00101001100 - Kommentare

Alle Kommentare von 00101001100

  • 8 .5

    Es kann schon peinlich sein, wenn Eltern plötzlich auftauchen, um sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Besonders schlimm wird es, wenn der Vater ein gealterter Pausenclown ist, der sich falsche Zähne in den Mund steckt, sobald eine Situation droht ernst zu werden. Das Chaos ist perfekt, wenn gerade ein wichtiger Arbeitsauftrag ansteht, der die berufliche Zukunft entscheidend beeinflussen könnte. All dies bricht über die aufsteigende Unternehmensberaterin Ines Conradi (Sandra Hüller) herein: während sie sich in Bukarest um einen Großkunden bemüht, kommt ihr schrulliger Vater Winfried (Peter Simonischek) unangekündigt zu Besuch, um ihren eingeschlafenen Kontakt wieder zu beleben – komme was wolle.

    Der Plot zu „Toni Erdmann“, dem neuesten Film der Regisseurin Maren Ade, lässt einen deutschen Abklatsch amerikanischer Familienkomödien befürchten, in denen ständig alles schief läuft, sich letztendlich aber alle wieder vertragen. Ade spielt auch bewusst mit dieser Assoziation, es fehlt nicht an klamaukig überspitzten Szenen. Der Film schafft es jedoch stets, diese Klischees zu brechen und nutzt das Peinliche und Unanständige als Plattform, um große Themen anzusprechen: Was bedeutet „Familie“ heutzutage noch? Was ist Glück? Geht es uns wirklich gut in Europa? Und wenn ja, auf wessen Kosten? Diese schwerwiegenden Fragen werden so kompromisslos ehrlich gestellt, dass es mitunter schmerzt, den Film anzuschauen. Zwischen Fremdscham und Mitgefühl eröffnet sich eine wichtige Chance zur Selbstreflektion.

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    • 7

      Wenn einer der ungewöhnlichsten Regisseure unserer Zeit einen Film über einen der einflussreichsten Filmemacher aller Zeiten dreht, ist die Erwartung an das Endprodukt natürlich groß. Peter Greenaways „Eisenstein in Guanajuato“ ist im Endeffekt zwar keine direkte Enttäuschung, wird den Anforderungen aber nicht gerecht. Einige Aspekte des Films sind durchaus sehenswert, es mangelt weder an experimentierfreudigen Bildern, noch an tiefgründigen Wortwechseln und schon gar nicht an Gewagtheit. Im Großen und Ganzen wirkt „Eisenstein in Guanajuato“ jedoch zu gezwungen verspielt. Von Beginn wird überbetont, dass es sich um eine Hommage an einen der progressivsten Filmemacher seiner Zeit handelt und zwischen den mitunter überbordend künstlichen Effekten geht am Ende leider die essenzielle Sinnlichkeit der Geschichte verloren. So hat Greenaway eine filmische Collage geschaffen, die zwar selbst kein großes Kunstwerk ist, aber interessante Teilstücke bietet.

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      • 5

        Oh, the difference a script makes.. as well as a director! Mitunter kommt es zu Tagen, welche eine seltsame Eigenart entwickeln und einem ermöglichen, darüber zu reflektieren, was man denn nun eigentlich vom Medium Film erwartet. Letztens war so ein Tag. Zunächst lief in einem meiner Stammkinos ein Streifen namens "Remainder", welchen ich mir mit einem indischen Bekannten angeschaut habe. Hauptaugenmerk in der Auswahl dieses Films war, dass er im originalen Englisch gezeigt wurde und mein Bekannter ihn deshalb mitschauen konnte. Hinzu kam, dass es sich um den ersten richtigen Langspielfilm des Videokünstlers Omer Fast handelt, welcher also wenigstens interessant zu sein versprach. Am Ende verließ ich jedoch vollkommen unbefriedigt, ja geradezu frustriert den Kinosaal. Dieser negative Eindruck war es dann auch, der mich in der gleichen Nacht dazu bewegte, noch einen weiteren Film anzuschauen. Wie es sich verhielt, hatte ich gerade eine Leih-DVD von "Locke" rumliegen (ich weigere mich hiermit, den Alternativtitel für den deutschen Markt zu benutzen) und so wurde dies der zweite Film des Abends. Wie grundlegend verändert doch meine Stimmung nach diesem Film war! Ich war voller Energie, emotional berührt, intellektuell angeregt, und vor allem sehr gut unterhalten. Der Gesamteindruck war sogar derart stark, dass ich mir den Film direkt nochmal mit Audiokommentar des Drehbuchautors und Regisseurs Steven Knight angeschaut habe und selbst nach unmittelbarem Zweitbeschauen nicht minder beeindruckt war. Unter keinen Umständen hätte ich mir "Remainder" gleich noch einmal angeschaut. Es ist sogar fraglich, ob ich ihn mir je wieder anschaue. Diese beiden so unterschiedlichen Filmerlebnisse rief letztendlich eine sehr grundlegende Frage in mir hervor: Wie kann es sein, dass diese beiden Filme solch grundverschiedene Reaktionen bei mir hervorrufen konnten? Sind sie an sich derart unterschiedlich, oder gibt es tieferliegende Gründe? Was gibt mir überhaupt die Erlaubnis, einen Film schlechter als den anderen zu bewerten?

