vannorden - Kommentare

Alle Kommentare von vannorden

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    vannorden 04.06.2015, 15:16 Geändert 04.06.2015, 15:31

    Matratzen, Smog & gute Laune. Ein fast nur noch aus Grundmauern bestehendes überflutetes Hochhaus wird mit zwei kleinen Pumpen ohne Eile trocken gelegt. Und genauso gemächlich schmust sich Tsai Ming-liang an seine Darsteller heran. Ein sprachloser Obdachloser kommt zusammengeschlagen bei einem Inder unter, während eine Frau für einen Mann im Koma sorgt, während dessen Frau darunter ein Imbiss betreibt. Oder ist Letztere gar die Mutter? Alles bleibt im Nebel, denn Tsai interessiert sich nicht dafür Hintergründe aufzudecken. Stattdessen beobachtet I DON'T WANT TO SLEEP ALONE Menschen, die durch die Nacht und dreckige Straßen schlendern, die in heruntergekommenen Häusern wenig aufregende Dinge tun, die in einem babelschen Gewirr meist nur passiv antizipieren. Gescheiterte, antriebs- wie orientierungslose, betrügerische wie zu wenig berührte Existenzen bevölkern diesen vorsichtigen Film, der sich, wie gesagt, an diese ran tastet, als ob er sie nicht aufscheuchen und vertreiben will. Der im Verlauf zunehmend leicht unwirkliche Orte und Lebenssituationen ansammelt und so kaum merkbar gen traumhafter Atmosphäre abgleitet. Einem Traum, in dem Menschen langsam, ganz langsam gen Wärme und fragilem wie obskuren Glück treiben. Wo beim unbeholfenen Sex auch mal durch die Hose geatmet werden muss. Einen Traum, der die Sinne öffnet.

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      Ein Trip. Ein Trip in unaussprechlich schönen Bildern. Film, Photos, Collagen. Ein Trip in unaussprechliche Phantasien. Gewalt, Verachtung, Dinge, die nie jemand gefühlt, gedacht haben möchte, die aber immer da sind, da waren, da sein werden. Ein Trip an den Rand des Aushaltbaren. Meinesgleichen und ich. Ein Trip auf die dunkle Seite des Bewusstseins, wo der Wahnsinnige lauert, den niemand wahr haben möchte. Ein Trip, der nicht dabei verbleibt, diese unaussprechlichen Dinge angewidert und/oder ernst zu zeigen, sondern der sich ihrer annimmt. Der nicht sagt: “Dort! Seht hin!”, sondern der ihm nachfühlt und es nicht draußen und uns in Sicherheit lässt. Der es einlädt und sich ehrfürchtig windet. Ein unaussprechlich schöner, erschreckender Trip an den Rand des Aussprechbaren.

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        Etwas Kram und irgendwo unten dann auch was zum Film.

