Dergestalt - Kommentare
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Alle Kommentare von Dergestalt
"Trouble Every Day" (2001) und "High Life" (2018), so sehr sie in Claire Denis' Filmografie auseinanderliegen, eint, dass sie den Genrefilm, sei er Horrorthriller, sei er Sci-Fi, dafür nutzen, Beziehungen in ihren irrationalen Urgründen zu erkunden. Verwirrung, Ungreifbarkeiten gehören ebenso in den Mix wie der plötzliche Ausdruck körperlicher Begierde. In "Trouble Every Day" bedeutet die Öffnung und Erkundung fremder Körper gleichsam deren Zerstörung. Ebenso zerstört sind Verständnis, Treue und Achtung als Maßgaben klassisch-idealer Beziehungen. Tatsächliche Fleischeslust, die vor allem im Moment existiert, dann den Tod bedeutet, strahlt grell-grotesk über alle Konzeptionen "zivilisierter" Romantik. Für ihren Totalabriss, der um 2000 in die Kategorie der New French Extremity gezählt wurde, nutzt Claire Denis dafür auch stereotype Horrormotive wie den Import mysteriöser Krankheiten aus dem Regenwald oder die fleischeslüstern vampirische Femme Fatale ("Under the Skin" bekommt seine Vorlage). Wer diesen bloß anskizzierten Stereotypen folgt, geht aber nur weiter in die Leere, denn hinter den aufgebrochenen Beziehungen finden Zuschauer*innen keine Erklärung. Kein erlösendes, greifbares Böses gibt der Sinnordnung ihr legitimierendes Gegenüber. Von einem Moment zum nächsten wechselt der Film von Melancholie zu Brutalität, von Reflexion zu Aggression. "Trouble Every Day" bleibt ein in kühle Farben getauchtes, fragmentarisches Psychogramm ohne Psychologie. Vielleicht der stumme kleine Bruder von "Possession", vielleicht der böse große Bruder von "Intimacy". In jedem Fall ein spannungsreicher, illusionsloser Blick auf die Unmöglichkeit totalisierter Sexualität in einer vermeintlich zivilisierten Welt.
Eigentlich möchte ich nicht über den Regisseur Leos Carax schreiben. Zu offensichtlich ist die Selbststilisierung in seinen Filmen, zuletzt in seinem Meta-Werk "Holy Motors" und nun und noch offensichtlicher in "Annette". Zu offensichtlich ist Carax' Bestreben, Hochkultur, Popkultur, den Ruhm in seinen düsteren Auswüchsen zu demontieren - und natürlich auch zu zelebrieren. "Annette" ist ein vollfunktionales Musical geworden, mit seinen mal mehr, mal weniger gelungenen Songs, großen Bildern, massiver Theatralik und Pathos. Zu Beginn mag man sich noch täuschen lassen. Der erste Auftritt Adam Drivers als Comedian mit unberechenbaren Allüren und einem Publikum, das plötzlich Akteur des Musicals wird, scheint eine "Holy Motors"-artige Meta-Nummer zu suggerieren. Allzu große Brüche mit der Illusion oder der Illusionsmaschinerie des Musicals gibt es im Weiteren aber nicht, zumindest keine grundsätzlichen. "Annette" ist viel zu verliebt in sein Genre, in die großen Emotionen und die Romantik der tragischen Liebe, die das Musical und das Kino so oft schon portraitierten. Trotz aller Extravaganzen ist "Annette" keine Fortführung der Musical-Elemente in "Holy Motors" nach Art des Meta-Films, sondern die Absolutierung eben dieser Elemente hin zum wuchtig-immersiven Spektakel. Das unterhält und bewegt ebenso wie es enttäuscht, eben, wenn man die klassischen Erwartungen an Carax und seinen Über-Film "Holy Motors" in den Raum stellt. Deshalb, bitte, nicht mit Carax an diesen Film gehen, auch wenn das der Regisseur zu Beginn deutlich einzufordern scheint. So kann "Annette" als ungebrochen pathosgeladenes Musical nur enttäuschen.