        Auf dem Papier sind sich "Remainder" und "Locke" zunächst gar nicht mal so unähnlich. Beides sind (in der Hauptsache) britische Erzeugnisse, mit jeweils noch einem weiteren Produktionsland. Beide können somit dem aktuellen britischen Film zugeordnet werden. Beide haben eine Lauflänge von um die einhundert Minuten. Beide versprechen in ihrer Grundstruktur recht radikale Ansätze: Der erstere in Hinsicht auf seine Erzählchronologie, der zweitere im Bezug auf seine stark eingeschränkten Erzählmittel. Beide entwickeln ihre Geschichten um einen zentralen, eigenwilligen männlichen Hauptcharakter herum. Bei beiden hatten die Filmemacher zuvor noch nicht so oft unter eigener Regie insziniert, zumindest nicht im Langspielbereich. Abgesehen von diesen (gewissen) Gemeinsamkeiten haben die beiden Erzeugnisse jedoch nichts wirklich miteinander gemein, was meiner Meinung nach hauptsächlich zwei Aspekten geschuldet ist: Drehbuch und Regie.

        Das beginnt bereits bei den Geschichten, welche jeweils erzählt werden. Während sich "Remainder" an einem möglichst komplexen und subversiven Plot versucht, wird der erzählerische Rahmen in "Locke" von Beginn an so klein, so rudimentär wie möglich gehalten. Hier zeigt sich auf den ersten Blick ein großer Unterschied im Fokus der beiden Filme. In "Locke" sind die Pfeiler klar gesteckt, es herrscht Eindeutigkeit in dem was erzählt wird, man könnte die Geschichte geradezu als einfach bezeichnen. Komplexität und Subersivität kommen hier erst durch die Figuren, welche sie ausfüllen. Hierin kommt zugleich auch die Qualität des Films zum Vorschein: er ist sich seines Hauptaugenmerks bewusst und sicher, weshalb in der Produktion auch sämtliche Ressourcen darauf verwandt wurden. Steven Knight hat alle möglichen, aber unnötigen Anhängsel und Ausschmückungen weggelassen und sich bei der Entstehung des Films vollkommen auf das konzentriert, was den Film letztendlich groß macht – das Schauspiel. Durch das Vielmalige drehen der (zumindest oberflächlich betrachtet) „simplen“ Geschichte auf einer knapp anderthalbstündigen Autofahrt konnte im Schnitt dann das erreicht werden, was dem Film seine Energie, seine Lebendigkeit gibt. Es ist ein menschlicher, ein glaubwürdiger Film. Omar Fasts „Remainder“ verfranzt sich hingegen beinahe von Beginn an in Effekthascherei. Die ganzen Flashbacks, visuellen Überraschungsmomente und erzählerischen Kniffe wirken so, als würde der Filmemacher ununterbrochen Reaktionen im Sinne von „Oh man, das hätte ich jetzt nicht gedacht!“ oder „Das ist ja krass!“ hervorrufen wollen. Keine Frage, einige (vor allem visuelle) Momente könnten durchaus bleibenden Eindruck beim Zuschauer hinterlassen, wenn sich das Gesamtprodukt nicht wie ein konstantes Entlanghangeln an Effekten anfühlen würde. Im Abarbeiten dieser Szenen vergisst der Film, die ganzen Eindrücke auch einfach einmal wirken zu lassen. Es fehlen gleichberechtigte Ruhe- und somit Kontrapunkte, welche die verschiedenen Spannungspunkte erst richtig wirken lassen würden. Was aber viel schwerer wiegt, ist der Fakt, dass es in „Remainder“ keine Figur gibt, welche annähernd stark genug ist, um das Effektfeuerwerk zu füllen. Auch der Protagonist wirkt eher wie ein Sammelsurium an Absonderlichkeiten, als ein lebhafter Charakter und vermag es nicht, ein zentraler Bezugspunkt für den Zuschauer zu sein. Tom Sturridge erhält gar nicht erst die Chance, eine dreidimensionale Figur darzustellen.

