vannorden - Kommentare

Alle Kommentare von vannorden

  • In dieser Staffel gab es Alan Clarkes Wunderwerk (wen Noten interessieren: 10) PENDA'S FEN zu bestaunen.

    Kurz vor dem Ende sitzt Hauptfigur Stephen (Spencer Banks) auf einen Hügel und ein Paar kommt auf ihn zu. Mit den Versprechungen des Weltlichen und schmeichelnden Verkündungen werden sie ihn versuchen zu locken, denn final ist PENDA’S FEN auch eine Erlösung, eine Jesus-Geschichte geworden. Doch aus Stephen bricht es heraus: No, no! I am nothing pure! My race is mixed. My sex is mixed. I am woman and man, light with darkness, nothing pure! I am mud and flame! Zu Beginn ist Stephen rechts-national, arrogant, besserwisserisch, auf dem besten Weg ein Faschist zu werden. Doch die körperliche Anziehung, die der Milchmann auf ihn hat und die ihm nach einem Traum und einem Gespräch mit seinem (Adoptiv-)Vater – einem Priester, der möglicherweise nebenher aufrührerische bis blasphemisch aufklärerische Theaterstücke schreibt, aber auch so abgeklärt und geistig ungeheur flexibel und radikal verständnisvoll ist – auch bewusst wird, wird sein Weltbild zerstören. Dabei liegt PENDA’S FEN nichts an einer Entwicklungsgeschichte. Sprich, es wird nicht minutiös verfolgt wie Stephen sich an Altes klammert und das Neue langsam zugelassen wird. Nein. Stephen ist ganz interessiert und versucht sich in seiner zunehmend von Träumen zersetzten Welt einzuleben. Seine sexuelle Identität, seine ihm offenbarte Herkunft, die ihm umgebenden linken bis sozialistischen Gedanken, er nimmt sie an und versucht zu verstehen, was dies (für ihn) bedeutet. Da wo beispielsweise in LOOPER Bruce Willis kurz einmal das Nachdenken über Zeitreisen per Meckern untersagen darf, weil das eh (für den Plot) Quatsch ist, da ist David Rudkins Drehbuch fast nur an Ideen interessiert. Auf dem Boden von Stephens Verehrung von England im Jetztzustand entwickelt sich ein wildes Potpourri aus allen vergangenen und möglichen Englands. Clarke zeichnet Stephens Wissbegierde in tastenden Bildern nach, die über Bücher und Seiten gleiten, die Engel und Dämonen in seinen Lebensalltag lassen, die aus Gemälden (ua Der Nachtmahr) gesprungen scheinen, die atomare-paranoide Pulphorrorszenarien wie nebenher ausbrechen lassen und ebenso nie mehr aufgreifen oder auch einfach die Unterhaltung mit dem verstorbenen Komponisten Edward Elgar sachte distanziert als Realität möglich machen. Kurz PENDA’S FEN wandelt Protestantismus in einen wilden, hingebungsvollen Paganismus, irgendwo um die Ecke von THE WICKER MAN, voller Ideenschangeleien um Religion, Sex, Angst, Freiheit … wo am Ende der letzte heidnische König Englands wieder auf einem Thron sitzt darf und zu Stephen den Ethos von PENDA’S FEN zusammenfassen darf: Be secret. Child be strange, dark, true, impure, and dissonant. Cherish our flame.

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      WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN ist gnadenlos aufgeräumt. Ein Kind wird darin geboren und es ist nicht klar, ist es die Ausgeburt des Bösen oder ist es die fehlende Mutterliebe bzw das Versagen der Mutter an ihrem Kind (bzw das Versagen aneinander), was diesen Dämon erschafft. Es ist der Horror einer Mutter, der hier abgebildet wird. Und auf diese Unsicherheit fokussiert sich der Film. Alles drum herum erscheint wie ein Trichter, der am Ende immer wieder dorthin führt. Zum Beispiel der symmetrische Aufbau, der sich parallel auf eine Katastrophe zubewegt (möglichweise in Flashbacks) und von dieser weg. Es ist der Horrorfilm des sich entspinnenden Unheils (von dem wir wissen, dass es kommen wird) und das Drama mit dem Erlebten leben zu müssen. Mutter und Kind werden dabei mehrmals gespiegelt, in fließenden Bewegungen in einander aufgelöst und sind so untrennbar miteinander verbunden. Umgeben sind sie von Karikaturen. Der Karikatur eines Vaters. Der Karikatur einer geräumigen, aufgeräumten Vorstadtwohnung. Der Karikatur von ELEPHANTen im Raum. Dazu die Farbe Rot. Das Rot von Tomaten(matsch), Tomatendosen, Farbspritzern, Marmelade und Blut. Es ist nicht allgegenwärtig, aber sticht immer wieder in die Aufmerksamkeit herein … auch wieder als aufgeräumter Teil dieses Trichters, der alles immer wieder auf Mutter und Sohn und die Katastrophe ihres Verhältnisses zurückwirft. Es ist in seiner Offensichtlichkeit fast brutal. Vor allem wird darin aber alles erstickt, was über diesen nach 10 Minuten verstandenen Konflikt WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN Leben einhauchen könnte.

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      • 9 .5
        vannorden 01.06.2017, 11:36 Geändert 01.06.2017, 14:48

