Resolutist - Kommentare

Alle Kommentare von Resolutist

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    Resolutist 21.04.2020, 05:20 Geändert 21.04.2020, 12:31

    Sobald ein hohe Wellen schlagender Film arm und reich gegenüberstellt, kommen sämtliche Pseudointellektuelle dieser Welt aus ihren Löchern gekrochen und geben ihre plumpen, niedriggesinnten Thesen preis, auf die sie durch kulturelle Faktoren ihrer spezifischen Daseinsform konditioniert wurden: um "Kapitalismuskritik", "Klassenkampf" oder Rekapitulationen der Thesen bekannter Theoretiker soll es gehen. Das obligatorische Urteil, nachdem man ein Erzeugnis damit in Verbindung bringt: "Meisterwerk!" Ja, die kollektive Akklamation im Sinne einer Zuschreibung von Wichtigkeit und Bedeutsamkeit, sowohl von Kritikern als auch dem regulären Publikum, erklärt sich, wie eigentlich meistens, durch die Transparenz bestimmter "politisch relevanter" Schemata in der Darstellung. Das von der Politik vulgarisierte Bewusstsein identifiziert sie und ruht sich, als wäre die Assoziation mit konkreten, verdinglichten Gegenständen das Tiefsinnigste überhaupt, mit einem Dünkel der Distinktion auf ihnen aus. Die Vorstellung, dass ein künstlerisches Erzeugnis erst von erheblicher Qualität ist, wenn sein Ausdrucksniveau in der Lage ist Gegenstände zu adressieren, welche nicht auch genauso gut im Bundestag abgehandelt werden können, ist den meisten dieser Individuen hingegen fremd. Was für ein Glück also, dass das Erzeugnis stets klüger ist als seine Rezipienten.

    Joon-Ho Bong's neuester Film ist eben kein Ersatz für eine bestimmte Lektüre oder Reden im Bundestag von Sahra Wagenknecht, wie es uns die Verbildeten dieser Welt weis machen wollen. Die Begründbarkeit des Films liegt weder in einer am Leitfaden bekannter Thesen konzipierten differenzierte Darstellung von unterschiedlichen Klassenidentitäten noch in der Herausstellung des antagonistischen Verhältnis zwischen ihnen. Wir dürfen eben nicht im Stil von Wolfgang M. Schmitt abweichen vom Darstellungskosmos und auf Basis von externen Quellen auf Inhalte schließen, wie bspw. die Klassifikation der reichen Familienmitglieder als Parasiten, obwohl uns diese de-facto in keinster Weise als solche suggeriert werden. Für so ein Urteil müssten wir schon Gelerntes, wie das Abhängigkeitsverhältnis von Kapital und Arbeit, auf den Film projizieren und sodann garantiert verhindern ihm gerecht zu werden.

    Wenn er aber untauglich ist für eine Kapitalismuskritik in der üblichen banalen Manier, wozu dann dieser schablonenhafte Entwurf von klassenbedingten Umständen und das Aufeinandertreffen der in ihnen verfangenen Identitäten? Die Antwort darauf kann uns nur das Ausdrucksgepräge des Films selbst liefern: Nun, welcher Umstand konstituiert sich als zentrales schematisches Merkmal? Etwa nicht die ausgeprägte Differenz zwischen den Privilegierten und Unterprivilegierten im Hinblick auf ihre Wesensart, ihre Persönlichkeit, ihre allgemeine Einstellung zum Leben? Erstere verkörpern den Anstand, die Gutgläubigkeit und Vornehmheit, Zweitere das genaue Gegenteil: die Durchtriebenheit, Skrupellosigkeit und Vulgarität. Keine Spur von Anstand oder Grazie finden wir bei den Parasiten - und als solche, man täusche sich darüber nicht, werden uns explizit und mit plakativer Symbolik (nicht negativ zu verstehen) ausschließlich die Armen geschildert. Gerade die stilistische Handhabung dieses Gegensatzes, die Abwesenheit einer Reflexion, einer Rechtfertigung der charakterlichen Eigenheiten und die in diesem Zusammenhang munter-fidele und selbstverständliche Akzentuierung des Tuns, die subtile Verwertung für die Komik, ist essentieller Bestandteil für die Vermittlung des Wesentlichen und kennzeichnet die artistische Qualität des Films. Auch wenn es der auf eine bestimmte Weltanschauung programmierte Bildungsbürger nicht wahrhaben will, werden uns hier eben keine Fassaden geschildert, hinter welcher sich in Wahrheit ganz andere Charaktere verbergen.

    Die Rechtfertigung und Rationalisierung für die Unsittlichkeit der Armen bleibt also genauso aus wie eine Unterhöhlung der Sittlichkeit der Reichen. Der Zweck dieser Abwesenheiten, dieser freilich-munteren, stets ins humorige abdriftenden Schilderung der Charaktereigenschaften, ist die Vermittlung deren Überflüssigkeit (die der Rechtfertigung, Rationalisierung) fußend auf die bereits bestehende Einbettung des ganzen Komplex aus Charakteristika in das stilistisch betonte Entscheidende, in die spezifischen ökonomischen Bedingungen des jeweiligen Daseins. Bong-Joon-Ho hat mit Parasite einen Film konzipiert, in dem sämtliche individuelle Lebensäußerungen durch ökonomische Bedingungen determiniert sind. Das Ökonomische als die entscheidende Größe der kontemporären menschlichen Existenz: der Anstand findet sich nur dort, wo man ihn sich auch leisten kann. Die Unsittlichkeit und die Absenz des Anstands bei den Armen, die zynische Einstellung zum Leben sind nicht weniger Folge ihrer Lebensbedingungen als ihr unangenehmer Körpergeruch. Das ist der Zusammenhang den Bong-Joon Ho kompromisslos vermittels jeder Pore seiner Szenarien herausstellt. Das Gemetzel gegen Ende ist nicht irgendein obskur-beliebiger Versuch einen Klassenkampf nachzustellen, sondern eine Konzentration von bedingten Lebensäußerungen: sowohl der Wahnsinn als auch das Ressentiment als ebenso Folgen ökonomisch bedingter Lebensumstände. Der arme Vater, hin und her gerissen zwischen notwendiger Fürsorge und Gehorsam, ermordet seinen Chef nicht aus Berechnung, sondern aus Affekt, als Konsequenz eines angestauten Grolls, den der Film gemächlich anhand des Unbehagens wegen der Wirkung seines Körpergeruchs berührt. Das blutige Kernszenario im Garten ist ein Mikrokosmos der notwendig normierten Alltagsbarbarei unter einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation: Ein Banküberfall gestern, ein Suizid heute, eine Körperverletzung morgen, etcetera.

    Symptomatisch für den Film ist vor dem Hintergrund des ökonomischen Primats auch sein Schlusspunkt, der nicht, wie es im Nachklang einer illustrierten Katharsis üblich ist, eine besinnliche Rationalisierung unternimmt, sondern seine bis hierhin dargelegte Wertlogik verdoppelt: kundgetan wird das Träumen und Streben nach Wohlstand, um sich und Angehörige aus dem Ungemach zu befreien. Das Ökonomische bleibt der Dreh- und Angelpunkt. Ein fatalistischer Film.

    Noch ein paar Worte zu Wolfgang M. Schmitt:

    Leider weder Marx noch Bourdieu verstanden.

    Die Charaktermaske bei Marx setzt man nicht auf und wieder ab, ist keine Metapher für eine Rolle in die man situativ schlüpft, wenn es gerade zweckdienlich ist, sondern versteht sich als konstitutive Größe für eine Existenzform überhaupt in einer kapitalistischen Gesellschaftsformation. Er negiert mit dem Begriff das Verständnis des Charakters eines Menschen als abgekoppelt von gesellschaftlichen Prozessen. Es handelt sich insofern um eine Maske, als dass die charakteristischen Eigenschaften von bspw. Arbeiter und Kapitalist nicht durch die Natur des Subjekts begründbar sind. Zwecks Funktionstüchtigkeit des Systems wird er stattdessen auf eine Rolle konditioniert, die zu seiner Identität wird. Die Maske setzt er sich nicht selbst auf, sondern wird ihm von den systembedingten Verhältnissen aufgesetzt. Anders formuliert: er mimt nicht das, was er nicht ist; er wird das, was er nicht ist.

    Bedauerlicherweise ist das Instrumentalisieren von Bourdieu noch deutlich hirnrissiger: Wenn sich sein Schaffen durch eine Sache kennzeichnet, dann durch das Skandalisieren der ständigen Reproduktion der Ungleichheit auf Basis intransparenter Mechanismen, die sich durch das Abfärben der habituellen Eigenheiten der sozialen Umgebung auf die Subjekte empirisch erfassen lassen. In seiner Studie geht es eben gerade darum, dass für Emporkömmlinge von Unterschichten es so gut wie unmöglich ist ohne institutionelle Entgegenwirkung sich das notwendige soziale und kulturelle Kapital anzueignen und dementsprechend einen Habitus auszuprägen, der in privilegierten Zirkeln jenseits ihres sozialen Felds gebilligt wird. Wenn man schon Bourdieu heranzieht, müsste man folglich schließen, dass Parasite in kompletter Opposition zu seinen Erkenntnissen steht. Denn die Aneignung des Habitus, der notwendig ist um aufzusteigen, vollzieht sich im Film problemlos.