Skurrile Wiederverwertung des surrealen Animeklassikers "Angel's Egg" von Mamoru Oshii (1985). Drei Jahre nach dessen Veröffentlichung wurden einige Elemente des Films lose in eine B-Movie-Spielfilmhandlung integriert und unter dem Titel "In The Aftermath" auf den westlichen Markt geworfen. Es geht um die Apokalypse, um einen Mann und eine Frau, ein bisschen Liebe und Erlösung sind gewünscht. Das Mädchen mit seinem kosmischen Ei kommt da gerade recht. "Angel's Egg" ist dieser Mashup-Skurrilität definitiv vorzuziehen, auch wenn einige surreale Montagen und der atmosphärische Soundtrack etwas Eigenwert bieten. Fun fact: Der Film erhielt den deutschen Verleihtitel "After Rabbit", um ihn im Nachfeld von "Who Framed Roger Rabbit" besser vermarkten zu können. Ein Hase kommt im Film nicht vor. Love it.
Ein Stand-Up-Comedian schickt absurde Scripts an Pornofirmen und lässt sie über die Jahre verfilmen. Der Produktionshintergrund sollte reichen, um diese krude Weltuntergangsgroteske im Amateurformat zu fassen. Vernon Chatman hat mit "Final Flesh" einen stolzen Anti-Film geschaffen, der seine vier Handlungsabschnitte mit jeweils vier klassischen Pornotrios inszeniert: Frau, Frau, Mann. Zu sehen gibt es nackte Haut, Laienschauspieler*innen und absurde Dialoge (“I just creamed my demon!”) rund um das Leben nach der atomaren Katastrophe. Die jedenfalls lauert irgendwo im Subtext. Was man sieht: Nonsense im Wohn- und Schlafzimmer, mal originell, mal redundant. Für einen netten Anti-Abend irgendwo zwischen John Waters und "Trash Humpers". Vielleicht die einzig legitime Antwort auf die aktuelle Situation der Welt.
Fear and Loathing in Yabba. "Wake In Fright" ist der ideale Kick-Off für jeden Dry January. Ein unterforderter Lehrer kommt in einem Kaff im australischen Outback unter und verliert sich dort zwischen Alkoholtaumel, Selbst- und Fremdzerstörung. Ein Bier folgt auf das andere, die Handlungen dazwischen trocknen in ihrem Sinngehalt vollkommen aus, werden zu plötzlichem Lust- oder Zerstörungsimpuls. Wobei auch Sex schnell zur Unmöglichkeit wird, Liebe und Zuneigung sowieso. Eine Umgebung, die auf bloße Selbstüberbietung setzt, obwohl dem kaum Substanz zugrundeliegt, muss zum Kollaps führen. Und nach dem Kollaps folgt das nächste Bier. Zunächst trocken naturalistisch inszeniert und lediglich mit grotesker Komik angetrieben, verfällt "Wake In Fright" schließlich einem assoziativen, existentiellen Taumel. Ein vielschichtiger und doch nur konzentriert aufspielender Soundtrack ergänzt dieses Frühwerk des späteren "Rambo"-Regisseurs Ted Kotcheff.
Einfaches Setting in existentieller Tiefe. Ein Atomkrieg zerstört die Welt. Die wenigen Überlebenden flüchten in das Katakombensystem unter einem großen Dom. Was den erfahrenen Sci-Fi-Zuschauer nicht überrascht: Ebenso wie die Menschen von den Mächtigen manipuliert werden, glauben sie blindlings an eine Erlösung. In Form der biblischen Arche soll sie nahen. Der Protagonist von "O-bi, O-ba" des polnischen Regisseurs Piotr Szulkin eilt durch die Gänge und verbreitet die Erlösungsbotschaft. Dabei stößt er auf manische, verzweifelte, geile, unbeschwerte Menschen, ein Zerrbild der Gesellschaft im Extremzustand. Über die knapp 90 Minuten des Films folgen wir dem Botschafter und Zweifler, im blauen Neonlicht der Gänge, in fahle Gesichter hinein. Was "O-bi, O-ba" an düsterer Atmosphäre schafft ist unglaublich. Gemäldeartige Impressionen des Verfalls einer Zivilisation, beinahe surreale Vergnügungsgelage, skurrile Gegenwelten. Dazu ein beinahe ständiger Redefluss, der das metaphysische Vakuum der Welt füllen möchte und doch nur auf den Irr- und Widersinn menschlichen Denkens weist. Ein herausfordernder Hybrid zwischen Tarkovsky, Żuławski und dem Weltentaumel von "Es ist schwer ein Gott zu sein" - immerhin auf gnädiger Laufzeit.