        Ein Film von Wind und Wetter. Kurz nachdem der Taifun Durian mehrere hundert Leben forderte und das Land zu Füßen des Vulkans Mayon verwüstete, begann Diaz mit den Dreharbeiten vor Ort. Der Wind pfeift beständig durch die ramponierten Palmen, um deren Wurzeln sich Trümmer, Schutt und Dreck sammeln. Der Regen plätschert auf der Tonspur heftig, selbst wenn die Tropfen in den Pfützen eher auf ein Nieseln schließen lassen – so ist auch wieder das Krähen eines Hahns in DEATH IN THE LAND OF ENCANTOS zu hören, nur an einem noch ungewöhnlicheren Ort als in FLORENTINA HUBALDO, nämlich im Wartezimmer einer Heilanstalt in Manila, also an einem Ort, der im Gegensatz zu großen Teilen des Films nicht von Weite bestimmt ist, sondern von Enge und Höhe, also von schwarzen Hochhausschluchten. Die am Himmel ziehenden Wolken umlagern den Vulkan oder umschmeicheln die unter ihnen Sitzenden, Redenden, die sich Treibenlassenden oder mit sich Ringenden. Immer näher wagt sich der Film mit der Zeit, es sind wieder einmal Stunden, an die Brandung des Meeres. Am Anfang nur eine Ahnung zwischen den tropischen Bäumen und den Resten von Häusern, bewegen sich irgendwann die Figuren an ihr. Die Sonne scheint mal auf den Matsch hernieder und taucht alles in leuchtendes Weiß, aber meist herrscht schattiges Grau und Zwielicht. Und während es eben um einen rauscht, pfeift, weht, plätschert und schimmert, versuchen drei Freunde darin zu leben, mit Verlusten und Erinnerungen klar zu kommen und irgendwie ein richtiges Existieren in diesem vom Wetter angegangen Sein zu finden. Das hat, bei aller Bitterkeit, etwas Entspanntes. Denn trotz der Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten, trotz der Toten und Enttäuschungen lassen sich die drei treiben. Es sind die Künstlerin Catalina (Angeli Bayani), die aus den Steinen des Vulkans Skulpturen schlägt, der Poet Teodoro (Perry Dizon), der seine Kunst – was hier stets heißt, sich dem Gegebenen entgegen zu stellen, ihm etwas abzuringen … bei aller damit einhergehenden Eitelkeit – gegen eine Familie eingetauscht hat, und sein Rivale und Freund seit der Jugend Benjamin Agusan (Roeder), der nach dem Taifun aus seinem russischem Exil wiederkehrte. Irgendwann in der 6. der 9 Stunden des Films ändert sich aber dieses Verhältnis zwischen Mensch und Natur/Existenz. Benjamin sitzt in einem Café, er ist kaum mehr als eine Silhouette, während hinter ihm durch etwas entfernte Fenster der Verkehr in der Sonne zu sehen ist … wieder mit einer diesen unwirklich, leicht aufdringlichen Tonspuren, die förmlich nach Aufmerksamkeit buhlen und die durchaus ihr Witziges haben. Und dann kommt ein Mystery Man (Soliman Cruz), eine Phantasie oder ein brutaler Scherge der Geheimpolizei. Politik und eine Unsicherheit um die wahrgenommene Realität fließen mit ihm in den Film, auch wenn er nach dieser Szene/Einstellung – sie wird dauern – bis zum Endpunkt wieder aus dem Film verschwinden wird. Die Strukturen der Natur bekommen die Strukturen der menschlichen Gesellschaft, vor allem in Ausprägung einer (pervertierten) herrschenden Klasse, an die Seite gestellt. Die Labyrinthe des Daseins, hier meist offene Flächen ohne Wegweiser, durch sie lässt Lav Diaz seine Figuren tasten. Mitunter gleicht es mit den Affären, Offenbarungen und minimalen Skandalen einer kriechenden Soap Opera, manchmal ist es eher eine Meditation um wartende Menschen. Und so streift DEATH IN THE LAND durch eine greifbare Umgebung, eine Gesellschaft, die eine Auseinandersetzung förmlich fordert und die auf einen wie die Wolken oder der Regen unbestimmt, aber deutlich niederdrückt, durch Erinnerungen und Phantasien, durch physische wie psychische Zerstörung und einfach ein paar Momente oberflächlicher Gelassenheit.

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        • vannorden 28.05.2017, 01:18 Geändert 28.05.2017, 01:21

          Hihi. Hier die Top Ten:

          Godard, Jean-Luc - 34
          To, Johnnie - 25 (inkl. der ganzen Wai Ka-Fai Co-Regiegeschichten uswusf)
          De Palma, Brian - 23
          Franco, Jesús - 19
          Ozu Yasujirô - 19
          Fassbinder, Rainer Werner - 18
          Graf, Dominik - 18
          Ferrara, Abel - 16
          Hitchcock, Alfred - 16
          Fuller, Samuel - 15

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          • 8 .5

            Wie wohl eine Komödie aus der Hand von Cassavetes sein würde? Lange konnte ich mir nicht einmal vorstellen, dass es tatsächlich Menschen wie in seinen Filmen gäbe. Dann habe ich die Folge* von CINÉASTES DE NOTRE TEMPS mit ihm gesehen und wie er sich (vor der Kamera, vor einem Publikum) genau wie diese Leute benahm. Meine Skepsis gegenüber seinem Werk war danach größtenteils wie von Zauberhand dahin. Seeing is believing, scheinbar. Wie würde aber ein Film aussehen, mit dem er wirklich nur Menschen zum Lachen bringen möchte? Mehrmals wird in OPENING NIGHT ausgesprochen, dass es sich bei dem aufgeführten Theaterstück, von dessen Weg zur Broadwaypremiere erzählt wird, dass es sich bei diesem also um ein ernstes Werk handelt. Der Star der Aufführung, Myrtle Gordon (Gena Rowlands), scheint darunter zu zerbrechen. Geister ihrer verlorenen Jugend, in Form eines vor ihren Augen überfahrenen Fans, suchen sie heim, wie sie auch tiefsitzende Probleme damit zu haben scheint, dass sie nach diesem Stück wohl als alte Frau wahrgenommen werden wird. Das ganze Ausmaß ihrer Probleme ist aber kaum zu erkennen, weil sie zwar trinkt, kämpft und leidet, es ihr aber schwerfällt ihren inneren Tumult, den sie spürbar nach außen trägt, kohärent auszudrücken. Dass sie in einem Umfeld steckt, das von ihr erwartet, dass sie einfach funktioniert, macht es (für sie) nicht einfacher. Es ist klassischer Cassavetes. Jemand begibt sich ein ums andere Mal in Situationen, die aus dem Zwiespalt zwischen der spürbaren Peinlichkeit des Ganzen und der schmerzlichen Aufrichtigkeit ihre Kraft wie ihren Terror beziehen. In OPENING NIGHT löst er dies in einem geradezu programmatischen Happy End auf. In einer Ode an die Improvisation, an das Spiel mit den Dingen. Regisseur Manny Victor (Ben Gazzara), Autorin Sarah Goode (Joan Blondell) und Produzent David Samuels (Paul Stewart), sie alle werden glasige Augen bekommen, weil der Ernst des Stückes zerstört wird, weil der Spaß über die Trübsinnigkeit siegt und die Leute auf und vor der Bühne lachen. Weil sie anscheinend erkennen müssen, dass in bloßem Ernst etwas fehlt. Nämlich das Lachen als Befreiung. Und doch ist gerade dieses Lachen, dieses trunkene Feiern des Moments ebenso peinlich und schmerzhaft wie die Momente davor. Es ist wie immer mit Spaß, es ist irritierend, wenn wir selbst nicht mit drin stecken. Wenn jemand herzhaft lacht und es für einen nichts zu lachen gibt. Das Lachen von OPENING NIGHT, das kommt hinzu, entstammt nicht aus Pointen, sondern eben aus sich lösendem Druck. Vll ist dies Cassavetes’ Manifest des Kampfes um Aufrichtigkeit, wie peinlich diese auch sei. Aber wie würde unter solchen Voraussetzungen eine Komödie aussehen, sein THE BOSS OF IT ALL? Das frage ich mich dann immer.

