesmal fast schon selbst ironisch zu kommentieren, indem die Hauptfigur nicht mal einen Namen bekommt und nur als Protagonist bezeichnet wird.
      Trotz der Schwäche auf der Figurenebene geht das Konzept des Regisseurs aber auf. Falls er endlich wieder ein großes Publikum in die Kinos locken sollte, dürfte “Tenet” eine ähnliche Sprengkraft entfalten wie “Inception” vor 10 Jahren und Zuschauer noch wochenlang zu Diskussionen anregen und beschäftigen. Nolans Rückkehr in die Lichtspielhäuser kommt gerade in Corona-Zeiten einem Urknall gleich und entfesselt den wuchtigsten Blockbuster des Jahres, der tatsächlich wie eine Kulmination von all dem wirkt, auf das der Regisseur stets hinarbeitet. “Tenet” löst das Versprechen ein, das Nolan schon immer abgegeben hat: Ein Blockbuster voller verblüffender Action-Sequenzen und hochglänzender Schauwerte, mit einer komplexen Tiefe, die diesmal so kompromisslos wie nie als Zeit-Puzzle auf den Betrachter einstürmt.

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      • 7
        über Kokon

        Auf der Leinwand wirken die ersten Bilder aus Leonie Krippendorffs zweitem Spielfilm “Kokon” wie zusammengepresst. Die Welt der 14-jährigen Hauptfigur Nora erschließt sich einem zuerst nur durch die verwackelten Aufnahmen, die im extrem schmalen Smartphone-Videoformat Eindrücke einer typischen Teenagerin vermitteln, die sich mit selbstgefilmten Hochkant-Momenten und nachdenklichen Kommentaren ein eigenes Bild von der Welt um sie herum schaffen will.
        Auch nach dem Einstieg bleiben die Bilder in “Kokon” lange von schwarzen Balken eingezäunt, ein beliebtes wiederkehrendes Stilmittel im Kino, um Isolation und das Gefühl des Eingesperrtseins (in sich selbst) auszudrücken. Eine Gefangene ist auch Nora, die in dieser Coming-of-Age-Geschichte 2018 den heißesten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen miterlebt. Ihr Zuhause ist das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, wo sie sich mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester und gleichzeitig guten Freundin Jule ein Zimmer teilen muss. Meistens sind die Mädchen auf sich gestellt, denn die alleinerziehende Mutter der beiden ist Alkoholikerin und hat oft nicht die Kraft, sich ausreichend um ihre Kinder zu kümmern.
        In “Kokon” spielen die Erwachsenen aber sowieso nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sind der Regisseurin hautnahe Beobachtungen der Jugendlichen, unter denen sich Nora wie eine schüchterne, unentschlossene Außenseiterin inmitten von vorgelebten Schönheitsidealen (in Orangensaft getunkte Watte für die schlanke Linie) oder ausgelassenen Freizeitritualen (Fingerkloppe spielen in der Sisha-Bar mitsamt gebrochener Hand) bewegt. Für ihre Erkundung von Nora, die sich stark zu anderen Mädchen hingezogen fühlt, greift Krippendorff auf vertraute Erzählmuster zurück, die speziell das Coming-of-Age-Genre immer wieder hervorbringt.
        Viel wichtiger sind in diesem Film, den die Regisseurin wie ein bogenförmiges Aquarium komplett in und um den multikulturellen Mikrokosmos des Kottbusser Tors herum verortet, aber die kraftvollen Bilder. Mit ihrem Stil reiht sich die Regisseurin nahtlos in die Tradition aktueller Filmemacherinnen wie zum Beispiel Eliza Hittman ein, die ähnlich intim mit der Kamera arbeitet, um große Ausdrücke in kleinen Ausschnitten sichtbar zu machen. Auch “Kokon”, der einen regelmäßig an Hittmans tolle Werke “It Felt Like Love” und den durch seine queere Thematik noch näheren “Beach Rats” denken lässt, ist so ein Film im Superzoom. Mit großer Neugier für die Körper ihrer heranwachsenden Figuren, allen voran natürlich Nora, schildert Krippendorff eine in kräftigen Farben strahlende Jugend unter dem Brennglas des Kinos.
        In den besten Momenten vermittelt “Kokon” die schwierigen Gefühle der Hauptfigur durch Bilder, wenn die Worte ratlos und schwammig sind. Als sie sich ihrer Sexualkundelehrerin im Einzelgespräch öffnet, bekommt Nora von der nur zu hören: “Ja, es gibt viele schöne Mädchen auf eurer Schule.” Auch ihre Schwester Jule versteht Nora nicht, wenn sie von ihr nach dem Unterschied zwischen starker Freundschaft und sexuellen Gefühlen zwischen zwei Mädchen gefragt wird.
        Noras Entwicklung hin zur Offenheit ihrer sexuellen Identität bewegt sich erst in den Szenen zwischen ihr und der älteren Mitschülerin Romy vorwärts. Während manche Momente des Films, gerade am Anfang, noch zu gestelzt versuchen, die Sprache und das Verhalten der Jugendlichen einzufangen, ist das Spiel zwischen Lena Urzendowsky als Nora und Jella Haase als Romy ein einziges authentisches Knistern, das die aufregende Annäherung, den ersten Höhepunkt und die zwangsläufige Enttäuschung der Pubertät als bittersüße Utopie einfängt. Eine Utopie, die die Regisseurin auch aus unangenehmen Körperflüssigkeiten wie das erste Menstruationsblut in der Hose oder die Kotze auf dem Oberteil beim ersten Vollrausch sowie markanten Geräuschen dieses Berliner Milieus wie das Rattern der U-Bahn, Polizeisirenen und das Aufeinanderprallen unterschiedlichster Sprachfarben komponiert.
        Wenig subtil erzählt Krippendorff die Verwandlung ihrer Protagonistin auch über die Kokon-Metapher, die zugleich der Titel des Films ist und Nora in ihrer Freizeit als eifrige Sammlerin von Raupen zeigt, die erst noch zu Schmetterlingen werden. Wenig überraschend schlüpft am Ende einer dieser Schmetterlinge in ihrem Zimmer, doch viel stärker zählt auch hier alleine das Bild, wenn sich das schöne Insekt auf den Arm des Mädchens setzt und die Regisseurin noch 2-3 Sekunden länger als nötig dabei zuschaut.

        14
        • 7

          Kein anderer Regisseur blickt momentan so schonungslos in die Seele der deutschen Provinz wie Jan Bonny. Selbst im Fernsehprogramm der öffentlich-rechtlichen Sender, für die Bonny seine TV-Arbeiten meistens dreht, wirken die Schauplätze seiner Filme nochmal trister und kläglicher als in vergleichbaren Produktionen. Auch sein letzter Kinofilm “Wintermärchen”, die radikal-unerträgliche Ergründung eines rechtsextremen Terror-Trios, ließ den eigentlichen Handlungsort Köln wie ein Dorf wirken, das nur aus kargen Wohnungen, leeren Straßenzügen und Kneipen zu bestehen schien, in dem die verlorenen und frustrierten Seelen unter sich sind.
          Auch Bonnys neuer TV-Film “Wir wären andere Menschen” hat das Provinzleben zum Thema und nähert sich den hässlichen Abgründen unter einer ohnehin schon nicht gerade attraktiven Oberfläche. Hauptfigur ist der Fahrlehrer Rupert, der als Erwachsener mit seiner Frau in das Dorf zurückgezogen ist, mit dem er ein schweres Kindheitstrauma verbindet. Matthias Brandt spielt diesen Rupert anfangs ruhig und zurückhaltend, augenscheinlich perfekt im Einklang mit dem langweiligen Leben in diesem Niemandsland, in dem die Zeit schon lange stillzustehen scheint. Schon früh durchbricht Bonny jedoch die schnöde Oberfläche seines Films, der mit Chopin-Klaviergeklimper als musikalische Untermalung ähnlich perfekt wie die Hauptfigur ins unauffällig-brave Programm der Öffentlich-Rechtlichen passt.
          Und doch schneidet der Regisseur Bilder von abrupter Gewalt in die Handlung, in denen der routinierte Einsatz von zwei Polizisten in einem Blutbad mit drei Toten endet. Es dauert nicht lange, bis sich dem Zuschauer der Zusammenhang zwischen dem Protagonisten in der Gegenwart und dem länger zurückliegenden Trauma offenbart. Brandts Rupert entpuppt sich als Gebrandmarkter, der ganz offensichtlich freiwillig in das Gefängnis seiner Jugend zurückgekommen ist, um noch einmal auf Tuchfühlung mit den Dämonen seiner Vergangenheit zu gehen.
          Die zwei Polizisten von damals, mittlerweile ältere Männer, lädt er ganz selbstverständlich zum Grillfest ein und man ist sich schon nicht mehr sicher, was schlimmer ist: Die qualvoll aufrechterhaltene Provinzfassade oder die Gewissheit, dass es bei Bonny sowieso wieder zur Eskalation kommen wird. Die große Stärke von “Wir wären andere Menschen” liegt darin, dass der Regisseur diese beiden extremen Welten, den deprimierenden Stillstand und Hang zur Verdrängung der Dorfbewohner und die Rachefantasien sowie Gefühlsausbrüche von Rupert, als gleichwertigen Horror inszeniert.
          Die wenigen Momente, in denen Bonnys Film dem Tötungsrausch nachgibt, stehen in einer Reihe ähnlich betäubender Aufnahmen des Alltäglichen. Da sind die Frauen wie die von Rupert, die sich andauernd im Suff zu ertränken drohen und sämtliche Probleme mit penetrantem Gelächter übertönen wollen. Die immer gleichen, alten Volkslieder, die im Schützenheim angestimmt werden oder die alten Männer, die sich nur noch mit Viagra auf ihre deutlich jüngeren Frauen stürzen oder betrunken auf ihnen auf dem Sofa einschlafen.
          Die Hölle des aussichtslosen Provinzlebens türmt sich in Bonnys Film genauso auf wie die persönliche Hölle in Rupert, der vom Regisseur aus der Fassung gebracht, zu Nervenzusammenbrüchen und zur Selbstjustiz getrieben wird. Dabei gibt sich Matthias Brandt in vereinzelten Szenen einem ungewohnt expressiven Schauspiel hin, das auch immer ein Markenzeichen der Filme des Regisseurs ist. Die Neigung zum Overacting geht in Bonnys Werken mit einer intensiven Körperlichkeit einher, die das Steife, Biedere des deutschen Films aggressiv durchbricht. Am Ende von “Wir wären andere Menschen”, der die vergebliche Ausflucht schon im Titel trägt, steht trotzdem wieder die Lethargie über allem. Die Splitter der Vergangenheit richten in der Gegenwart den nächsten Scherbenhaufen an.

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          • 8
            über Waves

