Cannes 2014 - Tour de Force der modernen Filmkunst

26.05.2014 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
J.K. Simmons in Whiplash
Blumhouse Productions
J.K. Simmons in Whiplash
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Das war also Cannes 2014. Zwei Wochen der physischen und mentalen Tortur – und doch habe ich diese verrückte Zeit wahnsinnig genossen.

Bevor jemand fragt und es hier zu peinlichem Schweigen oder tumultartigen Szenen kommt, werde ich gleich zu Beginn dieses Textes mein Versagen eingestehen. Mit einem blauen Presse-Badge lässt sich auf dem Filmfestival in Cannes durchaus arbeiten, sofern die Bereitschaft existiert, sich frühzeitig bei Wind und Wetter anzustellen. Trotzdem habe ich es nicht geschafft, zwei Filme zu sehen, auf die ich mich wie offensichtlich jeder andere auch ganz besonders gefreut hatte: Maps to the Stars von David Cronenberg und das Regiedebüt von Ryan Gosling namens Lost River. Mea Culpa, Asche auf mein Haupt, und damit werde ich dieses Kapitel voller Schmach abhaken und mich angenehmeren Themen zuwenden. Den Filmen nämlich, die ich tatsächlich gesehen habe.

In der ersten Woche des Festivals hatte sich das diesjährige Line-Up als äußerst durchwachsen herausgestellt. Auf einen beschämend schwachen Start mit dem Eröffnungsfilm Grace of Monaco folgte mit dem Thriller The Captive – Spurlos verschwunden von Atom Egoyan ein weiterer fehlgeleiteter Totalausfall und die Journalisten vor Ort überschlugen sich geradezu mit ihren nuklearen Wortspielen. Aber es gab auch diese wunderbaren Überraschungen, die daran erinnerten, was das Kino zu etwas so Besonderem macht: das Biopic Mr. Turner – Meister des Lichts war darunter, der Un Certain Regard-Opener Party Girl, der Spätwestern The Homesman oder das italienische Werk Land der Wunder von Alice Rohrwacher.

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Wenn eine zweite Festivalwoche beginnt, ist jedoch der Blues nicht weit. Der Schlafmangel nagt am Nervenkostüm, vereinzelte schlechte Filme frustrieren genauso wie der permanent hoffnungslos von Fotografen überschwemmte Presseraum und wenn sich dann auch noch eine Schreibblockade ankündigt, erscheint das heimische Bett um ein Vielfaches einladender. Es ist also umso wichtiger, dass gegen Ende des Festivals das Niveau nicht absackt. Cannes 2014 hat das glücklicherweise geschafft. Dem Wettbewerbsfilm Still the Water hätte ich beinahe den Gewinn der Goldenen Palme zugetraut, denn seine poetischen Bilder ließen vermuten, dass er genau dem Geschmack der Jury-Vorsitzenden Jane Campion entsprechen könnte. Die Brüder Luc Dardenne und Jean-Pierre Dardenne lieferten in Zwei Tage, eine Nacht die authentischste Darstellung von Depressionen, die ich in meinem ganzen Cineastenleben gesehen habe. Leviathan von Andrey Zvyagintsev war eine bitterbös witzige und wunderschön fotografierte Parabel auf Korruption in Russland und in Die Wolken von Sils Maria wuchsen Juliette Binoche sowohl als auch Kristen Stewart und Chloë Grace Moretz derart über sich hinaus, dass ich ihnen allesamt den Darstellerinnenpreis gegönnt hätte.

