Resolutist - Kommentare

Alle Kommentare von Resolutist

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    Resolutist 26.12.2023, 19:53 Geändert 26.12.2023, 20:36

    Ich ahnte zunächst Schlimmes, befürchtete, es mit einem Film zu tun zu haben, der politisches Engagement mit Kunst verwechselt. Glücklicherweise täuschte ich mich. Was ihn auszeichnet, ist sein Portrait der Besonnenheit im Kontext struktureller Unterjochung. Die zentralen Figuren arrangieren sich mit der Lage, ohne sich dieser zu unterwerfen; verzichten auf die Revolte, ohne sich dabei zu verraten. Paradigmatisch zeichnet sich diese Besonnenheit an der Hauptfigur ab. Sie reflektiert die Zumutung, übt Kritik, bewahrt aber letztlich stets die Countenance. Eine undankbare Aufgabe für die Darstellerin, die sie mit Bravour meistert. Eine Performance, die den Nuancenbereich zwischen Akzeptanz und Revolte besser nicht hätte gerecht werden können. Allgemein wird eine Strategie des Fortschritts veranschaulicht: die Veränderung als eine Unaufdringlichkeit. Schritt für Schritt wird sie gezeitigt - im Kleinen wie im Großen. Dafür findet die Regisseurin passende Bilder wie Atmosphären.

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      Resolutist 26.12.2023, 18:48 Geändert 11.01.2024, 17:33

      Hat Brainkiller auf Discord empfohlen (Hier der Link zur Community: https://discord.com/invite/hUqKgDZUBa ) .

      Erst irgendwann im letzten Drittel begann sich mir ein Duktus zu erschließen. Dieser vermag schließlich die Überwindung der Unreife ergreifend zu veranschaulichen. Über die volle Laufzeit empfand ich den Film als zu brav inszeniert, zu fokussiert auch auf das konkrete Merkmal der Schwangerschaft und die daraus resultierenden Gespräche, um eine tiefere Ebene der Wirklichkeit nahbar zu machen. Das stilistische Mittel der lebendigen Zeichnungen funktioniert phasenweise.

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        Resolutist 22.12.2023, 19:44 Geändert 24.12.2023, 01:15

        Kult-Charakter. Eine im Gegensatz zu sowas wie Bang Boom Bang wahrlich abgedrehte deutsche Komödie. Die Bewertung der Daseinswelten innerhalb des bunten Berlins werden uns durch die rastlose Bildabfolge und der abgetretenen Ästhetik erleichtert. Die Form harmoniert mit dem Lebensstil der bezeugten Gesellschaftsmitglieder. Diese wirken als auf die satirische Spitze getriebene Repräsentanten des liberalen "Fortschritts". Ihre Geschmacklosigkeit und Obszönität vernimmt keine Grenzen mehr.

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          Resolutist 19.09.2023, 22:25 Geändert 20.09.2023, 00:15
          über Vortex

          Die Vorstellung, dass Noe, nur weil er mit einem Split-Screen operiert, das Kino in irgendeiner Weise neu erfindet, dass daran an sich irgendetwas Bemerkenswertes steckt, ist natürlich völliger Unsinn und zeugt bloß von Ignoranz gegenüber dem Medium. Ebensowenig erfindet sich der Regisseur selbst neu, präsentiert uns viel mehr erneut eine Lebensrealität unter einem defätistischen Stern. Und wie in seinen anderen Filmen wird sich gegen diese Realität virtuos aufgebäumt, eine höhere Form des Seins in Aussicht gestellt. Sein Schaffen kennzeichnet sich durch das Paradoxon eines defätistischen Optimismus. Fraglich ist, ob sich dieses Paradoxon schon einmal wirkmächtiger bahnbrach als in Vortex.

          Der Split-Screen ist nicht permanent, sondern entsteht im Anschluss von poetischen Miniaturen, nachdem sich das Schwarz-Weiß auflöst, die Kamera sich im Lebensgehäuse verankert. Wer genau hinsieht, erkennt gar, dass sich die Entzweiung nicht ganz ohne Widerstand der abgebildeten Menschen formiert. Was anhand des charakteristischen Stilmittels gezeigt wird, ist die Unvermeidbarkeit der Fluchwürdigkeit, die aus einer naturgemäßen Verhaftung rührt. Umstände wie die verzweifelte Verlassenheit, das Zurückgeworfensein auf sich selbst, die Trostlosigkeit der Situation, die sich vermittels der Fenster verdeutlichen, stellen Symptome der Beschaffenheit des materiellen Raums dar, die mit dem Kranksein und Älterwerden anschaulich werden, sind allerdings keine Spezifiken dieser Form des Verfalls selbst. Gerade deshalb gewähren uns die Fenster eben auch nicht bloß einen Einblick in die Daseinswelt des Ehepaars. Wer wäre so töricht, den Spit-Screen zu thematisieren, ohne den Einbezug des Sohnes, selbst den des Pflegepersonals, überhaupt das Spiel mit Perspektiven, die Hauptfiguren nicht stets ins Zentrum rückt, inadäquat einfängt, außer Acht zu lassen?

          Ab dem Moment, in dem sich der Split-Screen einstellt, die Anschaulichkeit seinen Lauf nimmt, verliert die Kamera in allem Sichtbaren einen Wert zu erkennen. Wir begleiten das Eheppar bei ihrem Alltag; unterstützt werden wir dabei zunächst vom intelektuellen Geschwafel, das aus dem Fernsehen oder Radio ertönt und die Fluchwürdigkeit rationalisiert. Die Geschäftigkeiten in der Wohnung und die hörbaren Stimmen gehen Hand in Hand, sind verhaftet im Dinghaften, in der materiellen Wirklichkeit. Es handelt sich um Zeugnisse von Ratio und Kognition, wie die ganzen Bücher und Papiere, die wir in jedem Raum antreffen. Noe gelingt, uns die Vulgarität und absolute Hoffnungslosigkeit dieser Wirklichkeit, die nur mit toten Leibern enden kann, zu vergenwärtigen, im gleichen Zug aber Hoffnung auf eine höhere Ebene des Seins zu stiften.

          Zur Fülle begegnen uns Unsittlichkeiten, denen, wenngleich sie sich uns auch nie als Bagatellen präsentieren, kein kritischer Raum geboten wird. Sie werden vom filmischen Duktus routinemäßig anerkannt, folglich als logische Konsequenz einer Verhaftung wahrgenommen. Das Crack rauchen nach dem Tod der Eltern, die Vernachlässigung der Frau aufgrund des Impetus' zur Arbeit, nach Geld verlangen, Grobheiten in der Interaktionen - all das wird uns vom minimalistischen Stil als eine berechenbare Menschlichkeit suggeriert. Die Unsittlichkeiten erscheinen als eine Form rationaler Lebensbewältigung, die von den intellektuellen Stimmen sicherlich problemlos mit dem Verweis auf biologische Mechanismen erklärt werden könnten. Das Dinghafte gibt sich eben auch in der Gestalt des Menschen zu erkennen: Die biologische Entität wird - mit dem schonungslose Bild der Leichen am vielleicht intensivsten - als Bestandteil materieller Wirklichkeit erfahren, damit vollkommen von der Hoffnungslosigkeit subsumiert.

          Wo allerdings begegnet uns dann ein Anlass zur Hoffnung? In den irrationalen Herzlichkeiten, die sich unscheinbar eingliedern in das Heer aus herzlosen Rationalitäten: Die flüchtigen Besänftigung und Beruhigungen, die Nachsicht gegenüber der zur Last gewordenen, die Erschütterung aufgrund ihres Ablebens, das verzweifelte Suchen nach Liebe, nach Gott. Wie sich diese Form - ich bezog mich bloß auf das Explizitere - der Wärme in das Übermaß der Kälte, das Hoffnungsvolle in das Herrschaftsgebiet der Hoffnungslosigkeit einschleust, sich eine Art spurlose Dualität, um es mit Noe zu formulieren, zwischen Gehirn und Herz auftut, vielleicht könnte man auch sagen, zwischen Seiendem und Sein, kann man ob seiner artistischen Gewandtheit nur mit Ehrerbietung begegnen.

          Über das vom Materiellen abgekoppelte, der metaphysischen Entität des Herzens wird die Aussicht auf ein Jenseits vom Nichtigen, ein Jenseits von Hoffnungslosigkeit ermöglicht. Folgerichtig bildet die Kamera, solange sie sich im Reich des Physischen bewegt, nicht den kleinsten Funken von Trost oder Schönheit ab. Selbst in Gegenwart eines filmisches Kunstwerks, mit dem sich Argento in seiner Wohnung auseinandersetzt, will sich ein solcher Funken nicht entdecken lassen. Warum nicht? Weil wir nicht eindringen in den jenseitigen Kosmos, es von einer materiellen Warte aus betrachten. Wir sind nicht im Kinosaal, wo sich, Argento's Herz verweist darauf, der Kontext auflöst, sich der Traum einstellen und zur erfahrbaren Wirklichkeit werden kann. Der Bezug auf den Kinosaal versteht sich im Gesamtzusammenhang als eine Evokation des Jenseits, in dem die Erfahrung des Schönen und Tröstlichen nicht von der materiellen Wirklichkeit negiert werden kann.

          Wir erleben einen solchen Moment, dringen ein in den jenseitigen Kosmos. Bevor sich die Kamera verankert im Heimatlichen, bevor sich das Fluchwürdige veranschaulicht, sich der Split-Screen formiert, befinden wir uns flüchtig in zwei poetischen Räumen. Erst nachdem wir diese verlassen, sich das Schwarz-Weiß auflöst, wir im Reich der Dinge verharren, setzt sich Noe's hoffnungsloser Minimalismus fest und will nicht mehr abreißen, dominiert auch noch bei der Trauerfeier, als wir eine Montage zum Andenken der Verstorbenen sehen. Das vorgespielte Video spiegelt die materielle Wirklichkeit, taugt in diesem Sinne als Analogie zu den trostlosen Bildern des Films, den wir sehen, weist die selben Störungen auf. Nach einer Weile ziehen wir uns zurück und die Kamera kennt weiter keine Rücksicht, zeigt uns das nun verlassene Zuhause mit all seinen materiellen Nichtigkeiten. In diesem Konglomerat aus Dingen konzentriert sich die Hoffnungslosigkeit noch einmal unzweideutig, vielleicht gewaltiger als an irgendeiner anderen Stelle des Films.