    Nun, leider spielen diese "Details" für Schmitt überhaupt keine Rolle, da es, wer errät es?, mal wieder um das projizieren des eigenen Weltverständnis geht und nebenbei noch der intellektuelle Dünkel, insbesondere bei seinem Publikum, kultiviert werden kann. Warum also nicht, nur weil im Film Hochstapelei betrieben wird, man dort also naturgemäß in fremde Rollen schlüpft und sich einen bestimmtes fremdes Verhalten aneignet, behaupten es handle sich um die Habituslehre von Bourdieu? Ähnlich wie bei "Mrs. Doubtfire", dort wird auch, selbstredend neben der Gendertheorie von Judith Butler, die Habituslehre exerziert, nicht wahr?

    In Wahrheit verhält es sich natürlich völlig anders: Parasite thematisiert eben gerade nicht den Habitus, gerade nicht die performativen Äußerungen, seien sie auch noch so verinnerlicht, sondern die innerpsychische Struktur der Subjekte. Nein, die Szene in der die beiden Kids vom Zimmer auf den Garten hinabblicken und der Junge den Wunsch artikuliert ähnlich entspannt zu sein wie die privilegierte Menge unten, adressiert nicht den Habitus, das Performative, sondern das authentische Lebensgefühl, die psychisch-seelische Konstitution dieser Individuen. Hier geht es einmal mehr um die ökonomische Bedingtheit: über Seelenruhe und Gelassenheit verfügen die, die es sich leisten können, die sich nicht zwangsläufig in Problemlagen wiederfinden. Der Film fragt sich nicht, entgegen der Behauptung von Schmitt, wie man sich entspannt und gelassen in einer elitären Gesellschaft bewegen kann, sondern stellt fest, dass die Gelassenheit und das Entspanntsein die Folge des elitären Status, des Wohlstands selbst sind.

    Seine These der Habituslehre ergibt im Kontext der Szene nicht bloß keinen Sinn, weil das "Entspanntsein" und die "Lockerheit" keine Kategorien eines elitären Habitus sind, sondern wirkt gar völlig hanebüchen, da, wie bereits erwähnt, dessen Aneignung ohnehin problemlos vonstattengeht. Selbst dieser Umstand, also die Problemlosigkeit der Hochstapelei, die Abgebrühtheit und das Gefinkeltsein, subsumiert sich, nebenbei bemerkt, unter das ökonomische Primat: Die Gaunerei beherrschen diejenigen, die sie nötig haben. Deshalb erfahren wir die privilegierte Familie auch als eine Oase des Anstands und der Gutgläubigkeit. Dabei handelt es sich eben um keine Maske, keine Fassade. Der Film unterhöhlt diese Charakteristika nicht, sondern hält sie in freilich-ungezwungener Manier fest - und daraus zieht er auch seinen Humor.

    Darüber hinaus erfährt die Aneignung des Habitus überhaupt keine signifikante stilistische Gewichtung. Klar, die Hochstapelei ist Teil des Plots, doch das filmische Augenmerk liegt stets auf die genuine Persönlichkeitsstruktur der Akteure. Ein Bemühen die Eigenheiten des elitären Sozialcharakters nachzuvollziehen, ist so gut wie abstinent. Der Film kümmert sich kaum darum: es wird beiläufig und spielerisch bewältigt. Man vergleiche es mit bspw. der Gewichtung der Szene, wo der Vater artikuliert, wie sinnlos es ist irgendwas im Leben zu planen; oder die subtilen Momente des Grolls, wenn er merkt, dass sein Körpergeruch eine latente Abneigung hervorruft.

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      Resolutist 04.11.2019, 17:14 Geändert 04.11.2019, 17:26

      "I go to bed in Havana thinking about you pissing a few moments ago. I looked down at my penis with affection, knowing it has been inside you, twice today, makes me feel beautiful."

      Es ist typisch für Korine, dass er es vollbringt mit diesem Gedicht Gefühlswelten zu berühren. Der Komplex aus hedonistischen Motiven und anarchischen Sentiments wirkt wie ein Kostüm, das grenzenlose Wärme spendet, sobald man sich damit dekoriert und seine Sinne vom indifferenten Stoff vereinnahmen lässt. Demonstrativ kreiert er eine visuelle Poesie jenseits von Ideologie und Moral, die uns in ein Reich befördert, in der das Glück gebieterisch über alle prekären Landschaften der Seele ihr gigantisches Geborgenheit spendendes Zelt aufschlägt, innerhalb welches wir abgeschottet sind vor domestizierenden Einflüssen und wir belieben nach Maßgabe des Selbst zu existieren. Was für eine befreiende Luft wir in dieser Umgebung doch atmen! Wie herrlich dieses Flanieren, diese Abwesenheit von Richtsprüchen, dieser Luxus, dieser Sex, dieser Drogenkonsum, dieses viele nackte attraktive Fleisch, diese Untreue, diese Falschmünzerei, diese Zurückweisung der Obrigkeit, diese geschmacklosen Witze, dieses willkürlichen Rollstuhlfahrern eins mit einer Flasche über die Rübe ziehen und alles was sonst noch zum süßen, schönen Leben dazugehört, wie herrlich doch all dies auf unser Gemüt wirkt!

      Gemeinsam mit dem von Matthew McConaughey verkörperten Moondog zirkulieren wir liebestrunken durch die abstrusen Kategorien und Institutionen des zivilisatorischen Gefüges ohne auch nur einmal ihre immanenten bornierten Maßregeln mit einem ernsten Gestus würdigen zu müssen. Ein unwillkürliche Erheiterung zeichnet sich gemächlich in unseren Gesichtszügen ab, währenddessen wir den Geschehnissen beiwohnen, deren zerstreuungsaffinen und possenhaften Augenblicke aus dem tiefen Brunnen des Verlangens geschöpft wurden, dort wo neben der Unbekümmertheit auch der persönliche Friede darauf wartet an die Oberfläche bugsiert und auf den Boden des Daseins ausgeschüttet zu werden. Sodann bezeugen wir das emporwachsen eines anmutigen Blütenstrauchs, wie die spirituale Montage, die an der Promenade beginnt und im Unfall endet, in der sich die Synthese aus weltanschaulicher Freiheit und Herzenswärme am potentesten entäußert und ihren heilsamen Duft versprüht, der wie Balsam auf unsere durch ruppige Lebensumstände verwundete Seelenleben wirkt. Gab es einen schöneren Moment in der diesjährigen Kinosaison?

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      • Durch einen antirassistischen Wirrkopf (DeBlasio) 41 Millionen für ein paar Jungs, die damals mit Vorsatz Leute zu drangsalieren und gegebenenfalls zu verprügeln, auszurauben sich am Schauplatz des Central Parks aufhielten. Und genau das taten sie auch unbestritten. Eines ihrer multiplen Opfer war ein Radfahrer, dessen Schädel mit einem Rohr eingeschlagen wurde. Betreffend der mutmaßlichen Vergewaltigung gab es unzählige Zeugenaussagen von Unbeteiligten, die Geständnisse von den Jungs selbst, Indizien- und Sachbeweise, die mit diesen Geständnissen übereinstimmen und schlicht die Schuld der Kids in ein wahrscheinliches Licht rückten. Die für das Urteil verantwortliche Jury bestand überproportional aus Minderheiten. Der Jurysprecher war demgemäß auch schwarz; der Richter ebenso. Der führende Detektiv, der zwei der Fünf am Tag der Tat verhaftete und wie alle am Fall beteiligten bis heute überzeugt ist von der Schuld der Fünf, war schwarz. Betrachtet man die Beweislage objektiv, ist das auch nach wie vor eine zumindest verständliche Haltung. Es gibt keinerlei Beweise, dass die Geständnisse "erzwungen" wurden. Die Eltern waren anwesend (die Geständnisse vollzogen sich in ihrem Einverständnis), die Rechte wurden ihnen klar und deutlich vorgelesen. Keine konkreten Anzeichen, dass irgendeiner der damals Verdächtigen sich an ein Skript orientierte. Man musste ihnen nichts aus der Nase ziehen, wie man sagt. Im Gegenteil: jede einzelne Aussage haftet der Geruch der Authentizität an. Die Vernehmer stellen eben nicht, wie es typisch ist bei Fällen wo Unschuldigen eine Tat untergejubelt wird, ständig Fragen, die von den Verdächtigen nur mit Ja oder Nein beantwortet werden. Kein Wunder, dass die Partei der Angeklagten versuchte sowohl vor als auch nach der Verhandlung die Verhörvideos unter Verschluss bzw. von der Öffentlichkeit fern zu halten.