            Auch in seinem dritten Spielfilm “Waves” behandelt Trey Edward Shults das Kino weiterhin als Projektionsfläche und Verarbeitung persönlicher Themen, die der Amerikaner seit seinem meisterhaften Debüt “Krisha” verfolgt. Wieder ist es die Familie, die bei Shults zum trügerischen Zufluchtsort wird und ein ganzes Feld an Konflikten eröffnet, die es auszuhalten, durchzustehen oder aufzuarbeiten gilt.
            Mit seinem vorherigen Werk “It Comes at Night”, das Motive des postapokalyptischen Horrorfilms mit qualvoll eindringlichen Beobachtungen des familiären Zerfalls verknüpfte, war der Filmemacher zuletzt am dunkelsten Punkt seiner bisher noch recht kurzen Karriere angekommen. Nachdem sie an der gemeinsamen Kommunikation endgültig scheiterten, sind die Figuren in “It Comes at Night” in einer selbstgeschaffenen Hölle gelandet, in der selbst diejenigen den Tod bringen können, die man eigentlich am meisten liebt.
            Die strahlenden, euphorischen Einstellungen zu Beginn von “Waves” könnten dazu kaum einen größeren Kontrast bilden. Mit einer Kamera, die aus ihren ständig kreisenden oder rasenden Bewegungen gar nicht mehr herauskommen will, inszeniert Shults den Auftakt seines dritten Films wie ein überbordendes Musikvideo, in dem die Songs von Animal Collective und Tame Impala als energiegeladener Antrieb für Momentaufnahmen aus dem Leben des Protagonisten Tyler dienen. “Waves” explodiert förmlich auf der Leinwand, wenn der 18-Jährige zu Beginn als Highschool-Wrestler auftritt, der sportliche Höchstleistungen liefert und daneben immer wieder wertvolle Zeit mit seiner schönen Freundin Alexis oder seiner augenscheinlichen Vorzeigefamilie verbringt.
            Auch wenn Shults von seinem audiovisuell berauschenden Stil anschließend kaum abweicht, bekommt die makellos polierte Oberfläche seines Films immer stärkere Risse. Gerade im Umgang mit seinem Vater wird deutlich, dass Tyler von diesem zu sämtlichen sportlichen Höchstleistungen getrieben wird. Fehler kann er sich in dieser afroamerikanischen Familie nicht erlauben, während er von seinem Vater verdeutlicht bekommt, dass sie deutlich härter als alle anderen arbeiten müssen, um der Mittelmäßigkeit zu entfliehen.
            Wie es sich auf die Psyche und den Körper des Teenagers auswirkt, sobald dieser Druck mehr und mehr außer Kontrolle gerät und Tyler inmitten von toxischer Männlichkeit und gesellschaftlichen Fesseln in Richtung eines unausweichlichen Abgrunds gedrängt wird, schildert Shults in Montagen, die wie der Titel des Films kräftigen Wellenbewegungen gleichen. Plötzlich verengt sich das Bildformat immer weiter, bis die Situation von Tyler nach weiteren Rückschlägen nur noch einem schmalen Ausschnitt entspricht, der den Protagonisten gefangen nimmt. Im Mittelteil steuert “Waves” so auf einen vorzeitigen Höhepunkt zu, der in seiner tragischen Konsequenz kaum noch zu ertragen ist. Neben dem Repertoire aus Hip-Hop-Songs von Kanye West, Frank Ocean, Kendrick Lamar und Tyler, the Creator oder Soul und R&B von SZA, H.E.R. und Dinah Washington, das Shults als Klangpalette wie aus einem Farbmalkasten über die Szenen streicht, wird spätestens hier der zusätzliche Score von Trent Reznor & Atticus Ross zur unbehaglichen Symphonie einer verlorenen Jugend.
            Umso überraschender ist es, dass sich “Waves” doch noch zu Shults’ bislang hoffnungsvollsten, wärmsten Film wandelt. Die zweite Hälfte bringt einen radikalen Perspektivwechsel mit sich, mit dem auch der bisweilen chaotische Erzählrhythmus allmählich zur Ruhe kommt. In diesem Teil, der den gesamten Film in zwei Hälften wie Ying und Yang trennt, droht “Waves” deutlicher als zuvor in angehäufte Indie-Klischees zu kippen. Das Herumtollen über die Wiese voller Rasensprenger ist nur eines der abgegriffenen Motive, denen sich der Regisseur hier ergibt.
            Und doch entfaltet dieser zweite Teil von “Waves” einen Sturm der Katharsis, der zusammen mit den bewegend ausgearbeiteten Konflikten und Schicksalen der wichtigsten Figuren über den Zuschauer hinwegfegt. Nach all dem Schmerz und der Trauer gesteht Shults sich und seinen Charakteren endlich auch Vergebung, Reue und vor allem Heilung zu. Die notwendigen Worte, nach denen der Regisseur die Figuren in seinen bisherigen Filmen noch vergeblich suchen ließ, findet dieser Film genauso wie Bewegungen und Blicke, aus denen ein gebrochenes Herz wieder zusammengesetzt werden oder eine Familie zumindest für einen kurzen Moment nochmal zusammenrücken kann. Am Ende wird “Waves” auch für den Zuschauer zur Heilung.

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            • 1
              • 7

                Schon die allererste Texttafel-Einblendung in Justin Kurzels “The True History of the Kelly Gang” enttarnt den Titel des Films als Lüge. Nichts von dem, was der Zuschauer hier zu sehen bekommt, sei wahr. Der Realität entspricht aber zumindest der Mythos, nach dem die Geschichte des Films erzählt wird. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Peter Carey widmet sich Kurzel dem Leben von Ned Kelly, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum berüchtigsten Outlaw Australiens wurde. Gleichzeitig wurde Kelly, ein Räuber und mehrfacher Mörder, von vielen auch als Volksheld gefeiert, der sich durch Anwendung von Gewalt gegen den Machtmissbrauch höherer Autoritäten auflehnen wollte.
                Diese Form der Mythenbildung ist wiederum typisch für das Kino von Kurzel, der in seinen Filmen stets die Wurzel der Gewalt ergründet und Ursachen nachspürt, bevor seine Protagonisten längst einem psychotischen, wahnhaften Rausch der Brutalität verfallen sind. Am verstörendsten und schockierendsten entfaltete sich dieser Stil schon direkt in Kurzels Spielfilmdebüt “Snowtown”. Darin beleuchtet der Regisseur auf Grundlage einer realen Mordserie aus den 90ern die Entwicklung eines Jugendlichen, der unter schwierigen Verhältnissen aufwächst und schließlich in das bestialische Treiben eines Serienkillers mit reingezogen wird.
                Sein ästhetisches Gespür brachte Kurzel mit dem nachfolgenden “Macbeth” zum Ausdruck, der die Shakespeare-Vorlage in einen kunstvoll-hypnotischen Abstieg in das geschädigte Innenleben des Protagonisten verwandelt und dieses vor allem durch die überstilisierten Montagen sichtbar werden lässt. Kaum weniger faszinierend gestaltete sich auch Kurzels anschließender Ausflug in den Blockbuster-Bereich. Seine “Assassin’s Creed”-Verfilmung war zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Zu sperrig und kalt war Kurzels erzählerischer Ansatz von zum Tode verurteilten Strafgefangenen, die in einer mysteriösen Forschungsanlage durch die Zeit geschickt werden, um den Apfel von Eden als Relikt des freien Willens aufzuspüren.
                “The True History of the Kelly Gang” kommt nun wieder einem Befreiungsschlag gleich, mit dem Kurzel sämtlichen kommerziellen Erwartungen nach “Assassin’s Creed” eine klare Absage erteilt. Am ehesten knüpft der Australier noch einmal an “Snowtown” an und inszeniert die Herkunft von Ned Kelly als raue Charakterstudie zwischen bedrückendem Sozialdrama und abgründiger Coming-of-Age-Geschichte. Der erste Teil porträtiert Kellys frühe Jugend in ärmlichen Verhältnissen, in der dieser seinen Vater verliert und immer wieder mit seiner Mutter aneinandergerät, die zu verzweifelten Methoden greifen muss, um Ned und dessen Geschwister durchzubringen.
                Gerade der Einfluss, den die männlichen Figuren rund um Kelly auf den Jungen haben, zeigt der Regisseur als toxische Lawine, die unweigerlich auf die Psyche des Jungen einstürzt, der schon im Kindesalter eine Waffe in die Hand gedrückt bekommt und vor die Wahl gestellt wird. Spürbar humanistisch bemüht wirkt dieser erste Teil von “The True History of the Kelly Gang”, der trotzdem nicht ohne Kurzels Drang nach Bildern purer, unmenschlicher Gewalt auskommt. Einstellungen von Männern, die mit dem eigenen Hoden im Mund dem Sterben überlassen wurden, scheut der Australier ebenso wenig wie psychisches Leid, das er seinen Figuren zufügt.
                So empathisch sich dieser erste Teil noch präsentiert, so irrational entwickelt sich “The True History of the Kelly Gang” nach einem Zeitsprung. Ned Kelly, mittlerweile ein junger Mann, ist hier bereits zur desorientierten, tickenden Zeitbombe verkommen, die von George MacKay mit zitternder Körperlichkeit und muskulöser Anspannung gespielt wird. Während sich der britische Darsteller zuletzt in “1917” noch einen Weg durch die formstreng durchchoreografierte (Fake-)Plansequenz von Sam Mendes’ Weltkriegsschrecken bahnen musste, erscheint er in Kurzels Film umso entfesselter.
                Dabei wirkt es zunehmend so, als sei der Regisseur derart auf seinen Hauptdarsteller fixiert gewesen, dass ihm die restlichen Handlungsfäden etwas aus der Hand geglitten sind. Nebenfiguren wie Nicholas Hoults teuflischer Constable Fitzpatrick, der irgendwann um des Schocks Willen sogar ein Baby mit einem geladenen Revolver bedroht, kommen selten über ihre stereotypische Funktion heraus. Auch Thomasin McKenzie als junge Geliebte von Ned Kelly bleibt in diesem Film kaum mehr als nervöses, besorgtes Beiwerk.
                Wesentlich intensiver und konzentrierter gestaltet sich “The True History of the Kelly Gang” noch einmal auf dem Weg zum Ende, bei dem der Film zusammen mit Kelly und seiner Gang in Frauenkleidern die Kontrolle verliert. Wieder einmal endet Kurzels Film im puren Chaos, das die brachiale Gewalt seiner Figuren als mythologisch überhöhtes Spektakel begreift. Höhepunkt ist hier ein finaler Shootout als apokalyptisches Belagerungsinferno mitsamt blitzendem Stroboskop-Gewitter und martialischem Kampfgeschrei. Und doch hallt nichts aus “The True History of the Kelly Gang” so verstörend nach wie das Knarzen eines Galgenstricks, nachdem alle Schüsse verklungen sind.

                12
                • 5 .5

                  Klammheimlich ist Oz Perkins, Sohn von “Psycho”-Star Anthony Perkins, in den letzten Jahren zu einer der aufregendsten neuen Regie-Stimmen im Horror-Genre geworden. So bekannt wie aktuelle Shooting Stars des Arthouse-Horrors wie Ari Aster und Robert Eggers ist Perkins bislang nicht, doch seine beiden Filme “The Blackcoat’s Daughter” und “I Am the Pretty Thing That Lives in the House” können sich mühelos mit der Konkurrenz messen.
                  Für seine dritte Regiearbeit “Gretel & Hänsel” greift Perkins das berüchtige Märchen der Gebrüder Grimm auf und schickt Sophia Lillis und Samuel Leakey als Geschwister in einen finsteren Wald, nachdem das Mädchen und der Junge von der eigenen Mutter vor die Tür gesetzt wurden. Als sie ausgehungert mitten im Wald auf das Haus einer alten Frau stoßen, die beide zu sich holt und jeden Tag mit den köstlichsten Speisen verwöhnt, ist jedem Zuschauer längst klar, auf was für ein finsteres Schicksal die Geschwister zusteuern.
                  Das große Problem von Perkins’ “Gretel & Hänsel” ist aber nicht, dass die Geschichte aus dem Märchen der Grimms nur allzu bekannt ist, sondern der Umgang des Regisseurs mit dem Stoff. Von Anfang an setzt Perkins auf formstreng durchstilisierte Bildkompositionen, die in den besten Momenten tatsächlich den Eindruck erwecken, als würde der Betrachter durch ein altes Märchenbuch voller unheimlicher Impressionen blättern. Der Wald wird in “Gretel & Hänsel” schnell zum eigenen Protagonisten, der die jungen Hauptfiguren mit gespenstischen Erscheinungen und verlockenden Abgründen gefangen nimmt. Dabei drängen sich stilistisch unweigerlich Vergleiche zu Robert Eggers’ furchteinflößendem “The Witch” auf, der Elemente altertümlichen Folk-Horrors mit psychologischem Grauen und erstaunlichen Bildern verknüpfte, die an Stanley Kubrick oder Lars von Trier erinnerten.
                  Noch stärker als Perkins’ vorherige Filme zerfällt “Gretel & Hänsel” dadurch aber auch häufig in Einzelmomente, die isoliert voneinander wirken. Durch den extremen Formalismus erscheinen viele Szenen des Films eher wie Versuche, dem Setting und der Märchengeschichte mit schrägen Einstellungen durchs Fischaugenobjektiv, skurrilen Pilztrips von kurzer Dauer oder mehreren surrealen Albtraumsequenzen von Gretel einen Schrecken zu entlocken, der über die ohnehin schon schaurige Grimm-Vorlage hinausreichen soll.
                  Gerade nach dem ersten Drittel, wenn sich Hänsel und Gretel schließlich im Haus der Hexe befinden und sich das Katz- und Maus-Spiel entfaltet, verkommt “Gretel & Hänsel” zum atmosphärischen Stillstand, bei dem der Horror nur noch sanft durch den Film gleitet. Ambitioniert ist weiterhin nur der Versuch, dem Märchen einen neuen, emanzipatorischen Dreh zu verleihen, bei der Gretels Bedeutung als junge Frau in der damaligen Zeit reflektiert wird.
                  Der Wirkungskraft einzelner Bilder scheint Perkins dabei selbst nicht komplett zu trauen. Anders lässt es sich kaum erklären, dass in einigen Szenen eine überflüssige Voice-over-Narration von Gretel einsetzt, die Gefühle und Bedenken ausbuchstabiert und den Zuschauer regelrecht an die Hand nimmt. Selten wird hier die Virtuosität sichtbar, mit der Perkins beispielsweise sein Regiedebüt “The Blackcoat’s Daughter” zu einer nie greifbaren Symphonie des Grauens formte, in der tragische Figurenschicksale, übernatürlicher Horror und das Jonglieren unterschiedlicher Perspektiven und Zeitebenen auf verstörende Weise verschmelzen. “Gretel & Hänsel” fühlt sich dagegen mehr wie ein knisternder Waldspaziergang bei Nacht an, bei dem ein Licht hinter den Bäumen schon beruhigend zum sicheren Ausgang weist.