        Der größte Unterschied zwischen „Locke“ und „Remainder“ liegt in der Tragweite der gezeigten Handlungen. Letzterer arbeitet mit seiner verschachtelten und gewollt komplexen Erzählweise auf einen großen finalen Enthülungsmoment hin. Doch selbst wenn dieser im besten Fall funktionieren und einen bleibenden Eindruck beim Zuschauer hinterlassen sollte – ich fand ihn persönlich schlichtweg vorhersehbar – verpufft er doch relativ schnell. Das ganze Effektegewitter, welches zuvor abgefeuert wurde verläuft geradezu ins Leere und hinterlässt den Betrachter mit nur einer einzigen Frage: „Und was hat genau das jetzt für einen Belang für die Charaktere?“ In „Locke“ entfaltet sich die Tragweite einer einzigen Entscheidung des Protagonisten über die gesamte Länge des Films und nimmt immer neuere Gestalt an, so dass man schlussendlich mit einem komplexen Verständnis für die gezeigten Problematiken entlassen wird. Der letztere Film legt alles hinein in die Darstellung von Veränderung durch Entscheidungen, der erstere verweigert bewusst jegliche Charakterentwicklung.

        Es mag durchaus sein, dass es am Ende zu einem nicht geringen Ausmaß auch darauf ankommt, was dem Zuschauer wirklich wichtig ist. Ob er nun eher auf die Visualität eines Films Wert legt, oder ob die erzählte Geschichte das Hauptaugenmerk ist, wird beeinflussen, wie die beiden Filme im Vergleich bewertet werden. Dennoch bin fest davon überzeugt, dass „Locke“ in dem, was der Film bewirken will, viel erfolgreicher ist als „Remainder“. Bei aller Subjektivität des Mediums Film, sowie des Facettenreichtums durch Genregrenzen und -regeln, liegt darin für mich die Begründung dafür, dass qualitative Vergleiche von Filmen (und demnach Filmbewertungen an sich) durchaus berechtigt und notwendig sind.

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        • 7 .5
          00101001100 25.08.2016, 10:30 Geändert 25.08.2016, 10:39

          Oh, the difference a script makes.. as well as a director! Mitunter kommt es zu Tagen, welche eine seltsame Eigenart entwickeln und einem ermöglichen, darüber zu reflektieren, was man denn nun eigentlich vom Medium Film erwartet. Letztens war so ein Tag. Zunächst lief in einem meiner Stammkinos ein Streifen namens "Remainder", welchen ich mir mit einem indischen Bekannten angeschaut habe. Hauptaugenmerk in der Auswahl dieses Films war, dass er im originalen Englisch gezeigt wurde und mein Bekannter ihn deshalb mitschauen konnte. Hinzu kam, dass es sich um den ersten richtigen Langspielfilm des Videokünstlers Omer Fast handelt, welcher also wenigstens interessant zu sein versprach. Am Ende verließ ich jedoch vollkommen unbefriedigt, ja geradezu frustriert den Kinosaal. Dieser negative Eindruck war es dann auch, der mich in der gleichen Nacht dazu bewegte, noch einen weiteren Film anzuschauen. Wie es sich verhielt, hatte ich gerade eine Leih-DVD von "Locke" rumliegen (ich weigere mich hiermit, den Alternativtitel für den deutschen Markt zu benutzen) und so wurde dies der zweite Film des Abends. Wie grundlegend verändert doch meine Stimmung nach diesem Film war! Ich war voller Energie, emotional berührt, intellektuell angeregt, und vor allem sehr gut unterhalten. Der Gesamteindruck war sogar derart stark, dass ich mir den Film direkt nochmal mit Audiokommentar des Drehbuchautors und Regisseurs Steven Knight angeschaut habe und selbst nach unmittelbarem Zweitbeschauen nicht minder beeindruckt war. Unter keinen Umständen hätte ich mir "Remainder" gleich noch einmal angeschaut. Es ist sogar fraglich, ob ich ihn mir je wieder anschaue. Diese beiden so unterschiedlichen Filmerlebnisse rief letztendlich eine sehr grundlegende Frage in mir hervor: Wie kann es sein, dass diese beiden Filme solch grundverschiedene Reaktionen bei mir hervorrufen konnten? Sind sie an sich derart unterschiedlich, oder gibt es tieferliegende Gründe? Was gibt mir überhaupt die Erlaubnis, einen Film schlechter als den anderen zu bewerten?