"Kajillionaire" beweist, wie gut metaphorisch überbordernde Filme funktionieren, wenn sie mit Feingefühl entwickelt sind. Eine dysfunktionale Familie mit grotesken Geldbeschaffungsmaßnahmen, eine weltfremde Tochter mit Sehnsucht nach Berührung und rosa schillernder Schaum, der langsam die Wände herunterrinnt. Nicht selten habe ich mich beim Ansehen von "Kajillionaire" an die verworrenen Gefühlsdramen Paul Thomas Andersons erinnert gefühlt, an die groteske Emotionalität Charlie Kaufmans oder die menschliche Elendsextravaganz eines "Greasy Strangler". Und doch findet Mirandy Julys teils assoziativ und gegen jede Alltagslogik erzählte Familiengeschichte ihren ganz eigenen Sound. Dass am Ende trotz aller metaphorischen Kunstflüge ein so logisch konsequentes wie tief empfundenes Ende steht macht "Kajillionaire" zu einem unwahrscheinlich gelungenen Film.
Ein Bodyhorror-Frühwerk Cronenbergs steht unter neuem, irreführenden Verleihtitel in der ARTE-Mediathek: https://www.arte.tv/de/videos/100884-000-A/ueberfall-der-teuflischen-bestien/
"Messiah of Evil", ein so skurriler wie unheimlicher Sektenhorror erinnert sehr an das Horrorkino italienischer Prägung, also der Art Fulci oder Argento. Eigentlich unwichtig, was hier wirr zusammengestückelt von einem alten Fluch und einer Sekte erzählt wird, wichtig sind die zeichenhaften Impressionen, die lethargisch-traumhafte Atmosphäre. Deutlich erinnert mich der Film auch an den Proto-Lynch "Carnival Of Souls": Die Konfrontation einer jungen Frau mit den Gespenstern der Vergangenheit vollzieht sich vor expressiven Kulissen und angesichts müde starrender Zombiegestalten. Zwischen grotesker Komik, etwa wenn zu Fahrstuhljazz Menschenjagd betrieben wird, und unheimlicher Bedrohung ruckelt "Messiah of Evil" in einem sonderbaren Vakuum. Eingefasst in einen schwelenden bis überdreht sirrenden Synthiesoundtrack wirkt der Film mal hoffnungslos verfahren, mal entrückt. In jedem Fall schafft er ein einnehmendes Seherlebnis für Freund*innen des grotesken Horrorfilms.
Zu offensichtlich und fast überflüssig zu sagen: "Possessor", der zweite Spielfilm Brandon Cronenbergs, ist wie viele Filme seines Vaters echter Bodyhorror. Ein billiger Aufguss für Fans der Marke "Cronenberg" ist der unberechenbare, launische wie geradlinige Paranoiafilm aber mitnichten. "Possessor" ist ähnlich handlungs- und figurenzentriert wie die Klassiker des alten Cronenberg, arbeitet auf audiovisueller Ebene aber ganz eigene Erzählkonzepte aus. Elliptisch, gelooped, in flackernden Bildfragmenten kommt die freudianische Verfremdungsmethode des Bodyhorror beim jungen Cronenberg noch deformierter und abrupter, an unsere Sehgewohnheiten angepasst und damit zeitgemäß erschreckend. "Possessor" erinnert an einen kaltgestellten Cocktail aus Panos Cosmatos ("Mandy") und natürlich Lynch. Kaltgestellt, definitiv, sind die ungreifbaren Figuren, die zynische Darreichung der Dialoge, die nur fragmenthaft präsentierte Dystopie einer Welt jenseits gesteckter Identitäten. Geradezu liebevoll griffig erscheinen da die handgemachten, derben Splattereffekte, die in ihrer Materialität - wie beim alten Cronenberg - noch ganz eigene Geschichten zu erzählen haben.