        Man könnte weiter auf unzählige Umstände verweisen, die die Schuld der Jungs indizieren: Die Kratzwunde im Gesicht von Richardson ist bis heute nicht erklärt: als man ihn vor Ort befragte, gab er eine Ursache an, die sich schnell als Lüge entpuppte. Seine Unterhose war übersät von Gras- und Spermaflecken. Die Verletzungen am Opfer konnten gemäß Experten nicht bloß von einem Täter stammen: unzählige Wunden und Kratzer mit unterschiedlichen Charakter am ganzen Körper, unterschiedlich große Handabdrücke, die auf die Tatnacht zurückgehen. Das Opfer selbst, das sich nicht an die Tat erinnern kann, ist angesichts ihrer Verletzungen und allgemeinen Zustand auch heute noch davon überzeugt, dass unmöglich bloß ein Mann sie vergewaltigte. Was DNA anbelangt: Es wurde grundsätzlich kein verwertbares DNA-Profil auf dem Opfer gefunden, da das Opfer eben noch lebte und es erste Priorität war sie vom Tod zu bewahren. Sie lag zunächst mal bereits über Stunden im Dreck und der Tatort (ihr Körper) wurde später natürlich vom Rettungspersonal konterminiert. Ihr Körper wurde erst viel später im Krankenhaus nach Spuren untersucht. Der einzige Grund warum Reyes' DNA, der verurteilte Mörder, der später gestand, konklusiv war und überhaupt entdeckt wurde: sein Ejakulat war in einem Socken isoliert. Darüber hinaus stimmte die Geringfügigkeit der Spermaspuren, unabhängig von der Verunreinigung des Tatorts, überein mit den Geständnissen der Jungs, aus deren Gesamtheit eben hervorgeht, dass keiner von ihnen zum Orgasmus kam. Es wurden partielle Sperma- und Blutspuren gefunden, die aber aufgrund besagter Verunreinigung nicht konklusiv waren, ergo kein Ergebnis einbrachten (Salaam gestand unter Repräsentation eines Anwalts, den seine Mutter erwählt und bezahlt hatte, dass es seine Spuren sind und er auf die Frau mit dem selben Rohr einschlug, mit den er zuvor den Radfahrer schwer verletzte). Wie erwähnt: die Beweislage am Tatort inkriminierte, so zumindest dem Anschein nach, mehrere Täter. Die DNA-Übereinstimmung mit Reyes änderte daran nichts. Das Sperma im Socken, das von keinem der Jungs stammte, deutete gemäß der Perspektive der Beamten von Beginn an auf einen noch nicht identifizierten Hauptverdächtigen hin. Die Jungs wurden von Beginn an nie als Haupttäter angeklagt, sondern als konzertierende Akteure, als Mitbeteiligte an einer Straftat, deren zentraler ausübende Kraft nicht gefasst wurde.

        Sind die Fünf nun also schuldig? Keine Ahnung. Sicherlich ist es keine Seltenheit, dass Beamte aufgrund äußeren Drucks schnell einen Tunnelblick einnehmen und durch deduktives Verfahren, also nur im Suchen nach und in Betracht ziehen von spezifischen Beweisen, von deren sich die Schuld der bereits Verdächtigen, ergo ihre Theorie ableiten lässt, fehlerhaft urteilen. Ob es in diesem Fall so war, weiß ich nicht. Klar ist allerdings, dass es sich bei der Handhabung des Falls um keine Besonderheit handelte, wie es von der Serie und unzähligen Medienanstalten dargestellt wird. Ein Indiz dafür ist ja bereits das Faktum, dass sich die fünf Kids wie auch viele andere Schwarze und Latinos mit der Absicht zu "Wildern" an den Schauplatz begaben und dann eben auch unzählige Personen angriffen und verletzten, teils schwer. Wenn am gleichen Schauplatz dann auch eine Frau vergewaltigt wird, so liegt die Annahme, dass die Tat von Schwarzen und Latinos begangen wurden, eben nicht gerade fern. Kurzum: der Rassismus, aufgrund welchen diese Jungs verurteilt worden sein sollen, ist unbelegt. Es gibt nicht nicht mal ein solides Indiz, das zu dieser Annahme führt.

        Diesen Umstand ungeachtet, verurteile ich allerdings den bekannten ideologischen Wahn von Ava Duvernay nicht. Sie kann ihren Film so konzipieren, wie sie will und hat auch keine Verpflichtung Realität abzubilden. Sie wurde auch kürzlich mal gefragt, inwiefern die Gefahr besteht, dass man den objektiven Blick verliert und am Leitfaden persönlicher Gefühligkeiten konzipiert und inszeniert. Ihre Antwort: "die Serie ist ein subjektives Erzeugnis - nichts daran ist objektiv." Soll natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich überzeugt bin von einer vulgären Vermittlungsform, die schließlich den Großteil von Propagandawerken kennzeichnet. Ansehen werde ich mir die Serie aber trotzdem, da es sich ja anscheinend doch um eine der besten Komödien des Jahres handelt. Meine Belustigung wird aber wohl kaum mein Entsetzen über das Bildungsniveau der Masse überschatten können, dass sich flächendeckend in den Reaktionen auf schauerliche Weise bemerkbar macht. Nicht weil aus ihnen die Annahme hervorgeht, dass die Fünf die Frau nicht vergewaltigt haben, sondern aufgrund der totalen Abwesenheit eines Instinkts zur Skepsis, der ja in Bildungsinstituten eigentlich verabreicht werden sollte, um das Bewusstsein vor manipulativen Einflüssen zu schützen.

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          Resolutist 31.08.2018, 21:10 Geändert 31.08.2018, 21:35
          über mother!

          @Daggiolone
          mh, ok - ich denke das Problem liegt hier in einer zu unmittelbaren Betrachtungsweise, die einem letztendlich die Sicht auf die eminente Tragweite von Aronofsky's Entwurf versperrt. Die Persönlichkeitsmerkmale der männlichen Hauptfigur sind doch in einem ganzen Komplex von charakterlichen Ausdrucksformen eingebettet. Sie sind schlicht partikulare Illustrationen des agonistischen Verhältnisses zwischen der Protagonistin und ihrer Außenwelt, welches im Laufe des Films immer manifester wird.

          Grundsätzlich ist man nicht gut beraten, wenn man in einem Erzeugnis, das ein hohes Abstraktionsniveau aufweist, nach singulären Symboliken Ausschau hält, mann ein bestimmtes - in diesem Fall - narratives Ausdruckselement also nicht im Kontext, nicht als Fragment eines Geflechts begreift, sondern eben unmittelbar deutet, wie eben das Szenario, wo der Vater das Baby der Menschenmasse aushändigt, und es anschließend dem Kannibalismus zum Opfer fällt. Ein solches Narrativ zu verwenden, um die Auswirkungen des "Egotrips" des Vaters darzustellen, wäre tatsächlich idiotisch und lächerlich; was ein Indiz dafür ist, dass es nicht diesen Zweck erfüllt. Dieser wird erst erkennbar, wenn man sämtliche Ausdrucksmotive des Films mit diesem Szenario (bzw. generell mit der Dämonie im letzten Drittel) in Bezug setzt. Ansonsten besteht eben die Gefahr einer reduktionistischen Betrachtungsweise, wo man eben zum Beispiel zwar den Kannibalismus nicht unmittelbar begreift, dafür aber die Rolle des Vaters. Nun sind aber sämtliche Elemente des Films abstrakte Instrumente und Gleichnisse, aus deren Zusammenspiel sich immaterielle Entitäten, die Wesenhaftigkeit der Phänomene materieller Realität erkenntlich zeigen. Anders formuliert: die Summe aller Ausdrücke im Film bilden ein einheitliches Symbolsystem.

          Was Aronofsky mit seinem parabolischen Entwurf bezweckt - und ich bin mal so mutig und formuliere normativ - ist eine Entblößung des ruinößen Fundaments (um mich jetzt mal direkt auf die Bildsprache des Films zu beziehen) auf dem unsere etablierten Ideale fußen: er veranschaulicht ihre tatsächliche trostlose Qualität. In diesem Zusammenhang ist der rituelle Kannibalismus nur ein Motiv von vielen, in der sich abstrakt der Charakter der bestehende Welteinrichtung manifestiert, die unverträglich ist mit den porträtierten Idealen: der Liebesbeziehung und der Mutterschaft. Ob man diese nun als die eigentliche Sachgehalte des Films begreift, oder sie exemplarisch für ein unlauteres Wertsystem deutet, liegt, denke ich, im Auge des Betrachters.