          Auf dem Papier sind sich "Remainder" und "Locke" zunächst gar nicht mal so unähnlich. Beides sind (in der Hauptsache) britische Erzeugnisse, mit jeweils noch einem weiteren Produktionsland. Beide können somit dem aktuellen britischen Film zugeordnet werden. Beide haben eine Lauflänge von um die einhundert Minuten. Beide versprechen in ihrer Grundstruktur recht radikale Ansätze: Der erstere in Hinsicht auf seine Erzählchronologie, der zweitere im Bezug auf seine stark eingeschränkten Erzählmittel. Beide entwickeln ihre Geschichten um einen zentralen, eigenwilligen männlichen Hauptcharakter herum. Bei beiden hatten die Filmemacher zuvor noch nicht so oft unter eigener Regie insziniert, zumindest nicht im Langspielbereich. Abgesehen von diesen (gewissen) Gemeinsamkeiten haben die beiden Erzeugnisse jedoch nichts wirklich miteinander gemein, was meiner Meinung nach hauptsächlich zwei Aspekten geschuldet ist: Drehbuch und Regie.

          Das beginnt bereits bei den Geschichten, welche jeweils erzählt werden. Während sich "Remainder" an einem möglichst komplexen und subversiven Plot versucht, wird der erzählerische Rahmen in "Locke" von Beginn an so klein, so rudimentär wie möglich gehalten. Hier zeigt sich auf den ersten Blick ein großer Unterschied im Fokus der beiden Filme. In "Locke" sind die Pfeiler klar gesteckt, es herrscht Eindeutigkeit in dem was erzählt wird, man könnte die Geschichte geradezu als einfach bezeichnen. Komplexität und Subersivität kommen hier erst durch die Figuren, welche sie ausfüllen. Hierin kommt zugleich auch die Qualität des Films zum Vorschein: er ist sich seines Hauptaugenmerks bewusst und sicher, weshalb in der Produktion auch sämtliche Ressourcen darauf verwandt wurden. Steven Knight hat alle möglichen, aber unnötigen Anhängsel und Ausschmückungen weggelassen und sich bei der Entstehung des Films vollkommen auf das konzentriert, was den Film letztendlich groß macht – das Schauspiel. Durch das Vielmalige drehen der (zumindest oberflächlich betrachtet) „simplen“ Geschichte auf einer knapp anderthalbstündigen Autofahrt konnte im Schnitt dann das erreicht werden, was dem Film seine Energie, seine Lebendigkeit gibt. Es ist ein menschlicher, ein glaubwürdiger Film. Omar Fasts „Remainder“ verfranzt sich hingegen beinahe von Beginn an in Effekthascherei. Die ganzen Flashbacks, visuellen Überraschungsmomente und erzählerischen Kniffe wirken so, als würde der Filmemacher ununterbrochen Reaktionen im Sinne von „Oh man, das hätte ich jetzt nicht gedacht!“ oder „Das ist ja krass!“ hervorrufen wollen. Keine Frage, einige (vor allem visuelle) Momente könnten durchaus bleibenden Eindruck beim Zuschauer hinterlassen, wenn sich das Gesamtprodukt nicht wie ein konstantes Entlanghangeln an Effekten anfühlen würde. Im Abarbeiten dieser Szenen vergisst der Film, die ganzen Eindrücke auch einfach einmal wirken zu lassen. Es fehlen gleichberechtigte Ruhe- und somit Kontrapunkte, welche die verschiedenen Spannungspunkte erst richtig wirken lassen würden. Was aber viel schwerer wiegt, ist der Fakt, dass es in „Remainder“ keine Figur gibt, welche annähernd stark genug ist, um das Effektfeuerwerk zu füllen. Auch der Protagonist wirkt eher wie ein Sammelsurium an Absonderlichkeiten, als ein lebhafter Charakter und vermag es nicht, ein zentraler Bezugspunkt für den Zuschauer zu sein. Tom Sturridge erhält gar nicht erst die Chance, eine dreidimensionale Figur darzustellen.