Über Sinn und Unsinn, Referenz und Nicht-Referenz des surrealen Anarcho-Episodenfilms "Kuso" zu schreiben, dürfte an der Sache vorbeigehen. "Kuso" scheint zunächst einmal pures Suggestionskino, halluzinogenes Testpapier für alle Acid-Tester*innen der Welt. Steven Ellison (aka Flying Lotus) zeigt das, was schon seine Musikvideos, überhaupt viele Musikvideos zeigen: Ausschnitte größerer Visionen, Assoziationen, Lebensgefühle. Hier ist es die Katastrophe eines Erdbebens in L.A., die zu ungeahnten Verkehrungen führt: Vernarbte, Mutierte, Entstellte werden zu Protagonist*innen, das Hässliche, Abgestoßene zum Neuartigen, das Baby zum ekligen Monster, das die Welt verspeist und eine neue, glänzendere Welt auszukacken weiß. Abriss, Bodyhorror, Neustart und irgendwo im Subtext auch eine emanzipatorische Botschaft. Aber wie auch immer. Wenn Funk-Ikone George Clinton als Doctor Clinton seinem Bewunderer Steven Ellison den Arsch hinreckt und ihn zum Grooven auffordert, zeigt sich die tiefe, unterirdische Ehrerbietung, die Ellison der Musik, aber auch dem weirden Medium Film zollen möchte. Wer angesichts von "Kuso" nicht wegrennen möchte, wird den Film wohl sympathisch finden.
Natürlich ist es der ideale Marketing-Coup, den vielgehypten Genrearthouser Sion Sono für sein quasi englischsprachiges Debüt mit dem vielgehypten Genrebrecher Nicolas Cage zusammenzubringen. Leider fühlt sich auch der Film nach diesem Coup an. Die Kulissen von "Prisoners of the Ghostland" stehen imposant und in herrlich leuchtenden wie ausgetrockneten Farben, geben einen theatralischen postapokalyptischen Culture-Mashup im Fahrwasser eines "Mad Max". Cage erscheint hochgradig selbstreferentiell als überhohe Actionfigur "Hero", die nur durch Sprengladungen an ihren Hoden in ihrer tatkräftigen Inbrunst gebremst wird. Ja, auf dem Blatt und gerade zu Beginn des Films wirkt das angenehm stilbewusst übersteuert. Auch die skurril ausagierten Emotionen der verschiedenen Figuren geben dem Film sonotypische Unberechenbarkeit. Dann nur aber soll hinter dieser glänzenden Oberfläche ein äußerst amerikanischer Plot um einen rechtschaffenen Gangster und ein äußerst sonohafter Plot um die poetisch verschlüsselte Gefangenschaft einiger Menschen im titelgebenden "Ghostland" erzählt werden. Bei all der Erzähllast erlahmt nur leider jede Dynamik, sodass sich selbst ein hypermotivierter Cage "Testicles"-schreiend Gehör verschaffen muss. Aber umsonst, das Ding tuckert nur voran, schleicht sich um einen großen Showdown herum und wirkt am Schluss wie ein unnötig aufgeblasener Maskenball ohne jede poetische Abgründigkeit oder findige Skurrilität, wie sie die guten Filme Sion Sonos auszeichnet.
[Dergestalt auf dem Fantasy Filmfest, Part III]
Nach dem fantastischen Gendertrouble von "The Wild Boys" wagt sich Bertrand Mandico mit "After Blue" erneut in psychotropisch überhöhte Fantasyszenarien. Wieder ist es die Wildnis, in der eine scheinbar gesetzte Zivilisation ihre Sicherheiten verliert, zwischen sexueller Entblößung und Identitätsverlust Hoffnung sucht, vor allem aber auf Formen tödlicher Erotik stößt. In "After Blue" sind es zwei Frauen aus einer rein weiblich besetzten Siedlungskolonie auf der Suche nach einer Hexe. Dass diese nicht bloß böse ist, sondern Ambivalenzen geschlechtsübergreifenden Begehrens in sich bündelt, führt für beide Protagonistinnen zu einem unüberschaubaren Gefühlschaos. In wunderbar trashig glänzenden Kulissen des 70s-Sci-Fi-Kinos der Art "Barbarella" oder "Zardoz", inklusive dessen psychedelisch mäandernden Handlungssträngen, ist "After Blue" eine nicht enden wollende Kaskade sinnlicher Reize und sanfter Skurrilitäten. Dass Bertrand Mandico diesen prallen Kontext farbig strahlender Impressionen mit endlosen Dialogen über Märchen, Mythen und die Sinnlichkeit der Welt belädt, bremst den Film früh aus und nimmt ihm Dynamik. Zäh folgt Handlungselement auf Handlungselement und ein müde-dekadenter Taumel setzt ein, der gerade im Kinosessel Schlummerfantasien weckt. Vielleicht der ideale Zustand, um das irreale Setting in unser Unbewusstsein sickern zu lassen? Bertrand Mandico jedenfalls dreht sein Ding.