                  15
                  • 6 .5

                    In Alejandro Landes’ “Monos” haben sich verschiedene Kinder und Jugendliche irgendwo in den Bergen Kolumbiens zusammengefunden. Dass es sich bei der Gruppe um eine Art junge Guerilla-Einheit handelt, merkt der Zuschauer schnell anhand der getragenen Uniformen und Schusswaffen. Viel mysteriöser muten dagegen die Motive an, wegen denen die Figuren oftmals sich selbst überlassen werden und einem Auftrag nachgehen, der unter anderem die Geiselnahme einer Amerikanerin umfasst.
                    An Erklärungen zeigt sich Landes in seinem Film aber generell wenig interessiert. Ihm geht es mehr darum, die Geschichte als viszerale Erfahrung zu gestalten und den Wahnsinn, der Stück für Stück in die noch sehr jungen Protagonisten kriecht, spürbar zu machen. Dabei lässt sich “Monos” vor allem als Coming-of-Age-Film begreifen, in dem die adoleszenten Figuren in Extremsituationen einem abseitigen Heranwachsen ausgesetzt werden.
                    Dass Landes die Handlung im kryptischen Arthouse-Stil entfaltet, der Fragezeichen im Kopf des Zuschauers anhäuft, steht der puren Wirkung vieler Szenen dieses Films jedoch eher im Weg. “Monos” ist zunächst immer dann am schönsten, wenn abstrakte Ideologien und realpolitische Bezüge verblassen und der Film einen Mikrokosmos mit eigenen Regeln präsentiert, der unberührt und bedrohlich zugleich erscheint. Hier nähert sich der Regisseur den kaum zu bändigenden Gefühlswelten seiner unreifen Figuren über die Betrachtung ihrer Körper.
                    Gerade durch das unkonventionelle Szenario wird der Coming-of-Age-Aspekt von “Monos” zur Verkettung von Ausbrüchen, die sowohl neugieriger, leidenschaftlicher als auch gewalttätiger Natur sind. Ausgetauschte Zärtlichkeiten und körperliche Erkundungen des jeweils anderen werden zunehmend von brutalen Erschütterungen durchbrochen, die den typisch jugendlichen Leichtsinn inklusive berauschendem Pilztrip schrittweise in psychotische Ausfälle kippen lassen.
                    Dabei erweist sich Landes’ Film manchmal auch als frustrierendes Erlebnis, wenn die nebulösen Intentionen des Regisseurs und seiner Figuren immer stärker ausgedehnt werden. Häufig findet man als Zuschauer in diesem Experiment à la “Lord of the Flies”, das mäandernd um sich selbst kreist, nur noch in den fremdartigen Bildern und irritierenden Tönen von Mica Levis Score hypnotisierenden Halt. Neben den Figuren, die über den Verlauf des Films so holzschnittartig wie ihre erfundenen Namen bleiben, versetzt “Monos” den Betrachter immer dann ins Staunen, sobald der Film die Kontrolle an höhere Gewalten abgibt.
                    Wenn die Szenerie in den Bergen von dicken Nebelwolken verschlungen wird, Figuren später in den Tiefen des Dschungels mit Teilen der Natur wie Schlamm und Insekten verschmelzen oder im Wasser von Stromschnellen mitgerissen werden, findet Landes zu einem urgewaltigen Kino zurück. Erst dann verdient Landes' Werk die gezogenen Vergleiche zu unbeschreiblichen Großtaten eines Werner Herzogs wie “Aguirre, der Zorn Gottes” oder “Fitzcarraldo". Auch wenn der deutsche Zusatztitel betont, dass sich die Figuren in “Monos” zwischen Himmel und Hölle bewegen, bleibt trotz hoffnungsvoller Fluchtversuche am Ende nur noch der Abstieg in Zweiteres.

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                    • 7 .5

                      Der beängstigende Grat zwischen betäubter Einsamkeit und verheerender Grenzüberschreitung ist das zentrale Motiv in Urszula Antoniaks Drama “Code Blue”. Hauptfigur ist die Krankenschwester Marian, die schwerkranke, unheilbare oder dem Tod aufgrund ihres Alters nahestehende Menschen versorgt. Von Anfang an formt die polnische Regisseurin die bedrückende Welt ihres Films ganz aus der Perspektive der Protagonistin. Ohne begleitende Dialoge zeigt die Kamera zu Beginn Marians Routine, bei der sich die um die 40 Jahre alte Frau ebenso unscheinbar wie selbstverständlich durch die stillen, verlassenen Korridore des Krankenhauses bewegt. Der trostlose Eindruck wird durch die wenigen vernehmbaren Geräusche verstärkt, die aus kaum mehr als dem Piepsen lebensnotwendiger Maschinen oder dem schwerfälligen, resignierten Röcheln der Patienten bestehen.
                      Nicht weniger unangenehm inszeniert Antoniak Marians Privatleben, das genauso leer erscheint wie ihre sterile, unpersönliche Wohnung voller Umzugskartons als Einrichtung. Schon lange scheint sich die Hauptfigur von “Code Blue” in ihrer Einsamkeit verloren zu haben, sodass ihre Existenz vor allem vom ständigen, unerfüllten Drang nach Intimität und Zwischenmenschlichkeit bestimmt wird. Solche Momente schildert die Regisseurin entweder als ambivalente Auswüchse von Marians Vorstellungskraft oder brüchige Verbindungen, wenn die Krankenschwester sterbenden Patienten als eine Art Todesengel das Ausscheiden aus dem Leben erleichtert.
                      Besonders quälend ist für die Hauptfigur aber die fehlende Körperlichkeit. Immer wieder ist Marian dabei zu sehen, wie sie sich berührt, streichelt, ihre Kleidung ablegt und masturbiert. Ihr dürres Erscheinungsbild und die beiläufig zu sehenden Narben auf ihrer Haut zeigen einen Körper, der sich zwischen dem Bedürfnis nach Zuneigung und dem wachsenden Drang nach Selbstzerstörung langsam aber sicher aufzulösen droht. Genauso nah am Verfall oder bereits darüber hinaus wirkt zudem Marians geistiger Zustand, den Antoniak mit psychotischen Einschüben untermalt.
                      In einer Situation, die sich Marian womöglich auch nur einbildet, beobachtet sie vom Fenster ihrer Wohnung aus, wie zwei Männer eine junge Frau vergewaltigen. Während sich die Protagonistin beim Zusehen erneut sehnsüchtig berührt, wandelt die Regisseurin hier nochmals in extremer Form auf dem beängstigenden Grat zwischen betäubter Einsamkeit und verheerender Grenzüberschreitung, der “Code Blue” beherrscht und im Finale in einem exzessiven Höhepunkt gipfelt.
                      Ein Höhepunkt, an dem schließlich auch Lars Eidinger beteiligt ist. In der Geschichte des Films spielt er Marians Nachbar Konrad, der auf sie eine gewisse Faszination ausübt. In einer Szene des Films folgt sie ihm und leiht sich in einer Videothek die beiden DVDs aus, die er kurz davor zurückgegeben hat. Indem sich der erste Film als David Leans gewaltiges Melodram “Doktor Schiwago” und der zweite Film als Hardcore-Porno entpuppt, wird dem Zuschauer durch diesen fast schon ironischen Kniff abermals die Kluft verdeutlicht, in der sich “Code Blue” zwischen stillem Arthouse-Drama und expliziter Schock-Provokation befindet.
                      Auch im Schauspiel von Lars Eidinger, der neben der schonungslosen, mitreißenden Bien de Moor nur eine Handvoll Szenen bekommt, spiegeln sich diese beiden Seiten wider. Nicht nur hier scheint sich Eidinger in seiner undurchsichtigen Hülle aus präzisem Charakterdarsteller und narzisstisch-prätentiösem Selbstdarsteller zu befinden, um Konrad als finstere, unsympathische und doch anziehende Verlockung zu spielen. Nicht minder erschütternd ist daher das Monster, das in den letzten Minuten von “Code Blue” aus ihm herausbricht. Zwischen offensichtlichen Einflüssen von Bruno Demonts “Twentynine Palms” über mit klassischer Musik unterlegte Zeitlupen-Duschen à la Lars von Triers “Antichrist” bis hin zum Vincent Gallo-”The Brown Bunny”-Gedächtnisauftritt schrammt Antoniaks Werk dabei nur knapp an der Selbstparodie vorbei. Zu eindringlich ist dieser Schrei nach Zuneigung, der selbst im Angesicht radikalster physischer und psychischer Selbstzerstörung ungehört bleibt, jedoch auch nach den finalen Szenen weiterhin.

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                        über Capone

                        Der erste Eindruck nach dem Trailer von “Capone”, der dort einer Mischung konventioneller Gangster-Biopics der jüngeren Vergangenheit wie “Black Mass” oder “Legend” glich, wird schon in den ersten Szenen von Josh Tranks neuem Film zerstört. Wenn Tom Hardy zu Beginn in der Titelrolle als legendärer Mobster Al Capone auftritt, entsteht vielmehr der Eindruck eines gebrochenen, verbrauchten Mannes, der hier die letzten Züge seines Lebens durchleidet. Dabei ist Trank als Regisseur derjenige, der dem langsam dahinsiechenden Protagonisten in keiner Sekunde von der Seite weicht und das Martyrium von Capone als fast schon quälende Charakterstudie zwischen Arthouse und Trash ausbreitet. Hardy, der sich gerade körperliche Figuren wie in “Bronson”, “Warrior”, “The Dark Knight Rises” oder “Mad Max: Fury Road” förmlich einverleibt und selbst im schizophrenen Comicfilm-Irrsinn von “Venom” nochmal aufgekratzt aus der Reihe tanzt, ist nichtsdestotrotz das wuchtige Zentrum von “Capone”.
                        Immer wieder bewegt sich der Schauspieler hinter dem dicken Make-up und seiner Ausdrucksweise, die von Gurgeln Knurren, Grunzen und Schreien beherrscht wird, an der Grenze zur überdrehten Selbstparodie. Seine stechenden, reptilienähnlichen Augen scheinen immer wieder im Konflikt mit dem ergrauten, schlaffen Körper zu stehen, dessen Haut von Blessuren und Entzündungen gezeichnet ist. Mit seiner Capone-Interpretation setzt Trank bewusst am Lebensende der Gangster-Ikone an, als Capone nach einer 11-jährigen Haftstrafe im Alter von 47 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und sein letztes Jahr auf seinem Anwesen in Florida verbringt. Aufgrund einer Syphilis-Erkrankung und stark fortschreitender Demenz ist der einst gefürchtete Gangster nur noch ein Schatten seiner selbst. Trank inszeniert Capone, das eindrucksvolle Symbol von damals, als ebenso bemitleidenswerten wie unberechenbaren Gefangenen im eigenen Körper, der dem physischen und psychischen Verfall schutzlos ausgeliefert ist.
                        Sämtliche Figuren um ihn herum, seine um Fürsorge bemühte Ehefrau Mae oder sein behandelnder Arzt Dr. Karlock, werden mehr und mehr zu machtlosen Randnotizen in Capones Käfig aus unkontrollierten Körperausscheidungen, bizarren Wahnvorstellungen und verbitterter Paranoia. Da der praktisch unzurechnungsfähige Capone aber auch noch davon fantasiert, irgendwo 10 Millionen Dollar versteckt zu haben und nicht mehr finden zu können, ist das Interesse von gierigen Angehörigen aus dem engsten Kreis und dem FBI an ihm ungebrochen.
                        Nach seinem frühen Status als neues Regie-Wunderkind durch “Chronicle” und dem tiefen Absturz mit dem kommerziell wie künstlerisch gescheiterten “Fantastic 4”-Reboot hat sich Trank für seinen neuen Film von sämtlichen Erwartungen und Erzählkonventionen gelöst. “Capone”, der zu großen Teilen in und um das Florida-Anwesen der Hauptfigur spielt, treibt wirr von Szene zu Szene, während Realität und Einbildung früh nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Die eigentliche Drastik von Tranks Film besteht aber aus dem konsequent schonungslosen Umgang mit Capones schwer angeschlagener Verfassung und seinem unausweichlichen Schicksal, das tief unten ansetzt und sich dann durch brutale Aussetzer und wiederholte Rückschläge nur noch tiefer nach unten bewegt.
                        Wie der Regisseur den Körper des gleichermaßen schockierend hergerichteten wie zuckend, keifend und würgend im Delirium verweilenden Hardy einfängt, grenzt oftmals an puren Voyeurismus. Doch nur so kann Tranks Theater der wilden Absurditäten funktionieren, in dem Capone als kreidebleiche Vampirerscheinung oder verwesende Zombiegestalt auf Alligatoren schießt, von Gewaltfantasien heimgesucht wird und nach einem schweren Schlaganfall in Windeln gelegt Karotten statt Zigarren zerkauen muss.
                        Dass David Lynch und David Cronenberg zu den großen Vorbildern des Regisseurs gehören, hat er bereits in seinen vorherigen Filmen erkennen lassen. Auch für “Chronicle” und “Fantastic 4” zeigte Trank innerhalb des Superhelden-Genres Figuren, für die außergewöhnliche Fähigkeiten mit großem körperlichen Leiden verbunden waren. Das Motiv des intensiven Körperhorrors zieht sich nun auch durch “Capone”, in dem Trank den übermenschlichen Status von Al Capone dekonstruiert und auf seinen kläglichen Rest als verlorener Sterbekandidat reduziert. Von Lynch stammt dagegen die surreale Zerstreutheit und der kauzig-abseitige Humor, während Trank auch gleich noch dessen erprobten Kameramann Peter Deming von Filmen wie “Lost Highway”, “Mulholland Drive” oder der neuen “Twin Peaks”-Staffel verpflichtet hat.
                        Ob Trank mit “Capone” nochmal ein Comeback in die breitere Öffentlichkeit gelingt, ist nach einem solchen Film eher fraglich. Ein künstlerisches Ausrufezeichen hat er mit dem Werk aber zweifelsohne gesetzt. Und mit der finalen Szene, in der sich eine Hand auf eine andere legt und einen erstarrten Körper für einen kurzen Moment aus der Lethargie befreit, verleiht Trank seiner eigenen Karriere auch gleich noch einen schönen Hoffnungsschimmer.