            * https://www.youtube.com/watch?v=TUxZlwt5-Ao

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              • 9 .5
                vannorden 17.05.2017, 09:46 Geändert 17.05.2017, 10:10

                Irgendwann zu Beginn wird Adriana (Stefania Sandrelli) Zeugin eines nächtlichen Verkehrsunfalls. Ein LKW hat einen Fahrradfahrer umgefahren. Leute stehen nun herum und wissen nicht, was zu tun ist. Der Wind weht. Und die vom Lastkraftwagen geladenen Pferde trampeln unruhig in ihrem Gatter. Dies gewahrt an Donner, als Vertonung des Schocks. Dies lässt aber auch das innerliche Chaos der Leuten bzw der Situation in der Luft liegen, dass nach einem Ventil sucht, aber keinen Ausweg findet. Adriana nimmt das Leben nicht sehr ernst. Liebe, Sonne und etwas Anerkennung, was braucht es mehr. Doch ihre Versuche als Schauspielerin oder sonst wie im Leben Fuß zu fassen, die in erzählerisch nur lose verbunden Episoden dargeboten werden, scheitern alle. Sie wird einmal vor einem Polizisten sitzen, der sie verhört, weil sie ihre Hotelrechnung dereinst mit einem geklauten Armband bezahlte. Sie hatte es vorher von eben dem Mann bekommen, Dario (Jean-Claude Brialy), der sie nach einer gemeinsamen Nacht im Hotel mit unbezahlter Rechnung zurückließ und hinter dem die Polizei nun her ist. Adriana kennt dabei kein böses Blut. Sie bittet den Gesetzeshüter Dario auszurichten, sobald er gefasst ist, dass er sie doch anrufen solle. Was sind schon Unannehmlichkeiten, wenn das Leben davor und danach ohne Zwänge genossen werden kann? Wieso jemanden Böse sein, wenn er eine gute Zeit zu verschenken hat? Und so lächelt sie mit dem zuckersüßen und dem Leid gegenüber apathischen Lächeln der Sandrelli alle ihre Tiefschläge weg, wenn die Riege der Männer ihres Lebens (Nino Manfredi, Mario Adorf, Joachim Fuchsberger, Enrico Maria Salerno, Ugo Tognazzi, Franco Nero) entweder brutal mit ihr umspringen oder nicht zupacken. Sie lächelt in diesem Mosaik der Nadelstiche alles weg, während im Hintergrund die Pferde trampeln und trampeln. Ganz unbekümmert werden einem hier die Nerven aufgerieben.

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                  Die Uhren, die Musicalnummern, das Wandern durch verlassene, heruntergekommene Räume, die einen nur am Rande artikulierten gesellschaftlichen Zusammenbruch vermuten lassen, HOLE kann wie eine rudimentäre Studie für die nächsten vier Filme Tsais erscheinen … oder er trägt eben die Unterschrift eines Auteurs, oder so. Ein romantischer wie kitschig ramontischer Film. Eine Epidemie hat Taiwan befallen, die Mensch auf Mensch zu einem Kakerlaken ähnlichem Verhalten veranlasst. Müll regnet beständig aus Fenstern, während sich zwei Menschen behutsam annähern. Ein Laden, der als einziger in einer verfallenen Mall noch öffnet. Die Vereinsamung in einer Metropole, davon wird mit dem ganz selbstverständlichen Schlurfen durch eine zerbrochene Welt erzählt, wie von der Möglichkeit der Liebe, die in den campig über die Lethargie hereinbrechenden Musicalnummern steckt. Und gerade wenn der Symbolismus die klamme Verlorenheit mit Zweckmäßigkeit zu ersticken droht, da endet der Film mit einer Jahrhundertgeste des Zusammenfindens eben der besagten zwei Menschen. Einer Frau, die in einer Wohnung mit massiv zunehmenden Wasserschäden wohnt, und dem Mann, der in der trockenen Wohnung darüber haust. Ein Loch verbindet die Wohnungen, welches wohl der Klempner auf der Suche nach der Ursache für die nassen Wände schlug. Was würde Freud zu einem Traum von einer Frau sagen, die in beständiger Feuchte vereinsamt lebt und dieser nicht entkommt? Und von dem eines Mannes, der nur durch ein Loch eine Ahnung von den Zuständen in der Feuchte hat und an diesem beginnt herumzunästeln? In einem solchen sagenhaft mäandernden Quatsch ist es vll noch am ehesten möglich verloren und grenzenlos naiv von der Liebe zu träumen … und vom Schönen, Guten und … naja vll auch Wahren.

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                    vannorden 20.04.2017, 09:47 Geändert 17.05.2017, 09:47

                    Impressionen eines letzten Tages. Ferrara kümmert sich nicht um eine biographische Verortung, geschweige denn um die Biographie Pasolinis, er verdichtet nicht, sondern lässt einfach geschehen. Ein Interview wird gegeben und abgebrochen. Freunde sitzen zusammen und haben Spaß. Zu entwickelnde Romanideen Pasolinis bebildert Ferrara. Zeitung wird gelesen. Straßenlaternen ziehen vorbei. Die Welt fließt. Dieser Tag ist im Fluss, weht sachte vorüber. Und doch ist eine Konzentration im Hintergrund zu spüren. Es ist Pasolinis Ringen mit einer Gesellschaft, die am Abgrund scheint. Die Zeitungsschlagzeilen wehen es uns vor die Augen. Das Interview mit dem mit sich und seiner Welt ringendem Pasolini (übrigens ein hinreißender Willem Dafoe), der zwischen sicheren Kampfansagen und unsicherem Suchen nach einem Schlüssel zu einer Erlösung oder wenigstens zu mehr Verständnis schwankt, legt es nahe. Es ist ein Tag eines Mannes, der sich trotz aller Unwägbarkeiten und Abscheulichkeiten um ihn gefunden hat. Ein Mann und ein Film deren Treibenlassen einem mäandernden Pfeil in Zeitlupe gleicht. Ein Film so flüchtig wie kraftvoll. Was den Mord, der wie eine Wand wirkt, noch sinnloser und bezeichnender macht.