          Der größte Unterschied zwischen „Locke“ und „Remainder“ liegt in der Tragweite der gezeigten Handlungen. Letzterer arbeitet mit seiner verschachtelten und gewollt komplexen Erzählweise auf einen großen finalen Enthülungsmoment hin. Doch selbst wenn dieser im besten Fall funktionieren und einen bleibenden Eindruck beim Zuschauer hinterlassen sollte – ich fand ihn persönlich schlichtweg vorhersehbar – verpufft er doch relativ schnell. Das ganze Effektegewitter, welches zuvor abgefeuert wurde verläuft geradezu ins Leere und hinterlässt den Betrachter mit nur einer einzigen Frage: „Und was hat genau das jetzt für einen Belang für die Charaktere?“ In „Locke“ entfaltet sich die Tragweite einer einzigen Entscheidung des Protagonisten über die gesamte Länge des Films und nimmt immer neuere Gestalt an, so dass man schlussendlich mit einem komplexen Verständnis für die gezeigten Problematiken entlassen wird. Der letztere Film legt alles hinein in die Darstellung von Veränderung durch Entscheidungen, der erstere verweigert bewusst jegliche Charakterentwicklung.

          Es mag durchaus sein, dass es am Ende zu einem nicht geringen Ausmaß auch darauf ankommt, was dem Zuschauer wirklich wichtig ist. Ob er nun eher auf die Visualität eines Films Wert legt, oder ob die erzählte Geschichte das Hauptaugenmerk ist, wird beeinflussen, wie die beiden Filme im Vergleich bewertet werden. Dennoch bin fest davon überzeugt, dass „Locke“ in dem, was der Film bewirken will, viel erfolgreicher ist als „Remainder“. Bei aller Subjektivität des Mediums Film, sowie des Facettenreichtums durch Genregrenzen und -regeln, liegt darin für mich die Begründung dafür, dass qualitative Vergleiche von Filmen (und demnach Filmbewertungen an sich) durchaus berechtigt und notwendig sind.

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          • 8 .5
            00101001100 19.01.2016, 17:29 Geändert 17.10.2016, 09:22

            'Sex, Lies and Videotape' ist von der ersten Sekunde an vielschichtig in jeglicher Hinsicht und bleibt es bis zum Schluss. Das macht ihn lebendig, eindrücklich und erfolgreich in der Darstellung seines Kernthemas: das menschliche Handeln. Dies wird nähmlich auf unterschiedlichste Weise hinterfragt. Global (zum Beispiel mit Bezug auf die Müllproduktion sowie die weltweite Wohlstandsverteilung), lokal (vor allem in der Ehe und zwischenmenschlich) sowie im Allgemeinen (im Bezug auf die Wahrheit und das Lügen). Die insgesamt recht simple Geschichte, welche währenddessen erzählt wird, bezieht in der Hauptsache nur vier Personen ein und hätte auch in einem Satz zusammengefasst werden können: Ein Mann betrügt seine Ehefrau mit deren jüngeren Schwester bis der Besuch eines alten Bekannten den Status Quo ins Wanken bringt. Man sollte meinen, dass solch eine Prämisse nur reißerisch erzählen werden könnte, ob nun düster oder grell-witzig, schnell und mit viel Biss, denn die Basis klingt an sich ja eher dröge und filmisch abgedroschen. Genau das macht Steven Soderbergh mit seinem Langspielfilmdebüt jedoch nicht. Im Gegenteil, er nimmt sich eher Zeit und dehnt die filmische Darstellung auf mehreren Ebenen bewusst künstlich und gekonnt aus und führt so eine scheinbar altbekannte Figurenkonstellation zurück zu ihrer Essenz: die Figuren.