          Vor diesem Hintergrund könnte man den Film auch in zwei Abschnitte unterteilen, in der die jeweilige ideale, illusorische Vorstellung von den sozialen Bedingungen als eben solche entlarvt wird, ergo von der Qualität im Realen negiert wird: Als die Liebe ihren Glanz verlor, der Kristall durch die realen sozialen Umstände brach, sich das Dasein verdunkelte, das Gerüst des Ideals bröckelte, behebte die Mutterschaft den Schaden und versorgte das Dasein wieder mit Licht. Diese romantisierende Wirkung illustriert Aronofsky relativ plastisch, als er - angelehnt an den Beginn des Films - in in einer Szene zur Mitte die verdorbene Landschaft und das ruinöse Anwesen wieder mit Potenz ausstattet und sie mit Farbe befruchtet. Mit ihr beginnt quasi die Destruktion des zweiten Ideals.

          Generell muss man konstatieren, dass Aronofsky's Formsprache sehr reichhaltig ist, es keine wirklichen Augenblicke gibt in dem bloß Anschauungsmaterial exponiert wird. Seine Ästhetik verhält sich stets analog zum Gefühlsleben der Protagonistin, zum Status des Destruktionsprozess, der von der Umgebung vollzogen wird; noch die unscheinbarsten Kamerabewegungen stehen im Dienste der Vermittlung des abstraken Verhältnisses von der Frau und Mutter zu den Charakteristiken der unzuträglichen Welteinrichtung. So suggeriert die Kamera schon in der Anfangsphase durch eine geschickte Positionierung und praxisnahen Aufnahmen latent die zudringliche und antagonistsche Potenz der Umgebung, der sozialen Verhältnisse überhaupt, die später durch Narrative verstärkt wird und einen immer klareren schädlichen Charakter annimmt.

          @McSebi
          "Wir Menschen sind rücksichtslose, gewalttätige Kreaturen, die nicht mit der Erde umzugehen wissen und deshalb eines Tages den Preis dafür zahlen müssen".
          Soso - diese Botschaft schreit einem also quasi ins Gesicht? Interessant. Kannst du mir erklären, wie man zu solch einer Einsicht gelangt?

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            Resolutist 01.03.2018, 13:40 Geändert 04.09.2018, 16:36

            In der Einleitung des Films, mit den Aufnahmen von heruntergekommenen Werbetafeln, die unausgegoren und verlassen in der vom Nebel bedeckten Landschaft walten, wird der grobschrötige Charakter des Seins akzentuiert. Das Szenario, welches sich infolge entfaltet, schildert uns McDonagh mit einem ästhetischen Bewusstsein dieser Grundbedingung, welche die unerbittliche Verfasstheit der Existenzen determiniert. Diese ist das Konzentrat der inhaltlichen Zusammenhänge, die ontologische Substanz des Films.

            McDonagh präsentiert uns seine Figuren aus einem Blickwinkel, in der sich der Schatten ersichtlich zeigt, den die Bedingungen der Existenz auf diese selbst wirft. Anstatt schematische Klassifizierungen (die selbstlose, tugendsame Mutter, die bösen Rassisten, etc..) werden uns aus dem Leben gegriffene Figuren auseinandergesetzt, die allesamt ringen mit der schonungslosen Verfasstheit ihrer Lebensrealität. Die als Stilmittel fungierende omnipräsente Vulgarität des Films, ist dabei ein Element, das diesen Umstand immer wieder hervorhebt. Aus ihm, aus diesem universellen Ringen, dieser zähen Handhabung mit den schonungslosen Verhältnissen der Existenz rührt - da es eben unausweichlich alle Existenzen betrifft - auch die solidarische Potenz, die im Film grassiert (die sich wohl am anschaulichsten in der Szene, wo Wilough Mildred das Blut ins Gesicht hustet, manifestiert. Nebenbei bemerkt, natürlich auch groß gespielt (dieses Verständnis, das sich sofort latent in McDormand's Mimik breitmacht), wie überhaupt der ganze Film).

            Jenseits dieser Potenz sind es aber auch generell Anstriche von Wärme und Menschlichkeit, die den Film prägen. Wenn sich Mildred, während sie auf der Schaukel sitzt, beim derben Dixon bedankt, dann richtet die Kamera anschließend kurz den Blick auf die Werbetafeln, die nun von der Sonne bestrahlt werden. Es sind dies Momente einzelner Lichtblicke, die stets im Rahmen einer bedauerlichen Verfasstheit herausgestellt werden und das Geschehen beständig perforieren (sei es auch bloß der Käfer, dem wieder auf die Beine geholfen wird). Jedoch erscheint die Wärme innerhalb dieser bedauerlich-unbarmherzigen Verfasstheit widersprüchlich zu den sich aus dem Sein konstituierenden Verhältnissen, der Lebensrealität, in der die Vergewaltigung von Mädchen, das tödliche Erkranken, die häusliche Gewalt, Rassismus, etc... stattfindet. (Eine charakteristische Szene für diese Widersprüchlichkeit ist bspw. jene im Krankenhaus.)
            Gerade in diesem dualistischen Element, im Entdecken oder plötzlichen Aufkommen der Wärme unter der Ägide der schroffen Kälte des Seins (denken wir bspw. an die Szene mit dem Reh) steckt allerdings eine berührende wie auch groteske Note, die sich in unterschiedlicher Manier in Situationen manifestiert. In diesem Sinne ist auch der Humor so ein grandioses Stilmittel. Es erscheint eben grotesk, wenn Willoughby, bevor er sich die Kugel in den Kopf jagt, sich über den Witz seiner Frau amüsiert, oder wenn Mildred Angesichts der Familientragödie mit ihren Pantoffeln ein Puppentheater veranstaltet. Doch unter der widersinnig erscheinenden Oberfläche, sind dies alles Gesten einer genuinen Menschlichkeit, in der die Figuren versuchen mit den schonungslosen Ausgeburten des Seins so gut es geht fertigzuwerden. Der Humor ist dabei in seiner Funktion zur Bewältigung bzw. Handhabung unabdingbar. Er erfüllt zudem auch eine wesensgleiche Doppelfunktion, indem er auch das Handlungsgeschehen für die Zuschauer des Films handhabbarer, erträglicher gestaltet und im weiteren Sinne ihr Dasein an sich durch die Filmerfahrung. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist, denke ich, speziell die Szene, in der Mildred's Ex gewalttätig wird und das 19jährige Mädel das ganze verwüstend-tragische Szenario mit ihrer Präsenz leicht humoristisch untergräbt.

            Vernünftiger wäre es anhand von anderen Ausdrucksformen, aber weil Bubblebrox es als Kritikpunkt formulierte und weil ich die Kohärenz von McDonaghs Ausdrucksgepräge ohne noch weit auszuholen auf transparente weise darlegen will, möchte ich nochmal kurz einen Nebenschauplatz, die Rolle von Peter Dinklage aufgreifen. Warum eigentlich das soziale Gefüge mit einem Liliputaner ausstatten? Einfach nur weil er den Stoff bietet für ein paar Gags? Nein, mit seiner Präsenz kommt abermals der Charakter des Seins zum Ausdruck. Der Umstand der Ungleichheit des Seienden, das Abnormitäten zwangsläufig existieren bedingt bereits in gewisser Form Ungerechtigkeit, Bigotterie und Kummer, und ist eben eine Folge des Wesens des Seins selbst. Es ist nun symptomatisch für Three Billboards und auch folgerichtig, dass „der Zwerg“ (wie er ja auch stets genannt wird) keine Erlösung in einer Szene findet, in der er einen lauteren-respektvollen Umgang von einem Kollektiv erfährt oder indem er Zärtlichkeiten mit Mildred austauscht, sondern (auch in seiner letzten Szene im Resteraunt) in der unbarmherzigen Realität seiner Existenz gefangen bleibt, den Umstand seiner Abnormität handhaben muss, wie Willoughby seinen Krebs, Dixon seine Mutter und natürlich Mildred die Ermordung ihrer Tochter. Und obwohl keine Verklärung stattfindet, bezeugt man auch hier in gewissen Augenblicken mit ihm und Mildred diese latente Wärme und Menschlichkeit, in letzter Konsequenz auch diesen Hauch würdevoller Verletzlichkeit, der ihm wie auch allen anderen Figuren automatisch anhaftet, seien sie auch Frauenschläger oder formale Rassisten (ja, selbst eine vulgäre Gestalt wie die Mutter von Dixon erscheint in diesem Licht, wenn ihr am Ende unterdessen sie schläft über den Kopf gestreichelt wird), weil sie alle dazu verdammt sind die designierte unerbittliche Verfasstheit der Existenz irgendwie zu bewältigen, wie eben auch die erwachsene Person, die sich den Film ansieht.

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            • Ich wurde vor paar Jahren auf einer Party in LA übrigens auch von James Franco sexuell belästigt.