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                    • 9 .5
                      vannorden 22.03.2017, 11:48 Geändert 22.03.2017, 13:53

                      Gespenster einer kinematographischen Vergangenheit. Der Auftakt ist eine Beschwörung der Epik, die es sein kann, in einem Kinosaal zu sitzen und auf etwas Großes zu warten. Die Musik über den Anfangskredits von DIE HERBERGE ZUM DRACHENTOR (oder eben DRAGON INN) tönt dabei durch den Gang zu einem vollen Kinosaal und latürnich auch durch diesen selbst. Sobald die Handlung auf der Leinwand jedoch beginnt, ist der Saal plötzlich fast leer. GOODBYE, DRAGON INN nimmt Abschied von einem Kino, wenn nicht vom Kino schlechthin. Es folgt ein Geisterfilm, der vor und hinter der Leinwand stattfindet, auf dem King Hus balletthaften Kämpfe während dieser einen Vorführung geschehen. Der Raum der Magie, wo eine bessere, schlimmere, schönere oder hässlichere Realität uns trotz besseren Wissens gefangen nehmen kann, (das Kind in einer der vorderen Reihen könnte eine Erinnerung an unsere Vergangenheit sein, ein Schatten der Erfahrung, wie wir erstmals und noch nicht abgeklärt eine Vorstellung erlebten) … dieser Raum ist also umgeben von klammen, verrotteten Gemäuern und Gängen, wo Fetzen wehen und der Regen in die unzähligen Eimer tropft. Diese Grüße aus der Gruft, d.i. seine Sterblichkeit machen diesen Saal wahrlich noch schöner, wertvoller und ehrenwerter. Wie bei dem nur kurz davor entstandenen ZWEI KÖPFE HAT DIE MIEZE, einem in meiner Erinnerung ungleich biedereren Film von Jacques Nolot über einen Tag(?) in einem Pornokino, ist das Kino dabei ein Ort der Begegnung. Dies nimmt mitunter die Form einer Komödie an, wo die nervigen kleinen Dinge, die so geschehen können, skurril Platz nehmen. Füße lassen sich direkt neben einem Kopf nieder. Ständiges Kommen und Gehen. Nüsse knacken. Und die Leute setzen sich, egal wie leer der Saal ist, direkt neben einen. Es ist ein Ort, wo Menschen einem zu nah kommen können, wie einem die Filme zu nah kommen können. Ein Ort, wo cruisende Männer flüchtig aufeinandertreffen. Kurze, kaum greifbare Liebesgeschichten wehen mit ihnen durch diesen Sehnsuchtsort, wo alles am zerfallen ist. Kaum jemand achtet über die Spielzeit auf den Film vor ihnen. Lakonisch blickt die Kamera durch die Reihen und die Gänge zum Klo und zum Vorführraum, und kaum etwas geschieht, außer kurzen Sentenzen von Absurdität, Liebe und Träumen. Menschen wandeln ohne sich verdichtenden Sinn durch die Gänge, die Kassiererin bringt dem Vorführer Essen, Toiletten werden genutzt und final abgestellt. Aber in diesen Kulissen einer zurückhaltenden Wiederkehr des Vergangenen bzw eines zaghaften Weltuntergangs sind diese Dinge i(n diese)m Kino nicht greifbar wie intensiv, bigger than life eben … und irgendwo zwischen Nostalgie, Resignation, Hoffnung, Witz, denen still Platz gelassen wird, schafft GOODBYE, DRAGON INN einen Ort, der all den Möglichkeiten, die ein Film und ein Kinobesuch mit uns anstellen können, einen gefühlvollen Raum lässt … denn bestenfalls ist ein Kinobesuch ein Erlebnis, wie uns Tsai Ming-liang wie nebenbei versichert.

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                      • 9 .5

                        Ein Tipp auch in eigener Sache, weil wehe die Kohle kommt nicht zusammen und ich bekomme das nicht. Dann gehe ich bei jedem in der Community persönlich vorbei, lasse mir mit Kontoauszügen nachweisen, dass nicht mehr möglich war, und wehe wehe ... :

                        https://www.kickstarter.com/projects/1585485375/death-in-the-land-of-encantos-by-lav-diaz-on-dvd-b

                        Dies war eine kurze Botschaft von ihrem freundlichen Materialisten.

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                          vannorden 08.03.2017, 17:49 Geändert 08.03.2017, 20:46

                          Ein bisschen ist es, als ob dabei zugeschaut werden kann, wie sich ein Film in die selbstgewählte Demenz zurückzieht. Beginnen tut es als DR. JEKYLL AND MR. HYDE-artige Geschichte über einen genialen Wissenschaftler, der unter dem Druck zerbricht, den er von außen auf sich spürt. Ein Double entsteht, das skrupellos für Entspannung sorgt. Es zerstört das Labor, damit er gefeuert wird und privat und heimlich weiterarbeiten kann. Es versorgt ihn mit Geld, Technik und Infos über die Konkurrenten. Es schläft mit den Frauen, mit denen er gern schlafen würde und lebt eben alles aus, was das Original sich nicht traut. Die großen Fragen nach Identität folgen so geradezu zwangsläufig. Besonders interessant ist es hier, weil beide sich nicht auf einen einfaches schwarz-weiß Schema herunterbrechen lassen, sondern beide komplexe Wesen sind, schlicht mit sich spiegelnden Sonnen- und Schattenseiten. Aber Kurosawa formuliert nichts aus, verfolgt keine straffe Agenda. Die Erfindung, ein Rollstuhl der durch bloße Willenskraft gelenkt werden kann, macht eine dezidiert cronenbergische Komponente auf. Einbringen tut dies aber nur Stichwörter. Sein Konstrukt taumelt durch die angerissenen Motive und weiß nicht so richtig, wo es hin gehen soll. Und so werden die gegangenen Wege immer obskurer. Sie versumpfen geradezu. Irgendwann wird ein Komplize in einem verfallen Haus im Nirgendwo eines Waldes indianajonesmäßig vor einer anderthalb Meter großen Discokugel davon rennen, die hinter ihm her die Treppen heruntergerollt kommt. Es ist einer der gegen Ende ab und zu im allgemeinen Herumtrüben auftauchenden Momente, die förmlich darum bitten dies alles hier doch bitte nicht mehr allzu ernst zu nehmen. Der stilsicherer Vertreter schleichenden Horrors sieht dergestalt auch zusehends abwechselnd hässlich, ulkig bis gekonnt aus. Final wird das zentrale Objekt von DOPPELGÄNGER wie eine Figur aus der Augsburger Puppenkiste über eine Klippe geschickt. Die Szene ist traurig, sie ist witzig und komplett bescheuert. Vll will Kurosawa die ganzen Brocken Thematik so zu Grabe gebracht sehen, denn was nutzten die großen Fragen, wenn wir stattdessen zufrieden sein könnten. Passend dazu der verstrahlte, abgeranzte Kitsch der finalen Postkartenoptik. Vll steckt aber mehr dahinter, aber wer will das ob der episodisch bleibenden Geschehnisse um Vertrauen, Ambitionen, Gier und Verwirklichung sicher sagen.