        Ende Januar 2012, als ich erstmals Gast bei einem außerordentlichen Kongress des Hofbauer-Kommandos, dem 5., war, hatte schon die erste Nacht gereicht, um mein Verständnis von Film, Kino und sowas aus den Angeln zu heben. Ich hatte auf eskalierende-traeume.de schon vorher von Filmen gelesen, von deren Existenz ich wohl ansonsten nie gehört hätte, aber vor allem hatte ich von Rezeptionsmöglichkeiten bzgl solcher Filme erfahren, die ich sehr wohl kannte. Eine Tür, nein ein Tor begann sich zu öffnen. Und dann saß ich mitten drin. Nachdem ich Zeuge wurde wie Hofbauer-Kommandant Christoph im Schweiße seines Angesichts einen Filmriss bei der Filmkopie von HEISSES PFLASTER KÖLN von ca. 1 Meter – quer durch – reparierte, kamen in der Nacht von Freitag auf Sonnabend in einer Tour: DIE NACKTEN AUGEN DER NACHT – TAIFUN DER ZÄRTLICHKEIT – DIE KÜKEN KOMMEN. Eine weltvergessene Elegie von einem Alptraum, ein Film in dem träumende Romantik und bittere Garstigkeit sich nicht ausschlossen und eine brutal alberne Komödie, die allem, was als Können und Anstand galt/gilt, den Finger zeigt. Jeder Film war anders, so dass das Staunen blieb. Und dazu mischte sich meine Müdigkeit, weil ich den Kongress fatalerweise in dem Moment nach meinem Studium kennenlernte als ich meinen Tagesrhythmus tatsächlich in den Tag legen musste, und die Filme meist erst im oder nach dem morgen grauen endeten. Eine Müdigkeit, welche die Erfahrungen und Eindrücke mit etwas Ungreifbaren, etwas Traumgleichen versetzen… was letztendlich sehr zu den Filmen und deren Rezeption passte. Vor allem die Rausschmeißerfilme in diesen Tagen der erste Kongresse, die schon am nächsten Vormittag, nicht mehr im Kino, sondern im Büro für Unglauben sorgten (DIE MÄDCHEN VON DER PEEPSHOW – DER SEX-AGENT – DAS GASTHAUS ZUM SCHARFEN BOCK), wie trüb sie möglichweise gewirkt hätten, wenn das Bewusstsein diesen noch etwas hätte entgegensetzen können. (Aber das ist ja das Schönste an den Kongressen, dass sich nicht gegen Filme gewehrt wird, sondern dass sich ihnen auf Gedeih und Verderb hingegeben wird … was manchmal auch nicht ganz so schön ausgehen kann, aber selten, eher selten.) Was mich dann aber wirklich an meinen Augen und meinem Verstand zweifeln ließ, was dann der eindrücklichste Film des Wochenendes war, dass merkte ich erst viel später, wohl Monate, wenn nicht Jahre nach dem Kongress. Es war TESTAMENT DER BEGIERDE von Joe D’Amato in der zweiten Nacht. Ein melodramatischer Thriller, der fast ohne Melodrama und Thrill auskam, der dahinschlenderte um öfters mal seltsam aussehende Brüste zu zeigen und irgendwie nichts machte, was aufregend war. Noch nie hatte ich solch prominent ausgestellte Füllszenen gesehen, fast schien sich alles nur um diese zu drehen. Im Büro hat mir irgendwann an diesem ersten Wochenende ein anderer Hofbauer-Kommandat von einer Doku erzählt, wo D’Amato erzähle, er könne jedes Gefühl im Zuschauer mittels seiner Kunst hervorrufen. Dann haben wir gelacht. Ich zumindest, weil diese großmäulige Aussage aus dem Mund eines solchen offensichtlichen Dilettanten einfach nur absurd war. Aber dann wollte nicht aus meinen Kopf verschwinden, wie die beiden Hauptdarsteller immer wieder um die Ecke kamen und die Straße herunterliefen. Wie sie wirklich die ganze Straße jedesmal entlang gingen, ohne das etwas passierte, ohne das sie reden würden, mit einem solchen Willen dies auszuhalten. Wie diese Einstellungen zueinander einen klar aufgebauten Rhythmus und nach einer kühnen symetrischen Logik entworfen waren. Dazu noch die Selbstironie, wenn die Hauptdarstellerin auf die Uhr guckt, weil wirklich gar nichts in einer anderen Szene geschehen will. Heute hätte es mich an Lav Diaz erinnert … in einer Pop-Art-Version. Damals war ich verwirrt. Es war schön, aber so billig. Zwei Szenen aus einem Tanzfilm, die mir als Vorgeschmack auf andere Filme von D'Amato gezeigt wurden (wie eine Frau in einen LKW steigt und die Kamera sie zwischen Lenkrad und Schenkel des Fahrers von unten aufnimmt, den Schaltknüppel vielsagend präsentierend und dann noch die erste, verträumte Tanzszene), führten dazu, dass ich fast anderthalb Jahre später das erste Mal DIRTY LOVE schaute. An einem unbedeutenden Morgen. Zum Film gab es kalte Pizza vom Vortag. Danach hatte ich über Tage hinweg gute Laune. Und langsam verstand ich. (Nachdem ich inzwischen auch ABSURD gesehen hatte und ebensolche Füllszenen sich auch in diesem Horrorschocker tummelten. Es schien also mehr als nur Überspielen von Unvermögen zu sein. Zu sehr war es Teil der Filme D’Amatos.) Lukas F. hat das ausufernde Radeln der Füllszenen von DIRTY LOVE dann konsequenterweise auch zur Utopie erklärt (http://somedirtylaundry.blogspot.de/2017/01/16-hofbauerkongress-auto-erotik.html). Die Lebenswelt dieses Films ist jedenfalls eine sehr heruntergekommene. Nicht weil die Straßenecken und Gebäude schon bessere Tage gesehen haben, sondern weil Terry Jones (Valentine Demy) in diesem Freiwild ist. In einem Fort wird sie begrapscht. Von (fast) allen Männern, von Frauen, aber auch vom Drehbuch und von der Kamera. Deshalb radelt sie, um nicht mehr auf Beifahrersitzen zu sein, wo sie selbst von schüchternen Jungs wie selbstverständlich angefasst wird. Deshalb verhöhnt sie dann auch den nackten Stripper, der im Bett keinen hoch bekommt. Das Band zwischen den Geschlechtern, wenn nicht gar zwischen den Menschen ist zerschnitten. Oft handeln D’Amatos erotischen Filme von einem Geschlechterkampf, wobei die Männer meist Opfer ihrer Libido zu sein scheinen und dafür mal Prostatakrebs bekommen, mal ein Sein als Witzfigur. Hier sind sie eben Grapscher, aber mit einer solchen Insistenz, dass das Leben (für Frauen) in einer solchen Welt ermüdend und deprimierend erscheinen muss. Aber trotzdem, D’Amato hat einen naiven Film geschaffen, einen Film voll Liebe und Wärme. Weil es ja noch den Tanz gibt, weil es Menschen gibt, die einem aus dem Nichts ein Fahrrad schenken. Und weil sich Terry selbst nahe an einer Depression zwischen Schmierbolzen, zweifelhaften Yuppies und einer Kamera, die sie lüstern beglotzt, wenn sie sich bei exzessiven Trainingseinheiten abreagieren möchte, dass sie zwischen all diesen existentiellen Abturnern ihr Leben doch irgendwie tanzend meistert. Das Ende dreht auch vielsagenderweise die Chronologie um. Erst kommt der Erfolg auf der Bühne und sie findet ein Engagement … und erst dann folgt die Szene, welche sie zum Vortanzen führte. Sie trifft einen der beiden Männer, der einfach nur mit ihr tanzte, einen der sie nicht belästigt und dieser erinnert sie daran: Tanzen ist ihre Erfüllung. Und so tanzt sie und die Einstellung friert ein. Nur Terry für sich mit einem Lächeln … auf der Straße tanzend. Bei sich. D’Amato schneidet stets um Valentine Demys Tanzkünste herum, weil sie wahrlich nicht die beste Tänzerin ist, aber dies ist was DIRTY LOVE ausmacht. Es ist eine Tänzerin zu sehen, die vll nicht die graziöseste ist, die aber mit ganzem Herzen dabei ist. Egal wie peinlich es für andere scheinen mag. Ihre Bewegungen haben so eine Verletzlichkeit und eine Würde, wie sie in der Perfektion schwerlich zu finden sind. Das Herz hüpft hier mit. Mit DIRTY LOVE und dem unvergleichlichen Œuvre des Joe D’Amato.