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              • Resolutist 14.12.2017, 22:17 Geändert 14.12.2017, 23:09

                In erster Linie ist die MeToo-Hysterie ein Symptom einer systematischen Unterjochung der weiblichen Sexualität. Da nur die Frau ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft sein kann, die ihre Sexualenergie nicht beherzigt, wird sie in der Erziehung durch Umwelt und Eltern dazu animiert ihren Körper zu ner Art Heiligtum zu mythologisieren. Aus diesem Grund ist die geschlechtliche Empfindlichkeit der Frau um so viel größer als die des Mannes. Sie ist ein Produkt von Konditionierung. Anstatt sich von ihr zu befreien, perpetuiert eine Kampagne wie MeToo Unfreiheit und sexuelle Unmündigkeit. Sich selbst und der Mitwelt wird vorgegaukelt, als wäre ein Klaps auf den Hintern, eine anzügliche Bemerkung der Rede wert und mehr als eine ärgerliche Bagatelle.

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                • Resolutist 27.11.2017, 07:45 Geändert 27.11.2017, 07:47

                  Die Überschrift des Artikels suggeriert, dass im Normalfall Erfolg mit Qualität korreliert. Solange der Erfolg von einem Markt abhängig ist, trifft das aber eben nicht zu; zumindest nicht in dieser Gesellschaft.

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                    Resolutist 13.07.2017, 19:02 Geändert 14.07.2017, 10:54
                    über Barbara

                    Im Rahmen einer überzeugend besonnenen Darstellung von repressiven Lebensbedingungen, vom Ruin des Alltags, der durchwegs subtil durch Details in der Umwelt vergegenwärtigt wird, unter einer sanften Tyrannei wie der DDR, ist der Film eine feinsinnige Exploration von Betrachtungs- und Handlungsweisen, die sich aus gesetzmäßigen Gefühlsregungen konstituieren.

                    Dabei ist es die milde Inszenierung Petzold's, die diesen Film kennzeichnet, der Verzicht Gewichtigkeiten im komplexen Verhältnis von Individuum und Umgebung stilistisch Nachdruck zu verleihen. Die Wirkung der Szenarien, deren Beziehung zu Gefühlsregungen, entfalten sich unwillkürlich, organisch unter dem Primat des morbiden Klima's. Die unter dem Einfluss des Windes rastlosen Wesenszüge der Bäume, unter dessen Obhut Barbara mit dem Fahrrad ihre notwendigen Wege bestreitet, benötigen keine spezielle Stilisierung, sie spiegeln die Zerissenheit, die fluktuierende Gefühlswelt Barbara's auf Basis der organischen Logik der Ästhetik wider.

                    Das wichtigste Element von Petzold's Formgebilde ist jedoch sicherlich das Casting der beiden Hauptrollen. Nina Hoss, in deren markanten Gesichtszügen sich Pein und Autarkie duellieren und letztere stets Oberhand behält, wie auch Ronald Zerfeld, dessen sanftmütigen Gestikalien in Kontrast mit seiner gebietersichen Statur stehen, sind die Grundlage, wodurch die scharfblickende, subtile Exploration von Verhaltensweisen im Kontext bestimmter präkerer Lebensverhältnisse erst auf diesem Niveau ermöglicht wird.

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                      Resolutist 13.07.2017, 18:51 Geändert 13.07.2017, 22:42

                      I.
                      Caleb, ein Programmierer des marktführenden Suchmaschinenanbieters, kann sich glücklich schätzen, er profitiert von einem Gewinnspiel und darf auf dem anmutigen Anwesen des visionären Gründers des Konzerns residieren. Nathan, der in der Branche große Bewunderung genießt, erfahren wir als eine unförmliche Erscheinung. Der Firmengründer wirkt genauso zutraulich wie die omnipräsenten technischen Gegenstände, Systeme und die dafürstehende Institution. Sein freimütiger und umgänglicher Charakter machen es den bedächtigen Caleb so einfach wie nur möglich sich gut aufgehoben zu fühlen.

                      Wie Nathan und sein ganzes Anwesen vermochte bereits Caleb’s Arbeitsplatz und das dynamische Team mit dem er zusammenarbeitet einen harmonischen Eindruck zu vermitteln. Es ist gleich die erste Szene, in der wir den Protagonisten in einer hippen und erquicklichen Räumlichkeit, in seinem Arbeitsbereich vorfinden. Es ist diese oberflächliche Harmlosigkeit, die wir in den ersten zwei Akten an allen Ecken und Enden widerfinden. Doch je detaillierter uns diese Oberflächen auseinandergesetzt werden, desto klarer wird die Unredlichkeit und besonders die Bedrohung, die sich hinter ihnen verbirgt. Zu Beginn bewunderte und staunte man noch über Nathan's superkomplexes Sicherheitssystem, doch in dem Moment als zum ersten Mal ein Defekt auftritt, offenbart sich plötzlich die Gefahr, die sich in der hochentwickelten Technik verbirgt. Dieses Motiv der Dekonstruktion von harmlosen Oberflächen zieht sich quer durch den ganzen Film. Caleb wird im Laufe immer tiefer in diesen sich als finster und unredlich offenbarenden Kaninchenbau hineingezogen und schön langsam erscheint der komplette Apparat, dieses Ebenbild Silicon Valley's mit all seiner progressiven Technik, Visionen, Einrichtungen, Individuen und seinem harmonischen Flair immer bedrohlicher und verächtlicher. Auch in Ava, der künstlichen Intelligenz, im Inbegriff der progressiven Ideologie und des technischen Fortschritts wird sich zum Schluss dieses bedrohliche Potential entblößen.

                      II.
                      Das besondere Element an Ava ist, dass es sich, im Gegensatz zu Nathans Hausdame, augenscheinlich um einen Roboter handelt. Sie nimmt nur partiell Menschenform an und doch - oder gerade deswegen - kann man sich ihrer Anziehungskraft nicht entziehen (auf diesen Umstand komme ich später nochmal zurück). Wie Caleb verfällt man als Zuschauer der ausgestrahlten Sympathie dieser edlen Erscheinung. Später wird sich herausstellen, dass es sich bei ihr um eine Konstruktion (eine mit erregbare Vagina) handelt, die spezifisch für den Zweck konstruiert wurde den Probanden (als der sich natürlich auch der Zuseher versteht) zu betören. Und es dauert auch nicht lange bis sich aus Caleb’s anfängliche Koketterie romantische Gefühle entwickeln. Sein Verhalten wird im Verlauf der Studie bis ins Detail berechenbar sein, wie das eines Roboters.

                      Ava’s reduzierte Gesten, allgemein ihre vage Präsenz, in der das innere Selbst stets ein verborgenes bleibt, inspiriert in diesem Bezugsrahmen eine Dialektik, in der der metaphysische Begriff des Menschen auf dem Prüfstand steht. Lassen wir durch billige Tricks, durch bestimmte appetitliche Schlüsselmerkmale, durch leere Oberflächen unsere Gefühlswelt erobern und unser Vertrauen gewinnen, oder wird man dem metaphysischen Selbstvertändnis des Menschen, einem mit freiem Willen und emanzipatorischen Potential, ergo dem Menschen als Seelenwesen gerecht und ist eben in der Lage sich von evolutionsbedingter Prädispositionen zu entheben?

                      Ferner dieser wesentlichen Frage, kommt in der Interaktion mit Ava auch der dem Zeitgeist entsprechende Fetisch von Gegenständlichkeiten zum Ausdruck. Denn gerade das hybride Moment, die augenscheinliche Künstlichkeit ist erst die Würze, welche in Kombination mit den menschlichen Merkmalen die Faszination von Ava ausmacht. Der spezielle Reiz ihrer hybriden Physionomie auf den Probanden charakterisiert eine - im Dunstkreis der Technifizierung, des angekurbelten Verdinglichungsprozess heutiger Vergesellschaftung – typische Form modernen Bewusstseins, in dessen eben nicht mehr bloß biologische Oberflächen verklärt und mystifiziert werden, sondern auch synthetische.

                      Der prototypische, flache Bewusstseinszustand Caleb’s, in dem ein evolutionsbiologisches Reizreaktionsschema und ein Fetisch für Dinge waltet, steht dem akklamierten Konzept des Menschen als Seelenwesen antagonistisch gegenüber. Das exemplarische Verhalten des Probanden, des Nerds, dem die aus dem Zeitgeist entfachenden typischen Psychologismen innewohnen, negiert mit seinem Verhalten die Menschlichkeit im Menschen. Der Mensch, in diesem Sinne nur noch als Gattungsbezeichnung zu verstehen, wird zu einem steuerbaren Objekt, zu einem biologischen Androiden, kontrolliert von externen Einflüssen. So kommt es, dass Caleb, nachdem ihm Nathan die Bewandtnis der Studie auseinandersetzt, nachdem er sein bis ins Detail berechenbares Verhalten realisiert, einer Psychose verfällt und seine eigene menschliche Identität anzweifelt.

                      Jene Aufhebung der Grenzen von Subjekt und Objekt, jene Entfremdung des Individuums perforiert den ganzen Film. Es sind diese charakteristischen Merkmale moderner Wirklichkeit, die das Konzept des Menschen als Seelenwesen ramponieren, welche Garland in seinem Darstellungskosmos mittels eines dialektischen Narrativs und einer dialektischen Ästhetik verhandelt. Es ist diese Behandlungsweise, aus der sich unwillkürlich ein entschiedener Appell an die Menschlichkeit ergibt.