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                          Mit “Bright Lights, Big City” hat Jay McInerney 1984 einen Roman veröffentlicht, der das gesamte Jahrzehnt definieren sollte. Der Erfolg des Buches katapultierte ihn in eine ähnliche Liga wie Bret Easton Ellis mit seinem Debüt “Less Than Zero” von 1985. Stark autobiografisch geprägt beschreibt McInerney das Leben seines namenlosen Protagonisten, der in New York lebt und dort einem sehr gut bezahlten Job als Faktenchecker für ein angesehenes Magazin nachgeht. Eigentlich will der Erzähler des Romans, der kürzlich von dem erfolgreichen Model Amanda verlassen wurde, aber viel lieber Schriftsteller sein und seinen ersten Roman schreiben. Stattdessen lässt er sich jedoch von Party zu Party treiben, verliert sein Herz erneut ein ums andere Mal und gerät zwischen all dem unbeschwerten Drogenkonsum beruflich in immer größere Schwierigkeiten.
                          Das Besondere an “Bright Lights, Big City” ist jedoch weniger die eigentliche Handlung als vielmehr der literarische Stil von McInerney. Mit präzisen Sätzen, die Coolness und Kälte zu gleichen Teilen ausstrahlen, schildert der Autor ein bestimmtes Lebensgefühl anstelle einer zusammenhängenden Geschichte. Ein Lebensgefühl, das sich vor allem aus der Stimmung des Schauplatzes New York heraus ergibt. McInerney, der damals ebenfalls als aufstrebender Schriftsteller nach New York gezogen ist, beschreibt das Gefühl der Großstadt selbst durch den Blick nach oben zu den Lichtern aus den Hochhäusern. Jedes von ihnen ein weiteres Versprechen für noch ein Erlebnis, das nicht verpasst werden darf.
                          Genau an diesem Stil, starke Details einzufangen und übergreifende Stimmungsbilder zu erzeugen, scheitert James Bridges’ Adaption von 1988. Als Film präsentiert sich “Bright Lights, Big City” ebenso episodenhaft zerfasert wie McInerneys Roman. Sehr nah an der Vorlage hangelt sich die Geschichte des Protagonisten, der hier einen Namen bekommt und Jamie Conway heißt, an einzelnen Stationen entlang, die über die Abwärtsspirale der Hauptfigur zur emotionalen Katharsis führen soll. Das New York der 80er Jahre aus dem Roman wird in entsprechende Bilder gegossen, die vor allem in den Nachtclub- und Party-Szenen den Zeitgeist zwischen Neon-Pop und Disco-Glamour widerspiegeln. Und doch fühlt sich die Ausstattung des Films, in dem jedes Kapitel aus dem Roman fast schon pflichtschuldig nachgestellt wird, schon bald genauso an: wie bloße Ausstattung, die selten in die spezielle Atmosphäre des distanziertem Minimalismus aus dem Buch vordringt.
                          Ein großes Problem von “Bright Lights, Big City” besteht darin, dass McInerney als Schriftsteller auch das Drehbuch für die Verfilmung geschrieben hat. Während er einige Textstellen identisch als Voice-over der Hauptfigur übernommen hat und als Autor keine filmische Sprache für seinen besonderen Stil findet, fehlt dem Film eine auffälligere Ästhetik, die ihn zu mehr als Buchseiten in Form bewegter Bilder machen würde. Durch Bridges’ Inszenierung, die “Bright Lights, Big City” stellenweise fast schon wie einen drögen Fernsehfilm erscheinen lässt, verkommt das Charakterporträt der ebenso hedonistischen wie von Selbstzweifeln zerfressenen Hauptfigur vor dem Hintergrund eines Großstadtporträts zur oftmals arg oberflächlichen Angelegenheit voll von eindimensionalen, klischeehaften Figuren.
                          Dass “Bright Lights, Big City” neben der uninspirierten Inszenierung seltsam leblos wirkt, liegt auch am Hauptdarsteller des Films. Auch wenn Michael J. Fox sichtlich gegen sein Image des netten Jungen aus der Nachbarschaft anspielt, wirkt sein Protagonist gegen die Hauptfigur des Romans wie ein handzahmes Abziehbild. Wenn Jamie mit seinem egoistischen, manipulativen Freund Tad durchs Nachtleben streift, stellt man sich immer wieder vor, dass Kiefer Sutherland statt Tad einen viel passenderen Jamie abgegeben hätte. Gerade gegen Ende des Films, wenn Jamies familiäres Trauma aus der Vergangenheit in den Mittelpunkt rückt, gibt sich Fox vermehrt der überforderten Hysterie hin und nimmt der Vorlage noch mehr von ihrer eindringlichen Nüchternheit dieser finalen Momente.
                          Von Jay McInerneys New York ist in der Verfilmung von "Bright Lights, Big City" jedenfalls nicht viel zu spüren. Diese damals alles verschlingend, kaum zu bändigende Metropole voller Faszination und Abgründe wirkt im Film aufgrund der ständigen Innenaufnahmen und begrenzten Schauplätze fast schon kleinbürgerlich. Zeit, um den Blick selbst über die unentwegten Verlockungen der grellen Lichter der Großstadt schweifen zu lassen, bleibt hier keine.

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                          • 8

                            Filme von Roy Andersson zu schauen bedeutet, der Apokalypse mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegenzublicken, wenn es längst zu spät ist. Dabei wechseln sich Komik und Tragik in den Werken des eigensinnigen Schweden nicht nur einfach miteinander ab, sondern fordern den Zuschauer häufig in ein und derselben Einstellung heraus. Einstellungen, von denen jede wie eine eigene, kleine Welt wirkt, die Andersson aus langen, statischen Bildern komponiert. Bilder, die mit ihrer Detailverliebtheit, den skurrilen und doch faszinierend menschlich wirkenden Figuren sowie tief blickenden Beobachtungen wie ganze Filme für sich erscheinen.
                            Auch “Songs from the Second Floor” beginnt erstmal in der puren Irritation, sobald die Figuren des Regisseurs das Bild betreten. Typischerweise leichenblass, mit kreidebleich geschminkten Gesichtern wirken die Menschen wahlweise wie Tote, die sich kurz nach der Trauerzeremonie nochmal aus ihren Särgen erhoben haben, oder von der Zeit im Stich gelassene Relikte, die sich aus einem Museum ausgestellter Trauer, Einsamkeit und Verlorenheit in unsere Welt verirrt haben.
                            Auch “Songs from the Second Floor”, zu dem sich der Filmemacher durch die Gedichte des Peruaners César Vallejo inspirieren ließ, ist eine Ansammlung dieser Gestalten, denen der Regisseur kleine Geschichten mit großem Wert schenkt. Trotz der losen Anordnung einzelner Einstellungen hat Andersson hier keinen wirklichen Episodenfilm gedreht, sondern eine Sammlung verschiedener Handlungsstränge, die sich abwechseln, überschneiden oder durch sonderbare Einschübe aufgebrochen werden. Als wiederkehrender Protagonist entpuppt sich Kalle, der sein Möbelgeschäft selbst in Brand gesteckt hat, um die Versicherungssumme einzustreichen. Mit rußverschmiertem Gesicht steht er wie ein zugleich erfolgreicher und gescheiterter Attentäter in der U-Bahn, während plötzlich alle Menschen um ihn herum zu singen beginnen.
                            Danach wird er sich in einem Diner wiederfinden, das sicherlich nicht zufällig an Edward Hoppers berühmtes “Nighthawks”-Gemälde erinnert. Die Motive von Einsamkeit und Leere weichen in Anderssons Bild zusätzlich einer seltsamen Art des Eingesperrtseins, wenn eine Frau am Telefon erklärt, dass sie diesen Ort momentan einfach nicht mehr verlassen kann. Schuld daran ist ein offenbar endloser Verkehrsstau, auf den der Regisseur im Hintergrund ebenfalls einen Blick gewährt. Frühe Andeutungen einer Form von Endzeitstimmung werden in “Songs from the Second Floor” als deutlicher Kontrast von absurd komischen Momenten abgelöst. Da ist zum Beispiel der Mann, der von einem Zauberkünstler bei der Vorführung eines Tricks wirklich angesägt wird und ins Krankenhaus muss. Auch der Mann, der früh im Film nach 30 Jahren seinen Job verliert und hysterisch festgeklammert am Bein seines Vorgesetzten über den Flur gezogen wird, lässt sich nicht so schnell wieder vergessen.
                            Für seine künstlerisch mittlerweile unverwechselbaren Tableaus wird Anderssons Stil gerne mit dem des, zumindest vom Nachnamen her recht ähnlich klingenden, Wes Anderson verglichen. Nie so richtig greifen lässt sich dagegen der spezielle Humor, bei dem die surreale Unberechenbarkeit eines Luis Buñuel selbst vor dem kindlichen Slapstick eines Mr. Bean nicht zurückschreckt. Als reines Absurditäten-Kabinett, das voyeuristisch auf seine Figuren herabschaut, sollte man „Songs from the Second Floor“ trotzdem nicht einordnen. Andersson begegnet den Menschen, so sonderbar sie auch präsentiert werden, durchwegs mit einfühlsamer Empathie, die seine Figuren im Angesicht eines alles verschlingenden Pessimismus vor dem völligen Untergang bewahrt.
                            Dabei wartet „Songs from the Second Floor“ erst im letzten Drittel mit den bestürzendsten Entwicklungen auf, wenn Selbstmordopfer und vor langer Zeit Gehängte in der Gegenwart ohne Ruhe wiederkehren. Genauso verstörend ist die Sequenz des kleinen Mädchens mit verbundenen Augen, das in einem bizarren Ritual geopfert werden soll, um den aus den Fugen geratenen Kapitalismus durch die Auslöschung des restlichen Unschuldigen, Hoffnungsvollen wieder zu besänftigen.
                            In insgesamt 46 Einstellungen, für die Andersson jahrelang Sets in seinem eigenen Studiogelände errichten ließ und die er mit unzähligen Takes wieder und wieder bis zur Perfektion drehte, beschwört der Regisseur eine (post)apokalyptische Welt herauf. In dieser dürfen sich die gequälten Opfer einer grausamen Gesellschaft erst ganz zum Schluss erheben und scheinbar in Frieden davongehen. Und doch bleibt am Ende vor allem ein Satz aus diesem Film ganz besonders in Erinnerung: „Es ist nicht leicht, Mensch zu sein.“