[Dergestalt auf dem Fantasy Filmfest, Part II]
So sonderbar sich Datenanalyst Richard Boca durch die kahlen Räume seines Apartments bewegt, so sonderbar entwickelt sich auch die Wall Street-Groteske "Mosquito State". Was zunächst wie eine plump metaphorische Verhandlung des Typus des Bankers als blutgeilem Moskito anmutet, wird schnell zum sprunghaften Psychogramm einer seltsamen Persönlichkeit. Richard Boca will den plumpen Vergleich nämlich durch ein Live-Experiment in seiner Wohnung wagen und züchtet ein eigenes Kollektiv von Moskitos, deren akustisch übermitteltes Brummen die Tätigkeiten der Spekulant*innen an der Börse vermitteln soll. So absurd diese Logik anmutet, so absurd wird schließlich auch Bocas Verhalten, der - angemessen durch Beau Knapp verkörpert - als moskitozerstochener Nerd durch die Gänge stapft und zwischen angestauter Emotion und fratzenzerrend ausbrechender Leidenschaft auf sein Experiment aufmerksam zu machen sucht. In seinen skurrilen Posen erinnert Boca nicht selten an Nicolas Cages selbstentfremdeten Bürovampir aus "Vampire's Kiss", nur, dass hier anstelle der sadistischen Selbstüberhöhung die maßlose Selbstzerstörung durch die real existierenden Blutsauger steht. In elegante wie morbide Hochglanzbilder von Beton, Stahl und Insektenaufnahmen gebettet, bietet "Mosquito State" einen so unvorhersehbaren wie anstrengenden wie faszinierenden Blick auf die Wall Street und ihre morbiden Transformationen.
[Dergestalt auf dem Fantasy Filmfest, Part I]
Mit "Lamb" sah ich ganz unverhofft auf einem Filmfestival zum Genrefilm die kommende Oscar-Einreichung aus Island. Das passt. Denn auch wenn die naturmystische Erzählung mit ihren unheimlichen ersten Bildern einer monströsen Begegnung wie Horrorkino anmutet, wird daraus rasch ein subtil verhandeltes Beziehungsdrama. Monsterhaftes, Tier-Mensch-Mutationen und die unwirklich matte, großformatig eingefangene isländische Landschaft bieten mehr Metaphern auf die Verlorenheit des Menschen als explizites Genrekino. Unerwartet putzig wird es auch, wenn plötzlich ein Kind mit Schafskopf Blüten pfücken darf oder eine zufrieden schnurrende Katze auf dem Schoß hält. Auf Erklärungen, detaillierte Charakterhintergründe verzichtet der schweigsame "Lamb" hingegen weitgehend, schließt am Ende so konsequent wie grob mit einer wahrhaft fabelhaften Abrechnung. Der illusionslose Mensch nur bleibt allein. Charakterdrama als suggestives Stimmungskino - wer's mag, wird "Lamb" mögen.
"Titane" ist wie sein Vorgänger "Raw" ein kleiner Film, der auf große Themen stößt. Geschlechtsidentität, Sexualität, Traumata stehen im Mittelpunkt eines unsteten Filmdramas. Dürfte zu Beginn der Eindruck sein, einem Body Horror klassischer Schule beizuwohnen, samt makabrer Fetischierung, bricht diese Schablone ebenso abrupt wie sie eingeführt wurde. Um stabile Handlungs- und Charaktermotivationen schert sich "Titane" sowieso keineswegs. Entsprechend unvorhersehbar bleiben nicht nur die Handlungen der Hauptperson. "Titane" ist aber nicht unfertig, sondern nur konsequent. Umso instabiler die Basis einer Identität umso unvermittelter alle Handlungen, die auf ihr basieren. Stört aber auch gar nicht, sind es doch eher die einzelnen Momente, die für sich Bedeutung halten und darin immer wieder eskalieren, mal in schreckenden Körpertransformationen, mal in lasziven Tanzszenen, die nicht selten subtil verkehren, was in unserer Gesellschaft so als "männlich" und "weiblich" gilt. Letztlich bleibt "Titane" ein Film mit gebrochenem Blick, offener Perspektive und darin überraschend menschenfreundlich.