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                          • 8 .5

                            Ich persönlich würde sicherlich denken, dass der Mann mit der Ruhe, den Aalen und dem Wasser ein netter Mensch ist, der anderen helfen möchte. Aber A CURE FOR WELLNESS erzählt aus Sicht eines skrupellos aufsteigenden Bankkaufmanns und Workaholic. Und so ist dessen Ausflug in ein Luxusspa in die Schweizeralpen, wo er nur kurz einen Sündenbock abholen soll, der Trip in ein schwarzromantisches Märchen, wo teuflische Hohepriester hinter Masken der Hilfsbereitschaft versteckt einen mit Wasser aussaugen und wo Aale die Reste von einem vertilgen. Von Gore Verbinski ist dieses gotisch-abgründige Institut der Heilung wie ein Badezimmer inszeniert, bei dem sich Schimmel und Moder schleichend durch die Fliesen und die Spiegel drücken und einen langsam einkreisen … wie eine Würgeschlange. Überall findet sich dabei das Wasser. In Gläsern, in Tanks, im Klo, in Teichen, in Groten, in den Träumen. Es ist der Hort der Gefühle und der Unsicherheit, der A CURE FOR WELLNESS bestimmt. Es ist der Tümpel des Brackwassers, in dessen unabschätzbaren Tiefen alles lauern kann. Und so lauert unter den immer präsenten Wasserflächen (manchmal sind es einfach Spiegel) auch so einiges. Der Eine, der an einen seltsamen Ort kommt, wo die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Es hat etwas von SHUTTER ISLAND, nicht nur weil Dane DeHaan wie ein DiCaprio Stand-in wirkt. Doch dieser mythische Alptraum kommt aus ganz klassischen Horrorecken. Denn unterhalb des ehemaligen Schlosses in den Alpen liegt ein Dorf, das in den 50ern festzustecken scheint und wo Bars 80er Jahre Außenseiter mit Piercings beherbergen, die stets bereit scheinen mit Mistgabel und Fackel nach oben zu den wahnwitzigen Fürsten zu ziehen, deren widernatürliche Experimente zu stoppen haben, aber jetzt erstmal unterhalb des Schlosses sich wegducken. Dieser Ort, von verfremdeten, anachronistisch zusammengesteckten FRANKENSTEIN- und DRACULA-Tropen gespeist, hat zudem alte, zurückliegende Geheimnisse um Mord, Inzest und eine perfide Perversion auf dem Weg zu einer unheiligen Perfektion auf Lager. Ein Ort und ein Film zerrissen zwischen glatter, niederdrückender Teutonik und blühendem Jugendstil. Ein Sumpf von regelmäßiger Schönheit. Wasser ist in A CURE FOR WELLNESS stets etwas Zersetzendes, was mit Feuer gereinigt werden muss. Aber alle und alles möchte oder soll sich hier reinigen. Der Bankier wurde zu Beginn aus einem hyperkapitalistischen Büro ohne Luft, Wärme und Behaglichkeit losgeschickt. Der Startpunkt ist schon ein Ort des Horrors. Und wo immer DeHaan hin stolpert, es wird nicht besser. Diese Verhandlung über die amoralische Reinheit des modernen Kapitalismus vs esoterischen Selbstsäuberungs- und –optimierungszwang vs deftiges Menschsein, alles darin bezieht sich aufeinander als Reinigungsmittel und Dreck. A CURE FOR WELLNESS hat einen allumfassenden Waschzwang, der, egal wo er ankommt, immer neuen und immer mehr Dreck vermutet und findet. Wasserdicht abgeschlossen ist dem nicht zu entkommen. Es wird sich kein Ausweg gegönnt und am Ende schrubbt sich dieser Film stetig das grüne, getragen-schöne, grauenvolle Fleisch von den Knochen.

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                            • 8 .5

                              Die abermalige Wiederkehr des Sohn Gottes zur Discozeit verläuft zumindest für ihn wenig erfreulich. Kurz bevor er zu seinem Vater (oder eben sich) heimkehrt, spricht vor allem Verbitterung aus ihm, wenn er sagt, dass es ihm auf Erden nicht gefällt, wirklich gar nicht. Offensichtlich wird dadurch, was sein Vater in Zwiegesprächen stets wiederholte. Er soll sich mal locker machen, denn versteift ist er. Und wahrlich zwischen schmachtenden und schmalzige Balladen singenden Jüngern, bei den ihn versuchen wollenden Discotanzperformances der Fleischeslust und der Drogensucht – wo sich Personen auch mal wiederholt in drei Meter lange Heroinspritzen verwandeln – sowie bei den Gesprächsfetzen mit den Bürgern einer säkularisierten Welt, die seinen Auftreten aus dem vorletzten Jahrhundert wenig Verständnis entgegenbringen, zwischen all diesem weltlichem Trubel wirkt Jesu meist wie ein verklemmter Besserwisser, der strikt und ängstlich an der Welt vorbeilebt. Wiedergekommen um die Welt zu retten, stolpert er planlos in kleine Konflikte und hilft, wo er kann. Nachhaltig ist sein verwirrtes Belehren aber nie. Deshalb ist irgendwann nicht nur die fröhliche Lieder über ihre Niedertracht singende Mafia hinter ihm her, sondern auch die Polizei – vertreten durch einen ganz tief unter Niveau nach Kalauern schürfenden Gianni Magni, der sich adrenalingeladen in einen Atomwitzstollen ungeahnter Skrupellosigkeit reinfräst. Aber so wage und elliptisch WHITE POP JESUS die Ahnung einer Geschichte mit einer Ahnung von Stringenz erzählt, so eigenwillig Sinn und Verstand und Ästhetik gestreckt und gedehnt werden, bis der Zuschauer von den sich aufbauenden Potentialen der Auslegung, der Drastik des Nonsens und den treibenden Beats in den Seilen hängt, so selbstverständlich wird Jesu Jünger um sich sammeln, in Menschenmassen auf einem Esel in eine Stadt reiten, während mit Lorbeerzweigen gewedelt wird. Jesus ist gekommen, um dich zu retten, und seine Wege sind unergründlich. Da bleibt nur in Deckung zu gehen oder sich wagemutig hinzugeben.

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                                vannorden 17.02.2017, 10:50 Geändert 17.02.2017, 12:51

                                "Dann ist alles still, ich geh’ / Regen durchdringt meine Jacke / Irgendjemand kocht Kaffee / In der Luftaufsichtsbaracke." Leider kennt Oshii wahrscheinlich diesen Monolith deutschsprachiger grau-in-grau Poesie nicht, wo kein Blatt zwischen Trübnis und Irrwitz passt. (Luftaufsichtsbaracke, welch Geniestreich) Ansonsten würde "Über den Wolken" vll doch einmal in THE SKY CRAWLERS erklingen. Nicht weil in diesem Steampunkparalleluniversum die kriegsführenden Rüstungsindustrien Rostock und Lautern heißen, sondern weil neben der Weite des US-amerikanischen Mittleren Westens oder neben der Atmosphäre von Fliegerfilmen über den Ersten Weltkrieg etwas sehr bodenständiges in der Sehnsucht nach Fliegen und Freiheit zu finden ist. Unbemerkt scheint dies alle niederzudrücken. Wie im Nebel liegt auch das Geschehen, welcher erst nach und nach durchdrungen wird, nur um am Ende, ob des ewiggleichen Treibens um gezüchtete, nicht erwachsenen werdende Kindsoldaten, lakonisch den Kopf zu schütteln und weiterzumachen. Es herrscht die Stimmung von hängenden Schultern, aber wie bei Reinhard Mey ist dies bei der ausgestellten beseelten Hoffnung leicht zu übersehen.