            Es sind nicht die Handlungen, die bei 'Sex, Lies and Videotape' im Fokus stehen, sondern die Handelnden. Diese werden durch die gegenseitige Interaktion definiert, vor allem durch die wechselseitigen Fragen und Antworten, wobei neben dem was gesagt wird auch das, wie es gesagt wird, eine große Gewichtung erhält. Es ist ein durch und durch lasziver Film. Der wirkliche Sex, beziehungsweise die wirkliche Leidenschaft des Films kommt jedoch nicht von den wenigen Szenen der tatsächlichen Berührung, sondern von der Kommunikation und den Blicken - und das so gut wie in jeder Szene. Das macht 'Sex, Lies and Videotape' zu einem sinnlicherem Erlebnis als den Großteil Filme mit den explizitesten Liebesszenen. Selbst auf die unscheinbarste Gestik und Mimik, die flüchtigsten Blicke, wird zu jedem Zeitpunkt wert gelegt. Zugleich wird aber auch das filmische Medium offenbart und aggressiv eingesetzt, um die Grenzen dieser Kommunikation aufzuzeigen. Ob nun durch raumgreifende Kamerafahrten bei einem Gespräch am Esstisch oder durch die wohlorchestrierten Schnittsequenzen zwischen den Nahaufnahmen der einzelnen Gesprächspartner wird zu jedem Zeitpunkt aufgezeigt, dass es nie nur eine Version eines Gesprächs geben kann, sondern immer so viele Varianten wie es Beteiligte gibt. Nun könnte man einwenden, dass diese Einschränkung und Lenkung des Blickes eine immanente Eigenschaft von Film ist, aber in 'Sex, Lies and Videotape' wird offensichtlicher darauf hingewiesen und damit gespielt als in so vielen anderen Filmen. Besonders spürbar wird das, sobald auch noch die Ebene des Film (bzw. Video) im Film hinzu kommt.

            Und so passiert es, dass selbst diejenigen, welche sich vollkommen der Wahrheit verschrieben haben und zu keinem Zeitpunkt mehr lügen wollen, zwangsläufig die Unwahrheit erzählen müssen, da sie unmöglich sämtliche Perspektiven auf die Situation mit einbeziehen können. Auch das macht Soderberghs Film so faszinierend, dieses ständige Tasten nach genau den Worten, welche einer Aussage Wahrheit geben - zumindest in der jeweiligen Situation. Da stellt sich natürlich auch die Frage, ob es da eher heißen sollte 'angemessene' und nicht etwa 'wahre' Worte, oder ob diese Eigenschaften vielleicht sogar ein und dasselbe bedeuten sollte. Dieses Ringen mit Worten und miteinander wird durchgängig grandios fühlbar durch die Schauspieler dargestellt, so dass der Film sich nie nach der in kürzester Zeit durchgedrückten Low-Budget Produktion anfühlt, die er ja eigentlich ist. Er fühlt sich frisch und ungezwungen an, was ihm zum Teil einen beinahe dokumentarischen Charakter gibt - erstaunlich bei all der bereits erwähnten und offensichtlichen Cineastik. Das Casting und die Schauspielvorbereitung kann man demnach nur als gelungen bezeichnen, da einem solch befreit und in der Rolle aufgegangene Darsteller normalerweise nur in Mike Leigh Filmen begegnen - und der verwendet schließlich immense Zeiträume nur für diesen Aspekt. All diese Aspekte machen 'Sex, Lies and Videotape' zu einem sehr komplexen Filmerlebnis und verlangen geradezu nach einer mehrmaliger Studie.

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              00101001100 13.11.2015, 21:09 Geändert 13.11.2015, 21:14

              Das Sechstel eines Tages. Alles dreht sich um sich selbst. Die Farben knallen, der Soundtrack ist endlos. Blendenmarathon und Szeneriendschungel. Menschen sterben wie die Fliegen, Charaktere treten nie auf. Früher war jedenfalls alles besser und die Yankees waren echt kacke. Armut ist ein nerviger Zeitvertreib, zumindest für gewisse manche, dann doch lieber wieder etwas anderes machen. Am Ende wackelt eine Requisite etwas zu sehr und die Nebelmaschine gerät ausser Kontrolle. Scarlet nervt zuverlässig und Clark spielt sie alle an die Wand. Ach ja, und morgen is och noch'n Tag.