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                              Schon in den ersten Szenen strahlt “Resident Evil” eine Faszination aus, wie sie nur das Horrorkino entfachen kann. Nach einer kurzen Texteinblendung, die wesentliche Informationen knapp zusammenfasst, findet sich der Zuschauer in einem mysteriösen Forschungslabor wieder, in dem das pure Chaos ausbricht. Offenbar ist ein tödliches Virus freigesetzt worden, das die fortgeschrittene künstliche Intelligenz innerhalb der Anlage zu drastischen Maßnahmen bewegt. Bilder des Schreckens verwandeln die Mitarbeiter des Labors innerhalb von Sekunden in Tote, Menschen kommen durch einströmendes Gas ums Leben oder werden von einem außer Kontrolle geratenen Fahrstuhl enthauptet.
                              Mit dem gleichnamigen Videospiel, auf dem dieser Film von Regisseur und Drehbuchautor Paul W.S. Anderson basiert, hat “Resident Evil” in den anfänglichen Momenten nur wenig gemeinsam. Auch wenn direkt der Name der Umbrella Corporation genannt wird, um deutlich an das Vorbild zu erinnern, ist Andersons Werk ein ganz eigener Albtraum, der ebenso Desorientierung und Überforderung heraufbeschwört. Milla Jovovichs passenderweise Alice benannte Protagonistin führt der Regisseur in sein klaustrophobisches Wunderland der verwinkelten Tunnel, dunklen Gänge und ausgestorbenen Korridore, wo sich die Amnesie der Hauptfigur und flüchtige, rätselhafte Ereignisse aus der Vergangenheit mit dem gegenwärtigen Überlebenskampf vermischen.
                              Gerade in der ersten Hälfte von “Resident Evil”, in der die anschließend auftauchenden Zombies noch gar keine wirkliche Rolle spielen, fesselt Andersons Film als garstiges Duell gegen eine technologische Übermacht, die ganze Räume vollständig unter ihre Kontrolle bringen kann oder Körper mithilfe unausweichlicher Laserstrahlen in ihre Einzelteile zerlegt. Durch die dicht montierten Set-Pieces, die der Regisseur vorwiegend auf engstem Raum inszeniert, stellt dieser Auftakt eines größeren Franchises außerdem schon eine Art Fingerübung für die erst später perfektionierte Ästhetik von Anderson dar. Während die direkten Bezüge zur Vorlage eher beiläufig ausfallen, ahmt der Regisseur vielmehr die grundsätzliche Level-Struktur von Videospielen nach.
                              Hierbei wirkt “Resident Evil” aber noch wie ein frühes Herantasten an ein ästhetisches Konzept, das durch hölzern vorgetragene Exposition, blasse Nebenfiguren und dramaturgischen Leerlauf immer wieder den Eindruck von überflüssigen Videospiel-Zwischensequenzen erweckt, die sich nicht überspringen lassen. Auch die vielen Zombie-Konfrontationen werden von Anderson überwiegend in durchschnittlichen Genre-Maßstäben und altbekannten Bildern gedacht. Die teils bewundernswerte, teils grobschlächtige Vermengung von stumpfem B-Movie und intensivem Survival-Horror gleitet Anderson zwischen den Electro- und Metal-Klängen des Scores von Marco Beltrami und Marilyn Manson immer wieder aus den Händen, ehe sein Film erst im Finale zur Glanzform des Auftakts zurückführt.
                              Die letzten Szenen gehören nochmal voll und ganz der einnehmenden Präsenz von Milla Jovovich, die sich ihrer Figur als ehemaliges Model vor allem mit markanter Körperlichkeit annähert. Souverän bewegt sich die Schauspielerin zwischen verwirrter Traumatisierung und kontrollierter Einzelkämpferin, während sie in den finalen Momenten durch ein beängstigend klinisches Labor taumelt, um schließlich zum ersten Mal in Freiheit einer Apokalypse der todstillen Menschenleere entgegenzublicken. Man könnte meinen, “Resident Evil” hat den ikonischen Anfangsszenen des nur wenig später erscheinenden “28 Days Later” schon mal die Tür geöffnet.

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                                Auf den ersten Blick hat Abel Ferrara mit “Tommaso” ein klassisches Alterswerk gedreht. Längst vergangen scheinen die typischen Exzesse des radikalen New Yorker Regisseurs, der sich mit Werken wie “The Driller Killer”, “Ms .45” oder “Bad Lieutenant” in Verbindung mit Berichten über seine starke Alkohol- und Drogensucht ein Bad Boy-Image erarbeitete. Nichts davon ist zu Beginn in “Tommaso” zu spüren, in dem Willem Dafoe als titelgebender Protagonist durch Rom läuft, alltägliche Dinge wie Einkäufe erledigt und ein scheinbar harmonisches Familienleben mit der wesentlich jüngeren Nikki und der gemeinsamen 3-jährigen Tochter Dee Dee führt.
                                Als Amerikaner, der schon länger in Italien lebt, wirkt Tommaso zufrieden und ausgeglichen, auch wenn Dafoe seiner Figur schon in den ersten Szenen eine unausgesprochene Rastlosigkeit verleiht. Die unscheinbaren Spaziergänge und Erledigungen erscheinen so auch wie bewusste Zerstreuung, durch die Tommaso anderen Verpflichtungen zu entgehen versucht. Neben regelmäßigen Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern gibt es da auch noch Tommasos aktuelles Filmprojekt eines in der Antarktis um sein Überleben Kämpfenden, das an der schwierigen Finanzierung scheitern könnte. Auch die Beziehung zwischen ihm und Nikki erhält spürbare Risse, die noch zu schweren Konflikten führen.
                                Wer mit der Biografie von Ferrara vertraut ist, wird früh feststellen, dass Dafoe in “Tommaso” ein Alter Ego des Regisseurs spielt, in das auch verschiedene Aspekte von Dafoes realen Hintergründen einfließen. Tommasos Partnerin Nikki wird von Ferraras Ehefrau Cristina Chiriac gespielt, während Ferraras und Chiriacs 3-jährige Tochter Anna die im Film ebenfalls 3-jährige Tochter Dee Dee spielt. Auch das Apartment in Rom, in dem Tommaso und Nikki wohnen, ist das Apartment von Ferrara und Chiriac.
                                Durch die auffälligen Parallelen zwischen Tommaso und Ferrara wird “Tommaso” zur filmischen Bilanz eines bewegten Lebens voller schmerzhafter Schattenseiten und Tiefpunkte. Dabei wirft der Regisseur nicht nur die Frage auf, wie er sich den Dämonen seiner Vergangenheit stellen kann, sondern vor allem, ob und wie er ohne diese Dämonen noch in eine veränderte Zukunft blicken kann.
                                Mit “Dangerous Game” veröffentlichte Ferrara 1993 schon einmal einen vergleichbaren Film, in dem sich der Regisseur mit weitaus größerem Selbsthass mit seiner eigenen Persönlichkeit auseinandersetzte. In dem stellenweise nur schwer erträglichen Drama inszenierte Ferrara Harvey Keitel als fiktionalisiertes Abbild seiner selbst und schuf eine erschütternde Studie des Filmemachers als sadistisch-voyeuristische Gewalt, durch die die Grenze zwischen Schauspiel und Realität zunehmend aufgehoben und Existenzen zerstört werden.
                                In “Tommaso” legt Ferrara dagegen von Anfang an einen geradezu versöhnlichen, milden Tonfall an den Tag. In einer Szene erzählt Tommaso bei einer der AA-Sitzungen davon, dass er damals in Miami ein amerikanisches Remake von “La dolce vita” drehen wollte, bevor diese Episode seines Lebens erneut durch seine unkontrollierte Abhängigkeit eskaliert ist. Auch Ferraras Film trägt hin und wieder Züge von Fellinis süßem Leben, wenn die Kamera dem Protagonisten auf schwelgerische Weise durch die hypnotisch ruhigen Straßen Roms bei Nacht folgt. Von einem wesentlich altersmilderen Ferrara zeugt auch eine Szene des Films, in der Tommaso einen lautstarken Obdachlosen vor dem Apartment konfrontiert, da dieser der kleinen Tochter des Paares Angst einjagt. Was dann jedoch aus der zunächst wutentbrannten Situation entsteht, hätte ein jüngerer Ferrara noch nicht so drehen können.
                                Von zärtlicher Versöhnlichkeit entfernt sich Ferrara mit fortlaufender Dauer seines Films aber trotzdem immer stärker. Nach und nach häufen sich surreale Episoden, die dennoch realistisch inszeniert als beunruhigende Ausreißer in Tommasos Leben brechen. Die ohnehin fragmentarische Erzählweise von “Tommaso” verstärkt der Regisseur durch diese Szenen, in denen plötzlich nackte Frauen als junge Versuchungen in Tommaso Leben treten oder Eifersuchts- und Gewaltfantasien des Protagonisten allzu konkret werden. Mit der Wechselwirkung von Fiktion und Realität experimentiert Ferrara, der in den letzten Jahren Spielfilme und Dokumentationen drehte, noch weiter, indem sich unter die extrem digitalen Bilder von Werner Herzog-Stammkameramann Peter Zeitlinger regelmäßig Szenen mischen, in denen Dafoe als Tommaso mit Laien interagiert und authentische Reaktionen und Momente mit dem Inszenierten zusammenprallen.
                                Neben der ungeschützten Intimität, mit der sich Ferrara seinen eigenen Lastern ausliefert und zusätzlich engste Familienmitglieder miteinbezieht, erreicht “Tommaso” stellenweise eine bestürzende Intensität. Genauso wie Dafoe seine Figur herausragend zwischen getriebenem Künstler, tragisch gezeichnetem Opfer, mildem Familienvater und rasendem Monster verkörpert, wandert auch Ferrara für “Tommaso” auf einem schmalen Grat zwischen verzweifeltem Optimismus und aggressivem Selbsthass. Dass der Film keinen definitiven Schlusspunkt unter Ferraras Karriere und Leben setzen kann (das Antarktis-Projekt aus der Handlung erscheint schon bald als Ferraras nächster Film “Siberia”), beweist spätestens das verstörende Finale. Während der ähnlich selbstreflexive “Dangerous Game” schon pechschwarz begann und nur noch tiefer in die Dunkelheit führte, kollabiert “Tommaso” in dem fast schon fremdkörperartigen Finale. Dass es vor dem alten Ferrara kein Entkommen gibt, ist das denkbar bitterste Ende für diesen Film.

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                                  • 6 .5