          Doch stranden unsere Blicke nicht hier. Die Verhaftung beginnt sich aufzulösen und wir geraten wie anfangs in eine höhere Sphäre. Noe behält die Vagheit der Darstellungsform bei, verzichtet auf die Installation konkreter Deutungsmuster. Wohin führt das Emporsteigen, das Zurücklassen des Dinghaften? Greift hier das Herz nach dem Schönen, begibt es sich, jetzt, wo das von der materiellen Wirklichkeit abhängige verstarb, auf eine höhere Ebene des Seins? Oder zeugt das filmische Ganze gar von einem bereits emanzipierten Bewusstsein des Herzens, welches aus der überirdischen Sphäre ein Gleichnis für die Verabschiedung von der Verdinglichung entwarf, sich in diesem Sinne herabbegibt und wieder emporsteigt? Bekundet der nachweislich noch lebende Dario Argento hier das Zurücklassen seiner im rationalen Raum operierenden Identität, lebt in einem Raum der Poesie weiter? Gilt das gleiche für Noe, der uns anfänglich seine Geburtsdaten preisgibt. Könnte es nicht auch für uns gelten? Doch vielleicht entfernen wir uns von der materiellen Ebene auch in Richtung Nirgendwo, illustriert die Kamerfahrt bloß die Verflüchtigung des Scheins der Hoffnung. Womöglich gibt es nur eine, nur die defätistische Realität, die Schöngeister wie Argento mit seinem: "Traum im Traum", wie vielleicht auch wir, nicht wahrhaben wollen. Man weiß es nicht. Eines ist allerdings gewiss: Sowas wie ein Zuhause, einen solchen Raum unvermeidbaren Elends, wie wir ihn unzweideutig bezeugen durften, der Sohn versichert es dem Enkel frostig vor der Grabstätte, gibt es nur im Reich des Physischen.

          Noe hebt die transparenten Aussichten einer materiellen Weltperspektive hervor, verdeutlicht das Elend als eine Banalität, eine Alltäglichkeit. Das Zuhause wird zu einer Bühne der Hoffnungslosigkeit, auf der die Eigenschaften des Herzens mit flüchtigen Auftritten vermögen eine Dualität anzudeuten. Eine Darstellungsform, welche das Zurückweisen der Perspektive rationaler Geister befördert. Die Irrationalität des Rationalen wird ein ums andere mal offenbar, wenn uns die Kamera mit der Beschaffenheit jener Wirklichkeit konfrontiert, in der Fluchwürdigkeiten unvermeidbar eintreten. Eine Einladung an uns, die wir mehr Emotion sind als Vernunft, mehr Herz als Gehirn, mehr eine Entität des Seins als des Seienden, zur Auflehnung gegen den Materialismus allgemein keimt auf. Das Saatgut des Herzens, das auf den unheilvoll beschaffenen Boden materieller Wirklichkeit gestreut wurde, das sich anhand flüchtiger Gesten der Resistenz, bereits in dem Moment als sich die Unvermeidbarkeit einstellt, der Split-Screen beginnt sich zu formieren, andeutet, trägt seine Früchte. Wir verlassen den Raum des Dinghaften, steigen empor, schöpfen Hoffnung auf eine höhere Ebene des Seins. Eine Wärme beginnt in uns einzudringen, ohne dass die Frage der Sinnhaftigkeit relevant wäre. Das bezeugte Elend verliert an Bedeutung. Endlich ergreift das Herz eine Alternative zum Materialismus, nährt sich aus der Rationalität des Irrationalen. Wie schön.

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            Resolutist 11.09.2023, 18:30 Geändert 19.09.2023, 22:46

            Das Temperament, mit dem sich Nolan dem Stoff nähert, auch die Ernsthaftigkeit, rechne ich ihm hoch an. Seine Batman-Trilogie setzt der Verfechtung eines kategorischen Wertesystems, der sich daraus ergebenden Moral ein Denkmal. In jedem Teil wird unsere Aufmerksamkeit auf eine sie anfechtende Identität, eine Variante des Übermenschen gelenkt. Das Behaupten gegen dessen Attraktivität charakterisiert die Filme. Sie explorieren allesamt die darin enthaltene Schwierigkeit.

            Fraglos etabliert sich die Attraktivität mit dem Portrait des Jokers. Seine Aura vereinnahmt den gesamten Darstellungskosmos, stellt den Protagonisten selbst fast in den Schatten. Während das erratische Spiel von Ledger für Aufsehen sorgen darf, wird Bale durchwegs eine Verhaltenheit im Gebaren, eine unscheinbare Mimik abverlangt. Der Batman dieser Trilogie kennt im Gegensatz zu seinen Widersachern die Auffälligkeit nicht, verfügt über keine Typizität, existiert tatsächlich als Stellvertretung für ein abstraktes System: für das Gesetz. Vermag sich das Unauffällige gegen das Auffällige durchzusetzen?

            Zu viel Wert wird auf die Einsichtigkeit der Handlung gelegt, zu vielseitig erzählt. Die Schicksalsschläge jeder Randfigur werden expliziert. Der Fokus auf das Wesentliche, der in Batman Begins noch stets vorherrschte, geht abhanden. Wo in der Vorgeschichte Inhalte von Motiven an uns kommuniziert wurden, gilt es nun primär die Kommunikation der Figuren untereinander zu verfolgen. Diese erscheinen mehr als Koordinaten, mit denen wir in der Lage sind, die finalen Konstellationen sicher anzusteuern, weniger als für sich relevante Träger von Werten.

            Bereits die Neubesetzung von Rachel bezeichnet die Vermittlungseinbußen. Gyllenhaal kann, auch wenn sie sicherlich nicht die schlechteste Wahl war, die Anmutung des Charakters in Begins nicht replizieren. In Holmes' sanfter Gesichtsstruktur zeichnete sich eine im Wesen verankerte Antipathie gegen die Unmoral ab, an ihren Pausbacken eine vertrauenswürdige Unschuld. Es mangelt an allen Ecken an derartigen Anschaulichkeiten, vermittels welcher sich assoziative Fronten etablieren. Die Explikationen narrativer Einzelheiten, die in "The Dark Knight" vermehrt angewandt werden, scheitern dabei. Exemplarisch lässt sich die unglückliche Methode vielleicht auch an der Demoralisation und der charakterlichen Verwahrlosung von Two-Face bezeugen. Anstatt sie in visionärer Manier, mit auf die Ereignisse abgestimmten Aufnahmen zu vermitteln, kreiert Nolan einen weiteren Handlungsstrang.

            Die Aufmerksamkeit strandet auf der Unbestimmtheit der Erzählform. Der Zuschauer ist darauf angewiesen, dass der Joker ihn mit einem Akt des Wahnwitzes überfällt, ihn mit dem Wesentlichen konfrontiert. Damit kontrolliert er seine emotionale Ausrichtung - bis zum Ende und darüber hinaus. Die Substanz der Unauffälligkeit, das kategorische Wertesystem entfacht, obwohl es sich auf narrativer Ebene durchsetzt, keine Wirkkraft. Am Ende muss uns die Off-Stimme von Michael Caine die Bewandtnis des finalen Akts erläutern. Die Darstellungschronik vermag sie nicht zu vermitteln. Das Bezeugte steht mit dem Unbezeugten, das Hörbare mit dem Unhörbaren im Konflikt. Der Film widerspricht sich - und der Widerspruch besitzt keine Ausdrucksform, ist kein Thema des Films.

            Wieso kann The Dark Knight dennoch die Massen begeistern? Der Übermensch greift jene Zerstörungswut auf, die unter der Bedingung gefühlter Ohnmacht evolviert. Der Appeal entsteht durch eine Summe von Momenten, in denen das Widerstreben der Grundsätze der eigenen demütigenden Lebensroutine erfahrbar wird, nicht durch das filmische Ganze. Ein eskapistischer Unterhaltungswert ergibt sich, der sich zeitlich begrenzt verwerten lässt und gerade nicht vermag eine Rührung der Seele herbeizuführen, die Weltperspektive, damit auch den Charakter des Zuschauers zu prägen. Dafür wird nämlich die Wirkung des Ganzen benötigt.

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              Resolutist 06.09.2023, 16:34 Geändert 06.09.2023, 19:36

              Das Umfeld befindet sich stets im Blickfeld. Die Kamera observiert die Figuren im Modus eines Zirkels, kreiert durch seine weiten Perspektiven und kurvenförmigen Fahrten einen unscheinbaren Bewegungsradius. Der Protagonist wird im Raum, in seinem Milieu gehalten, als wäre ein überaus sanfter Magnetismus am Werk. Doch wer zieht hier eigentlich wen an: Die Person den spezifischen Raum oder der spezifische Raum die Person? In jedem Fall präsentiert uns Pacino im Zentrum eine artistische Gratwanderung zwischen der Wesensart eines Rehabilitierten und der eines Gangsters, vorwiegend zwischen charismatischem Gleichmut und temperamentvoller Kaltblütigkeit.

              Wie auf Schienen verfolgen wir das Schicksal seiner Figur, bezeugen wie die Vereinnahmung mit jeder Interaktion zunimmt. Eine Kakophonie unerquicklicher Vertrautheit lässt sich immer deutlicher vernehmen, wird selbst von den nebensächlichsten Rollen perpetuiert. De Palma kontrolliert die habituellen Ausdrucksformen vollends, schildert uns anhand seines vorzüglichen Casts jede groteske Regung der Unterwelt als erwartbaren Ausfluss milieutypischer Zusammenhänge. Obgleich sich das Netz der verworfenen Unterwelt immer enger zieht, stellt sich für den Held nie ein Moment der Unerträglichkeit, der Betretenheit ein. Stattdessen dominiert selbst in den misslichsten Situationen, eine possenhaft anmutende Vertrautheit mit der Unliebsamkeit der Situation. Die Nonchalance des Schicksals, die Formgewandtheit dessen Vorgangs setzt sich dergestalt mit fortlaufender Dauer durch, wird für den Zuschauer immer ersichtlicher und erreicht gemächlich seine brisante Spitze.

              Das unabdingliche Ende wird entlang der Schienen eintreten; zuvor wird allerdings noch versucht vor diesem zu fliehen - partiell ebenso auf Schienen. Ein todernstes, gleichzeitig aber leichtfüßiges Katz- und Mausspiel, in dem die unkonventionellen Gemüter im Rahmen der Konventionalität aufeinandertreffen, entfacht sich. Nicht das Mitfiebern veranlasst die Begeisterung - schließlich kennen wir das Schicksal -, sondern der unumstößliche Charakter der Lebenspraxis, das nonchalante Wesen, der formgewandte Vollzug des Spektakels. Die elementaren Werte des filmischen Ganzen werden von der Inszenierung auf eine Lokalität konzentriert, kristallisieren sich inmitten des alltäglichen Verkehrs anschaulich heraus.