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                                • vannorden 18.01.2017, 12:50 Geändert 18.01.2017, 14:41

                                  In Nürnberg finden in unregelmäßigen Abständen die außerordentlichen Kongresse des Hofbauer-Kommandos statt. Es geht darum verkannte und/oder vergessene Filme mit einem wie auch immer gearteten erotischen Hintergrund neu zu reevaluieren (und so ein Schlaglicht auf Sozial- und Geschlechtergeschichte zu werfen) ... und um zusammen Kino zu erleben, zu johlen und entsetzt zu sein.

                                  Auf critic.de wurden einige mehr oder wenige kurze Impressionen einiger Besucher zu einer "Collage" zusammengefasst. U.a. dabei: the gaffer. Von mir ist auch etwas eher Albernes an Bord:

                                  http://www.critic.de/special/16-hofbauerkongress-obskure-filme-die-grosses-mit-uns-vorhaben-4094/

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                                    vannorden 17.01.2017, 08:33 Geändert 17.01.2017, 16:03

                                    Repetitiv scheitert Donald Neilson, am Leben, an seiner Familie, an seinen Verbrechen. Er trainert im Wald und will aus sich einen edlen Supersoldaten formen, der über dem Abschaum steht, der ihn umgibt. Er schließt sich im Keller ein und schmiedet ausgeklügelte Pläne, wie er Postämter überfallen kann. Voller Eleganz verfolgt die Kamera seine getriebene Suche nach Respekt und nach Erfolg über die Gesellschaft, die ihn ausgespuckt hat. Er will der enttäuschenden Trettmühle der Arbeitswelt entkommen und krampfhaft seine Achtung vor sich selbst erhalten, die er nur schwerlich erhalten kann … mit Training und Plänen. Doch er ist der geborene Verlierer. Seine Pläne scheitern immer wieder am selben Punkt, nur wird er nicht klug daraus. Er verkrampft nur mehr. Nie sind die Safeschlüssel der Postämter zuhand. Immer geht er nachts die gleichen Treppen hinauf, um sie von den Postbeamten zu holen, und immer wieder richtet er nur ein lächerliches Blutbad an. Nichts erreicht er und verliert sich in immer ambitionierteren Plänen, die ihn aber nur auffressen werden. Und wir leiden mit … leiden durch diesen protofaschistischen Hampelmann mit all seiner anmaßenden Großkotzigkeit, mit diesem armen Wicht.

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                                      Etwas Kram und irgendwo unten dann auch was zum Film.