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          Ungehaltene Raserei. Akira drückt wie ein wilder auf den Tasten des Autoradios herum und sucht nach einem Sender, der Jazz spielt. Den richtigen Jazz. Nicht den weichgespülten Kram, der die Nerven beruhigt. Er will, er braucht Jazz, der wild durch die Lautsprecher krächztest. Das Schlagzeug muss voran gehen und die Bläser müssen ihn packen. Bebop und Hardbop haben sich vll nie mehr nach Delirium und Ektase angehört. Er braucht es um nicht zu platzen, um ein Ventil zu haben, denn Japan, die beginnenden 60er Jahre kotzen ihn an, langweilen ihn, umgreifen ihn wie ein Gefängnis. Er platzt vor Energie. Ein Drang zu leben, zu erfahren ist in ihm, der ihn zu einem Wahnsinnigen macht, zu einem Besessenen. Er muss handeln, er muss seine Triebe befriedigen. Rasend schnell sind auch die Ereignisse, er landet im Knast, wird entlassen, klaut sofort ein Auto, überfahrt denjenigen, der ihn verpfiffen hat, misshandelt dessen Freundin … Es gibt keine stillen, ruhigen Momente. Das klassische japanische Kino wird von diesem Vulkan hinweg gefetzt. Statt sich Gedanken zu machen, ob Schnitt oder Kamerafahrt, der bessere Weg ist um die menschliche Wahrnehmung darzustellen, lässt Kurahara die Kamera immer in Bewegung durch die die Szenerie fliegen … am besten wird zwischen zwei Einstellungen die Kamera über den Raum dazwischen gerissen und die entstehenden verschmierten Zwischenräume sind es die Akira und das Erlebnis THE WARPED ONES ausmachen, es gibt keine Ruhe, keinen Zeit Atem zu holen. Es ist immer der Jazz der Bilder, der einen mit den Finger schnippen lässt, der einen aufspringen und schreien lassen will, der einen vor der Leinwand voll Energie pumpt, der einen das Entsetzen spüren lässt, der einen zum Verbündeten dieses rasenden, tollwütigen Hundes macht, der das eigene Entsetzen um dessen irrationale Taten nur schweißtreibender macht ... und vor allem der mir das Gefühl von Herzrasen und eines nahenden Herzschlages gab. Und dann ist da immer die Sonne, die plötzlich bei den Kamera Bewegungen immer wieder einem im Gesicht landet. Die einen blendet, wie nie eine Sonne im Film einen geblendet hat. Durch Baumalleen blitzt sie im schnellen Rhythmus, durch Hände, die sie nicht aufhalten können, strahlt sie, die Kamera geht immer wieder gen Himmel, weil unserer Kopf ekstatisch in den Rücken fällt und dort wartet sie. Klarsicht ist in ihrer Hitze, in ihrem alles zersetzenden, augenauffressenden Weiß nicht möglich. THE WARPED ONES ist ein schweißtreibendes Fieber, ein unmöglicher Film, ein bestialischer Film, ein einmaliges Ereignis, der eben aber auch seine wunderschönen Momente hat, wo einem das Herz aufgeht ... wie wenn Akira mit seinem amerikanischen Freund aus einer Jazzbar händchenhaltend ins Meer rennt ...

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            Sigi Rothemund, was habe ich dich unterschätzt. Welch ein Juwel aus deiner Hand, das scheitern musste, weil es zu schön für diese Welt ist. Zu albern und locker für den großen (ausgedörrten) Kunstbetrieb. Zu düster und sensibel für die Schenkelklopfer des Landes. Unvermittelt lässt du einen sympathischen jungen Mann sterben. So willkürlich, wie nicht zurücknehmbar. Es ist der vll tragischste Tod, den ich je auf einer Leinwand erlebte, weil er nicht wie aus einer Erzählung kommt, sondern wie aus dem Leben. Dein Umgang mit der Lust der Frauen, so frei von Schrecken. Dein Umgang mit dem Schrecken der Männer vor der Lust der Frauen, so frei von Scham. Dein Umgang mit der Ratlosigkeit beim Aufblühenden der ungeheuren Gefühle, so weise. Dein Peter Berling, der nackt am See mit nackten Frauen auf dem Klavier eine Oper über Lesben komponiert, so ohne Ernst und Seriosität. Deine Bilder, dein Rhythmus so ohne große Geste, aber dafür mit einem Gespür für die Menschen, die du darstellst. Ich entschuldige mich für alle ungebührlichen Dinge, die ich über dich sagte und dachte. Du bist ein unnachahmlicher Poet.

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              Sigi Rothemund, was habe ich dich unterschätzt. Welch ein Juwel aus deiner Hand, das scheitern musste, weil es zu schön für diese Welt ist. Zu albern und locker für den großen (ausgedörrten) Kunstbetrieb. Zu düster und sensibel für die Schenkelklopfer des Landes. Unvermittelt lässt du einen sympathischen jungen Mann sterben. So willkürlich, wie nicht zurücknehmbar. Es ist der vll tragischste Tod, den ich je auf einer Leinwand erlebte, weil er nicht wie aus einer Erzählung kommt, sondern wie aus dem Leben. Dein Umgang mit der Lust der Frauen, so frei von Schrecken. Dein Umgang mit dem Schrecken der Männer vor der Lust der Frauen, so frei von Scham. Dein Umgang mit der Ratlosigkeit beim Aufblühenden der ungeheuren Gefühle, so weise. Dein Peter Berling, der nackt am See mit nackten Frauen auf dem Klavier eine Oper über Lesben komponiert, so ohne Ernst und Seriosität. Deine Bilder, dein Rhythmus so ohne große Geste, aber dafür mit einem Gespür für die Menschen, die du darstellst. Ich entschuldige mich für alle ungebührlichen Dinge, die ich über dich sagte und dachte. Du bist ein unnachahmlicher Poet.