              Im dynamischen Rhythmus des bis hierhin Bezeugten führt man uns an die unausweichliche Endstation heran, in der sinngemäß keine Sentimentalität wartet, dafür aber eine existentielle Eindringlichkeit. Der Ausweg, den die vornehme Anmutung der Geliebten suggeriert, war nie eine tatsächliche Möglichkeit, wurde stets torpediert vom gleichbleibenden Muster der Observation. Die Szenen mit ihr kennzeichnen sich durch eine subtile Ambivalenz, suggerierten eine Stätte der Hoffnung unter bewölktem Himmel, einen liebsamen Wagon auf unliebsamer Strecke. Die räumliche Anziehung riss nicht ab, die Fahrt auf den identitären Schienen kam - die Kamera untermauerte es - nie zum Stillstand. Nein, in der Immanenz gibt es keinen Ausweg, entsteht keine Utopie, wie es der letzte Eindruck am Rand der Existenz verrät. Der Blick richtet sich genügsam an das Außerhalb.

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                Resolutist 06.09.2023, 16:29 Geändert 07.09.2023, 02:39

                Die Zombies bilden in diesem Klassiker nicht bloß körperliche Tötungsinstanzen; sind als Ganzes viel mehr Gewalt einer historischen Übersinnlichkeit, welche die fortgeschrittene Zivilisation als überwunden dachte. Fulci gelingt es, den sich in der Handlung spiegelnden Vorstoß gegen die aufgeklärte Vernunft als zentrales Motiv seines Horrors zu suggerieren. Diesen erfahren wir in einer von jedweder Konvention befreiten Deftigkeit, die das gefühlte Maß einer vereinzelten Gefahr übersteigt. Unter blauem Himmel, von der Sonne geblendet, findet der erste Übergriff sein Ende. Die Eigentümlichkeit führt gar zu einem Duell zwischen Zombie und Hai, vermag generell die Unaufhaltsamkeit und Grenzenlosigkeit der Bedrohung ins Feld zu führen. Der Eindruck, dass der Motor des ganzen Schreckensszenarios außerhalb rationaler Erklärbarkeit liegt, unmöglich abgewürgt werden kann, stellt sich gemächlich ein - bei uns wie auch bei den Figuren. Die Repräsentanten des aufgeklärten Jetzt können nur noch zusehen, wie das Vergangene Überhand nimmt. Achtsam, beinahe begehrlich erfasst die Kamera den Untoten, wenn er durch das verlassene Dorf streift, die Leichen, wie sie von ihren Gräbern emporsteigen - dergestalt manifestiert sich eine merkwürdige Poesie des Aufruhrs. Die Gewalt zieht immer weitere Kreise, schreitet auf Gedeih und Verderb bis in die aufgeklärten Zentren voran. Ein gelungenes Schlussbild.

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                  Resolutist 06.09.2023, 16:18 Geändert 07.09.2023, 02:40

                  Nicht selten sind Filme mit antiamerikanischen Sentiment relativ stupide und halten eine vulgäre Vermittlungsform bereit. Spring stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar. Die amerikanische Hauptfigur reist nach dem Tod seiner Mutter der Ablenkung wegen nach Europa, findet sich in einer italienischen Ortschaft ein, die von ihrer altertümlichen Physiognomie charakterisiert wird.

                  Die Handlung evolviert in dezenter Form mit vielen Dialogszenen, wird perforiert von Kamerafahrten, welche die Abwesenheit des Künstlichen würdigen. Die Regisseure kreieren einen Gegenpol zur amerikanischen Heimat, in der die Tuchfühlung mit dem Wesentlichen des Seins von den Rahmenbedingungen verhindert wird. In diesem Zusammenhang wird die Kamera temporär als Begleitungsinstanz eingesetzt, offenbart, wenn sie das Links und Rechts der Einzelheiten des fremden Standorts aufgreift, eine ungeläufige Echtheit und Nähe zum Leben, einen Gegensatz zum Motiv der Ablenkung. Es sind vor allem zwei solcher Sequenzen, die in Kombination mit der Bezugnahme auf die kontrastreiche Heimat eine bemerkenswerte Ausdrucksstärke aufweisen und sicherlich zu den Höhepunkten zählen.

                  Das Skript zeugt von Autonomie, orientiert sich nicht an ein psychoanalytisches Muster und widerstrebt Erwartungen. Anstelle der exotischen Komponente, der weiblichen Hauptfigur, entpuppen sich Randfiguren als die mit dem Wesentlichen verwurzelten. Eine gemächliche Heranführung an Bedeutsamkeiten, die persönliche Befindlichkeiten übersteigen, wird mit Blick auf das Liebespaar vollzogen. Wo sich zunächst noch die Erweiterung des Bewusstsein auf die Annäherung an physisch-sinnliche Größen begrenzt, übernimmt später jene an die seelischen diese Funktion, richtet sich auch an das naturgemäß reifere Bewusstsein der beiden. Die Regisseure vollenden ihre Form eindrucksvoll, beenden die Heranführung mit einem Monolog der Erweckung, der sich vor einem inhaltlich assistierenden, Ehrerbietung stiftenden Naturpanorama und -szenario preisgibt. Ich blieb bewegt zurück.

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                    Resolutist 30.08.2023, 18:45 Geändert 30.08.2023, 19:43

                    Ein Gefühlsleben wird uns in einigen wenigen gewichtigen Momenten suggeriert, doch in keinem Szenario bläst ein Hauch von Wärme, entdecken wir in den Gemütern eine Spur der Sanftheit. Graf kreierte hier ein eindringliches Klima der Unerbittlichkeit, offenbart uns mit seinen Bildern den Wettbewerb, oder vielleicht besser, den Krieg als eine gesellschaftliche Dimension, in der es vorherrscht. Anstatt als Gut und Böse, als sympathisch oder unsympathisch, begegnen uns die Figuren als an dieses Klima angepasste Identitäten, als unter dieser Bedingung evolvierte Lebensformen, die ob ihrer individuellen Voraussetzungen zum Gewinn oder Verlust, zum Leben oder Tod verdammt sind. Beachtlich.

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                      Resolutist 26.08.2023, 16:33 Geändert 26.08.2023, 17:07
                      über Dune

                      Eine Oase der Effekthascherei, die vom algorithmisch dröhnenden Soundtrack als existentialistisch verklärt wird. Inhalte werden primär verbalisiert, deuten auf Weltzusammenhänge wie die Weisheiten einer sozial engagierten Volksschullehrerin, die ob ihrer Lieblichkeit von den Kindern etwas zu sehr bewundert wird. Den talentfreien Schauspielern wird bis auf ganz wenigen Ausnahmen nur der Edelmut als theatralische Kategorie erlaubt. In ihrem Spiel existieren keine Nuancen. Die Kategorie manifestiert sich als singulärer Ausdruck, der situativen Entwicklungen nicht gerecht wird. Im Dunstkreis technischer oder choreographischer Attraktionen begegnen uns Chalamet und Konsorten ein ums anderen mal, wie sie mit eingefahrener Mimik einen der Masse vertrauten Ethos preisgeben.

                      Der Zuschauer wird nicht bewegt, dafür jedoch abgeholt. Abgeklärt und von der Musik bei Laune gehalten, primär angetrieben von der antizipierten Attraktion, verfolgt er die Schicksale. Die fehlende Beziehung zwischen Ästhetik und Protagonisten trägt seinen Teil dazu bei, vermag die intuitiven Gewissheiten nicht herauszufordern. Die Bedrohung stellt sich nicht ein, die Dunkelheit des Films rückt den eindimensionalen Helden nicht auf den Leib, obgleich es die Handlungsmotive unterstellen. Die Angst, die Unsicherheit wird stets nur behauptet, wird selbst in den düstersten Momenten von den als hinreißend präsentierten Körperhüllen aufgehoben. Ihre Umgebung, die Schauplätze, welche auch immer, strahlen weder Heimat noch Fremde aus, suggerieren weder Heil noch Unheil. Die Wüste als Mittelpunkt des Geschehens übernimmt in Kombination mit den Riesenwürmern die dominierende Funktion der Spannungserzeugung, schafft es nur über das Drehbuch den ein oder anderen Wert zu berühren, der ohne Projektion, ohne den filmischen Kontext zu verlassen, auskommt. Zum Beispiel liegt in der Pattsituation mit dem Wurm das Potential, eine in Gang geratene Assimilation (an die spirituelle, seelische Heimat) zu verdeutlichen. Tendenziell setzt uns Villeneuve über abstrakte Umstände allerdings nur in Kenntnis, meidet die Unterdrückung, die Brutalität der Existenz, den Widerstand, den Glauben, die Bürde der Verantwortung, das Schicksal, die Schlechtigkeit etc. zu explorieren, sich ihnen mit künstlerischen Mitteln zu nähern. Die Information ist ein vulgäres Prinzip der Vermittlung, welches das Wesen der Umstände im Verborgenen lässt. Dune informiert fast ausschließlich.

                      Die erzählerischen und figurativen Klischees könnten Abhilfe leisten, stünden sie nicht im Dienst der Dramaturgie, führten sie, wie bei ernstzunehmenden Filmen, zu Realisation von Archetypen und ontologischen Silhouetten, erreichten sie den Stand existentieller Wertigkeiten. Das Adjektiv des jeweiligen Motivs - sei es der hässliche Schurke, die korrupte Macht, der unschuldige Erlöser, der tapfere Krieger, das traditionsbewusste Oberhaupt, das naturverbundene Volk, der ehrbare Wilde, die betörende Fremde, das handzuhabende Monster - wird nicht in das Ganze der Darstellung integriert, kann demnach auch nie das Rollenspezifische transzendieren. Die Kamera begnügt sich mit der Orientierung an der bestmöglichen Attraktion, kreiert weder Suggestionen noch Schemata, damit auch keine Verbindungen, die nicht aus der Information rühren, verlässt sich scheinbar darauf, dass Hans Zimmer und verbal suggerierte Polit-Sentiments der profansten Sorte eine Einbildung der Bedeutsamkeit hervorrufen. Und scheinbar aus gutem Grund. Das Publikum bezeugt billig konstruierte Spannungsszenarien, lernt: Ausbeutung = Böse, und bekennt anschließend ungeniert: Große Kunst! Ich hingegen ärgere mich, mir keinen Marvelfilm anstatt diesen albernen Quark gegönnt zu haben.

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                      • 5 .5

                        Enthält in der ersten Hälfte, vielleicht bis kurz nach der Politiker-Montage, qualitätvolle Passagen. Der dunkle Farbton, die schwach ausgeleuchteten Sets zeichnen ein trostloses Bild der Lebenswelt. In Mikkelsen's Augen machen wir immer wieder ein Schatten von Traurigkeit ausfindig. Ab dem Punkt, wo das Skript die Richtung des Konformismus einschlägt, geht die Wirkmächtigkeit jedoch gemächlich abhanden. Eine Synthese zwischen der Bewandtnis des Skripts und der Form bleibt aus. Nur eine Aufhellung der Hintergründe findet statt. Diese erzielt im Grunde fast keine Wirkung, da die visuellen Äußerungen im Areal der Figureninteraktion denselben Charakter beibehalten. Vinterberg's Scheitern beim Versuch einen Schimmer von Liebe zu vermitteln, ist bezeichnend für dieses Malheur. Ein sich anbietender Vergleich wäre vielleicht, weil er auch so bekannt ist, American Beauty. Ein Film, der das konformistische Einlenken wesentlich kunstfertiger vollzieht.