                                      Ende Januar 2012, als ich erstmals Gast bei einem außerordentlichen Kongress des Hofbauer-Kommandos, dem 5., war, hatte schon die erste Nacht gereicht, um mein Verständnis von Film, Kino und sowas aus den Angeln zu heben. Ich hatte auf eskalierende-traeume.de schon vorher von Filmen gelesen, von deren Existenz ich wohl ansonsten nie gehört hätte, aber vor allem hatte ich von Rezeptionsmöglichkeiten bzgl solcher Filme erfahren, die ich sehr wohl kannte. Eine Tür, nein ein Tor begann sich zu öffnen. Und dann saß ich mitten drin. Nachdem ich Zeuge wurde wie Hofbauer-Kommandant Christoph im Schweiße seines Angesichts einen Filmriss bei der Filmkopie von HEISSES PFLASTER KÖLN von ca. 1 Meter – quer durch – reparierte, kamen in der Nacht von Freitag auf Sonnabend in einer Tour: DIE NACKTEN AUGEN DER NACHT – TAIFUN DER ZÄRTLICHKEIT – DIE KÜKEN KOMMEN. Eine weltvergessene Elegie von einem Alptraum, ein Film in dem träumende Romantik und bittere Garstigkeit sich nicht ausschlossen und eine brutal alberne Komödie, die allem, was als Können und Anstand galt/gilt, den Finger zeigt. Jeder Film war anders, so dass das Staunen blieb. Und dazu mischte sich meine Müdigkeit, weil ich den Kongress fatalerweise in dem Moment nach meinem Studium kennenlernte als ich meinen Tagesrhythmus tatsächlich in den Tag legen musste, und die Filme meist erst im oder nach dem morgen grauen endeten. Eine Müdigkeit, welche die Erfahrungen und Eindrücke mit etwas Ungreifbaren, etwas Traumgleichen versetzen… was letztendlich sehr zu den Filmen und deren Rezeption passte. Vor allem die Rausschmeißerfilme in diesen Tagen der erste Kongresse, die schon am nächsten Vormittag, nicht mehr im Kino, sondern im Büro für Unglauben sorgten (DIE MÄDCHEN VON DER PEEPSHOW – DER SEX-AGENT – DAS GASTHAUS ZUM SCHARFEN BOCK), wie trüb sie möglichweise gewirkt hätten, wenn das Bewusstsein diesen noch etwas hätte entgegensetzen können. (Aber das ist ja das Schönste an den Kongressen, dass sich nicht gegen Filme gewehrt wird, sondern dass sich ihnen auf Gedeih und Verderb hingegeben wird … was manchmal auch nicht ganz so schön ausgehen kann, aber selten, eher selten.) Was mich dann aber wirklich an meinen Augen und meinem Verstand zweifeln ließ, was dann der eindrücklichste Film des Wochenendes war, dass merkte ich erst viel später, wohl Monate, wenn nicht Jahre nach dem Kongress. Es war TESTAMENT DER BEGIERDE von Joe D’Amato in der zweiten Nacht. Ein melodramatischer Thriller, der fast ohne Melodrama und Thrill auskam, der dahinschlenderte um öfters mal seltsam aussehende Brüste zu zeigen und irgendwie nichts machte, was aufregend war. Noch nie hatte ich solch prominent ausgestellte Füllszenen gesehen, fast schien sich alles nur um diese zu drehen. Im Büro hat mir irgendwann an diesem ersten Wochenende ein anderer Hofbauer-Kommandat von einer Doku erzählt, wo D’Amato erzähle, er könne jedes Gefühl im Zuschauer mittels seiner Kunst hervorrufen. Dann haben wir gelacht. Ich zumindest, weil diese großmäulige Aussage aus dem Mund eines solchen offensichtlichen Dilettanten einfach nur absurd war. Aber dann wollte nicht aus meinen Kopf verschwinden, wie die beiden Hauptdarsteller immer wieder um die Ecke kamen und die Straße herunterliefen. Wie sie wirklich die ganze Straße jedesmal entlang gingen, ohne das etwas passierte, ohne das sie reden würden, mit einem solchen Willen dies auszuhalten. Wie diese Einstellungen zueinander einen klar aufgebauten Rhythmus und nach einer kühnen symetrischen Logik entworfen waren. Dazu noch die Selbstironie, wenn die Hauptdarstellerin auf die Uhr guckt, weil wirklich gar nichts in einer anderen Szene geschehen will. Heute hätte es mich an Lav Diaz erinnert … in einer Pop-Art-Version. Damals war ich verwirrt. Es war schön, aber so billig. Zwei Szenen aus einem Tanzfilm, die mir als Vorgeschmack auf andere Filme von D'Amato gezeigt wurden (wie eine Frau in einen LKW steigt und die Kamera sie zwischen Lenkrad und Schenkel des Fahrers von unten aufnimmt, den Schaltknüppel vielsagend präsentierend und dann noch die erste, verträumte Tanzszene), führten dazu, dass ich fast anderthalb Jahre später das erste Mal DIRTY LOVE schaute. An einem unbedeutenden Morgen. Zum Film gab es kalte Pizza vom Vortag. Danach hatte ich über Tage hinweg gute Laune. Und langsam verstand ich. (Nachdem ich inzwischen auch ABSURD gesehen hatte und ebensolche Füllszenen sich auch in diesem Horrorschocker tummelten. Es schien also mehr als nur Überspielen von Unvermögen zu sein. Zu sehr war es Teil der Filme D’Amatos.) Lukas F. hat das ausufernde Radeln der Füllszenen von DIRTY LOVE dann konsequenterweise auch zur Utopie erklärt (http://somedirtylaundry.blogspot.de/2017/01/16-hofbauerkongress-auto-erotik.html). Die Lebenswelt dieses Films ist jedenfalls eine sehr heruntergekommene. Nicht weil die Straßenecken und Gebäude schon bessere Tage gesehen haben, sondern weil Terry Jones (Valentine Demy) in diesem Freiwild ist. In einem Fort wird sie begrapscht. Von (fast) allen Männern, von Frauen, aber auch vom Drehbuch und von der Kamera. Deshalb radelt sie, um nicht mehr auf Beifahrersitzen zu sein, wo sie selbst von schüchternen Jungs wie selbstverständlich angefasst wird. Deshalb verhöhnt sie dann auch den nackten Stripper, der im Bett keinen hoch bekommt. Das Band zwischen den Geschlechtern, wenn nicht gar zwischen den Menschen ist zerschnitten. Oft handeln D’Amatos erotischen Filme von einem Geschlechterkampf, wobei die Männer meist Opfer ihrer Libido zu sein scheinen und dafür mal Prostatakrebs bekommen, mal ein Sein als Witzfigur. Hier sind sie eben Grapscher, aber mit einer solchen Insistenz, dass das Leben (für Frauen) in einer solchen Welt ermüdend und deprimierend erscheinen muss. Aber trotzdem, D’Amato hat einen naiven Film geschaffen, einen Film voll Liebe und Wärme. Weil es ja noch den Tanz gibt, weil es Menschen gibt, die einem aus dem Nichts ein Fahrrad schenken. Und weil sich Terry selbst nahe an einer Depression zwischen Schmierbolzen, zweifelhaften Yuppies und einer Kamera, die sie lüstern beglotzt, wenn sie sich bei exzessiven Trainingseinheiten abreagieren möchte, dass sie zwischen all diesen existentiellen Abturnern ihr Leben doch irgendwie tanzend meistert. Das Ende dreht auch vielsagenderweise die Chronologie um. Erst kommt der Erfolg auf der Bühne und sie findet ein Engagement … und erst dann folgt die Szene, welche sie zum Vortanzen führte. Sie trifft einen der beiden Männer, der einfach nur mit ihr tanzte, einen der sie nicht belästigt und dieser erinnert sie daran: Tanzen ist ihre Erfüllung. Und so tanzt sie und die Einstellung friert ein. Nur Terry für sich mit einem Lächeln … auf der Straße tanzend. Bei sich. D’Amato schneidet stets um Valentine Demys Tanzkünste herum, weil sie wahrlich nicht die beste Tänzerin ist, aber dies ist was DIRTY LOVE ausmacht. Es ist eine Tänzerin zu sehen, die vll nicht die graziöseste ist, die aber mit ganzem Herzen dabei ist. Egal wie peinlich es für andere scheinen mag. Ihre Bewegungen haben so eine Verletzlichkeit und eine Würde, wie sie in der Perfektion schwerlich zu finden sind. Das Herz hüpft hier mit. Mit DIRTY LOVE und dem unvergleichlichen Œuvre des Joe D’Amato.

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                                        Der Messias? Ein Rosselini von 1976. Ich bin sehr gespannt. Wollte mir eh mal einen Film aus seinem ja eher verpöhnten Spätwerk anschauen.

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                                        • Aber du hast doch ARRIVAL, ganz richtig, besser benotet als PATERSON. ;)

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                                          • critic.de ist eine feine Seite. Wer sie kennt, helfe ihr vll. Wer sie nicht kennt, schaue vll mal vorbei.

                                            http://www.critic.de/aktuell/in-eigener-sache-criticde-braucht-hilfe-4089/

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                                              • vannorden 21.12.2016, 12:03 Geändert 21.12.2016, 13:19

                                                In 4 the Win!

                                                (01) The Persecution and Assassination of Jean-Paul Marat as Performed by the Inmates of the Asylum at Charenton Under the Direction of the Marquis de Sade (1967)
                                                (02) Profound Desires of the Gods (1968)
                                                (03) Perfect (1985)
                                                (04) Am blauesten aller Meere (1936)
                                                (05) Flowing (1956)
                                                (06) Dirty Love (1988)
                                                (07) Es war nicht die Nachtigall... (1974)
                                                (08) Tod in Venedig (1971)
                                                (09) Der Mann, der sein Testament auf Film hinterließ (1970)
                                                (10) A Chinese Ghost Story (1987)

                                                nicht unerwähnt sollen bleiben:

                                                Fear City (1984)
                                                César und Rosalie (1972)
                                                Rumble Fish (1983)
                                                Die Lederjungen (1964)
                                                Body Double (1984)
                                                Liebende Frauen (1969)
                                                Heart of the Dragon (1985)
                                                Fallen Angels (1995)
                                                Aquaplaning (1987)
                                                Red Angel (1967)