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                vannorden 22.05.2013, 09:01 Geändert 05.03.2015, 13:15

                Siechen, überall siechen. Mahlers kitschige Musik schwebt über Venedig und Gustav von Aschenbach (Dirk Bogarde) verfällt langsam. Krampfhaft klammert er sich an das Schöne und Gute, ohne einsehen zu wollen, dass es das Leben aus ihm saugt. Ganz Ästhet will er die Widrigkeiten des Lebens in zu bestaunenden Abstraktionen aufheben, auf das alles wunderbar und ohne Fehler ist. Doch so kann er nicht leben, so kann niemand leben. Er verzehrt sich nach einem Jüngling, aber will es nicht wahrhaben. Und just als er einknickt und sich seinen Obsessionen verschämt annähern möchte, bricht die Cholera in Venedig aus. Vll. Zumindest in seinem Kopf und das Siechen greift vollends um sich. Die Menschen sehen immer ekliger aus. Visconti ist da ganz anders. Er lässt sich völlig gehen. Unterhaltsames, kurzweiliges Erzählen hat er nicht mehr nötig, er ertränkt alles in seinem emotionalen Bombast und verstrahlt-künstlichem Kitsch. MORTE A VENEZIA schleicht dahin, siecht dahin … und es ist wunderbar. Ein Rausch der Lust. Nicht der gedankenverlorene Rausch, wenn zwei Liebende übereinander herfallen und rasend ihre Bedürfnisse befriedigen. Nein, nein. Visconti lässt sich Zeit und reizt alle seine Möglichkeiten aus, um den Höhepunkt anzuhalten, er schaltet immer wieder zurück um billige Befriedigung zu umgehen. MORTE A VENEZIA ist für mich pure Ekstase. (Visconti is squeezing my lemon ’til the juice runs down my legs) … und Gustav von Aschenbach vielleicht einer der Filmcharaktere, der mir am nächsten steht. Obwohl es vll so scheint, wird er nicht von Visconti als öder Trauerklos vorgeführt, der auf sein Glück verzichtet. Er entwickelt in seiner Kläglichkeit doch eine Würde, die sich voll krampfhaft verzehrendem Ringen mit sich Selbst und den eigenen Wünschen noch die kleinsten sehnsuchtsvollen Blicke abwringen muss. Denn im Grunde liebt von Aschenbach das Leben zu sehr, als das er sich näherheran trauen würde.

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                  Entmenschlichter und aufreibender wurde Krieg vielleicht nie dargestellt. Das Würgen der Cholera-Infizierten, die Schreie des unfassbaren Schmerzes, die Verrohung des Menschen, das magische Schwarz des Blutes (wie lächerlich würde rot an dieser Stelle wirken). Und trotzdem ist Red Angel wunderschön. Masumura erhebt nie den Finger. Er zeigt das persönliche Leiden Nishi Sakuras in einem enigmatischen Kunstwerk, das alle Grenzen des gezeigten hinter sich lässt. Es geht nicht darum zu zeigen, das Krieg fürchterlich ist. Es wird nach Erklärungen gesucht, wie Menschen unter solchen Bedingungen existieren können, wie sie weiterhin Glück empfinden können, wie sie vor der sie umgebenden Hölle bestehen können.

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                    Bei ROBINSON JUNIOR gibt es eine Szene, wo Il Signor Robinson ins Kino geht. Jedenfalls hat er sich am Strand aus Steinen und Palmensträngen eins im Sand markiert und schaut durch ein Gebälk, zwischen dem normalerweise eine Leinwand gespannt wäre, auf das Meer. Er fragt dann seinen imaginären Sitznachbarn, was denn heute gezeigt wird. "Das Meer?! Das Meer. Schon wieder das Meer.", sagt er dann resignierend vor sich hin. Sicherlich ist diese Szene sehr traurig, aber die ganze Liebe, mit der er das Kino gebaut hat,die ganze Liebe, die ihn dazu führte aufs Meer zu schauen, fand ich aber beneidenswert und wunderschön. Wenn ich die Wahl hätte würde ich natürlich etwas lieber tagein, tagaus auf das blauste aller Meere schauen. Irgendwann würde ich auch resigniert sagen: "Das Meer. Schon wieder das Meer.", aber bis dahin träume ich davon, ihn jeden Tag zu sehen. Dabei habe ich ihn nur einmal gesehen. In Bologna. Seit dem schwirrt der Film in mir herum. Ich sehe das Lachen, dieses tiefe existenzielle Lachen, der Menschen dort. Ich höre ihr zauberhaften, traurigen Lieder, die von der Schönheit der Welt künden. Ich fühle die schwankende Realität, in der sie leben, die wie ein Traum ist. Aber nicht surreal, ganz sanft neben der Wirklichkeit in einer Logik der Gefühle. Ich liebe diesen Film, wie keinen anderen. Vll weil er so lebendig ist, wie kein anderer. Ich habe etwas Angst ihn nochmal zu sehen. Die DVD steht seit knapp einem Jahr bei mir rum und ich habe Furcht, dass er nicht an die wunderbaren Erinnerungen heranreicht, dass er nur ein toller Film ist, dass ich ihm kein Kino bauen würde und mit ihm reden, wie mit einem Menschen. Ich werde ihn bald gucken und es heraus finden. So lange träume ich aber mit ihm noch etwas weiter durch meine Tage und denke an das Meer.