                      III.
                      Nathan, das Superhirn des ganzen Experiments, natürlich angelehnt an die Sillicon-Valley-Koryphäen, entpuppt sich mit der Zeit immer mehr zum Decadent (die harmlosen Oberflächen der Koryphäen werden dekonstruiert), er hegt keine Sympathien für die Menschheit und sieht schon hochentwickeltere Arten vor sich, die sich über die jetzige Zivilisation belustigen. Nur seine Hausdame leistet ihm auf seinem erquicklichen Anwesen Gesellschaft und verrichtet ihre Arbeiten, ihre (auch sexuellen) Dienste. Caleb und zunächst auch wir Zuseher schenken ihr keine große Beachtung, nehmen sie stattdessen instinktiv als notwendige Selbstverständlichkeit wahr. Erst als sie sich als Roboter in Menschengestalt enthüllt, sich die verschiedenen Kostüme zeigen, die unterschiedlichen Gestalten, die für ihren Arbeitgeber Dienste verrichten müssen, manifestiert sich für uns die verächtliche Natur ihrer Ausbeutung. Doch warum eigentlich, wenn es sich doch nur um einen Roboter handelt? Die Erschütterung dieses Moments rührt nicht aus dem Umstand, dass Nathan den Roboter ausbeutet, sondern dass die verschiedenen Menschenkostüme des Roboters eine Assoziation zur realen Existenz ausgebeuteter Bediensteter offenbart, die genauso ausgebeutet, denen wir genauso wenig Anteilnahme entgegen bringen, die wir genauso als selbstverständlich verstehen, gegenüber derer wir genauso gleichgültig reagieren wie eben gegenüber der Hausdame Nathan's (ihre Ethnie ist übrigens relevant) als man noch dachte sie sei ein Mensch! Die Tragweite des Films weitet sich von der Frage nach der Menschlichkeit im Subjekt aus auf die Frage nach der Menschlichkeit im System.

                      In letzter Konsequenz – um jetzt nochmal das zu Beginn des Textes erläuterte omnipräsente Motiv aufzugreifen - bleibt auch Nathan von der destruktiven, bedrohlichen Potenz, die unter der Oberfläche der Technik schlummert, nicht verschont. Er unterschätzt Ava, seine eigene Konstruktion, den Grad mit welchen sie Caleb betört und wie weit dieser infolge gehen wird. Garland stimmt in dieser Phase, wo sich Ava entschlossen und rücksichtslos befreit und die zwei Männer in ihrem High-Tech-Gefängnis zurücklässt eine düsterere Stimmung an, der die zugrundeliegende gravierende Bewandtnis des Films markiert. Die Romantik löst sich in Luft auf, weicht der tückischen Bedrohung der Technologie.

                      Am Ende bewegt sich Ava bereits frei in der Öffentlichkeit. Ein unbewandertes Klima stellt sich ein in der geschäftige Personen nichtsahnend von den verborgenen Gefahren einer übertechnifizierten Welt ihre Tagesroutine an einem urbanen Schauplatz verrichten. Doch uns Zusehern wird mit der letzten Einstellung, in der Ava’s menschenförmiger Schatten erfasst wird, eine Kontemplation über die Verfasstheit der spätmodernen Zivilisation nahegelegt: Fällt diese unbeseelte Gestalt aus dem Raster, oder reicht die bloße Menschenform, die bloße Hülle bereits aus für das Menschsein, für das partizipieren in unserer Gesellschaft? Und insbesondere: inwiefern ähneln wir dieser unbeseelten menschenförmigen Konstruktion selbst?

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                      • Robert Terwilliger schaut sich das an.

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                          Resolutist 11.06.2017, 11:57 Geändert 04.11.2019, 18:16

                          ich merkte gerade, dass der Film auf youtube verfügbar ist: https://www.youtube.com/watch?v=zJIj50LxXKU

                          Der letzte Film vor Akerman's Suizid. Ein Film, nicht weniger radikal wie Jeanne Dielman. Die illusionslose, dekonstruktivistische Darstellungsform, die Methode mit der Akerman die Panoramen des Mikro- und Makrokosmos des Lebensraums und menschliche Interaktion im Zusammenspiel mit dem Prozess des Filmemachens (sie den Zuseher auch miteinbezieht) aufgreift, wie sie das alles in eine Form bringt, in der sich das Wahrhaftige, der antagonistische Charakter des Seienden offenbart, der Überzug entblößt wird, der sich rücksichtslos über das Individuum ausbreitet und ihm jede trostreiche Luft zum atmen raubt, der jede Zuflucht, auch die in Form vertrauliche Beziehungen negiert, ist von einer greifbar-authentischen Schonungslosigkeit, bei der es einem mulmig ums Herz wird.

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                            • Resolutist 18.05.2017, 11:26 Geändert 18.05.2017, 11:26

                              Naja, du hättest, zumindest in einem Nebensatz, schon erwähnen können, dass Sea Sorrow außerhalb des Wettbewerbs läuft.

                              • "cinema is really not about what we see; it's about what we don't see"

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                                  Resolutist 20.03.2017, 16:17 Geändert 23.12.2017, 13:01

                                  Wenn es auch in den ersten 15 Minuten vielleicht Ansätze gibt, reicht die Tragweite, so wie es bei Machwerken stets der Fall ist, von "Days of Wine and Roses" nie über die in der Inhaltsgabe verwiesenen Thematik hinaus. Die Auseinandersetzung mit dem Laster der Trunksucht und dem dadurch induzierten Elend soll in seiner plastischen Darstellung des Verfalls der Figuren erschütternd und in seiner Erzählform pädagogisch wertvoll sein. Anstatt Erschütterung verspürte ich allerdings bloß ein Erstaunen über die Schlechtheit dieses Films. Die beständige eidetische Szenengestaltung und die Klischeehaftigkeit jedweder Gesten der Akteure stehen im Konflikt mit dem bemüht seriösen Grundcharakter der Konzeption und führten dazu, dass mich das Geschehen in den besten Fällen kalt ließ, in den schlimmsten unfreiwillig amüsierte. (Am lustigsten fand ich wohl die Szene als Lemmon im Blumenhaus randalierte, wobei der anschließende Aufenthalt in der Psychiatrie ihr gleich Konkurrenz macht)

                                  Überflüssig zu erwähnen ist, dass die großteils triviale Ästhetik, die das Treiben ummantelt, dem nichts entgegenzusetzen hatte. Filmkritiker finden diesen Film, da sich alles an der Oberfläche abspielt und sie ihn deshalb verstehen, aber natürlich dennoch grandios.

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                                  • "Bestes und jüngstes Beispiel hierfür bietet Die Eiskönigin - Völlig unverfroren. Deren Hauptfigur Elsa löste einen wahrlichen kleinen Sturm aus, denn sie als lesbische Frau zu lesen ist unglaublich einfach und geradezu herausragend befriedigend für Frauen, die sich ebenso identifizieren. Dazu muss man nur den Fakt ignorieren, dass Elsa und Anna Schwestern sind."

                                    http://i2.kym-cdn.com/entries/icons/facebook/000/000/554/facepalm.jpg

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                                    • Resolutist 27.02.2017, 06:17 Geändert 27.02.2017, 06:18

                                      Was war das mal wieder für eine rassistische Oscar-Verleihung.

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                                      • hat Isabelle Huppert schon mal in einem schlechten Film mitgespielt?

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                                            Resolutist 11.02.2017, 15:48 Geändert 12.02.2017, 15:05

                                            Gerard Depardieu und Isabelle Huppert, zwei Schauspieler deren physischer Verschleiß vom Zahn der Zeit gekennzeichnet ist, spielen sich selbst in diesem überwältigenden Meisterwerk. Sie sind auf der Suche nach Antworten. Ihr Sohn hat sich ermordet und ihnen einen Brief hinterlassen, der Instruktionen beinhaltet: Sie sollen zusammen Death Valley besuchen.

                                            In einer Szene vor dem Ende werden wir Depardieu, der eigentlich schon auf dem Heimweg war, beim Urinieren vor der imponierenden Wüstenlandschaft beobachten. Jene Kläglichkeit, die in diesem Bild zum Ausdruck gebracht wird, ist ein Motiv, welches den ganzen Film durchströmt. Nicloux nützt den Schauplatz des berühmten Nationalparks um behutsam die Potenz der Umwelt, das Missverhältnis zwischen ihr und der Existenz der vergramten Eltern, aufzugreifen. Ein latentes Unbehagen, ein Unwohlsein mit den Lebensbedingungen, immer wieder unterstrichen durch triviale Schreckmomente, manifestiert sich im Wesen der beiden Akteure, wenn sie sich in der Wüstenlandschaft im Angesicht der erbarmungslos auf die Erdebene herunterbrennende Sonne und den vitalen Windböhen, die sich in den Wüstengesteinen verfangen, aufhalten. Ferner der Expeditionen, im Quartier ihrer Absteige, sind es stupide Touristen und die Automatismen des Betriebs, die immer wieder außerhalb des Fokus eine latente Irritation hervorrufen und für Unbehaglichkeit sorgen.