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                                                • Soll die Unendlichkeit umarmt werden, so ist sie zu portionieren. HEREMIAS lässt sich folglich vll in drei Teile aufgliedern. Zuerst sind da fünf reisende Händler. Einer von ihnen, Heremias, weniger prophetischer Jeremias als Eremit – etymologisch vom griechischen eremítēs oder eben dem erimita im Latein, also Person der Wüste, stammend – isoliert sich zunehmend, verlässt seine Kollegen und fährt alleine ins Unbekannte. Ganz klassisch trennen sich die Wege an einer Weggabelung. Vor der Straße, welche Heremias zu nehmen gedenkt, wird er gewarnt. Er wisse nicht, was dort auf ihn wartet, solle sich aber erinnern, was anderen passierte, als sie ihre ihnen bekannte Strecken verließen. Seine Abkapslung macht seine Reise nicht nur zu einer in die Unwägbarkeiten des unbekannten Landes vor ihm, sondern auch in die fremden Territorien in ihm. Aber wir sind bei Lav Diaz, also bleibt alles an einer schleichenden Oberfläche. Ein entspannter Road Movie tut sich von Anfang an auf. Die sukzessive Trennung ist das einzige Drama und selbst der Sturm, in dem Heremias endet, ist tonal eher eine Ambientfläche zum Seele baumeln lassen – wer das Geräusch von Regen mag, wird Heremias’ Reise lieben. Doch auf die Entspannung folgt das Unbehagen. Stets sozial verankert. Erst sitzt er mit zwei lokalen Bauern in einem verfallenen Haus und es ist die ganze Zeit schmerzlich bewusst, was passieren wird. Wenn er am nächsten Tag aufwacht, werden sein Wagen und seine Kuh, sein ganzes Hab und Gut, verschwunden sein… und doch reden sie und reden, trinken und trinken, ohne dass der Diebstahl als Erlösung von der Spannung einer Ahnung vollzogen wird. Die Behörden, welche Heremias am nächsten Tag aufsucht gleichen einem stillen Gang durch die Hölle. In Form von provinzialen Vertretern einer Bananenrepublik treten sie auf, die zwischen den Zeilen oder offensichtlich nicht in den Dieben das Problem sehen, sondern in Heremias, der ihre Ordnung und Ruhe mit seinem zaghaft geäußerten Wunsch nach Gerechtigkeit bedroht. Sie machen Dienst nach Vorschrift, während Heremias schweigend und mit gesenktem Kopf daneben steht. Mit Menschen zu tun haben, in HEREMIAS ist es meist sehr undankbar. Im letzten Drittel wird er alleine die Täter suchen. Als Voyeur im Busch sitzt er vor dem Tatort des Diebstahls und beobachtet die vorbeikommenden Leute. Zärtlich kommt die Entspannung wieder, mit der wir die Leiden und Leben der Bevölkerung kennenlernen. Fast scheint es, dass HEREMIAS auf ein soziales Gewissen hinausläuft, bis das zu Sehende unverdaulich wird. Weder Staat noch Kirche werden helfen können. Die erste Einstellung, in der ein Mensch nicht in seiner vollständigen Größe enthalten ist, kommt ca. nach 3,5 Stunden. (Wenn ich mich nicht irre. Ich habe es leider nicht notiert und bin vergesslich.) Und selbst da sind nur die Unterschenkel abgeschnitten. Sprich die Kamera bleibt immer auf Distanz, beobachtet und gibt einem nicht die Erlösung einer emotionalen Einbindung. Es bleibt nur die Auseinandersetzung. Und so meditiert HEREMIAS über das Glück und die Hilflosigkeit, die es ist, alleine zu sein. Das Perfide daran, wir sitzen alleine vor der Leinwand/dem Bildschirm und haben nur uns … während Lav Diaz’ neunstündiger Film mal schön, mal quälend langsam über uns kommt.

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                                                    Zerknautscht. Wenn Will Rogers zu Gericht oder auf seiner Veranda sitzt und eine institutionalisierte Justiz zur Farce macht, dann träumt JUDGE PRIEST von einer, wenn nicht idealen, so doch beneidenswerten Gemütshaltung. "Row, row, row your boat, Gently down the stream. Merrily, merrily, merrily, merrily, Life is but a dream", ist möglichweise im Hintergrund des eigenen Bewußtseinsstroms zu hören, wenn Richter Priest lakonisch den Beschwerden, Einsprüchen und Vorwürfen seiner Mitmenschen zuhört … oder eben auch nicht … immer mit einem nachsichtigen Lächeln, dass umso breiter und trauriger wird, je mehr sein Gegenüber auf Buchstaben im Gesetz, moralischen Anstand und Empörung besteht … und wenn der Richter dann entsprechend seinem Herzen gewitzt und entschieden (ohne Fanatismus) handelt. JUDGE PRIEST träumt von einem Guten (Wahren und Schönen), das nichts mit dem Richtigen zu tun hat. Vll heißt er deshalb auch Priest, weil er nicht an die Früchte der Aufklärung und an die institutionalisierter Dogmen glaubt, sondern an Rücksicht und Verständnis. Ein Traum von Menschlichkeit. Dementsprechend hat Ford auch keinen Film mit einer klaren Struktur gedreht, sondern einen der mäandert. Einen, der dem verständnisvollen Lachen eines alten Oppas mit Sinn für die Albernheit des Lebens gleicht und dem jeder Sinn für Hysterie abgeht. Einen Film, wo der Richter ganz Humörbombe lieber mit dem Angeklagten angeln geht, als der Anklage zu erklären wie engstirnig sie ist. Wahrscheinlich kann JUDGE PRIEST auch deshalb in den Südstaaten spielen und zur Rettung des Tages Dixie zum Marsch fröhlicher Veteranen anstimmen, ohne dass einem der liebevolle Witz im Halse stecken bleibt. Weil Will Rodgers/Richter Priest die Doktrinen eines jeden Staats/Glaubens schon wieder lächelnd unterminiert. Anders als bei Adorno, der nicht an die Möglichkeit eines richtigen Lebens im falschen glaubte, wird hier eben weder an richtiges Leben noch an ein falsches geglaubt. Es gibt nur ein Leben, in dem wir (mitunter) von Idioten umgeben sind, selbst an Idiotisches glauben und allzu oft töricht bis schrecklich handeln, in dem sich aber eine lakonische Gelassenheit bewahrt werden kann … und in dem selbst ein Staat, der seinen ritterlichen Sozialismus blutig auf den Schultern versklavter Menschen bauen wollte, eine anderen Richterspruch verdient, als ihn verkürzte Verteufelung, blinde Freisprechung oder einfach ein einziger Film in Peto haben. Und so steht Richter Priest am Ende des Tages/Mitten im Film vor dem Bild/Grab seiner toten Familie und erzählt ihnen mit einem traurigen Lachen von den Geschehnissen des Tages und einem wird unmerklich klar, wie schwer es sein muss, in einer solchen, in unserer Welt sich das Lächeln zu bewahren.

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