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                      Bismarck kommt während des ganzen Films gerade Zweimal vor. Trotzdem ist er mit seiner Realpolitik der große Gegenspieler von Ludwigs Romantik. Denn während Ludwig mit seiner Ernennung zum König das Wahre, Gute und Schöne in die Welt bringen und ohne Lug, Trug und Hässlichkeit regieren möchte, stimmt Bismarck seine Taten ab, orientiert sich an der Realität und macht mit kalter Hand, was nötig ist. Der Idealist und die Wirklichkeit, so könnte LUDWIG II auch heißen, denn jeder, wirklich jeder seiner Minister, Vertrauten und Geliebten wird dem bayrischen König im Laufe seines hier fiktionalisierten Lebens einen Ratschlag ganz nach Bismarcks Geschmack geben … und sich damit für die Zuneigung des Träumers disqualifizieren. An fast denselben Wendepunkten seines Lebens wird Ludwig wie bei Visconti den Weg vom Schwärmer zum Einzelgänger mit verdunkeltem Gemüt gehen, der den Kampf gegen die Wirklichkeit verlieren wird. Sie gleichen sich schon sehr, diese beiden Verfilmungen eines seltsamen Lebens. Nur schreit Viscontis Biographie spätestens mit der zweiten Folge nach Selbstmord, da der König zu schwach für die übermächtige Realität ist. Etwas von Bismarck steckt in diesem mitgeschleppten Selbsthass, der dem Träumer seine Schwäche tragisch vorhält. (Visconti hat in seiner Filmographie eine eigene Art von Bismarck, nämlich den LEOPARD, einem Mann der nicht mehr Träumen kann und sich deshalb, anders als Bismarck, aber nicht mehr die Hände an der Wirklichkeit dreckig machen möchte. Von einer solchen Position scheint auch LUDWIG her erzählt zu sein.) Bei LUDWIG II – GLANZ UND ENDE EINES KÖNIGS ist es aber die Wirklichkeit, die Schuld an aller Tragik hat. Sie ist klein und hässlich, verkommen und falsch, sie ist im Unrecht. Ludwigs Reich ist nicht von dieser Welt. Rückprojektionen, Schlösser, Wagners tragische, leidenschaftlich romantische, todessehnsüchtige Musik, all dies spricht von einem Reich der Jugend. Wenn noch keine Ernüchterung, keine Desillusion eingetreten ist … es herrschen allumfassend diese (kurzen) Momente als Bismarck noch nicht in unseren Herzen (mit-)regierte. LUDWIG II wie Ludwig II wehren die Sachlichkeit ab und kämpfen mit heißem Herzen gegen alles Gewöhnliche. Käutners Film schreit deshalb nicht nach Selbstmord, sondern nach einem Mörder. Jemanden der die Macht der Realität in die Hand nimmt und den Kini aus ihr beseitig … denn beugen will er sich nicht gegen eine solche Niedertracht. Die Niederlage, die Ludwig dann aber doch im See erleben muss, sie kommt, und das ist der letzte Schliff an diesem wage- wie übermütigen Film, von da, wo er sie am wenigsten erwartet.

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                      • 10

                        Es ist vll kein Wunder, dass Parallelen zwischen TOTORO und Geschichten von Kindesentführung und -missbrauch gezogen werden. Denn anders als bei PANS LABYRINTH, wo alles möglichst ausformuliert wird und sich dadurch eher selbst erstickt, da schwelt es hier nur … unter diesen reichhaltigen Momenten in diesem warmen, simplen Zeichenstil. Kinder verschwinden im Wald und finden in der Düsternis der eigenen Gefühle und ihrer bedrohlichen Umgebung haarige Monster von wunderbarer Arglosigkeit. Alles Schlimme verwandelt sich hier in einen niedlichen Regenbogen … ohne dass schlussendlich geklärt wird, woran der Zuschauer wirklich ist. Düsternis und Frohsinn stehen dadurch so eng nebeneinander, dass kein Blatt Papier dazwischen passt.

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                        • 10
                          vannorden 08.04.2013, 12:53 Geändert 21.12.2016, 13:21

                          "If my films are messy, it is probably due to the fact that I don’t like to perfect a cinema. The audience must not admire the technical aspects of my filmmaking, like they would a computer or the law of physics." (Imamura Shôhei)
                          Vor allem ist PROFOUND DESIRES OF THE GODS anzumerken, dass sich Imamura bei diesem Film, in dem ein Ingenieur auf einer sehr südlichen Insel von Okinawa auf ein ursprüngliches Japan trifft, sein Paradies findet, dort versandet und sein altes Leben links liegen lässt, dass Imamura sich also auf dieser Insel verlor und seinen Drehplan über ein Jahr überzog. Detailliert, durchgedreht und wunderschön zeichnet er ein Paradies auf die Leinwand, dass immer seine Schattenseiten und Düsternisse hat, und dass genauso naiv sich selbst verliert, wie der Ingenieur, der denkt er könnte seine Umwelt ändern.

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                          • 9 .5

                            Nach Jahren sehen sich Mutter und Sohn wieder und grinsen ein erstarrtes Grinsen, dass mehr aus ihrem Verantwortungsbewusstsein wächst, als aus Freude. Hönigkuchenpferde der Verzweiflung. Und der poetische Häckselschnitt lässt dieses Grinsen durch alle die schräg angeordneten Bilder von Sehnsucht und Beklemmung wehen.

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                            • 9 .5

                              Besessenheit soweit das Auge reicht. Der Regisseur, der Hauptdarsteller, die Hauptfigur, die Affen, alle werden von ihrem unstillbaren Durst nach Bedeutung angetrieben. Die manische Qualität des Films ist beängstigend, breitet sie sich doch epidemisch aus… aus den Augen Kinskis, aus den Bildern und aus dem Soundtrack von Popol Vuh flirrt sie und lockt den Zuschauer in ihr irrationales Reich.