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                        • 2 .5
                          Resolutist 21.08.2023, 16:59 Geändert 22.08.2023, 00:11

                          Oscar Isaac verkörpert einen traumatisierten Veteranen. Über seine vernarbte Psyche erfährt der Zuseher aus dem Off-Kommentar zum einen, aus der demonstrativen Darstellung neurotischer Marotten zum anderen. Der Film transportiert seine Inhalte ausschließlich auf dem Weg der Unmittelbarkeit. Sind keine Informationen aus dem Off zu vernehmen, keine assoziierbare Klischees zu sehen, verlieren die Einstellungen ihren Wert. Es existiert kein genuiner Zusammenhang zwischen den Ausdruckselementen.

                          Unter dieser Bedingung formiert sich eine Geschichte, die anmutet, als hätte sie ein Psychologie-Student auf dem Reißbrett konzipiert. Sie reicht nicht tiefer als eine medizinische Abhandlung über post-traumatischen Stress. Die Figuren begegnen sich unter den immer gleichen Vorzeichen, geben die immer gleichen Gesten preis, evaluieren die immer gleichen Problemlagen, - solange bis irgendein psychologisch "plausibler" Dramaturgieeffekt in die Quere gerät. Die schwülstige Musik gibt ihr Bestes, um den Eindruck zu trüben, die Bedeutungsstruktur weniger seicht erscheinen zu lassen - überall.

                          Die fehlgecasteten Schauspieler sitzen sich vor und nach Pokerturnieren in einer Einstellungen gegenüber, unfähig die anderweitig suggerierte Gefühlswelt zu vergegenwärtigen, eine Realität jenseits des Empirischen zu vermitteln. Das Milieu, in dem sie verkehren, anfangs noch ob der Narration als Instrument zur Traumabewältigung wahrzunehmen, mutiert schnell zu einem fashionablen Kostüm, in das sich der Popcornmampfer selbst wähnen kann, das ihn zur Bewahrung der Aufmerksamkeit anregt. Das Erzählen von Gambling-Anekdoten, das Ausleuchten der entsprechenden Räumlichkeiten erfüllt mit fortwährender Laufzeit bloß noch diesen ordinären Zweck.

                          Die Szenen abseits, wie der Dienst in Abu-Ghraib, ermüdend in ihrer stilistischen Abgegriffenheit, verbinden sich nicht mit dem zentralen Kosmos der Darstellung, operieren unfreiwillig als isolierte Wertigkeiten, die maximal dazu taugen von kleingeistigen Polit-Kommentatoren verwertet zu werden. Kaum anders verhält es sich mit dem Schlussbild: Die Erlösung der Liebe ergibt sich nicht als Konsequenz, als logischer Bestandteil der audiovisuellen Chronik, wird demgemäß auch nicht vergegenwärtigt und als Realität vermittelt. Paul Schrader beendet seine Geschichte mit derselben Methode, wie er sie eröffnete: Mit billiger, einfallsloser Demonstration.

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                            Resolutist 21.08.2023, 16:41 Geändert 21.08.2023, 22:09

                            Ein Bündel an Archivaufnahmen, die eine Chronik politischer Ereignisse bekunden, Motive der Fortbewegung: Schienen, Treppen, Pfade, auf denen sich, die schauderhafte Tonspur lässt es erahnen, ein manifestes Pandemonium anbahnt. Die Umstände schreiten in Corbet's Debut voran, zeugen von einem der Welt eingeschriebenen Topos, der den Sinn eines Werturteils negiert. Die spezifische Bedingung des sich Anbahnenden, der Charakter des Heranwachsens eines künftigen Machthabers, erreicht uns dementsprechend im Duktus der Dokumentation, nicht der Kritik.

                            Wir erfahren die Realität des Jungen als eine sowohl physische als auch geistige Heimatlosigkeit. Sein Umfeld besteht aus distinguierten Erwachsenen, die sich allesamt durch ein Fehlen wirklicher Überzeugungen charakterisieren. Der ideologische Raum gleicht einem Billardtisch, auf dem Ansichten je nach Erfordernis an die notwendige Stelle bugsiert werden. Die Heirat, der Dienst am Vaterland, die Religiosität, das Unterrichten, die Sitten allgemein: Die Existenzweise resultiert aus dem "Man", wird im Geheimen verraten, ist nicht imstande, eine gültige Autorität darzubieten, das sich formierende Ego in seine Schranken zu verweisen, in konforme Bahnen zu lenken. Der Heranwachsende nimmt sie wahr, die Relativität, fühlt keinen Zwang sich Erwartungshaltungen zu unterwerfen, wird abseits, im Unbekannten nach Heimat suchen, nach den vernachlässigten Aspekten der Identität seiner Mutter greifen. Unscheinbar verkörpert der deutsche Freund der Familie, Pattinson's Figur den Zugang zu diesem Unbekannten. Durch ihn wird die an Nihilismus grenzende Relativität der Ansichten das erste Mal konkretisiert: Beim Billard debattiert er mit dem Vater über den Krieg.

                            Corbert schildert uns die physisch-sinnliche Umgebung - teils auch buchstäblich - als ein neutrales Feld, das einlädt weltanschaulich besetzt zu werden. Jenes, die Welt überhaupt, wird nicht nur vom unvoreingenommenen Blick des künftigen Machthabers erfasst; sie erwidert ihn auch, initiiert ihn gar, unterzeichnet ihre Fügsamkeit, Bereitschaft nach Belieben eingerichtet zu werden. Der Anonyme - sei es eine stillende Frau am Straßenrand, ein mühselig den Acker bearbeitender Bauer - der den Pfad der Protagonisten vereinzelt streift, anhand dessen die Brutalität der Verhältnisse zart angedeutet wird, bildet diese Welt mit ab. Die Umstände, sie schreiten eben voran, zeitigen einen politischen Einschnitt, ein Pandemonium. Als es im Finale beginnt Gestalt anzunehmen, begibt sich die Kamera in die euphorisierte Masse, wird von ihr getragen, bestätigt mit ihren Aufnahmen: Die (Mit-)Welt hat keine Einwände! Und wir: Als machtlose Individuen überwältigt wie die Ausnahme, wie das Mädchen, ebenso verstört im Angesicht des Unheils der Geschichte, der Gegenwart und Zukunft?

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                              über Bacurau

                              In seinen besten Momenten vermag Bacurau das Primitive als Tugend zu präsentieren, selbst die Barbarei, indem ihre Definition an die benachteiligte Stellung gekoppelt wird, dergestalt umzudeuten, dass sie nicht mehr als Verwerflichkeit in Erscheinung tritt. Generell gelingt den Regisseuren der Kunstgriff, die "nicht-weiße" Gemeinschaft nicht zu verklären, sie aber dennoch in ein honoriges Licht zu rücken. Am Portrait des Dorfs sticht vielleicht die Gleichzeitigkeit von Atavismus und Modernität, die auf verschiedenen Vermittlungsebenen aufgegriffen wird, am interessantesten hervor.

                              Bedauerlicherweise wird die Wirkkraft jener Qualitäten von einer systematischen Aufreihung symbolträchtiger Versatzstücke untergraben. Deren Tragweite reicht nicht über das Aufgreifen von Politika hinaus, adressiert keine Inhalte jenseits von empirischen Umständen. Die Vermittlungsform vulgarisiert sich durch zu viele obskure Einfälle, phasenweise beinahe bis hin zum Niveau von journalistischen Aufarbeitungen. Etwas weniger Symbolträchtigkeit, etwas mehr stilistischer Ausdruck hätte notgetan für eine tiefere Bedeutsamkeit. So wurde einige Zeit missbraucht; einiges Potential hergegeben. Das gilt auch für den Humor, der folgerichtig einen Bezug zur abstrakten Wirklichkeit, eine Seinsgrundlage vermisst, der zum Spaß verkommt, im Gegensatz zur Gewalt nicht wirklich "interessiert".

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                                Resolutist 17.08.2023, 22:10 Geändert 18.08.2023, 13:32

                                Die Begierde nach einer Frau als Wegbereiter der eigenen Entwürdigung. In jeder Epoche und Kultur konnte man es noch bezeugen. Bunuel verwertet dieses stetige Vorkommen für seinen letzten Film, offenbart uns auf dessen anschaulicher Basis vor allem Paradoxa der hierarchischen Ordnung. Das zivilisatorisch Selbstverständliche wird weniger - wie in vielen seiner Vorgängerfilmen - via Affirmation decodiert als viel mehr von einer unerhörten Perspektive, von der aus die etablierte Vorstellung von Kräfteverhältnissen Kopf steht, neu identifiziert. Das faktische Beispiel der entwürdigende Begierde bildet den Drehpunkt, um den die Einflusslosigkeit des Machthabers, Würdelosigkeit des Würdenträgers, Abhängigkeit des Unabhängigen, Betretenheit der Autorität ersichtlich beginnen zu kreisen. Der Takt des Handelns wird nicht nur von den zwei Versionen der Geliebten vorgegeben, sondern vom unterprivilegierten Kollektiv überhaupt. Die Gutgestellten erhalten beiläufig allesamt den Charakter von Schießbudenfiguren.

                                Es sind meist flüchtige Details, mit denen Bunuel das Zepter bei den Unterprivilegierten verortet: Unbedarfte Gebaren und Gesten der Regenten zum einen, abgebrühte der Unterstellten zum anderen - unterstrichen von der körperlichen Konstitution; Kameraschwenks, die Menschen der Masse erfassen, sie in einer analogen Situation zeigen, die Distanz zwischen den Klassen anzweifeln lässt; auch das Tempo des Schnitts, der keine Zeit einräumt, das Unbekömmliche anzuprangern. Die Lebensszenarien stehen allesamt im Zeichen selbstverständlicher Hilflosigkeit. Die Klasse des Protagonisten ist den Explosionen und Übergriffen, dem Willen der Straße ausgesetzt, hat tatsächlich keinen Einfluss auf die gesellschaftliche Situation, muss sie schlicht akzeptieren. Ihr Verhältnis zur Welt geht jede Souveränität ab, erscheint als eine abhängige Infantilität, von der die zur Schau gestellten Gefühle Zeugnis ablegen. Die gutgestellten Mitreisenden in der Zugkabine hängen dem Erzähler an den Lippen, erfahren die Geschichte, in der - wie gezeigt wird - nicht mal die Identität der Geliebten eine wirkliche Rolle spielt, als eine der Liebe, nicht als eine Invasion eines romantischen Pathos'. Sie nehmen sie andächtig auf, die Kamera aber gibt sie der Ehrlosigkeit preis - die Liebe, den Liebenden wie auch seine Zuhörer, die Bourgeoisie überhaupt.