Mein persönliches Wettbewerbshighlight aber – und mit dieser Ansicht stehe ich erfreulicherweise nicht allein – war Mommy, der nunmehr fünfte Spielfilm des kanadischen Nachwuchsregisseurs Xavier Dolan. Nicht nur, dass die unkonventionellen formalen Experimente des Filmemachers eine erfrischende und leidenschaftliche Abwechslung für das in Cannes oft vertretene Altmännerkino waren, auch die Schauspieler liefen zu Höchstformen auf. Hauptdarsteller Antoine-Olivier Pilon erinnerte in Sachen Optik und Charme zum Beispiel an einen arg abgedrehten Matthias Schweighöfer und verkörperte dabei perfekt die Ambivalenz seiner Figur. Aber apropos Altmännerkino. Am Ende musste sich Xavier Dolan seinen Jurypreis mit Jean-Luc Godard teilen, der in seinem Essayfilm Adieu au langage zwar die 3D-Technik neu erfand, mit seiner Absage an jegliche nachvollziehbare Narration jedoch die Kritiker spaltete wie kein anderer. Er müsse wohl sein Publikum mittlerweile hassen und ihm deswegen einen so anstrengenden Film zumuten, lautete die Diagnose vieler Berichterstatter.

Wäre Godard selbst eine Filmfigur, fügte er sich wohl gut in die These ein, die ich nach der ersten Woche in Cannes formuliert habe: Der Feminismus ist in diesem Festivaljahrgang insofern angekommen, als dass viele der Werke vom Scheitern eines Mannes erzählen und ihm starke Frauen gegenüberstellen. Diese Tendenz bestätigte sich auch in der zweiten Hälfte immer wieder. Und noch eine Beobachtung drängte sich mir bald auf: Cannes 2014 war das Jahr der großartigen Filmmusik. Melancholische Country-Klänge in The Homesman und bombastische Orchestermusik in Leviathan zogen mich direkt in die Welt der Filme hinein. Xavier Dolan verwendet für Mommy mainstreamige Popsongs und versetzt sie in einen bedeutungsvollen Kontext, der zusätzlich auch noch nostalgische Erinnerungen an die 90er Jahre wachrief. Und nicht zuletzt wusste Olivier Assayas in Die Wolken von Sils Maria barocke Musik wie den Pachelbel-Kanon intelligent und wirkungsvoll einzusetzen. Gäbe es aber einen Preis für die beste Einbindung von Musik in die Handlung eines Films, dann müsste ihn definitiv ein Werk gewinnen, das sich zwar in der Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs versteckte, aber nichtsdestotrotz zu den besten Streifen zählte, die es an der Croisette in diesem Jahr zu sehen gab. In Whiplash steht der ewige Nebendarsteller J.K. Simmons endlich da, wo er hingehört: im Mittelpunkt. Als sadistischer Musiklehrer flucht und wütet er im diesjährigen Sundance-Gewinner so überzeugend, dass es im Anschluss an das Screening direkt minutenlange Standing Ovations gab. Es bleibt in diesem und in vielen weiteren Fällen nur auf baldige deutsche Kinostarts zu hoffen.

Und auf noch etwas kann ich nur hoffen: dass ich nicht vollständig vergessen habe, wie eigentlich deutscher Alltag funktioniert. Gerade in unserer kanadisch-polnisch-deutschen Wohngemeinschaft eingelebt und im Festival-Rhythmus angekommen, war diese fantastische Zeit auch schon wieder vorbei. Gegen die Sehnsucht nach der Côte d’Azur hilft mit Sicherheit, das Festival von Cannes noch einmal in Ruhe Revue passieren zu lassen. Mein Tumblr oder die Liste mit meinen Sichtungen können dabei sicher gute Dienste leisten. Ich für meinen Teil weiß nun jedenfalls sicher, dass ich nicht zu den Kritikern gehöre, die selbstverständlich ihre Akkreditierung abgreifen und sich dann hinterher darüber beschweren, was sich diese Festival-Programmierer wieder gewagt haben, ihnen Minderwertiges vorzusetzen. Cannes ist wie die meisten Festivals tatsächlich eine körperliche und mentale Tortur, aber auch eine Tour de Force der zeitgenössischen Filmkunst, die unzählige Überraschungen bereithält. Hey, ich stand ungelogen anderthalb Meter von Quentin Tarantino entfernt, allein dafür hat sich die Reise doch schon gelohnt. Das machen wir im nächsten Jahr wieder, okay?

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