                                            Das Angesicht der exemplarischen Umwelt Death Valley's offenbart die Kläglichkeit, die Verletzbarkeit, die subtile Entfremdung der Subjekte von der einst so trauten Welt. Die feinsinnige Art und Weise mit der Nicloux das von Beginn an durch Einzelheiten, von Depardieus argwöhnische Schwimmen im Pool bis hin zu Hupperts Versuch mit den schnelllebigen Zeitgeist zurechtzukommen, einfängt, die betuchte Suggestionskraft, die sich in seiner subtilen Inszenierung verbirgt, ist nicht hoch genug zu bewerten.

                                            Nur wenn sich die beiden alteingesessenen Schauspieler zusammen in ihrem Zimmer isoliert von der Außenwelt aufhalten, herrscht eine unbedarfte Atmosphäre, in der sich ein Raum für eine genuine Gefühlswelt und eine unbefangene Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen auftut. Es sind rührende Momente, wenn die sonst so barsch erscheinende Isabelle den Brief ihres Sohnes vorliest und ihrem Kummer Ausdruck verschafft. Doch ist der rührendste Augenblick in diesem Setting ein Moment der Zärtlichkeit, ein vorsichtiger Kuss, von dessen Bedeutung am Morgen beim Frühstücksbuffet nichts mehr übrig sein wird. Es sind überhaupt die Abendstunden, wo sich im Kontext der Stille, im Zeitraum des brachliegenden Betriebs, ein Spalt der Tür zur existenziellen Wahrheit öffnet. In einer traumhaft anmutenden Sequenz am Standort eines Tennisplatz, da wo die erbarmungslose Hitze der Sonne die Schuhsohlen der lebenskräftigen Spieler am Tag bratet, steht Depardieu einem deformierten Mädchen gegenüber. Sie formuliert einen Satz: "It's to hard". Depardieu erwidert prompt: "but not for me". Das entstellte Mädchen aber antwortet: "yes, for you too".

                                            Nicloux legt behutsam die Entfremdung zweier Subjekte gegenüber der Welt dar, ohne dass es sich dabei um einen bewussten Prozess aus dem Blickwinkel der Protagonisten handelt. Als Gerard seiner ehemaligen Lebenspartnerin, unterdessen sie unter quälender Hitze vor einem Abgrund rasten und sich das exemplarische Bild der anmutigen, potenten Wüstenlandschaft vor ihnen auftut, eröffnet, dass er an Krebs erkrankt ist, wird der Dualismus zwischen dem Subjekt, das seinen Zenit längst überschritten hat, und der Welt greifbar. Er, der ein Schatten seines früheren Selbst ist, dessen Plauze und schweres Atmen (von der Tonspur immer wieder berücksichtigt) Ausdrücke seines natürlichen Verfalls darstellen, ist, unterdessen ihm die gnadenlose Hitze zu schaffen macht, guter Dinge was seine Krankheit angeht, ist noch fest verhaftet in dieser Welt, die ihm so befremdlich erscheint, die ihm ständig reizt und erschreckt. Bei Huppert verhält es sich nicht anders. Wen wir sie zu Beginn, wie sie durch die Anlage des Quartierbetriebs wandert, aus der Rückansicht verfolgen, so sehen wir ein Subjekt mit einer prävalenten Körpersprache und souverän offen getragenen Haaren, wie sie einer Frau gehören könnten, die sich in der Blüte ihres Lebens befindet. Doch der schwerwiegende Sound akzentuiert bereits eine tiefschürfende Wahrheit, die das Subjekt vor uns auf herzbewegende Weise im Kontext der Umwelt fragilisiert. Ihre Verletzlichkeit, die Desillusion, die sich hinter dem Bemühen Haltung zu bewahren verbirgt, die wird sich im Laufe des Films immer deutlicher ersichtlich zeigen. Sie, die bemüht ist Schritt zu halten mit der Schnelllebigkeit und dem Technikfetisch des Zeitgeists, wird später ihr Handy beiläufig in der Wüstenlandschaft entsorgen.

                                            Es ist dieser Aufenthalt im Tal des Todes, der von einem Verstorbenen instruiert wurde, ein Schleichweg zu einer existenziellen Erkenntnis: Das tiefschürfende Verhängnis, dass diese Welt für sie beide keinen Platz mehr bietet. Bis zum Schlusspunkt sind es vor allem zwei Erschütterungen, in der jenes schwerwiegende Verhängnis nicht nur in der Unstimmigkeit mit der Umwelt akzentuiert wird, sondern direkt auflauert auf der Bühne der Existenz und für eine emotionale Verwüstung sorgt. Eine davon wird von der Plansequenz eingeleitet, in der Depardieu zunächst in der arglosen Atmosphäre der Abendstunden, untermalt von behaglichen Gitarrenklängen eines Touristen, durch die Anlage spaziert, bis er, als er den Blick auf Isabelle's Zimmerfenster richtet, Zeuge eines horrenden Schreis wird und er seiner ehemaligen großen Liebe panisch zu Hilfe eilt. Das Szenario, welches sich anschließend unter der Führung des schwerwiegenden Sounds, der mit dem Schrei einsetzt, am Korridor offenbart, steht ganz unter dem Joch jenes bitterlichen Verhängnisses und ist einer der gänsehautisierendsten Momente des Films.

                                            Die zweite Erschütterung, das zweite auflauern des Verhängnis auf der Bühne der Existenz, die zweite Begegnung mit dem Sohn findet in der Wüstenlandschaft statt. Währenddessen Isabelle rastet, spaziert der schwer atmende, dickbäuchige Depardieu unbedarft hinein in ein Wüstengewölbe. Er ist umkreist vom Gestein, das Atmen wird intensiver, sein Lebensraum wird ihm zugeschnürt, der Blick der Kamera wechselt immer wieder von der unbeseelten Gesteinswand verzweifelt zum wolkenlosen blauen Himmel: er sieht seinen Sohn und der monumentale Sound setzt ein. In Folge füllt die Erschütterung, die aus dem Verhängnis der an Halt verlierenden Existenz rührt, das Klima im gleichen Maße aus, wie in Huppert's Begegnung mit dem Sohn. Von der Unbedarftheit zur Unbehaglichkeit, zur Erschütterung. Jene Sequenz, dessen Tragweite man natürlich schriftlich nicht angemessen darlegen kann, zeugt von einer ungemeinen Kunstfertigkeit.

                                            Die Erfahrungen des instruierten Ausflugs hinterließen eine Wirkung. Es war dieser Aufenthalt im Tal des Todes ein Tor zu einer existenziellen Erkenntnis, ein Tor zu einer metaphysischen Zusammenkunft (die in diesem Zusammenhang implizite und titelgebende Äquivalenz von Liebe und Tod greif ich jetzt aus Bequemlichkeit nicht näher auf): Die kläglichen Eltern des verstorbenen Sohnes werden sich in der letzten Szene vor den aufgegliederten Motelzimmern begegnen. Ein unbefangenes Verständnis im Mantel der Ergebenheit, wird sich in ihren ausgetauschten Blicken entfalten als Depardieu seine neuen Brandmale zur Schau stellt, ein Verständnis von einer Dimension, die einem erstarren lässt: Der Kreis schließt sich und die Bewandtnis des Ausflugs dünkt ihnen: Nein, es ist kein Platz mehr für sie auf dieser Welt; genauso wenig wie Platz ist für den verstorbenen homosexuellen Sohn und dem defomierten Mädchen. Die ergreifende Massivität jenes Befunds über die unsere Welt, die geht einem durch Mark und Bein und wird einem nicht bloß durch den Abspann bewegen.

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                                            • Resolutist 30.01.2017, 15:56 Geändert 30.01.2017, 16:02

                                              Ich wusste gar nicht, dass nach der Hysterie im letzten Jahr sofort reagiert wurde und nun gleich eine Rekordanzahl an Afroamerikanern nominiert wurde. Haha.

                                              Die Oscars bleiben dennoch ziemlich rassistisch. Menschen mit asiatischer und lateinameriaknischer Herkunft sind dieses Jahr unterrepräsentiert. Aber vielleicht wird es ja im nächsten Jahr besser. Da könnte man dann auch merh auf die LGBTQ-Community Rücksicht nehmen; genauso wie auf religiöser Diversität. Gerade im Angesicht von Trump schenkt man religiöser Diversität, meiner Ansicht nach, viel zu wenig Aufmerksamkeit. Naja, warten wir ab - vielleicht wird ja nächstes Jahr der künstlerische Maßstab endgültig auf dem Altar der politischen Korrektheit geopfert. Es wäre besser für die Welt und für die Menschheit.
                                              Und ja: Die Academy sollte, nun da schändliche Details von Affleck's Vergangenheit ans Tagslicht gekommen sind, die Nominierung revidieren. Ich würde vorschlagen man nominiert stattdessen jemanden, der Opfer einer Vergewaltigung oder zumindest sexueller Belästigung wurde. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe.