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                              • 9 .5

                                Im Grunde ist es kein deutscher Film. Auch kein dänischer. Was Dreyer gedreht hat, ist aus Zeit und Raum gefallen. Es wirkt alt, älter als jeder Stummfilm, aus grauer Vorzeit scheint es zu kommen. Jegliche Regeln des guten Filmmachens über den Haufen rennend, wird die Welt aus den Angeln gehoben. Die Nacht ist taghell und trotzdem nicht die schlechteste amerikanische Nacht der Filmgeschichte. Schatten wandern eigenständig und Bilder laufen rückwärts, doch es sind nicht nur optische Spielereien. Die Realität ist weit entfernt. Im Gegensatz zu Lang, Hitchcock oder Clair experimentiert Dreyer auch nicht mit den neuen Möglichkeiten des Tons, sondern scheint ihn verstecken zu wollen. War La passion de Jean d’Arc ein stummer Schrei aus dem Mittelalter, ist Vampyr ein erstickter Gesang aus einer Zwischenwelt.

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                                • 9 .5

                                  Wenn Gene Kelly oder Fred Astaire die Hauptrolle in einem Film spielen, dann geht es um Menschen wie Götter. Übermenschen die tanzendes Schritts jedes Problem aus lockerster Hüfte verschwinden lassen. In HEISSER SOMMER wird sich, der ideologischen Linie seines Produktionslandes folgend, nicht solchen Sehnsüchten von individueller Perfektion hingegeben. In der idyllischen Hüpfeburg eines realsozialistischen Utopia von Kameradschaft und bodenständigem Glamour ohne Glamour suchen zwei Gruppen, 11 Mädchen und 10 Jungs, schöne Sommerferien und privates Glück. Dabei singen sie zwar göttliche Melodien des Glücks, Euphoriebomben des Überschwangs, aber sie tanzen und handeln dazu wie Millionen andere Zuschauer von Gene Kelly und Fred Astaire. Sprich, sie sind Menschen, die gerne wie die Stars und Sternchen in den Filmen wären, aber aussehen wie aus der Nacht der tanzenden Besenstiele entsprungen. Sie sind peinlich und gerade deshalb liebenswert. Weil sie wie wir sind. Außer Tritt mit unseren Träumen, aber voll Gefühl und Liebe zu ihnen. Im Glauben an sie lebend und liebend. Und am Ende bekommt der FDJ-Paragraphenreiter als Einziger keine Frau ab, obwohl noch Hauptpreis Chris Doerk winkt. Göttlich.

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                                  • 9 .5
                                    vannorden 03.11.2016, 14:17 Geändert 03.11.2016, 14:26

                                    Das habe ich vor fast genau 3 Jahren geschrieben, da gab es den Film hier aber noch nicht in der Datenbank. BARBARA ist es aber mehr als wert kommentiert zu werden, deshalb hier aus der Mottenkiste:
                                    Ein Arzt tritt eine Stellung auf den Faröer-Inseln an. Ob er einen guten Grund für einen solchen Schritt hatte, weiß ich nicht mehr, aber dieser muss sein, wie vieles in diesem Film einfach so sein muss. Es muss einfach hingenommen werden. Dass er eine Beziehung mit der wilden, so wird ihm von der ersten Szene an berichtet, Barbara eingeht, sie gar heiratet und das alles schief geht. So muss es einfach sein. Mit offenen Augen taumeln hier alle in ihre ganz eigenen Abgründe, mit jeder Faser des Köpers kämpfen sie dagegen an … nur um dann doch nur wieder die Prophezeihungen zu erfüllen, die von außen und ihnen selbst auf sie niederprallen. Vll ist das auch der Grund für das alles, dass die Anderen einem sagen, wie wir sind und wir deshalb voll Wut dagegen ankämpfen. Dass wir ahnen, dass wir doch so sind und dann der Angst nachgeben und in die bekannten Muster flüchten. Dieses unsichere Hin und Her aus wollen, zaghaftem verweilen und fluchtartigem davonrennen macht die Handlungen jedenfalls aus. Arzt Paul will diese Beziehung nicht und rennt doch hinein. Barbara will das geordnette Glück, weil niemand es ihr zutraut, und rennt dann doch in fremde Arme … hier am deutlichsten weniger aus der Antrübung des Käfigs der Ehe als vielmehr durch die Angst an diesem Glück zu scheitern. Ihr Liebhaber/ihre Jugendliebe will, was er nicht haben kann, und als er es hat, flattert er wie ein Blatt im Wind … bereit zum Fallen. Und fallen tun hier alle … sie fallen auf sich zurück … oder eher auf das, was sie nicht (sein) wollen. Am Ende hat es mir förmlich das Herz zerdrückt … deshalb muss dies auch alles auf den Faröer spielen. Diese wenigen Landmassen in mitten eines weniger unerbittlichen als undurchsichtigen Meeres. Ich glaube es wird kaum geweint … wurde kaum geweint? … weil die Beteiligten schon von genug Tränen umgeben sind. Etwas schauen sie aus ihren unergründlichen Gefühlen heraus, aber letztlich verschwinden sie darin. Aber die, die nicht einmal dies gewagt haben, die sind eigentlich in BARBARA am schlimmsten dran.

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                                      vannorden 01.06.2017, 11:36 Geändert 01.06.2017, 14:48