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                                  über Vazante

                                  Das Institutionelle als eine Gewalt, die sich dem Lauf der Natur entgegenstellt, damit zwangsläufig Drangsal zeitigt. Seine Repräsentanten, in Vazante eingebettet in der Wildnis von Brasilien, offenbaren sich als beklagenswerte, zum Scheitern verurteilte Figuren. Die physiologische Verfassung, die schwerfälligen Bewegungen, insbesondere die verhärteten Gesichtszüge, zeugen von einem geführten Kampf, der nur verloren werden kann. Thomas' Darstellung der Natur, vor deren Hintergrund das institutionelle Geschehen stattfindet, erreicht eine Stufe der Anmut, vermittels welcher das Ideal suggeriert wird, erscheint uns als der Souverän, die Kolonisatoren als Gegenstände ihrer Züchtigung. Fast wirkt es, als würden diese für ihren törichten Eigensinn bestraft, als würde ihr Schicksal darin bestehen, stets aufs Neue zu erfahren, das sich der natürliche Ablauf der Dinge nicht verhindern lässt, er auch im Rahmen der Institution auf die Eine oder Andere Weise vonstattengeht, sich mit ihren Interessen duelliert. Die Formsprache beglaubigt jenes Verhängnis, kontextualisiert das Geschehen im institutionellen Rahmen durch die visuelle Betonung der Grundelemente des Seienden. Zurückgelassen werden wir mit der katastrophalen Situation der individuellen Widernatur, mit ihrem existentiellen Schmerz.

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                                    Resolutist 15.08.2023, 19:00 Geändert 15.08.2023, 19:03

                                    Es wirft uns nicht aus der Bahn, wenn einem Gefährten unserer Lebenszeit ein Unglück widerfährt. Ein Umstand, den wir in diesem Beitrag zum rumänischen New Wave, in dem eine junge Frau plötzlich ums Leben kommt und ein Mord als die plausibelste Ursache erscheint, zu erfahren scheinen. Wir begleiten durchwegs einen Nachbarn der Verunglückten, der einem Tag zuvor im Treppenhaus auf einen derben Streit zwischen ihr und einen jungen Mann, der ebenfalls im selben Haus wohnt, stieß. Muntean greift die Wirkung jenes möglichen Zusammenhangs mit der größtmöglichen Subtitilität auf, verzichtet auf jedwede Explikation. Die Kamera richtet sich regelmäßig auf die Visage des Protagonisten, die unabhängig vom Kontext in derselben Form zu verharren scheint, uns nur schwer einen Einblick in seine Gemütsverfassung offenbart. Dass er das Schicksal der bekannten Person nicht bloß zur Kenntnis nimmt, sondern von diesem auch emotional beeindruckt wird, nehmen wir eher durch Pausen im Handeln, durch ein nachdenkliches Innehalten wahr, veranlasst durch fremde Bezugnahmen auf den möglichen Mord. Uns wird eine gemächliche Veränderung des Bewusstseins gegen dessen Wunsch deutlich; ein Riss im Lebensfilm, in dem Mitmenschen als bloße Statisten stattfinden, der anstatt von einem selbst von der Konvention gedreht wird.

                                    Muntean skizziert die Daseinswelt der Herkömmlichen unscheinbar als eine Fatalität. Sein Realismus hält uns an der Nichtigkeit des alltäglichen Lebensprozesses, erlaubt uns keinen Einblick in eine Tiefe, in eine Innenwelt. Das Aufeinandertreffen von Personen, seien es anonyme oder bekannte, die minimalistisch observiert werden, zeugen durchwegs von seelischer Distanz. Im Vorspann liegt der Fokus nicht zufällig auf den tierischen Gefährten, hinter dem der menschliche an Schärfe verliert. Im sozialen Verkehr, innerhalb welchen der Nachbar der Verstorbenen seine gewerbliche Pflichten ausübt, erscheinen seine Mitmenschen gleich Atome, die sich von A nach B bewegen, eine banale Funktion erfüllen und darüber hinaus keine Bedeutung für den Protagonisten und den Rest der sozialen Umgebung haben. Auch im familiären Kontext vermissen wir den Austausch von Seelenwelten. Ohne Rücksicht wird uns die in ihm stattfindenden Interaktionen mit demselben Minimalismus geschildert, der das Nichtige als das Um und Auf pointiert, jede alltägliche Nähe wirklichkeitsnah auf eine angemessene Zweckmäßigkeit zwischen grauen Schablonen reduziert.

                                    Gäbe es keine Nachwirkung der schwerwiegenden Observation, wäre da nicht das sich gemächlich bahnbrechende beeindruckte Gemüt des potentiellen Zeugen in einem Mordfall, ließe sich weit und breit keine gefühlsmäßige Tiefe vermuten. Der stoische Habitus des Protagonisten exemplifiziert das Spannungsverhältnis zwischen der Ergriffenheit des Innen und der Uniformität des Außen. Verschwindend schleichen sich die Momente ein, in denen sich Erstere behauptet, sich die seelische Distanz reduziert, das Gegenüber intensiver erfasst, eine existentielle Tiefe in ihm adressiert wird, sei es in der Form von etwas längeren Blicken, etwas kompromissloseren Auseinandersetzungen. Ohne sie zu spoilern, ergibt sich daraus auch die signifikanteste Szene des Films. Im Anschluss an sie, als die geräderte Erscheinung der Ergriffenheit das Sonnenlicht erfasst, wird uns kurz erlaubt Hoffnung auf das Ablegen des Jochs der Konvention, auf die Absetzung der Herrschaft des Nichtigen zu schöpfen. Schnell weicht jedoch die Helligkeit wieder dem grauen Alltag, wird die Unvertrautheit unter Vertrauten, die Ferne der Nähe wiederhergestellt. Mit dem Ausruf im Schlaf, dem zeitlebens verwehrten Wunsch der Tiefe, des Unterbewusstseins, die Nichtigkeit, das Dasein als Niemand aufzuheben, wird geschlossen.

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                                      Resolutist 21.04.2020, 05:20 Geändert 21.04.2020, 12:31

                                      Sobald ein hohe Wellen schlagender Film arm und reich gegenüberstellt, kommen sämtliche Pseudointellektuelle dieser Welt aus ihren Löchern gekrochen und geben ihre plumpen, niedriggesinnten Thesen preis, auf die sie durch kulturelle Faktoren ihrer spezifischen Daseinsform konditioniert wurden: um "Kapitalismuskritik", "Klassenkampf" oder Rekapitulationen der Thesen bekannter Theoretiker soll es gehen. Das obligatorische Urteil, nachdem man ein Erzeugnis damit in Verbindung bringt: "Meisterwerk!" Ja, die kollektive Akklamation im Sinne einer Zuschreibung von Wichtigkeit und Bedeutsamkeit, sowohl von Kritikern als auch dem regulären Publikum, erklärt sich, wie eigentlich meistens, durch die Transparenz bestimmter "politisch relevanter" Schemata in der Darstellung. Das von der Politik vulgarisierte Bewusstsein identifiziert sie und ruht sich, als wäre die Assoziation mit konkreten, verdinglichten Gegenständen das Tiefsinnigste überhaupt, mit einem Dünkel der Distinktion auf ihnen aus. Die Vorstellung, dass ein künstlerisches Erzeugnis erst von erheblicher Qualität ist, wenn sein Ausdrucksniveau in der Lage ist Gegenstände zu adressieren, welche nicht auch genauso gut im Bundestag abgehandelt werden können, ist den meisten dieser Individuen hingegen fremd. Was für ein Glück also, dass das Erzeugnis stets klüger ist als seine Rezipienten.

                                      Joon-Ho Bong's neuester Film ist eben kein Ersatz für eine bestimmte Lektüre oder Reden im Bundestag von Sahra Wagenknecht, wie es uns die Verbildeten dieser Welt weis machen wollen. Die Begründbarkeit des Films liegt weder in einer am Leitfaden bekannter Thesen konzipierten differenzierte Darstellung von unterschiedlichen Klassenidentitäten noch in der Herausstellung des antagonistischen Verhältnis zwischen ihnen. Wir dürfen eben nicht im Stil von Wolfgang M. Schmitt abweichen vom Darstellungskosmos und auf Basis von externen Quellen auf Inhalte schließen, wie bspw. die Klassifikation der reichen Familienmitglieder als Parasiten, obwohl uns diese de-facto in keinster Weise als solche suggeriert werden. Für so ein Urteil müssten wir schon Gelerntes, wie das Abhängigkeitsverhältnis von Kapital und Arbeit, auf den Film projizieren und sodann garantiert verhindern ihm gerecht zu werden.

                                      Wenn er aber untauglich ist für eine Kapitalismuskritik in der üblichen banalen Manier, wozu dann dieser schablonenhafte Entwurf von klassenbedingten Umständen und das Aufeinandertreffen der in ihnen verfangenen Identitäten? Die Antwort darauf kann uns nur das Ausdrucksgepräge des Films selbst liefern: Nun, welcher Umstand konstituiert sich als zentrales schematisches Merkmal? Etwa nicht die ausgeprägte Differenz zwischen den Privilegierten und Unterprivilegierten im Hinblick auf ihre Wesensart, ihre Persönlichkeit, ihre allgemeine Einstellung zum Leben? Erstere verkörpern den Anstand, die Gutgläubigkeit und Vornehmheit, Zweitere das genaue Gegenteil: die Durchtriebenheit, Skrupellosigkeit und Vulgarität. Keine Spur von Anstand oder Grazie finden wir bei den Parasiten - und als solche, man täusche sich darüber nicht, werden uns explizit und mit plakativer Symbolik (nicht negativ zu verstehen) ausschließlich die Armen geschildert. Gerade die stilistische Handhabung dieses Gegensatzes, die Abwesenheit einer Reflexion, einer Rechtfertigung der charakterlichen Eigenheiten und die in diesem Zusammenhang munter-fidele und selbstverständliche Akzentuierung des Tuns, die subtile Verwertung für die Komik, ist essentieller Bestandteil für die Vermittlung des Wesentlichen und kennzeichnet die artistische Qualität des Films. Auch wenn es der auf eine bestimmte Weltanschauung programmierte Bildungsbürger nicht wahrhaben will, werden uns hier eben keine Fassaden geschildert, hinter welcher sich in Wahrheit ganz andere Charaktere verbergen.