Die Endsechziger sind eine wunderbar hybride Zeit. Pop ist noch anschlussfähig in alle Richtungen und die Videokunst hat ihren ganz eigenen Schmiss. Zumindest glaube ich das sofort, wenn ich einen Film wie "Invocation of My Demon Brother" sehe. Zu den enervierend-hypnotischen Elektrosounds eines Mick Jagger (!) projiziert Undergroundikone Kenneth Anger okkulte Symbole auf nackte Körper, starrende Gesichter, zeigt esoterische Bühnenspiele, kontroverse Zeichen, Blut, Opfer, Vietnam, Flower Power. Manchmal kracht der Sound brutal, machmal ertrinkt die Tonspur, springt wieder hervor. Ein Normallevel, auf dem man sich einpendeln kann, gibt es nicht, auch nicht für die Bilder, die fern von jedem Orientierungspunkt in flimmernde, fragmentarische Montage geraten. Inwiefern dieser Netzhautzirkus einer Programmatik folgt, inwiefern er nicht doch bloß psychedelische Installation sein will, bleibt für mich unmöglich zu klären. Die in enormer Intensität hereinbrechende Fremdartigkeit eines esoterisch verriegelten Zirkels zwischen Räucherstäbchen, LSD-Horror und Surrealismus bleibt in seinem rhythmischen Flackern aber an meiner Schädelwand haften.
"Diamantino" versucht die schiere Unmöglichkeit, die Welt der Stars und Intrigen, der Oberfläche und des Pop hintersinnig zu unterlaufen und gleichermaßen inmitten der defekten Sensationen echte Sympathien zu schaffen. Zweiteres gelingt: Der grenzenlos naive Profifußballer Diamantino, der vor allem sein Nähebedürfnis gegenüber Tieren und später Geflüchteten ausleben möchte, bleibt ein überraschend liebevolles Wesen. Selbst der in seinen Luxuskörper eingeschriebene Machismo wird durch Körpertransformationen gebrochen und im wilden Gendertrouble freundlich aufgelöst. Die mit schrillen, albernen Stereotypen überlagerte Handlung um Genexperimente und Intrigen bremst das Vergnügen leider aus. Zu sehr versucht "Dimantino" hier das, was viele gesucht trashige Filme zu Fall bringt: Der Glaube, die wildesten Ideengebäude durch eine konventionelle Abenteuerhandlung abfedern und stimmig machen zu können. Tatsächlich wirkt "Dimantino" zwischen anarchischer Groteske und straighter Verwechslungskomödie erstaunlich unentschlossen und schließlich auch zahm. Der hintersinnige Subtext ertrinkt im Schaumbad der Bösewichter und Kampfesposen. Am Ende bleiben vor allem Sympathien für das eigentlich Unsympathische, was den Film selbst sympathisch macht. Die wunderbar schillernden Setpieces gibt es dann noch obenauf.
"La Danza de la Realidad" ist erster Teil der biografischen Nacharbeit Alejandro Jodorowskys, die er mit "Endless Poetry" weiterführte und damit sein Spätwerk begründete. Was ich bereits zu "Endless Poetry" sagte, gilt weitaus mehr für diesen Film: Jodorowsky scheint altersmilde geworden zu sein. Klare Handlungsstrukturen, die nur in einzelnen Momenten durch die poetische Eigenlogik der früheren, offen surrealistischen Filme Jodorowskys geprägt sind, greifbare Figuren, Motivationen und ein süßlich-dramatisch auftragender Soundtrack. Die wenigen plumpen CGI-Elemente seien herausgerechnet, offenkundig hatte Alejandro Jodorowsky hier keinen George Harrison als Geldgeber im Hintergrund wie noch zu Zeiten seines Mammutwerks "The Holy Mountain". Was bleibt? Eine nahegehende Erzählung aus einer schwierigen Kindheit, wie sie Jodorowsky in Chile als Sohn eines jüdischen Händlers wohl erleben musste. Sonderbarkeiten wie seine ständig opernhaft singende Mutter, Väter, die plötzlich mit Tigerklauen kämpfen oder die klassischen Jodorowsky-Signatures wie die pointierte Darstellung Kleinwüchsiger, Invalid*innen oder der Zirkus als Schauplatz geben dem Ganzen eine magisch-realistische Atmosphäre. Noch dazu tritt Jodorowsky wie auch in "Endless Poetry" als sein älteres Ich einige Male selbst auf und beeinflusst das Geschehen entscheidend, etwa wenn er sein früheres Ich vor einem Selbstmord bewahrt. Einige salbungsvolle Worte über die Mysterien des Lebens und des Todes kommen so natürlich auch in den Film. Und dieses Mal sagt niemand: "Zoom back, camera!" Passt zu diesem Film, der für einen Jodorowsky erstaunlich direkt zu den eigenen Gefühlen spricht - und ja, mich hat seine tragische wie verklärende Geschichte über den Tanz der Realität erreicht.