                                    Irgendwo zwischen den bizarren Body-Horror-Visionen des frühen David Cronenberg und den apokalyptisch-entfesselten Kamerabewegungen von Andrzej Żuławski entfaltet sich Alain Robaks “Baby Blood” als eigenwilliges, wüstes Kuriosum. Regelrecht abstrakt beginnt der Film mit dem Blick auf eine Art Ursuppe vor der Entstehung der Erde und jeglichen Lebens, der wiederum von einem fremdartigen Organismus unheilvoll aus dem Off kommentiert wird. Jener Organismus entpuppt sich kurz darauf als bösartiger Parasit, der sich zunächst im Körper eines Leoparden und schließlich im Uterus der Zirkus-Assistentin Yanka einnistet.
                                    Wie eine verstörende Vergewaltigung durch ein schleimiges Wurmwesen inszeniert der französische Regisseur diese Übernahme des menschlichen Körpers durch einen fremdartigen Eindringling. Daneben zeichnet Robak in seinem Film auch das bewusst überzeichnete Bild einer feindseligen, verkommenen Männerdomäne, der die Protagonistin von Anfang an schutzlos ausgeliefert gegenübersteht. Von ihrem Mann, der gleichzeitig der Besitzer des Zirkus ist, wird sie zu entwürdigenden Diensten gezwungen, während ein lüsterner Spediteur über sie herfällt. Dass die Männer in “Baby Blood” Yanka kaum widerstehen können, liegt auch an der Besetzung der Hauptrolle mit Emmanuelle Escourrou. Robak vertraut weniger auf das schauspielerische Geschick der damals noch jungen Französin als vielmehr auf ihre intensive Ausstrahlung. Von der Kamera wird Escourrou deshalb als brünette, vollbusige Schönheit eingefangen, die mit ihrer verführerischen, Vamp-gleichen Präsenz und der markanten Zahnlücke stark einer jungen Béatrice Dalle ähnelt.
                                    Sobald Yanka jedoch den heimtückischen, mörderischen Parasiten als Fötus in sich trägt, wandelt sich “Baby Blood” recht bald zum ausufernden Chaos, in dem die betonte Schönheit der Hauptdarstellerin mehr und mehr in blutbesudelten Wahnsinn kippt. Begleitet von willkürlichen Zeitsprüngen, bei denen mehrere Monate vergehen, schickt der Regisseur die besessene Protagonistin auf einen Road-Trip, auf dem diverse Männer dem unstillbaren Blutdurst des unentwegt als innere Stimme mit Yanka quasselnden Parasiten zum Opfer fallen.
                                    Aufgrund der arg stotternden Dramaturgie, durch die “Baby Blood” den Zuschauer offensichtlich gar nicht erst mitreißen will, inszeniert Robak den Film stattdessen als Spektakel der abrupten Splatter-Exzesse zwischen symbolischem Schwangerschaftsalbtraum und irrwitzig überspitzter Dekonstruktion eines Patriarchats, das Yanka in jeder noch so verzweifelten Situation ausnutzen oder missbrauchen will. Nachdem die Hauptfigur den aufdringlichen Blick der Kamera genauso über ihren mehrfach entblößten Körper ergehen lassen muss wie primitive Aufdringlichkeiten der männlichen Figuren, übernimmt sie durch den Parasiten selbst die Kontrolle.
                                    Wie eine menschliche Gottesanbeterin verführt und tötet Yanka ihre Opfer, wobei “Baby Blood” in diesen Mordsequenzen das Blut absurd sprudeln und spritzen lässt, als wären Peter Jackson oder Sam Raimi aus der “Braindead”- und “Evil Dead”-Ära am Werk. Passend dazu wütet der Parasit als gepitchte Chipmunk-Stimme des Regisseurs selbst im Kopf der stürmischen Hauptfigur.
                                    Während sich Escourrou ähnlich einer Isabelle Adjani aus “Possession” des bereits erwähnten Zulawski tobend und schreiend durch die Slasher-artige Handlung pflügt, verliert sich “Baby Blood” zunehmend in den Grenzen zwischen slapstickhaftem Exploitation-Trash und bisweilen fast schon philosophisch anmutendem Extremkino. Auch Jahrzehnte später zieht Robaks Werk noch seine Spuren durch die gegenwärtige Filmlandschaft. In Alice Lowes “Prevenge” mordet die Protagonistin ebenso angetrieben durch die Stimme ihres ungeborenen Babys im Kopf wie Scarlett Johansson als Alien in Menschengestalt einen Mann nach dem anderen in Jonathan Glazers hypnotischen Science-Fiction-Juwel “Under the Skin” verschlingt. Das ruppigere Unikat bleibt “Baby Blood”, der ebenso von widerwärtigen Männern als durchstochene, zerfetzte und aufgeplatzte Körper fantasiert wie von einem parasitären Organismus, der die menschliche Spezies in 5 Millionen Jahren vollständig ersetzen will.

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                                    • 7
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                                        Als Exorzismus hat Shia LaBeouf “Honey Boy” bezeichnet, für den er selbst das Drehbuch geschrieben und eine der Hauptrollen gespielt hat. Wer sich das Spielfilmdebüt der Dokumentarfilm- und Musikvideo-Regisseurin Alma Har'el ansieht, wird unweigerlich Zeuge einer filmischen Therapiesitzung. Jahre voller persönlichem Schmerz und Entgleisungen, die zum für die Außenwelt deutlich sichtbaren Kontrollverlust des Schauspielers führten, hat er in dem Projekt verarbeitet. “Honey Boy” rückt das öffentliche Image von LaBeouf nun in ein neues Licht und gewährt Einblick in das Leben eines Kinderschauspielstars und die komplizierte Beziehung zu dessen Vater, die ihn nachhaltig prägen sollte.
                                        Gleich zu Beginn wirkt “Honey Boy” durch die Musikvideo-Wurzeln der Regisseurin wie ein flackernder Fiebertraum. Bilder des 22-jährigen Otis Lort, LaBeoufs Alter Ego, zeigen den Schauspieler am Set eines Actionfilms, wo er aufgrund einer Explosion durch die Luft gewirbelt wird. Im Stakkato-Rhythmus reiht Har'el anschließend Momente aneinander, die ein Leben in der exzessiven Abwärtsspirale zeigen. Drogen, Alkohol und Affären blitzen im Sekundentakt auf, bis Otis nach einem schweren Autounfall verhaftet und in eine Entzugsklinik eingeliefert wird. Nur schwer von den Bildern aus dem Film zu trennen sind die realen Aufnahmen von LaBeouf, der in der Öffentlichkeit im betrunkenen Zustand ebenfalls aggressiv gegenüber Polizisten wurde und sich einer Aggressionstherapie und einem Aufenthalt in einer Entzugsklinik unterziehen musste. In der Klinik schrieb LaBeouf Szenen aus seinem Leben auf, die schließlich zum Drehbuch von “Honey Boy” wurden.
                                        Die Entzugsklinik ist auch im Film jener Ort, an dem sich LaBeoufs Alter Ego Otis immer wieder an Momente aus seinem Leben vor 10 Jahren zurückerinnert. Es war die Zeit, in der er als Kinderschauspieler bereits erfolgreiche Auftritte absolviert, während er mit seinem Vater in einem eher ärmlichen Apartmentkomplex lebt. Von nun an wechseln sich die beiden Zeitebenen mit dem 22-jährigen und dem 12-jährigen Otis ab, wobei das Gefühl der ausweglosen Isolation dauerhaft über “Honey Boy” schwebt. Die Räumlichkeiten der Entzugsklinik werden ebenso zum Gefängnis wie das beengende Motelzimmer, in dem Otis und sein Vater in mitunter schwer erträglichen Auseinandersetzungen immer wieder aneinandergeraten.
                                        Der Blick auf LaBeoufs ältere und jüngere Alter Egos ist für Har'el ebenso bedeutend wie die von LaBeouf selbst gespielte Vaterfigur. Mit dem voller intensiver Hingabe gespielten Porträt des innerlich zerrissenen Alkoholikers, der zu regelmäßigen Wutausbrüchen neigt und den eigenen Sohn immer wieder unterdrückt, legt der Schauspieler den wunden Punkt seiner eigenen Identität schonungslos offen. In den recht knappen 95 Minuten der Laufzeit kreisen Har'el als Regisseurin und LaBeouf als Drehbuchautor um verschiedene Themen, die das verheerende Star-Dasein in der Öffentlichkeit als viel zu junger Mensch ebenso streifen wie die Auswirkungen toxischer Männlichkeit und familiäre Traumata, die von Generation zu Generation weitergereicht werden.
                                        Wirklich vertieft werden die verschiedenen thematischen Aspekte von “Honey Boy” dabei selten. LaBeouf konzentriert sich als Autor seiner eigenen Lebensgeschichte im fiktionalisierten Rahmen vielmehr auf flüchtige Momentaufnahmen, die Har'el als filmische Symphonie aus Erinnerungsfetzen und bisweilen surrealen Szenen zwischen Fantasie und Realität inszeniert. Ästhetisch erinnert der Film oftmals an Sean Bakers erschütternde Sozialstudie “The Florida Project”, wobei die überhöhten Bonbon- und Pastellfarben der Motelanlage aus diesem Werk einem rohen Realismus weichen, der dem ebenfalls mit LaBeouf besetzten Jugendporträt “American Honey” von Andrea Arnold ähnelt.
                                        “Don't waste your pain. It's a useful paint.”, hat LaBeouf kürzlich als Ratschlag für Kinder formuliert, die ebenfalls aus Familien mit alkoholkranken Eltern stammen. Schmerz ist auch der Eindruck, der von vielen Szenen aus “Honey Boy” ausgeht. Der Schmerz eines Sohnes, der sich nie vollständig von dem durch seinen Vater verursachten Leid zu lösen vermag. Aber auch der Schmerz eines Vaters, der aus tiefer Verzweiflung an sich selbst scheitert und seinen Sohn häufig unabsichtlich mit in seinen Abgrund zieht. Trotzdem sind es nicht nur solche Momente, die von dem Drama übrig bleiben. Am Ende ist “Honey Boy” auch ein Film, der den Versuch einer verständnisvollen Annäherung unternimmt. Genauso wie die kurzen Augenblicke, in denen Otis Zuneigung und Trost bei einer wesentlich älteren Frau aus der Nachbarschaft findet, schöpfen LaBeouf/Otis am Ende vor allem Hoffnung. Jemandem die Hand reichen bedeutet letztlich auch, sich ein Stück weit wieder selbst finden zu können.

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                                        • 6 .5

                                          Rainer Werner Fassbinders Spielfilmdebüt “Liebe ist kälter als der Tod” wird auf den ersten Blick nicht ohne Grund auf seine klar erkennbaren Vorbilder reduziert. In kühlen Schwarzweiß-Bildern und ausgestellten Posen der Figuren beschwört der Regisseur das zwischenmenschlich eingefrorene Gangster-Kino von Jean-Pierre Melville ebenso herauf wie die tiefen Schatten sowie noch tieferen Abgründe des amerikanischen Film noir.
                                          Was Fassbinder in diesem noch sichtlich ungelenk inszenierten Auftakt einer anschließend unvergleichlichen Karriere aber schon beeindruckend gelingt, ist das Auftürmen und Einreißen von Fassaden. Der Regisseur verankert seine Genre- und Regie-Vorbilder in einem betont deutschen Setting, das neben überwiegenden Aufnahmen anonymer Wohnungen voller karger, weißer Wände auch den Hang zum Biederen und Provinziellen nicht scheut. So entpuppen sich seine Protagonisten - der raue, vom Regisseur selbst gespielte Zuhälter Franz, dessen Freundin und gleichzeitig für ihn anschaffende Prostituierte Joanna und der undurchsichtige Gangster Bruno - wiederum selbst als Schauspieler. Die stilvollen Kleidungsstücke und modischen Accessoires, durch die Bruno beispielsweise wie ein deutsches Abbild von Alain Delons eiskalten Engel aus Melvilles “Le Samouraï” auftritt, sind pure Verkleidung anstelle von bloßen Referenzen.
                                          Die Überspitzung sollte erst noch zu Fassbinders bevorzugtem Stilmittel werden, um die konservativen Wertevorstellungen und gelangweilte Leere der deutschen Bundesrepublik gnadenlos bloßzustellen. In “Liebe ist kälter als der Tod” flüchten sich die Figuren dagegen in die filmischen Motive, die ihnen durch das Kino unmittelbar vorgeführt werden. Franz, Joanna und Bruno sind dabei weder wandelnde Klischees und Referenzen noch überzeichnete Karikaturen bekannter Genre-Ikonen. In seinem Spielfilmdebüt zeichnet Fassbinder stattdessen noch menschlich greifbare Figuren, die vor ihrer eigenen ungeschützten Identität in die täuschende Maskerade flüchten.
                                          Der Regisseur selbst bezeichnete sein Werk als einen Film gegen Gefühle, obwohl Fassbinder in einer früheren Aussage davon sprach, alle seine Gefühle im Kino kennengelernt zu haben. Gerade dieser Umstand hat ihn offenbar dazu bewegt, Gefühle jeglicher Art zum Auslöser unvermeidlicher Tragödien zu erklären. Die Geschichte seines Spielfilmdebüts entwickelt sich zunächst zum altbekannten Liebesdreieck, in dem der Regisseur die Zuneigungen jedoch radikal verschiebt. Hier sind es nicht zwei Männer, die um die Liebe zu einer Frau in Konkurrenz stehen. Stattdessen hat Franz starke Gefühle für den unnahbaren Bruno, der ihn wiederum durch ein Täuschungsmanöver zum Spielball des Verbrechersyndikats machen soll, das Bruno auf Franz angesetzt hat. Die homosexuellen Spannungen in dieser Geschichte hat Fassbinder, der seine eigene Homosexualität stets offen auslebte, dabei ebenso stumm geschaltet wie das Innenleben von Joanna. Die scheint zwischen den beiden Männern und der sich immer stärker zuspitzenden, von dem Trio ausgehenden Gewalt ebenso angezogen wie abgestoßen zu sein.
                                          Dass Fassbinder vom Theater zum Kino kam, obwohl er zuvor schon immer Filme drehen wollte, verleiht dem Streifen zusätzlich eine irritierende Ausstrahlung. Durch viel zu lang geratene, statische Einstellungen beraubt der Regisseur sein Werk um jegliches Spannungspotenzial eines typischen Gangsterfilms. Gleichzeitig trägt “Liebe ist kälter als der Tod” dadurch auch Züge einer direkten Dekonstruktion, mit der der Regisseur die Erwartungshaltung des damaligen, ans Genre-Kino geschulten Publikums kühn unterwanderte.
                                          Als voreiligen, unüberlegten Schnellschuss eines unerfahrenen Amateurs sollte man Fassbinders Spielfilmdebüt trotz der formalen Ungeschliffenheit trotzdem nicht abtun. Bereits in “Liebe ist kälter als der Tod” gibt es Bilder und Passagen wie aus dem Werk eines ganz Großen des Kinos. Hierzu zählen neben der hypnotischen Erscheinung von Hauptdarstellerin Hanna Schygulla, die danach zum Star am deutschen Schauspielhimmel aufsteigen sollte, auch die Szenen, in denen Joanna und Bruno wie zwei Fremdkörper durch einen paradiesisch anmutenden Supermarkt streifen und der Moment, in dem die Kamera in der einzigen Fahrt des Films minutenlang am Straßenstrich der Landsberger Straße in München entlang schwebt. Während Bruno hier noch auf der Suche nach der unbekannten Joanna ist, scheint er sich zusammen mit dem Betrachter langsam in der nächtlichen Dunkelheit aufzulösen. Es ist ein schönes, treffendes Sinnbild für die Karriere von Fassbinder als Suchenden des Kinos, der schließlich ebenso von der Dunkelheit verschlungen wurde.