                                      Die Rechtfertigung und Rationalisierung für die Unsittlichkeit der Armen bleibt also genauso aus wie eine Unterhöhlung der Sittlichkeit der Reichen. Der Zweck dieser Abwesenheiten, dieser freilich-munteren, stets ins humorige abdriftenden Schilderung der Charaktereigenschaften, ist die Vermittlung deren Überflüssigkeit (die der Rechtfertigung, Rationalisierung) fußend auf die bereits bestehende Einbettung des ganzen Komplex aus Charakteristika in das stilistisch betonte Entscheidende, in die spezifischen ökonomischen Bedingungen des jeweiligen Daseins. Bong-Joon-Ho hat mit Parasite einen Film konzipiert, in dem sämtliche individuelle Lebensäußerungen durch ökonomische Bedingungen determiniert sind. Das Ökonomische als die entscheidende Größe der kontemporären menschlichen Existenz: der Anstand findet sich nur dort, wo man ihn sich auch leisten kann. Die Unsittlichkeit und die Absenz des Anstands bei den Armen, die zynische Einstellung zum Leben sind nicht weniger Folge ihrer Lebensbedingungen als ihr unangenehmer Körpergeruch. Das ist der Zusammenhang den Bong-Joon Ho kompromisslos vermittels jeder Pore seiner Szenarien herausstellt. Das Gemetzel gegen Ende ist nicht irgendein obskur-beliebiger Versuch einen Klassenkampf nachzustellen, sondern eine Konzentration von bedingten Lebensäußerungen: sowohl der Wahnsinn als auch das Ressentiment als ebenso Folgen ökonomisch bedingter Lebensumstände. Der arme Vater, hin und her gerissen zwischen notwendiger Fürsorge und Gehorsam, ermordet seinen Chef nicht aus Berechnung, sondern aus Affekt, als Konsequenz eines angestauten Grolls, den der Film gemächlich anhand des Unbehagens wegen der Wirkung seines Körpergeruchs berührt. Das blutige Kernszenario im Garten ist ein Mikrokosmos der notwendig normierten Alltagsbarbarei unter einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation: Ein Banküberfall gestern, ein Suizid heute, eine Körperverletzung morgen, etcetera.

                                      Symptomatisch für den Film ist vor dem Hintergrund des ökonomischen Primats auch sein Schlusspunkt, der nicht, wie es im Nachklang einer illustrierten Katharsis üblich ist, eine besinnliche Rationalisierung unternimmt, sondern seine bis hierhin dargelegte Wertlogik verdoppelt: kundgetan wird das Träumen und Streben nach Wohlstand, um sich und Angehörige aus dem Ungemach zu befreien. Das Ökonomische bleibt der Dreh- und Angelpunkt. Ein fatalistischer Film.

                                      Noch ein paar Worte zu Wolfgang M. Schmitt:

                                      Leider weder Marx noch Bourdieu verstanden.

                                      Die Charaktermaske bei Marx setzt man nicht auf und wieder ab, ist keine Metapher für eine Rolle in die man situativ schlüpft, wenn es gerade zweckdienlich ist, sondern versteht sich als konstitutive Größe für eine Existenzform überhaupt in einer kapitalistischen Gesellschaftsformation. Er negiert mit dem Begriff das Verständnis des Charakters eines Menschen als abgekoppelt von gesellschaftlichen Prozessen. Es handelt sich insofern um eine Maske, als dass die charakteristischen Eigenschaften von bspw. Arbeiter und Kapitalist nicht durch die Natur des Subjekts begründbar sind. Zwecks Funktionstüchtigkeit des Systems wird er stattdessen auf eine Rolle konditioniert, die zu seiner Identität wird. Die Maske setzt er sich nicht selbst auf, sondern wird ihm von den systembedingten Verhältnissen aufgesetzt. Anders formuliert: er mimt nicht das, was er nicht ist; er wird das, was er nicht ist.

                                      Bedauerlicherweise ist das Instrumentalisieren von Bourdieu noch deutlich hirnrissiger: Wenn sich sein Schaffen durch eine Sache kennzeichnet, dann durch das Skandalisieren der ständigen Reproduktion der Ungleichheit auf Basis intransparenter Mechanismen, die sich durch das Abfärben der habituellen Eigenheiten der sozialen Umgebung auf die Subjekte empirisch erfassen lassen. In seiner Studie geht es eben gerade darum, dass für Emporkömmlinge von Unterschichten es so gut wie unmöglich ist ohne institutionelle Entgegenwirkung sich das notwendige soziale und kulturelle Kapital anzueignen und dementsprechend einen Habitus auszuprägen, der in privilegierten Zirkeln jenseits ihres sozialen Felds gebilligt wird. Wenn man schon Bourdieu heranzieht, müsste man folglich schließen, dass Parasite in kompletter Opposition zu seinen Erkenntnissen steht. Denn die Aneignung des Habitus, der notwendig ist um aufzusteigen, vollzieht sich im Film problemlos.

                                      Nun, leider spielen diese "Details" für Schmitt überhaupt keine Rolle, da es, wer errät es?, mal wieder um das projizieren des eigenen Weltverständnis geht und nebenbei noch der intellektuelle Dünkel, insbesondere bei seinem Publikum, kultiviert werden kann. Warum also nicht, nur weil im Film Hochstapelei betrieben wird, man dort also naturgemäß in fremde Rollen schlüpft und sich einen bestimmtes fremdes Verhalten aneignet, behaupten es handle sich um die Habituslehre von Bourdieu? Ähnlich wie bei "Mrs. Doubtfire", dort wird auch, selbstredend neben der Gendertheorie von Judith Butler, die Habituslehre exerziert, nicht wahr?

                                      In Wahrheit verhält es sich natürlich völlig anders: Parasite thematisiert eben gerade nicht den Habitus, gerade nicht die performativen Äußerungen, seien sie auch noch so verinnerlicht, sondern die innerpsychische Struktur der Subjekte. Nein, die Szene in der die beiden Kids vom Zimmer auf den Garten hinabblicken und der Junge den Wunsch artikuliert ähnlich entspannt zu sein wie die privilegierte Menge unten, adressiert nicht den Habitus, das Performative, sondern das authentische Lebensgefühl, die psychisch-seelische Konstitution dieser Individuen. Hier geht es einmal mehr um die ökonomische Bedingtheit: über Seelenruhe und Gelassenheit verfügen die, die es sich leisten können, die sich nicht zwangsläufig in Problemlagen wiederfinden. Der Film fragt sich nicht, entgegen der Behauptung von Schmitt, wie man sich entspannt und gelassen in einer elitären Gesellschaft bewegen kann, sondern stellt fest, dass die Gelassenheit und das Entspanntsein die Folge des elitären Status, des Wohlstands selbst sind.

                                      Seine These der Habituslehre ergibt im Kontext der Szene nicht bloß keinen Sinn, weil das "Entspanntsein" und die "Lockerheit" keine Kategorien eines elitären Habitus sind, sondern wirkt gar völlig hanebüchen, da, wie bereits erwähnt, dessen Aneignung ohnehin problemlos vonstattengeht. Selbst dieser Umstand, also die Problemlosigkeit der Hochstapelei, die Abgebrühtheit und das Gefinkeltsein, subsumiert sich, nebenbei bemerkt, unter das ökonomische Primat: Die Gaunerei beherrschen diejenigen, die sie nötig haben. Deshalb erfahren wir die privilegierte Familie auch als eine Oase des Anstands und der Gutgläubigkeit. Dabei handelt es sich eben um keine Maske, keine Fassade. Der Film unterhöhlt diese Charakteristika nicht, sondern hält sie in freilich-ungezwungener Manier fest - und daraus zieht er auch seinen Humor.

                                      Darüber hinaus erfährt die Aneignung des Habitus überhaupt keine signifikante stilistische Gewichtung. Klar, die Hochstapelei ist Teil des Plots, doch das filmische Augenmerk liegt stets auf die genuine Persönlichkeitsstruktur der Akteure. Ein Bemühen die Eigenheiten des elitären Sozialcharakters nachzuvollziehen, ist so gut wie abstinent. Der Film kümmert sich kaum darum: es wird beiläufig und spielerisch bewältigt. Man vergleiche es mit bspw. der Gewichtung der Szene, wo der Vater artikuliert, wie sinnlos es ist irgendwas im Leben zu planen; oder die subtilen Momente des Grolls, wenn er merkt, dass sein Körpergeruch eine latente Abneigung hervorruft.

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                                        Resolutist 04.11.2019, 17:14 Geändert 04.11.2019, 17:26

                                        "I go to bed in Havana thinking about you pissing a few moments ago. I looked down at my penis with affection, knowing it has been inside you, twice today, makes me feel beautiful."

                                        Es ist typisch für Korine, dass er es vollbringt mit diesem Gedicht Gefühlswelten zu berühren. Der Komplex aus hedonistischen Motiven und anarchischen Sentiments wirkt wie ein Kostüm, das grenzenlose Wärme spendet, sobald man sich damit dekoriert und seine Sinne vom indifferenten Stoff vereinnahmen lässt. Demonstrativ kreiert er eine visuelle Poesie jenseits von Ideologie und Moral, die uns in ein Reich befördert, in der das Glück gebieterisch über alle prekären Landschaften der Seele ihr gigantisches Geborgenheit spendendes Zelt aufschlägt, innerhalb welches wir abgeschottet sind vor domestizierenden Einflüssen und wir belieben nach Maßgabe des Selbst zu existieren. Was für eine befreiende Luft wir in dieser Umgebung doch atmen! Wie herrlich dieses Flanieren, diese Abwesenheit von Richtsprüchen, dieser Luxus, dieser Sex, dieser Drogenkonsum, dieses viele nackte attraktive Fleisch, diese Untreue, diese Falschmünzerei, diese Zurückweisung der Obrigkeit, diese geschmacklosen Witze, dieses willkürlichen Rollstuhlfahrern eins mit einer Flasche über die Rübe ziehen und alles was sonst noch zum süßen, schönen Leben dazugehört, wie herrlich doch all dies auf unser Gemüt wirkt!

                                        Gemeinsam mit dem von Matthew McConaughey verkörperten Moondog zirkulieren wir liebestrunken durch die abstrusen Kategorien und Institutionen des zivilisatorischen Gefüges ohne auch nur einmal ihre immanenten bornierten Maßregeln mit einem ernsten Gestus würdigen zu müssen. Ein unwillkürliche Erheiterung zeichnet sich gemächlich in unseren Gesichtszügen ab, währenddessen wir den Geschehnissen beiwohnen, deren zerstreuungsaffinen und possenhaften Augenblicke aus dem tiefen Brunnen des Verlangens geschöpft wurden, dort wo neben der Unbekümmertheit auch der persönliche Friede darauf wartet an die Oberfläche bugsiert und auf den Boden des Daseins ausgeschüttet zu werden. Sodann bezeugen wir das emporwachsen eines anmutigen Blütenstrauchs, wie die spirituale Montage, die an der Promenade beginnt und im Unfall endet, in der sich die Synthese aus weltanschaulicher Freiheit und Herzenswärme am potentesten entäußert und ihren heilsamen Duft versprüht, der wie Balsam auf unsere durch ruppige Lebensumstände verwundete Seelenleben wirkt. Gab es einen schöneren Moment in der diesjährigen Kinosaison?