Merkwürdig überspanntes Kammerspiel am Strand. Im neuen Twist-O-Rama M. Night Shyamalans müssen sich unbedarfte Menschen einer merkwürdigen Anomalie stellen. Geschickt (nicht) montiert und voller Schwankungen in der Atmosphäre wird daraus eine "Lost"-artige Verwirrnummer zwischen Thriller, Sci-Fi, Horror, Coming-Of-Age (!) mitsamt absurd abrupter Dialogwechsel (v.a. in der deutschen Synchronisationsfassung). Der Plot dazwischen zerfließt, die Figuren zittern blass und alles wechselt von einem Kameraschwenk zum nächsten. Überhaupt: Die Kamera mit ihrer unsteten Fokussierung, merkwürdig ziellosen Bewegungen schafft eine Desorientierung, die mehr erzählt, als es ein Plot je könnte. Gerade deshalb ist der letzte Abschnitt des Films ein bisschen bedauerlich. Shyamalan bringt seinen Twist mitsamt Erklärbär und Erlösungsgesten in den Raum und alles wird ein wenig fade. Das bestärkt mich weiterhin in meinem Eindruck, Shyamalan traue seinen sympathisch verwirrten Filmplots letztlich doch nie. In jedem Film der Versuch, das Ungetüm mit klassischen Blockbustergesten einzufangen. Spoiler: Gelingt ihm hier aber nicht. "Old" bleibt versponnen, trashy, eigen und entzieht sich einfachen Bewertungsmaßstäben. Die Frage bleibt: Was will dieser Film?
Fleischfressende Meerjungfrauen im Rotlichtclub. So eigenartig sich die Prämisse des Films "Córki dancingu" liest, so eigenartig kommt auch dessen Umsetzung. Ein grellbuntes, unbekümmert geschnittenes Musical ist es geworden, das sich der Trashkategorie nur deshalb erwehrt, weil Bildkompositionen, Ausstattung und Effekte für so ein Undergroundgefährt durchweg beeindruckend sind. Die Kamera dreht ab, bleibt organisch gleitend, der Soundtrack zwischen Wave, Pop und Punk abwechslungsreich, eingängig sowieso. Groß erzählt wird nichts, unerklärliche Einschübe sind typisch, Stereotype aus dem Horror- und Märchenfach gerade gegen Ende gern gebraucht. Liest man den Film nicht gleich als Allegorie auf die polnische Gesellschaft, Schönheitswahn, (tatsächliche wie metaphorische) Prostitution, bleibt vor allem ein zuckelnder Genrehybrid mit eindrücklichen Momenten, Wucht und Selbstbewusstsein, das ich bei vielen aktuellen Genrebeiträgen beobachte.
"The Wild Boys" bleibt ein Film der großen Thesen - was allerdings erst gegen Ende wirklich deutlich wird. Bis dahin zeigt der französische Experimentalfilmer Bertrand Mandico seine ganz eigene Fassung einer Robinsonade. Eine Bande "Wild Boys", die nach bester "Clockwork Orange"-Tradition die Gesellschaft skurril-ästhetisch zu terrorisieren weiß, wird zur Umerziehung auf eine Insel geschickt, die nicht nur eine merkwürdig sinnliche Pflanzenwelt zur Entdeckung gibt, sondern auch die Gemüter der "Boys" voll auf den Kopf stellt. Mit einem im besten Sinne verqueren Cast vorwiegend weiblicher Schauspielerinnen und in theaterhaft entfremdend bis atmosphärisch montierten S/W-Bildern sucht sich "The Wild Boys" seinen ganz eigenen Zugang. Manchmal in leichter Ironie dem Abenteuerfilm verpflichtet, dann in plötzlich schrillen Farben postmoderner Cut-Up-Kultur, zwischen all dem frech, spielerisch vulgär gegen alle Geschlechternormen und mit hintersinniger (Pseudo?-)Moral. "The Wild Boys" lohnt als verflixte Seherfahrung.