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                                          • 7 .5

                                            Was von Stanley Kubricks Horror-Meilenstein “The Shining” am stärksten in Erinnerung bleibt, sind die eisig kalten Bilder, aus denen der Horror blanker Isolation hervorbricht. Die eigenwillige Stephen King-Adaption, die der Schriftsteller selbst nicht leiden konnte, hat noch weitere ikonische Bilder hervorgebracht. Wer sich an “The Shining” erinnert, wird unweigerlich Jack Nicholsons manisch-verzerrtes Gesicht im Türspalt, die Zwillingsschwestern auf dem Hotelkorridor oder den Aufzug vor Augen haben, aus dem langsam eine Welle aus Blut strömt.
                                            Neben einer Studie des puren Wahnsinns, die den Aspekt des Alkoholismus aus Kings Vorlage deutlich überschattete, ist “The Shining” aber auch die Geschichte des kleinen Danny Torrance, der eine übersinnliche Begabung besitzt. Kubrick hat diese Facette der Geschichte in seiner Verfilmung ebenfalls in für ihn typischen, geradezu akademisch präzisen Einstellungen des Schreckens komponiert, in denen Danny vor allem durch zahlreiche Nahaufnahmen seines schockierten, schreienden Gesichts mit weit aufgerissenen Augen präsentiert wird.
                                            In Mike Flanagans “Doctor Sleep”, der erneut auf einem Stephen King-Roman basiert, wird die Geschichte von Danny Torrance fortgesetzt. Trotzdem sollte der Film, der deutlich an Kubricks Adaption anstelle der Buchvorlage anknüpft, keineswegs als “The Shining 2” betrachtet werden. Die schwierige oder gar unmöglich zu bewerkstelligende Bürde, sowohl Kubricks Erbe anzutreten, die gleichnamige Vorlage von King auf die Leinwand zu transportieren und gleichzeitig dem eigenen Stil treu zu bleiben, schultert Flanagan mit einem von faszinierenden Widersprüchen, hohen Ambitionen, irritierenden Fehltritten und eindringlichen Momenten durchzogenen Epos, das sich mit kaum einem anderen Genre-Film aus dem Kinojahr 2019 vergleichen lässt.
                                            Nach einem beunruhigenden Auftakt, der im Jahr 1980 unmittelbar an das Ende von “The Shining” anknüpft und gleichzeitig eine ganz neue Bedrohung etabliert, zersplittert das Drehbuch von “Doctor Sleep” nach mehreren Zeitsprüngen in verschiedene Einzelteile, die der Regisseur langsam zu einer melancholisch-schaurigen Odyssee zusammenpuzzelt. Auch wenn der erwachsen gewordene Danny Torrance im Zentrum der Handlung steht, ist er überraschenderweise nicht der Hauptprotagonist dieses Films. Die von Ewan McGregor mit traumatisierter Verletzlichkeit gespielte Figur ist vielmehr ausschlaggebend für die unterschiedlichen Stimmungslagen und Motive des Films, die der Regisseur wiederum mit seinen eigenen bevorzugten Motiven verknüpft. Der simplen Genre-Einstufung als Horrorfilm wird “Doctor Sleep” hingegen kaum gerecht. Flanagan beschwört gelegentlich nostalgisch angehauchtes Grauen direkt aus den ikonischen Bilderwelten Kubricks erneut herauf, doch ansonsten entfaltet sich seine Vision unberechenbar zwischen persönlichem Drama, geradlinigem Thriller und bizarrer Fantasy.
                                            Das Motiv der Abhängigkeit ist in “Doctor Sleep” dabei allgegenwärtig. Dannys Leben als gebrochener Alkoholiker, der trotz übersinnlicher Fähigkeiten ziellos durch sein Leben irrt und nach innerer Ruhe sucht, spiegelt sich immer wieder im Verhalten der zu Beginn vorgestellten, von Rebecca Fergusons Figur Rose the Hat angeführten Sekte wieder. Die Gruppierung dient in der Geschichte als völlig eigenständiger Mythos, wenn sich die Sektenmitglieder ebenso als suchtkranke Junkies entpuppen, die die letzten Atemzüge von Menschen mit der “Shining”-Gabe wie eine Droge inhalieren, um sich auf magische Weise jung zu halten. Als bislang stärkstes potenzielles Opfer stellt sich das junge Mädchen Abra heraus, die früh den Kontakt zu Danny sucht und sich mit diesem gegen die Sekte zusammenschließen will.
                                            Lange Zeit lässt Flanagan die drei Handlungsstränge parallel verlaufen und überschneidet sie immer wieder, wobei sich die unterschiedlichen Tonalitäten mitunter arg reiben. Auf der einen Seite das surreale Sekten-Delirium, das mit Sprüngen in andere Körper oder von einem Schauplatz zum nächsten im selben Moment teilweise an David Lynchs “Twin Peaks: The Return” erinnert (passenderweise wird die älteste Figur der Sekte von Carel “The Giant” Struycken gespielt). Auf der anderen Seite gefühlsbetonter Grusel, der Figuren aufgrund vergangener oder bevorstehender Familientragödien zusammenschweißt. Kaum ein Gegensatz steht mittlerweile so sehr als wohliges Markenzeichen von Flanagans Schaffen wie rational nicht greifbarer Horror und manifestierte Traumata, denen der Regisseur schützend umschlungene Hände gegenüberstellt.
                                            Über eine dunkle, nur durch Scheinwerferlicht beleuchtete Straße führen sämtliche Wege in “Doctor Sleep” schließlich noch einmal in das Herz dieser Traumata. Den dazugehörigen Herzschlag macht Flanagan schon zuvor den gesamten Film über durch pochende Bässe auf der Tonspur spürbar. Im entscheidenden Moment, wenn sich der Horror der Vergangenheit und der Schmerz der Gegenwart ein letztes Mal begegnen, ist von dem pochenden Herzschlag nichts mehr zu hören. Es ist die Gewissheit, dass endlich Ruhe einkehren wird.

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                                            • 7 .5
                                              über Joker

                                              “Joker” ist die bislang willkommenste Anomalie in diesem Kinojahr. Ein 55 Millionen Dollar teurer Film, der momentan schon über 500 Millionen Dollar eingespielt hat und die Gemüter spaltet wie keine andere große Studio-Produktion 2019. Irgendwo zwischen DC-Comicfilm, der er gar nicht wirklich sein will, der finsteren Charakterstudie einer gequälten Seele und dem Abbild einer herzlosen, abgestumpften Gesellschaft ist Todd Phillips’ berechnend provokantes Werk ein ganz eigenes Monstrum von Film geworden. Zum chaotischen Wesen des ikonischen Batman-Bösewichts könnte “Joker” deshalb kaum besser passen.
                                              Mittlerweile massenhaft entbrannten Diskussionen rund um das politische Gewicht sowie Gefahrenpotenzial des angeblich tendenziell gewaltverherrlichenden Films bietet “Joker” eine ebenso große Angriffsfläche wie für Streitgespräche über seine weniger ideologischen Qualitäten wie Ästhetik, Atmosphäre und Schauspiel. Wer sich auch schon vor der populären “Hangover”-Trilogie mit Phillips’ Schaffen auseinandergesetzt hat, wird feststellen, dass sich Figuren und Motive aus “Joker” als roter Faden durch die meisten Werke des Regisseurs ziehen.
                                              Schon Filme wie die frühe Dokumentation “Hated” über den Skandal-Punkrocker GG Allin, die destruktive Dunkelheit im Party-Exzess der “Hangover”-Clique oder die Überhöhung der im Waffenhandel tätigen, jungen Geschäftsmänner in “War Dogs” zum egoistischen, konsumbesessenen sowie kapitalistischen Albtraum sind deutliche Symptome, aus denen Phillips schließlich einen Film wie “Joker” geformt hat.
                                              Die grundlegende Mythologie aus den Batman-Comics klammert der Regisseur zusammen mit seinem Co-Autor Scott Silver weitestgehend aus. Bis auf einen Nebenplot, der den eiskalten Milliardär sowie Bürgermeisterkandidaten Thomas Wayne bedeutend in die Handlung einfügt, ist “Joker” die Geschichte des eingeschüchterten Berufclowns und scheiternden Hobby-Comedians Arthur Fleck. Phillips zeichnet den psychisch kranken Protagonisten, der noch zuhause bei seiner kranken Mutter wohnt, eine Vielzahl verschiedener Medikamente einnimmt, erfolglos Therapiestunden bei einer Psychologin absitzt und immer wieder in pathologisch zwanghafte Lachanfälle ausbricht, als von der Gesellschaft geächtetes Individuum. Auf eine sonderlich subtile Herangehensweise verzichtet der Regisseur von Anfang an, wenn er Arthur zeigt, wie dieser auf offener Straße von einer Gruppe Jugendlicher gedemütigt und schwer verprügelt wird. Von hier an beginnt die pechschwarze Abwärtsspirale dieses Films, den Phillips in Bilder und Klänge gegossen hat, die den Betrachter gefangen nehmen und sich auch nach der Sichtung kaum mehr abschütteln lassen.
                                              In den Aufnahmen von Kameramann Lawrence Sher erwacht ein schmutziges, beklemmendes Gotham City zum Leben, das viel stärker an das New York der frühen 80er Jahre erinnert. Der extreme Realismus wird dabei immer wieder von den schier irrealen Stücken von Komponistin Hildur Guðnadóttir durchbrochen, in denen schwermütige, melancholische Streicher vom Zerbrechen der Seele bis hin zum Untergang der Welt reichen.
                                              Im brodelnden Zentrum von “Joker” entfesselt Phillips Joaquin Phoenix in der Hauptrolle als verlorenen, gestörten Clown, der sich inmitten einer zu jeglicher Form von Empathie unfähigen Gesellschaft krümmt und windet, bis er sich seinem tragischen Inneren auch äußerlich mehr und mehr angleicht. Dabei kommt es immer wieder zu unglaublichen Impressionen, wenn Arthur in einer Szene des Films getrieben von der Kälte um ihn herum in einen Kühlschrank steigt und vollständig in diesem zu verschwinden scheint. In einer anderen Schlüsselszene zieht sich Arthur auf ein Bahnhofsklo zurück, nachdem er zum ersten Mal getötet hat. Voller Adrenalin und irritierter Euphorie gibt Phoenix seinen dürr und knochig runtergehungerten Körper in einer improvisierten Passage Guðnadóttirs Musik hin. Es folgt ein bizarrer Ausdruckstanz, in dem sich dieser endgültig dem diabolischen Anarchismus zugeneigte, unberechenbare Zwilling von Charlie Chaplin in sämtliche Richtungen der offen zitierten Genre-Vorbilder wie “Taxi Driver” und “The King of Comedy” reckt und streckt. Dabei wirkt Arthur Fleck oftmals wie ein hysterisch-nervöses Spiegelbild von Joe aus Lynne Ramsays letztjährigem Arthouse-Thrillerdrama “You Were Never Really Here”. Darin spielte Phoenix seinen Auftragskiller ebenfalls schon als todessehnsüchtigen Todesengel, der wie ein für sein Umfeld unsichtbares Phantom durch die letzten Reste seiner verblassenden Existenz wandelt.
                                              Durch die verzerrt-subjektive Perspektive der Hauptfigur als unzuverlässiger Erzähler verschwimmen auch in “Joker” die mehrfach angehäuften, klaren psychologischen Motive der Geschichte zur Psychose zwischen Wahn und Wirklichkeit. Im Bereich des Mainstream-Comicfilms wird Phillips’ Werk dadurch erst recht zur radikalen Vision zwischen eindringlichem Psychogramm und beängstigender Gesellschaftsanalyse.
                                              Am Ende, wenn die Welt buchstäblich in Flammen steht und ein breites Grinsen aus Blut geformt wird, ist “Joker” längst zum Zwiespalt geworden, zwischen der Faszination gegenüber dem befreienden Chaos, einem Plädoyer für Mitgefühl inmitten von ausgestorbener Zwischenmenschlichkeit und einem moralischen Dilemma, das der Film selbst mit vielen Fragen und wenigen Antworten einem verdutzten Publikum überlässt.