                                      Ein Film von Wind und Wetter. Kurz nachdem der Taifun Durian mehrere hundert Leben forderte und das Land zu Füßen des Vulkans Mayon verwüstete, begann Diaz mit den Dreharbeiten vor Ort. Der Wind pfeift beständig durch die ramponierten Palmen, um deren Wurzeln sich Trümmer, Schutt und Dreck sammeln. Der Regen plätschert auf der Tonspur heftig, selbst wenn die Tropfen in den Pfützen eher auf ein Nieseln schließen lassen – so ist auch wieder das Krähen eines Hahns in DEATH IN THE LAND OF ENCANTOS zu hören, nur an einem noch ungewöhnlicheren Ort als in FLORENTINA HUBALDO, nämlich im Wartezimmer einer Heilanstalt in Manila, also an einem Ort, der im Gegensatz zu großen Teilen des Films nicht von Weite bestimmt ist, sondern von Enge und Höhe, also von schwarzen Hochhausschluchten. Die am Himmel ziehenden Wolken umlagern den Vulkan oder umschmeicheln die unter ihnen Sitzenden, Redenden, die sich Treibenlassenden oder mit sich Ringenden. Immer näher wagt sich der Film mit der Zeit, es sind wieder einmal Stunden, an die Brandung des Meeres. Am Anfang nur eine Ahnung zwischen den tropischen Bäumen und den Resten von Häusern, bewegen sich irgendwann die Figuren an ihr. Die Sonne scheint mal auf den Matsch hernieder und taucht alles in leuchtendes Weiß, aber meist herrscht schattiges Grau und Zwielicht. Und während es eben um einen rauscht, pfeift, weht, plätschert und schimmert, versuchen drei Freunde darin zu leben, mit Verlusten und Erinnerungen klar zu kommen und irgendwie ein richtiges Existieren in diesem vom Wetter angegangen Sein zu finden. Das hat, bei aller Bitterkeit, etwas Entspanntes. Denn trotz der Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten, trotz der Toten und Enttäuschungen lassen sich die drei treiben. Es sind die Künstlerin Catalina (Angeli Bayani), die aus den Steinen des Vulkans Skulpturen schlägt, der Poet Teodoro (Perry Dizon), der seine Kunst – was hier stets heißt, sich dem Gegebenen entgegen zu stellen, ihm etwas abzuringen … bei aller damit einhergehenden Eitelkeit – gegen eine Familie eingetauscht hat, und sein Rivale und Freund seit der Jugend Benjamin Agusan (Roeder), der nach dem Taifun aus seinem russischem Exil wiederkehrte. Irgendwann in der 6. der 9 Stunden des Films ändert sich aber dieses Verhältnis zwischen Mensch und Natur/Existenz. Benjamin sitzt in einem Café, er ist kaum mehr als eine Silhouette, während hinter ihm durch etwas entfernte Fenster der Verkehr in der Sonne zu sehen ist … wieder mit einer diesen unwirklich, leicht aufdringlichen Tonspuren, die förmlich nach Aufmerksamkeit buhlen und die durchaus ihr Witziges haben. Und dann kommt ein Mystery Man (Soliman Cruz), eine Phantasie oder ein brutaler Scherge der Geheimpolizei. Politik und eine Unsicherheit um die wahrgenommene Realität fließen mit ihm in den Film, auch wenn er nach dieser Szene/Einstellung – sie wird dauern – bis zum Endpunkt wieder aus dem Film verschwinden wird. Die Strukturen der Natur bekommen die Strukturen der menschlichen Gesellschaft, vor allem in Ausprägung einer (pervertierten) herrschenden Klasse, an die Seite gestellt. Die Labyrinthe des Daseins, hier meist offene Flächen ohne Wegweiser, durch sie lässt Lav Diaz seine Figuren tasten. Mitunter gleicht es mit den Affären, Offenbarungen und minimalen Skandalen einer kriechenden Soap Opera, manchmal ist es eher eine Meditation um wartende Menschen. Und so streift DEATH IN THE LAND durch eine greifbare Umgebung, eine Gesellschaft, die eine Auseinandersetzung förmlich fordert und die auf einen wie die Wolken oder der Regen unbestimmt, aber deutlich niederdrückt, durch Erinnerungen und Phantasien, durch physische wie psychische Zerstörung und einfach ein paar Momente oberflächlicher Gelassenheit.

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                                        Regisseur Claude Berri, der 1967 mit Der alte Mann und das Kind (Le vieil homme et l’enfant) einen der klassischen Wohlfühl-unterschiedliche-Freunde-Filme drehte, lässt sich hier niemanden wohlfühlen. Selten einmal herrscht Tag in einem zersprengten Moloch, in der jeder auf sich gestellt um sein Überleben, um seine geistige Gesundheit kämpft. Coluche/Lambert hat anscheinend ganz Paris an der Seele gepackt. Die Kälte am Rande dieser Pariser Nacht lässt die Menschen verwildern, denn nur das allumfassende Fegefeuer ermöglicht ihnen zu leben. Tchao Pantin ist aber nicht rasend wie seine Figuren. Ruhig beobachtet er, gibt allen ihren Raum und lässt Paris flirren. Mit zurückhaltender Betörung zieht er den Zuschauer in seinen Bann und reißt sie mitten in den Morast.
                                        http://www.the-gaffer.de/blog/2012/08/02/pariser-vorholle-am-rande-der-nacht-f-1983/

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                                          Kobayashis Anitsamurai-Samuraifilm. Einer dieser ehrenvollen Kämpfer, der nichts mehr vom Leben erwartet, der mit dem Bushidō abgeschlossen hat, sitzt in dem Hof eines Daimyōs. Der Hof gleicht einem Steingarten. In der Mitte eine Matte und rund herum Kiesel, die akurat gefegt wurden. Überall herrscht Ordnung und aufgeräumte Schönheit. Doch würde sich jemand die Mühe machen etwas Unordnung in die Steine zu bringen, etwas zu graben, würde er auf Blut treffen, auf abgeschnittene Zöpfe, auf verlorene Träume. Kobayashi macht sich diese Mühe und schaufelt mit knackigem Schwarz-weiß, Ballet-artigen Kämpfen, Zooms, Geraden und Schrägen meditativ im Herz seines Landes. Manchmal platzt es eruptiv aus ihm raus und der Gore überzieht die Leere, die hinter dem System auftritt. Wie so viele japanische Filme kämpft hier das Individuum gegen ein übermächtiges System von Ordnung und Schönheit und muss zwangsläufig scheitern. Doch im Kampf und Scheitern findet es seine Würde, die sogar Hoffnung ausstrahlt.