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                                        • Durch einen antirassistischen Wirrkopf (DeBlasio) 41 Millionen für ein paar Jungs, die damals mit Vorsatz Leute zu drangsalieren und gegebenenfalls zu verprügeln, auszurauben sich am Schauplatz des Central Parks aufhielten. Und genau das taten sie auch unbestritten. Eines ihrer multiplen Opfer war ein Radfahrer, dessen Schädel mit einem Rohr eingeschlagen wurde. Betreffend der mutmaßlichen Vergewaltigung gab es unzählige Zeugenaussagen von Unbeteiligten, die Geständnisse von den Jungs selbst, Indizien- und Sachbeweise, die mit diesen Geständnissen übereinstimmen und schlicht die Schuld der Kids in ein wahrscheinliches Licht rückten. Die für das Urteil verantwortliche Jury bestand überproportional aus Minderheiten. Der Jurysprecher war demgemäß auch schwarz; der Richter ebenso. Der führende Detektiv, der zwei der Fünf am Tag der Tat verhaftete und wie alle am Fall beteiligten bis heute überzeugt ist von der Schuld der Fünf, war schwarz. Betrachtet man die Beweislage objektiv, ist das auch nach wie vor eine zumindest verständliche Haltung. Es gibt keinerlei Beweise, dass die Geständnisse "erzwungen" wurden. Die Eltern waren anwesend (die Geständnisse vollzogen sich in ihrem Einverständnis), die Rechte wurden ihnen klar und deutlich vorgelesen. Keine konkreten Anzeichen, dass irgendeiner der damals Verdächtigen sich an ein Skript orientierte. Man musste ihnen nichts aus der Nase ziehen, wie man sagt. Im Gegenteil: jede einzelne Aussage haftet der Geruch der Authentizität an. Die Vernehmer stellen eben nicht, wie es typisch ist bei Fällen wo Unschuldigen eine Tat untergejubelt wird, ständig Fragen, die von den Verdächtigen nur mit Ja oder Nein beantwortet werden. Kein Wunder, dass die Partei der Angeklagten versuchte sowohl vor als auch nach der Verhandlung die Verhörvideos unter Verschluss bzw. von der Öffentlichkeit fern zu halten.

                                          Man könnte weiter auf unzählige Umstände verweisen, die die Schuld der Jungs indizieren: Die Kratzwunde im Gesicht von Richardson ist bis heute nicht erklärt: als man ihn vor Ort befragte, gab er eine Ursache an, die sich schnell als Lüge entpuppte. Seine Unterhose war übersät von Gras- und Spermaflecken. Die Verletzungen am Opfer konnten gemäß Experten nicht bloß von einem Täter stammen: unzählige Wunden und Kratzer mit unterschiedlichen Charakter am ganzen Körper, unterschiedlich große Handabdrücke, die auf die Tatnacht zurückgehen. Das Opfer selbst, das sich nicht an die Tat erinnern kann, ist angesichts ihrer Verletzungen und allgemeinen Zustand auch heute noch davon überzeugt, dass unmöglich bloß ein Mann sie vergewaltigte. Was DNA anbelangt: Es wurde grundsätzlich kein verwertbares DNA-Profil auf dem Opfer gefunden, da das Opfer eben noch lebte und es erste Priorität war sie vom Tod zu bewahren. Sie lag zunächst mal bereits über Stunden im Dreck und der Tatort (ihr Körper) wurde später natürlich vom Rettungspersonal konterminiert. Ihr Körper wurde erst viel später im Krankenhaus nach Spuren untersucht. Der einzige Grund warum Reyes' DNA, der verurteilte Mörder, der später gestand, konklusiv war und überhaupt entdeckt wurde: sein Ejakulat war in einem Socken isoliert. Darüber hinaus stimmte die Geringfügigkeit der Spermaspuren, unabhängig von der Verunreinigung des Tatorts, überein mit den Geständnissen der Jungs, aus deren Gesamtheit eben hervorgeht, dass keiner von ihnen zum Orgasmus kam. Es wurden partielle Sperma- und Blutspuren gefunden, die aber aufgrund besagter Verunreinigung nicht konklusiv waren, ergo kein Ergebnis einbrachten (Salaam gestand unter Repräsentation eines Anwalts, den seine Mutter erwählt und bezahlt hatte, dass es seine Spuren sind und er auf die Frau mit dem selben Rohr einschlug, mit den er zuvor den Radfahrer schwer verletzte). Wie erwähnt: die Beweislage am Tatort inkriminierte, so zumindest dem Anschein nach, mehrere Täter. Die DNA-Übereinstimmung mit Reyes änderte daran nichts. Das Sperma im Socken, das von keinem der Jungs stammte, deutete gemäß der Perspektive der Beamten von Beginn an auf einen noch nicht identifizierten Hauptverdächtigen hin. Die Jungs wurden von Beginn an nie als Haupttäter angeklagt, sondern als konzertierende Akteure, als Mitbeteiligte an einer Straftat, deren zentraler ausübende Kraft nicht gefasst wurde.

                                          Sind die Fünf nun also schuldig? Keine Ahnung. Sicherlich ist es keine Seltenheit, dass Beamte aufgrund äußeren Drucks schnell einen Tunnelblick einnehmen und durch deduktives Verfahren, also nur im Suchen nach und in Betracht ziehen von spezifischen Beweisen, von deren sich die Schuld der bereits Verdächtigen, ergo ihre Theorie ableiten lässt, fehlerhaft urteilen. Ob es in diesem Fall so war, weiß ich nicht. Klar ist allerdings, dass es sich bei der Handhabung des Falls um keine Besonderheit handelte, wie es von der Serie und unzähligen Medienanstalten dargestellt wird. Ein Indiz dafür ist ja bereits das Faktum, dass sich die fünf Kids wie auch viele andere Schwarze und Latinos mit der Absicht zu "Wildern" an den Schauplatz begaben und dann eben auch unzählige Personen angriffen und verletzten, teils schwer. Wenn am gleichen Schauplatz dann auch eine Frau vergewaltigt wird, so liegt die Annahme, dass die Tat von Schwarzen und Latinos begangen wurden, eben nicht gerade fern. Kurzum: der Rassismus, aufgrund welchen diese Jungs verurteilt worden sein sollen, ist unbelegt. Es gibt nicht nicht mal ein solides Indiz, das zu dieser Annahme führt.

                                          Diesen Umstand ungeachtet, verurteile ich allerdings den bekannten ideologischen Wahn von Ava Duvernay nicht. Sie kann ihren Film so konzipieren, wie sie will und hat auch keine Verpflichtung Realität abzubilden. Sie wurde auch kürzlich mal gefragt, inwiefern die Gefahr besteht, dass man den objektiven Blick verliert und am Leitfaden persönlicher Gefühligkeiten konzipiert und inszeniert. Ihre Antwort: "die Serie ist ein subjektives Erzeugnis - nichts daran ist objektiv." Soll natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich überzeugt bin von einer vulgären Vermittlungsform, die schließlich den Großteil von Propagandawerken kennzeichnet. Ansehen werde ich mir die Serie aber trotzdem, da es sich ja anscheinend doch um eine der besten Komödien des Jahres handelt. Meine Belustigung wird aber wohl kaum mein Entsetzen über das Bildungsniveau der Masse überschatten können, dass sich flächendeckend in den Reaktionen auf schauerliche Weise bemerkbar macht. Nicht weil aus ihnen die Annahme hervorgeht, dass die Fünf die Frau nicht vergewaltigt haben, sondern aufgrund der totalen Abwesenheit eines Instinkts zur Skepsis, der ja in Bildungsinstituten eigentlich verabreicht werden sollte, um das Bewusstsein vor manipulativen Einflüssen zu schützen.

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                                          • 8 .5
                                            Resolutist 31.08.2018, 21:10 Geändert 31.08.2018, 21:35
                                            über mother!

                                            @Daggiolone
                                            mh, ok - ich denke das Problem liegt hier in einer zu unmittelbaren Betrachtungsweise, die einem letztendlich die Sicht auf die eminente Tragweite von Aronofsky's Entwurf versperrt. Die Persönlichkeitsmerkmale der männlichen Hauptfigur sind doch in einem ganzen Komplex von charakterlichen Ausdrucksformen eingebettet. Sie sind schlicht partikulare Illustrationen des agonistischen Verhältnisses zwischen der Protagonistin und ihrer Außenwelt, welches im Laufe des Films immer manifester wird.

                                            Grundsätzlich ist man nicht gut beraten, wenn man in einem Erzeugnis, das ein hohes Abstraktionsniveau aufweist, nach singulären Symboliken Ausschau hält, mann ein bestimmtes - in diesem Fall - narratives Ausdruckselement also nicht im Kontext, nicht als Fragment eines Geflechts begreift, sondern eben unmittelbar deutet, wie eben das Szenario, wo der Vater das Baby der Menschenmasse aushändigt, und es anschließend dem Kannibalismus zum Opfer fällt. Ein solches Narrativ zu verwenden, um die Auswirkungen des "Egotrips" des Vaters darzustellen, wäre tatsächlich idiotisch und lächerlich; was ein Indiz dafür ist, dass es nicht diesen Zweck erfüllt. Dieser wird erst erkennbar, wenn man sämtliche Ausdrucksmotive des Films mit diesem Szenario (bzw. generell mit der Dämonie im letzten Drittel) in Bezug setzt. Ansonsten besteht eben die Gefahr einer reduktionistischen Betrachtungsweise, wo man eben zum Beispiel zwar den Kannibalismus nicht unmittelbar begreift, dafür aber die Rolle des Vaters. Nun sind aber sämtliche Elemente des Films abstrakte Instrumente und Gleichnisse, aus deren Zusammenspiel sich immaterielle Entitäten, die Wesenhaftigkeit der Phänomene materieller Realität erkenntlich zeigen. Anders formuliert: die Summe aller Ausdrücke im Film bilden ein einheitliches Symbolsystem.