                                              “I was just thinking of a joke. - Do you want to tell it to me? - You wouldn’t get it.”

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                                              • 5 .5

                                                Das Faszinierendste an “El Camino: A Breaking Bad Movie” sind die Augen von Aaron Paul. In dem neuen Netflix-Film, der direkt an das Ende von “Breaking Bad” anknüpft und die Geschichte von Jesse Pinkman weitererzählt, dauert es keine fünf Minuten, bis die Zeitspanne zwischen dem Serienfinale 2013 und dem 2019 erschienenen Film-Sequel unbedeutend wirkt. Plötzlich ist all der Schmerz sofort wieder sichtbar im Gesicht des Menschen, der vom großen Heisenberg ausgenutzt, hintergangen und durch dessen Handeln körperlich sowie seelisch qualvoll malträtiert wurde.
                                                "Breaking Bad"-Schöpfer Vince Gilligan, der auch das Drehbuch zu “El Camino: A Breaking Bad Movie” geschrieben und den Film inszeniert hat, ließ das Ende dieser Figur über die Jahre nicht los. Mit einem ebenso verzweifelten wie befreiten Lachen endete Jesses Reise in “Breaking Bad” in einer rasenden Autofahrt ins Ungewisse. Das weitere Schicksal der Figur blieb jedem Zuschauer anschließend selbst zur Interpretation überlassen. Endgültig ruhen lassen konnte Gilligan den Charakter trotzdem nicht, weshalb er von seiner ursprünglichen Idee eines Kurzfilms schließlich von Netflix die Unterstützung bekam, noch einen “Breaking Bad”-Spielfilm über Jesse zu realisieren.
                                                Aufregend war dabei, wie unvermittelt die Ankündigung dieses Projekts erfolgte und wie “El Camino: A Breaking Bad Movie” nach strikter Geheimhaltung auf einmal bereits fertiggestellt war. In den Wochen vor der Veröffentlichung des Films stieg die Vorfreude bei Fans genauso wie die Anspannung darauf, was Gilligan nach der Spin-off-Serie “Better Call Saul” mit seiner erneuten Rückkehr in die Welt von “Breaking Bad” in den Tiefen von Jesses geschundener Seele zu Tage befördern würde. Die Antwort darauf fällt bedauerlicherweise umso ernüchternder aus.
                                                Ohne die dramaturgische Dichte der Serie, in der Handlungsstränge über einzelne Episoden und Staffeln hinweg gespannt wurden und durch inszenatorische Feinheiten vorangetrieben wurden, wirkt “El Camino: A Breaking Bad Movie” überwiegend wie ein flacher, gehetzter Epilog, der als Mischung aus Fanservice und Fanfiction simpelste Erwartungen bedient.
                                                Die fortgesetzte Geschichte von Jesse entpuppt sich als geradliniger Thriller-Plot, in dem die Jagd des Protagonisten nach dem nötigen Geld für eine sichere Zukunft durch regelmäßig eingestreute Rückblenden aufgebrochen wird. Wirkliche Tiefe verleihen die erneuten Einblicke in Jesses grausame Gefangenschaft unter dem psychopathischen Nazi-Anführer-Enkel Todd dem Film jedoch nicht. Vielmehr wirkt es so, als würde sich Gilligan mit fragwürdiger Nostalgie an die Mythologie des von ihm geschaffenen Serien-Meilensteins klammern, ohne den Sequel-Film dadurch jemals auf eigenständigen Beinen stehen lassen zu können.
                                                Notdürftig eingeschoben wirken dadurch auch die Szenen, in denen bekannte Figuren noch einmal kurz auftreten, um Jesses emotionale Katharsis voranzutreiben oder abzurunden. Auch wenn in “El Camino: A Breaking Bad Movie” dadurch einige der berührendsten Momente entstehen, hätte der alleinige Fokus auf Jesse in der Gegenwart ausgereicht, um dessen tief bewegenden Leidensweg glaubhaft zu schildern. All die sichtbaren und unsichtbaren Narben, die Jesse im Verlauf der Serie davontragen musste, sind ohnehin unvergesslich beim Zuschauer eingebrannt worden, ohne dass der Netflix-Film durch übermäßige Blicke zurück permanent auf sie verweisen müsste.
                                                Dem bisherigen Charakter des Protagonisten fügt “El Camino: A Breaking Bad Movie” dadurch jedenfalls keine nennenswerten neuen Facetten hinzu, während sich Gilligan für die eigentliche Handlung auf ungewohnt banale Genre-Impulse verlässt. Schon “Breaking Bad” war nie abgeneigt, diesen Zugriff auf pure Genre-Stilmittel mit dem großen Charakterdrama zu verbinden. Durch das ultrabreite CinemaScope-Format, das der Regisseur schon damals für die Serie verwenden wollte, wirkt “El Camino: A Breaking Bad Movie” nun umso mehr wie ein elegischer Neo-Western, den Gilligan in der Tradition großer Regie-Ikonen wie Sergio Leone angelegt hat. Jesses gleichzeitige Flucht und Jagd wird damit zur schizophrenen Angelegenheit. Den Pfad seiner Figur zu einer angestrebten Erlösung säumt Gilligan ebenso mit mindestens zwei exzellenten Spannungssequenzen wie mit einer irritierenden Stilisierung von Jesse zum einsamen und zu allem entschlossenen Revolverhelden. Auch wenn schon eine der großen Stärken von “Breaking Bad” darin bestand, dass Anspruch und Komplexität nicht zwingend mit verkopft und sperrig gleichzusetzen waren, ist “El Camino: A Breaking Bad Movie” im Vergleich zur Serie unterkomplexer denn je. Jesses verdiente Erlösung reduziert Gilligan neben seiner nach wie vor bemerkenswerten Handschrift und einem grandios aufspielenden Hauptdarsteller auf die simple Reise von A nach B mit erwartbarem Ausgang, angereichert mit nostalgischen Fanservice-Rückblenden, schlichten Actionthriller-Mechanismen, emotionalen Abkürzungen und erzählerischen Sackgassen. Eine überflüssige Enttäuschung, bei der einem ganz am Ende wieder nur der abschließende Blick in diese so faszinierenden Augen von Aaron Paul bleibt.

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                                                    Schon die ersten Einstellungen in "Ein leichtes Mädchen" sind ein verführerisches Wechselspiel aus knisternder Erotik und plötzlicher Enthüllung. Zuerst ist da lediglich ein Frauenkörper aus weiter Entfernung zu sehen, der in der Nähe des Ufers einer Bucht durchs Meer schwimmt. Nur eine Einstellung später ist die sinnliche Erscheinung zur konkreten Gestalt geworden. Komplett entblößt läuft die Frau in Nahaufnahme durchs Bild. Ein nackter, attraktiver Körper - komplett seiner Mysterien beraubt.
                                                    Ganz so einfach macht es sich Regisseurin Rebecca Zlotowski dann aber doch nicht. Hauptfigur ihres Films ist nicht die anfangs gezeigte Sofia, die sich ihr makelloses Aussehen durch zahlreiche kosmetische Verschönerungen und Operationen erschaffen hat. Im Zentrum der Geschichte von "Ein leichtes Mädchen" steht stattdessen die gleich zu Beginn 16 Jahre alt gewordene Naima. Die französische Teenagerin lebt mit ihrer hart arbeitenden Mutter in Cannes, wo Naima schließlich Besuch von ihrer in Paris lebenden Cousine Sofia bekommt. Das Verhältnis zwischen den beiden jungen Frauen hat die Regisseurin dabei schon durch die ebenso präzisen wie wunderschön komponierten Szenen zu Beginn des Films etabliert. Sofia ist die engelsgleiche Lichtgestalt, zu der Naima aufblickt, während sie selbst noch damit beschäftigt ist, eine eigene Identität zu finden.
                                                    Diese Suche nach einer Identität und den komplizierten Prozess, sich als junge, heranwachsende Frau auf der Reise zu sich selbst immer wieder zu verlieren, schildert Zlotowski in ihrem fantastisch geglückten Werk.
                                                    Die Geschichte des Films, die im Verlauf der kurzweiligen 92 Minuten auch ernüchternde und melancholische Züge annehmen wird, verschleiert die Regisseurin mit einer Inszenierung, wie sie zuletzt nur in Luca Guadagninos queerem Liebesfilm "Call Me by Your Name" derart kraftvoll strahlen durfte. Auch Zlotowski hat auf den ersten Blick einen typischen Sommerfilm gedreht, der das intensive Erleben bestimmter Wochen im prallen Sonnenschein mithilfe von sehnsüchtigen Blicken, vorsichtigen Bewegungen und rätselhaft-uneindeutigen Bemerkungen zum Ausdruck bringt.
                                                    Wenn die beiden durch Cannes spazieren, am Strand liegen oder abends durch die Clubs ziehen, hält die Regisseurin zwischen den Cousinen eine gewisse Anspannung aufrecht, in der die Perspektive von Naima auf Sofia bewusst zwischen neidischem Anhimmeln und sexuellem Begehren verschwimmt. Ein flüchtiger Höhepunkt ist eine Szene, die erneut an einen bestimmten Moment aus "Call Me by Your Name erinnert". In einem erotischen Traum von Naima blickt die Kamera auf Sofia im Bikini, die am Strand einen Seeigel über ihre nackte Haut reibt. Unweigerlich denkt man an Elio in Guadagninos Film, der einen Pfirsich über seine Haut reibt und schließlich mit diesem masturbiert.
                                                    Für "Ein leichtes Mädchen" wählt Zlotowski freizügige, neugierige Einstellungen, die in die Körper ihrer Darstellerinnen verliebt sind und die unter der Anweisung eines männlichen Filmemachers als "Male Gaze" scharf kritisiert worden wären. Die Regisseurin fügt ihrem Film jedoch nach und nach noch eine zweite Ebene hinzu, mit der die Fassade des unbeschwerten, leichtfüßigen Sommermärchens regelmäßig durchbrochen wird.
                                                    So lasziv und selbstbewusst Sofia den Männern auch die Köpfe verdreht, so klug beschäftigt sich Zlotowski zugleich mit dem starren, lüsternen Blick auf Frauen wie sie. Gespielt wird die Figur passenderweise von Zahia Dehar, die mit ihrer eigenen Vergangenheit als minderjähriges Callgirl sowie Verstrickung in einen Fußballer-Skandal die perfekte Meta-Projektionsfläche für ambivalente Empfindungen ist.
                                                    Daneben verliert die Regisseurin auch ihre Protagonistin Naima nie ganz aus den Augen. Die Jugendliche strebt eigentlich eine Karriere als Chefköchin an, wirkt jedoch immer verzweifelter und unsicherer, wenn sie sich sogar ein identisches Tattoo an derselben Körperstelle wie Sofia stechen lässt. "Ich wäre auch gern eine gefährliche Frau", sagt Naima in einer Szene des Films, während sie von ihrer Mutter an anderer Stelle gesagt bekommt, dass Sofias vermeintliche Freiheit einen teureren Preis als alles andere hätte.
                                                    Dieses Spannungsfeld zwischen Freiheit als Gefühl und Freiheit als Währung verhandelt Zlotowski durch die zentrale Geschichte von Naima und Sofias Bekanntschaft mit Andres und Philippe. Andres ist ein Multimillionär und Kunstsammler, der auf seiner Yacht mit seinem Mitarbeiter Philippe in Cannes angereist ist. Es dauert nicht lange, bis sein Blick auf Naima und Sofia fällt, die wenig später auf das Schiff eingeladen werden. Sofia lässt sich bereitwillig auf das Spiel mit Andres ein, während der reiche Geschäftsmann die junge Frau womöglich nur als weiteres Kunststück für seine Sammlung betrachtet. Als immer passivere Beobachterin entpuppt sich hierbei Naima, die zunehmend verwirrter in das Geflecht aus Lust, Verführung, Begehren und Ablehnung gezogen wird. Gerade dadurch wird "Ein leichtes Mädchen" auch zum eindrucksvollen Coming-of-Age-Film. Aus Naimas Sicht erzählt Zlotowski von den Wirren des Erwachsenwerdens als ausgelassener Tanz, bei dem auf jeden Schritt der Euphorie sofort das Stolpern in die Verlorenheit folgt.

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