Juhu! ARTE hat den bunt schillernden "The Wild Boys" in der OmU-Fassung und bis Juli in der Mediathek: https://www.arte.tv/de/videos/087847-000-A/die-wilden-boys/
Denke, das dürfte ein Must-See für alle Fans des Surrealen sein.
Gregg Araki setzt den Popschredder an und trifft so den Geist der 90er - oder zumindest etwas, das gewaltig nach dem Irrsinn der 90er riecht. Überbelichtete Gesichter, schrille Farben, Hintergründe und trashige Genretropes wie Aliens in Dinokonstümen, überdrehter Splatter, Highschool-Mädchen mit riesigen Zahnspangen oder fetzigen Sex mit dem Macho-Biker samt bretterndem Grunge auf der Tonspur. Überhaupt: Keine wild geschnittene Szene ohne nölenden Popsoundtrack...! Dazu mixt Araki seinen ganz eigenen queeren bis geschlechternormübergreifenden Ansatz, der nicht nur Homo-/Bisexualität, sondern auch verschiedene Beziehungsmodelle oder die Verneinung jeglicher Beziehung locker durchspielt. Im Kern bleiben die Gefühle, eben, dass alles "doomed" ist, die Richtung gen "Nowhere" weist. Generation X. Denn Geschlecht, sexuelle Orientierung, Modestil, Drogen und sogar der Weltuntergang bleiben popkulturell geprägte Fassade, die Arakis so schrill präsentiert, dass am Ende nur das Fühlen echt bleibt. Das klingt nach Klischee, ist es auf dem Blatt auch, wird in Arakis überdrehtem audiovisuellen Kosmos aber zur letzten Zuflucht und damit bodenständiger, griffiger, "echter" als in so manch "richtigem" Drama. "Nowhere" schafft den fast unheimlichen Spagat, die 90er popkulturell zu erwecken und darin gleichzeitig wieder untergehen zu lassen. So grob wie zärtlich.
Schön, wenn Einflüsse so leicht zu greifen sind. Matthew Rankins skurril bebilderte Politparabel "The 20th Century" wirkt auf beinahe unheimliche Weise maddinesk. Nicht nur sieht Rankins Film aus wie die Filme seines Landesgenossen Guy Maddin, nämlich wie ein traumverzerrter Blick in den Beginn des Filmemachens, sondern behandelt auch ähnliche Themen. Auch hier ist es ein fast mythisch verzerrtes Kanada am Rande der Zivilisation. Unwirklich leuchtende, zweidimensionale Theaterkulissen zeigen Eisberge, Eisschollen, Schneefall oder eine Stadt Winnepeg, die im Grunde ein einziges funkelndes Bordell ist. Neben die reduzierten, artifiziellen Landschaften treten sonderbar kostümierte Figuren, die wie bei Monty Python launisch verzerrte Abbilder einer Politik sind, die vor allem Korruption kennt. Hier muss sich Protagonist William Lyon Mackenzie King als zukünftiger Premierminister behaupten und dabei lernen, dass Politik vor allem Fremdsteuerung bedeutet.
Zwischen abstrusen politischen Leistungswettbewerben wie dem Verprügeln kleiner Robben oder dem Vorsprechen bei einem Militärgeneral, der flackernde Propagandafilme voller skurriler Übertreibungen dreht, kann King nur verzweifeln - oder irre werden. Denn immerhin bleibt ihm sein Stiefelfetisch... Eben wie auch Guy Maddin zeigt Matthew Randins den Menschen als verwirrtes, triebgesteuertes Wesen in einer verwirrenden, fremden Welt, die wiederum von mächtigeren triebgesteuerten Wesen geschaffen wurde. Aber: Auch wenn alle maddinesken Grundzutaten vorliegen, bleibt "The 20th Century" deutlich handlungsfokussierter, zugänglicher. Statt einer experimentellen Handlungscollage bietet Matthew Rankins im Grunde eine spielerische Politsatire, die den Werken Monty Pythons am Ende vermutlich näher sein dürfte als dem Irrsinn Maddins. Das mag die einen freuen, die anderen enttäuschen.