                                            Was Aronofsky mit seinem parabolischen Entwurf bezweckt - und ich bin mal so mutig und formuliere normativ - ist eine Entblößung des ruinößen Fundaments (um mich jetzt mal direkt auf die Bildsprache des Films zu beziehen) auf dem unsere etablierten Ideale fußen: er veranschaulicht ihre tatsächliche trostlose Qualität. In diesem Zusammenhang ist der rituelle Kannibalismus nur ein Motiv von vielen, in der sich abstrakt der Charakter der bestehende Welteinrichtung manifestiert, die unverträglich ist mit den porträtierten Idealen: der Liebesbeziehung und der Mutterschaft. Ob man diese nun als die eigentliche Sachgehalte des Films begreift, oder sie exemplarisch für ein unlauteres Wertsystem deutet, liegt, denke ich, im Auge des Betrachters.

                                            Vor diesem Hintergrund könnte man den Film auch in zwei Abschnitte unterteilen, in der die jeweilige ideale, illusorische Vorstellung von den sozialen Bedingungen als eben solche entlarvt wird, ergo von der Qualität im Realen negiert wird: Als die Liebe ihren Glanz verlor, der Kristall durch die realen sozialen Umstände brach, sich das Dasein verdunkelte, das Gerüst des Ideals bröckelte, behebte die Mutterschaft den Schaden und versorgte das Dasein wieder mit Licht. Diese romantisierende Wirkung illustriert Aronofsky relativ plastisch, als er - angelehnt an den Beginn des Films - in in einer Szene zur Mitte die verdorbene Landschaft und das ruinöse Anwesen wieder mit Potenz ausstattet und sie mit Farbe befruchtet. Mit ihr beginnt quasi die Destruktion des zweiten Ideals.

                                            Generell muss man konstatieren, dass Aronofsky's Formsprache sehr reichhaltig ist, es keine wirklichen Augenblicke gibt in dem bloß Anschauungsmaterial exponiert wird. Seine Ästhetik verhält sich stets analog zum Gefühlsleben der Protagonistin, zum Status des Destruktionsprozess, der von der Umgebung vollzogen wird; noch die unscheinbarsten Kamerabewegungen stehen im Dienste der Vermittlung des abstraken Verhältnisses von der Frau und Mutter zu den Charakteristiken der unzuträglichen Welteinrichtung. So suggeriert die Kamera schon in der Anfangsphase durch eine geschickte Positionierung und praxisnahen Aufnahmen latent die zudringliche und antagonistsche Potenz der Umgebung, der sozialen Verhältnisse überhaupt, die später durch Narrative verstärkt wird und einen immer klareren schädlichen Charakter annimmt.

                                            @McSebi
                                            "Wir Menschen sind rücksichtslose, gewalttätige Kreaturen, die nicht mit der Erde umzugehen wissen und deshalb eines Tages den Preis dafür zahlen müssen".
                                            Soso - diese Botschaft schreit einem also quasi ins Gesicht? Interessant. Kannst du mir erklären, wie man zu solch einer Einsicht gelangt?

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                                              In der Einleitung, mit den Aufnahmen von heruntergekommenen Werbetafeln, die unausgegoren und verlassen in der vom Nebel bedeckten Landschaft walten, wird der grobschrötige Charakter des Seins akzentuiert. Das Szenario, welches sich infolge entfaltet, schildert uns McDonagh mit einem ästhetischen Bewusstsein dieser Grundbedingung, welche die unerbittliche Verfasstheit der Existenzen determiniert. Diese ist das Konzentrat der inhaltlichen Zusammenhänge, die ontologische Substanz des Films.

                                              McDonagh präsentiert uns seine Figuren aus einem Blickwinkel, in der sich der Schatten ersichtlich zeigt, den die Bedingungen der Existenz auf diese selbst wirft. Anstatt schematische Klassifizierungen (die selbstlose, tugendsame Mutter, die bösen Rassisten, etc..) werden uns aus dem Leben gegriffene Figuren auseinandergesetzt, die allesamt ringen mit der schonungslosen Verfasstheit ihrer Lebensrealität. Die als Stilmittel fungierende omnipräsente Vulgarität des Films, ist dabei ein Element, das diesen Umstand immer wieder hervorhebt. Aus ihm, aus diesem universellen Ringen, dieser zähen Handhabung mit den schonungslosen Verhältnissen der Existenz rührt - da es eben unausweichlich alle Existenzen betrifft - auch die solidarische Potenz, die im Film grassiert (die sich wohl am anschaulichsten in der Szene, wo Wilough Mildred das Blut ins Gesicht hustet, manifestiert. Nebenbei bemerkt, natürlich auch groß gespielt (dieses Verständnis, das sich sofort latent in McDormand's Mimik breitmacht), wie überhaupt der ganze Film).

                                              Jenseits dieser Potenz sind es aber auch generell Anstriche von Wärme und Menschlichkeit, die den Film prägen. Wenn sich Mildred, während sie auf der Schaukel sitzt, beim derben Dixon bedankt, dann richtet die Kamera anschließend kurz den Blick auf die Werbetafeln, die nun von der Sonne bestrahlt werden. Es sind dies Momente einzelner Lichtblicke, die stets im Rahmen einer bedauerlichen Verfasstheit herausgestellt werden und das Geschehen beständig perforieren (sei es auch bloß der Käfer, dem wieder auf die Beine geholfen wird). Jedoch erscheint die Wärme innerhalb dieser bedauerlich-unbarmherzigen Verfasstheit widersprüchlich zu den sich aus dem Sein konstituierenden Verhältnissen, der Lebensrealität, in der die Vergewaltigung von Mädchen, das tödliche Erkranken, die häusliche Gewalt, Rassismus, etc... stattfindet. (Eine charakteristische Szene für diese Widersprüchlichkeit ist bspw. jene im Krankenhaus.)
                                              Gerade in diesem dualistischen Element, im Entdecken oder plötzlichen Aufkommen der Wärme unter der Ägide der schroffen Kälte des Seins (denken wir bspw. an die Szene mit dem Reh) steckt allerdings eine berührende wie auch groteske Note, die sich in unterschiedlicher Manier in Situationen manifestiert. In diesem Sinne ist auch der Humor so ein grandioses Stilmittel. Es erscheint eben grotesk, wenn Willoughby, bevor er sich die Kugel in den Kopf jagt, sich über den Witz seiner Frau amüsiert, oder wenn Mildred Angesichts der Familientragödie mit ihren Pantoffeln ein Puppentheater veranstaltet. Doch unter der widersinnig erscheinenden Oberfläche, sind dies alles Gesten einer genuinen Menschlichkeit, in der die Figuren versuchen mit den schonungslosen Ausgeburten des Seins so gut es geht fertigzuwerden. Der Humor ist dabei in seiner Funktion zur Bewältigung bzw. Handhabung unabdingbar. Er erfüllt zudem auch eine wesensgleiche Doppelfunktion, indem er auch das Handlungsgeschehen für die Zuschauer des Films handhabbarer, erträglicher gestaltet und im weiteren Sinne ihr Dasein an sich durch die Filmerfahrung. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist, denke ich, speziell die Szene, in der Mildred's Ex gewalttätig wird und das 19jährige Mädel das ganze verwüstend-tragische Szenario mit ihrer Präsenz leicht humoristisch untergräbt.

                                              Vernünftiger wäre es anhand von anderen Ausdrucksformen, aber weil Bubblebrox es als Kritikpunkt formulierte und weil ich die Kohärenz von McDonaghs Ausdrucksgepräge ohne noch weit auszuholen auf transparente weise darlegen will, möchte ich nochmal kurz einen Nebenschauplatz, die Rolle von Peter Dinklage aufgreifen. Warum eigentlich das soziale Gefüge mit einem Liliputaner ausstatten? Einfach nur weil er den Stoff bietet für ein paar Gags? Nein, mit seiner Präsenz kommt abermals der Charakter des Seins zum Ausdruck. Der Umstand der Ungleichheit des Seienden, das Abnormitäten zwangsläufig existieren bedingt bereits in gewisser Form Ungerechtigkeit, Bigotterie und Kummer, und ist eben eine Folge des Wesens des Seins selbst. Es ist nun symptomatisch für Three Billboards und auch folgerichtig, dass „der Zwerg“ (wie er ja auch stets genannt wird) keine Erlösung in einer Szene findet, in der er einen lauteren-respektvollen Umgang von einem Kollektiv erfährt oder indem er Zärtlichkeiten mit Mildred austauscht, sondern (auch in seiner letzten Szene im Resteraunt) in der unbarmherzigen Realität seiner Existenz gefangen bleibt, den Umstand seiner Abnormität handhaben muss, wie Willoughby seinen Krebs, Dixon seine Mutter und natürlich Mildred die Ermordung ihrer Tochter. Und obwohl keine Verklärung stattfindet, bezeugt man auch hier in gewissen Augenblicken mit ihm und Mildred diese latente Wärme und Menschlichkeit, in letzter Konsequenz auch diesen Hauch würdevoller Verletzlichkeit, der ihm wie auch allen anderen Figuren automatisch anhaftet, seien sie auch Frauenschläger oder formale Rassisten (ja, selbst eine vulgäre Gestalt wie die Mutter von Dixon erscheint in diesem Licht, wenn ihr am Ende unterdessen sie schläft über den Kopf gestreichelt wird), weil sie alle dazu verdammt sind die designierte unerbittliche Verfasstheit der Existenz irgendwie zu bewältigen, wie eben auch die erwachsene Person, die sich den Film ansieht.

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                                              • Ich wurde vor paar Jahren auf einer Party in LA übrigens auch von James Franco sexuell belästigt.

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                                                • Resolutist 14.12.2017, 22:17 Geändert 14.12.2017, 23:09

                                                  In erster Linie ist die MeToo-Hysterie ein Symptom einer systematischen Unterjochung der weiblichen Sexualität. Da nur die Frau ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft sein kann, die ihre Sexualenergie nicht beherzigt, wird sie in der Erziehung durch Umwelt und Eltern dazu animiert ihren Körper zu ner Art Heiligtum zu mythologisieren. Aus diesem Grund ist die geschlechtliche Empfindlichkeit der Frau um so viel größer als die des Mannes. Sie ist ein Produkt von Konditionierung. Anstatt sich von ihr zu befreien, perpetuiert eine Kampagne wie MeToo Unfreiheit und sexuelle Unmündigkeit. Sich selbst und der Mitwelt wird vorgegaukelt, als wäre ein Klaps auf den Hintern, eine anzügliche Bemerkung der Rede wert und mehr als eine ärgerliche Bagatelle.

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                                                  • Resolutist 27.11.2017, 07:45 Geändert 27.11.2017, 07:47

                                                    Die Überschrift des Artikels suggeriert, dass im Normalfall Erfolg mit Qualität korreliert. Solange der Erfolg von einem Markt abhängig ist, trifft das aber eben nicht zu; zumindest nicht in dieser Gesellschaft.

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