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                                              Beschwingt und ungehalten torkelt THE MASSEURS AND A WOMAN durch ein tristes Kurgebiet. Triste Leute machen Urlaub und wollen die Seele baumeln lassen, doch die blinden Masseure kneten ihnen die Krampfe in die Beine, lassen keine Möglichkeit aus, Wettrennen zu starten, und kämpfen jeden Kampf, der die Anderen sie nicht bemitleiden lässt. Dazu kommen Diebe und eben die Frau, die mysteriös wie verführerisch allen die Augen verdreht. Doch der Plot ist egal. Es sind diese sympathischen kleinen Momente, die schwerelos und ungeschliffen wie bei einem kleinen Spaziergang durch die Berge an einem vorbeiziehen. Und trotzdem sie so unscheinbar sind, doch den Atem raubend charmant daherkommen. Großen Verdienst daran hat vor allem Kameramann Saito Masao, der mit schnörkellosen Bildern, die wenig auf den Putz hauen, eine tänzerische und aufputschende Atmosphäre schafft.

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                                              • Hahaha, die notorisch abgelutschten Videos der ThULB. L'avventura hab ich das erstemal darüber gesehen (so für mich zum Spaß) & fand ihn abgrundtief schlecht. Später, als ich den Film ohne Nebel und mit lesbaren UT gesehen habe, wurde mir klar, dass es nicht am Film lag (: Deswegen war wohl Règle du jeu in guter Qualität bei mir auch sofort ein spritziges Vergnügen ...

                                                Wenn ich das nächste mal an meine (traumatischen) Zwischenprüfungserinnerungen denken muss, guck ich mir mal Gosford Park an (:

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                                                  Fußnote zu Possession (in Anlehnung an Allen Ginsberg)
                                                  Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch! Manisch!
                                                  Possession ist manisch! Die Bilder sind manisch! Der Ton ist manisch! Das Drehbuch ist manisch! Das Schauspiel und die Kamerafahrten und der Oktopus und das überlaufende Klo manisch!
                                                  Alles ist Manie! Jeder in Manie! Überall ist Manie! Jede Minute ist ein ganzer Film! Jede Figur ist total bekloppt!
                                                  Der Nebendarsteller so manisch wie Sam Neill! Der neurotische Heinz Bennent ist manisch wie meine Seele mit Manie infiziert wird!
                                                  Die Regie ist manisch die Atmosphäre ist manisch die Schreie sind manisch die Zuschauer sind manisch die Ektase ist manisch!
                                                  Manische Isabelle Adjani manische Margit Carstensen manische Johanna Hofer manischer Carl Duering manischer Bruno Nuytten manischer Ronaldo Abreu manischer Andrzej Żuławski manischer Frederic Tuten manisch die unbekannten, niedergeschmetterten und gebannten Zuschauer manisch die verzückenden menschlichen Qualen!
                                                  Manisch der Film im Kino! Manisch die DVD in meinem Regal!
                                                  Manisch der stöhnende Synthesizer! Manisch die Hysterie-Apokalypse! Manisch die verkommene, abgewrackte Leere der Wohnung des Grauens und das Blut und das Feuer!
                                                  Manisch die schmierigen Straßen auf denen nie jemand alleine ist! Manisch die Wohnung mit Millionen Schrecken! Manisch die Unterführung mit dem mysteriösem Matsch aus dem Körper!
                                                  Manisch der abgeschiedene Moloch! Manisch die enormen Liebkosungen des Monsters! Manisch die verrückte Dopplung der Figuren! Die religiöse Trennung der Identität!
                                                  Manisch Deutschland manisch Berlin manisch die Mauer manisch die Paranoia und das Eingeschlossensein manisch die Grenzsoldaten manisch der Stacheldraht manisch der Kalte Krieg manisch die Achtziger!
                                                  Manisch der Film der einen Wimpernschlag dauert manisch der Wimpernschlag der einen Film lang dauert manisch die Ewigkeit der Lächerlichkeit manisch die Erbärmlichkeit der Menschen manisch die Einsamkeit der Seele manisch die Menschen unter sich!
                                                  Manisch die Scheidung manisch das Verlassenwerden manisch die Labilität manisch die sexuelle Unzulänglichkeit manisch die Phantasie manisch die Phantasie manisch die Phantasie manisch die Leere manisch der Abgrund!
                                                  Manisch die Unversöhnlichkeit! Die Unterdrückung! Der Hass! Die Missgunst! Manisch! Ihre! Körper! Leiden! Hass!
                                                  Manisch die menschliche sehr ehrliche empfindsame Verfilmung von Seelen am Abgrund!

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                                                    "Sie Kind! Ein Mann, der sich bei ihnen vergisst, würde sie zerbrechen wie ein Streichholz."
                                                    Anschnallen nutzt nichts. Sidney Lumets/Tennesse Williams’ hysterische Achterbahnfahrt schleudert einen zwangsläufig gegen eine Wand. Wahnsinn in den selbstgerechten Bürgern, die, zerfressen von Unsicherheit, mit brutalem Irrsinn den verkrampften, kleinkarierten Status Quo ihrer Gegend aufrecht erhalten, sowie in den vereinzelt auftretenden Einzelgängern, Sonderlingen und schlangenbehäutenden Vögeln, die das Pech haben, mit etwas Würde, Kreativität, Fein- und Mitgefühl ausgestattet worden zu sein und deshalb zwangsläufig an ihrem Umfeld zerbrechen müssen bzw. von ihm zermürbt werden. Fieber in ihren Augen, Worten und Taten.
                                                    "[...] ich hab das alles satt gehabt. Mich hat das angeekelt. Mir war direkt übel und … mir war zumute als wenn mein ganzes Leben mir wie ein verfaulter Fisch im Magen lag [...]“

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