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                                                Schon in seinem großartigen "Museum Hours" ist es die Profanie des Alltags in der Jem Cohen die Tiefgründigkeit, das Kunstvolle findet. Auch in Counting sind es die Alltagsmotive die im Fokus stehen, mit der Cohen eine beeindruckend sophistizierte Sprache kreiert, in der sich durch die subtile Konnektivität der einzelnen Aufnahmen und wiederkehrenden Motive einschneidende Wahrheiten über unser Dasein offenbaren. Wovon rede ich hier, was sind diese Wahrheiten, die die Sprache dieser Dokumentation transportiert? Ich empfehle den Film zu schauen und es selbst für sich rauszufinden.

                                                Das Vorbild für Counting war übrigens Chris Marker. Ihm ist der Film auch gewidmet.

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                                                  Resolutist 21.01.2017, 14:34 Geändert 15.07.2017, 20:02

                                                  Eigentlich wollte ich nur auf einen Kommentar antworten, aber es sind dann doch ein paar mehr Zeilen entstanden. Meine Erinnerungen an den Film sind jedoch nicht mehr die frischesten.
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                                                  Es ist das idyllische Panorama der abgeschiedenen Provinz, in der sich ein unbeschwertes, harmonisches Familienleben breitmacht, das zu Beginn die Ästhetik des Films bestimmt. Heavy Metal-Musik, die sich antagonistisch zu dieser uns dargebotenen heilen Welt verhält, spielt zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt keine Rolle im Leben der Protagonistin. Es ist der Tod ihres Bruders, der auf scheußliche Weise innerhalb dieses idyllischen Panoramas umkommt, der die Affinität zu dieser Art von Musik auslöst.

                                                  Mit dem Ableben des Bruders wird das scheußliche Element des Wesens der Realität in das idyllische Provinzleben gestanzt. Gerade auch die Manier des Ablebens ist ein Ausdruck dessen, dass dieser scheinbar vor allem Übel der Welt abgeschotteter Lebensraum nicht verschont bleibt von der unbarmherzigen Realität, von dessen immanenten Eigenschaften, vom Leid und der Schrecklichkeit. Doch obgleich das idyllische Provinzleben davor nicht verschont werden kann, liegt die Ignoranz dem gegenüber in dessen Natur. Es ist blauer Himmel und die Sonne scheint auf die erquicklich anmutenden Felder als Hera's Bruder in der Ferne, abseits unseres Wahrnehmungshorizonts, vom Mähdrescher erfasst wird und anschließend stirbt. Das Schreckliche ist passiert, doch dieses Schreckliche hat keinen Platz in diesem Lebensraum, in dieser Gemeinschaft. Nach der unmittelbaren Trauer nimmt alles weiter seinen geregelten Gang, man geht zur Tagesordnung des Provinzalltags über und die Sonne scheint weiter auf die Felder in der Hera's Bruder umkam. Wie selbstverständlich erwartet man von ihr, dass sie sich bald wieder in den routinierten Alltag einfügt, in der dem unbeschwerten Dasein kein Abbruch getan wird. Doch, verdammt nochmal, ihr Bruder kam auf abscheuliche Weise ums Leben. Wie kann sie nach so einem schrecklichen Ereignis noch den gleichen Blick auf die Welt haben, wie zuvor?

                                                  Der veränderte Blick auf die Welt findet in der Heavy-Metal-Musik einen adäquaten Ausdruck. Sie ist es, die dem angebrachten Defätismus Einlass gewährt, die dem unbeschwerten Treiben der Gemeinschaft den Riegel vorschiebt, die pittoresken Farben der Landschaft verdunkelt, das Verständnis aufbringt für die vergrämte Natur des Seelenlebens der Protagonistin. Denken wir an die wunderbare Szene, wo sie vor versammelter Gemeinschaft ihr Leid auf der Bühne zum Ausdruck bringt.

                                                  Jene defätistisch Perspektive auf das Dasein, sorgt notwendigerweise auch dafür, dass die Quelle ihres Missmuts mit fortwährender Dauer vermehrt die herrschenden Verhältnisse in der biederen Provinz sind, die sie einfach nicht hinnehmen will, gegen die sie infolge revoltiert. Es macht sich in ihr der Wunsch breit ihren Heimatort zu verlassen. Doch - und das ist ein entscheidendes Merkmal des Films - entsteht nie ein Antagonismus mit dieser ihrer nun so zuwideren Heimat. Ihr Warten auf den Bus hat, wie sich durch ihr wiederholte Umentscheidung offenbart, eher symbolischen Wert, ist mehr Ausdruck eines Missbehagens mit Charaktereigenschaften ihrer Umwelt als ein Produkt eines endgültigen Entschlusses. Ihre Revolte, in dessen Höhepunkt sie die Ortskirche abfackelt, hat letzten Endes die intuitive Absicht das standardisierte und bigotte Lebensmodells zu verneinen, in der kein Platz ist für Defätismus, in der es nicht toleriert wird aus der Reihe zu tanzen, verstimmt zu sein, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, Umstände zu bekritteln, sich den potentiellen Ehemann zu verweigern, nicht in die Kirche zu gehen, etcetera. Es ist die Ignoranz ihrer Umwelt gegenüber der Beschissenheit der Dinge, die Hera verzweifeln lässt. Man soll anerkennen, dass das Leben manchmal einfach Scheiße ist; dass man, nachdem der eigene Bruder ums Leben kam, vielleicht nicht in der Verfassung ist in die Kirche zu gehen und sich sonstigen üblichen Konventionen des sozialen Lebens unbeschwert hinzugeben; dass einem die Einöde der abgeschotteten Provinz hin und wieder saueraufstößt. Kurzum, man soll die Legitimität des Defätismus anerkennen. Dieser Endzweck, nachdem sie intuitiv trachtet und der am Ende erfüllt wird, wird partiell durch ihre Musik ermöglicht. Im späteren Verlauf werden ihre musikalischen Erzeugnisse dazu führen, dass eine Metal-Band für einen Zeitraum am sozialen Leben der Provinz teilnimmt. Die Musiker fungieren als dezenter und angenehmer Störfaktor für die pedantische Routine der Gemeinschaft. Man denke an die Szene, wo sie sich zusammen mit Hera und dem ihr aufgezwungenen Ehemann im Auto aufhalten.

                                                  Es ist ein Prozess, aber Hera's Umwelt, ihre Heimat, diese Einöde, die mit so vielen Frömmlern versehenen ist, versöhnt sich dezent mit ihrem Bewusstseinszustand. Wo zu Beginn das mit Sonnenstrahlen durchflutete Landschaftspanorama die Ubiquität der Idylle charakterisierte, ist es bei ihrem letzten Versuch Abstand von ihrer Umwelt zu gewinnen, Tristesse und Kälte, die das ihr umgebene Panorama kennzeichnet.

                                                  In der konsequenten letzten Szene, die möglicherweise vielen befremdlich erscheinen mag, in der Hera mit ihren Eltern zur Metal-Musik tanzt, ist es nicht nur die erwähnte Anerkennung der Umwelt gegenüber der Legitimität des Defätismus, die sich hier erkenntlich zeigt, sondern insbesondere auch dessen Zweckmäßigkeit. Es ist gerade die Einigkeit über die Beschissenheit der Dinge, die das Potential in sich trägt das Leben zu erleichtern.

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                                                  • Resolutist 15.12.2016, 11:53 Geändert 15.12.2016, 17:23

                                                    Scorseses Libelingsfilme stammen aus der Zeit bevor er selber angefangen hat Filme zu drehen. Das ist logisch und verständlich. So ist es bei den meisten Regisseuren. Das entschuldigt ihn und andere aber nicht einen so hanebüchenen und törichten Unsinn von sich zu geben. Zeitgenössische Filmkunst bringt quantitativ weit mehr Qualität hervor als irgendeine Zeit zuvor in de Geschichte des Films. Scorsese hat keine Ahnung. Was hat er denn gesehen? "Ein paar Filme". Was war da dabei? Das ein oder andere Produkt der Kulturindustrie und ein paar Oscarfilme. Gratulation - damit ist seine Kenntnis von zeitgenössischer Filmkunst gleichzusetzen mit der des durchschnittlichen Moviepiloten. Der heuchelt an dieser Stelle natürlich Filmkenner-Kompetenz, stimmt Scorsese zu und erhebt sich über das marvelschauende Fußvolk, weil er mal Casablanca und Ben Hur gesehen hat. Lächerlich. Abgesehen von the harrr nehm ich niemanden ernst, der behauptet früher wurden mehr gute Filme gedreht.
                                                    Hier gehts übrigens zur hitzigen Debatte zwischen mir und the harrr (unter Insidern auch bekannt als das Duell der Giganten): http://farthaus.org/forum/viewtopic.php?f=7&t=1414
                                                    (speziell Seite 2)

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