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                00101001100 16.10.2015, 00:04 Geändert 16.10.2015, 17:07

                Also gut, nachdem ich mittlerweile so viele verschiedenste Kommentare zu "Victoria" gehört und gelesen habe, sowie auch mit einigen Menschen Gedanken über den Film ausgetauscht habe, möchte ich endlich auch mal meine eigene Schlußfolgerung festhalten - und das, obwohl es schon eine halbe Ewigkeit her ist, dass ich ihn im Kino gesehen habe. Ich werde mir "Victoria" definitiv noch einmal anschauen, wahrscheinlich sogar noch ein paar mal über die Jahre hinweg, schlußendlich ist dieser Streifen nun einmal eine filmtechnisch bisher unerreichte Leistung. Die Planung, die Kamera, das Schauspiel, der Wahnsinn dieses Projekts, alles Sachen, die eine mehrfache Studierung des Materials geradezu unablässlich machen, zumindest wenn auch man nur ein bisschen am Medium Film Interesse hat. Aber auf diese unbestreitbar bewundernswerten Aspekte von "Victoria" werde ich hier gar nicht wirklich eingehen, zu oft wurden sie bereits, vollkommen zurecht, hervorgehoben. Am Ende wissen die Filmemacher und Produzenten selbst am besten, was sie hier erfolgreich gestemmt haben - und die Reaktionen von sämtlichen Seiten stimmen dem ja auch zu, man schaue nur mal auf das Rating hier bei Moviepilot. Was ich wirklich festhalten will mit meinem einzelnen unter x Kommentaren zu diesem eine-Einstellung-über-zwei-Stunden Monster ist, warum er für mich 'lediglich' bei dem Prädikat "sehenswert" verbleibt. Natürlich ist dieses Prädikat bereits ein sehr gutes und ich zähle alle Filme, die ich hier mit mindestens 7,5 bewertet habe schlichtweg zu den besten filmischen Werken, die mir bis zu diesem Zeitpunkt untergekommen sind, aber das Projekt "Victoria" hätte das Potential gehabt, in meinen Augen ein noch viel wichtigeres Werk zu werden. Vielleicht sogar ein Meisterwerk.

                Ich will es recht kurz und knapp halten, nicht zu sehr ins Detail gehen: der Film leidet an seiner unpassenden Story. Ich möchte damit nicht ausdrücken, dass sie von Grund auf schlecht sei, denn sie hat durchaus ihre Reize, aber sie eben nicht im mindesten vollkommen adäquat. Einen Bankraub-Thriller in einem Take und dadurch auf einem vergleichsweise kleinen Areal zu drehen, muss meiner Meinung nach zu Kompromissen und dadurch zu Unzulänglichkeiten führen. Die Entscheidungen der Charaktere müssen irgendwie glaubhaft erklärt werden und dass geht einfach schlecht in so wenig Realzeit, da braucht es Schnitte, filmische Zeit, Parallelerzählungen, usw. Da das alles in Schippers Film nuneinmal nicht vorhanden ist, sind die Figuren am Ende schlichtweg unglaubhaft in ihren Handlungen, zumindest in den Momenten, welche die eigentliche Geschichte vorantreiben. Das kann noch so großartiges und unmittelbares Schauspiel nicht retten, auch wenn es das Ganze wenigstens sehr erträglich macht. Viel schlimmer jedoch als die unglaubwürdige Handlung im Kern von "Victoria" ist jedoch der Fakt, dass sie schlichtweg unnötig ist. Natürlich kann man argumentieren, dass ein solch waghalsiges Projekt gewisse Einschnitte machen muss, was die grundlegende Geschichte angeht, schließlich schränkt das technisch, physikalisch und finanziell Mögliche ein, was in einem Take alles erzählt werden kann. Aber ich kann und möchte die Begründung nicht akzeptieren, dass limitierte Erzählfreiheit und der resultierend simple Handlungsstrang zwangsläufig zu einer hochgradig unglaubwürdigen, zum Teil sogar schwer zu akzeptierenden, da etwas dümmlichen, Erzählung führen müssen.

                Mir fällt an diesem Punkt meines Gedankengangs immer wieder der großartige norwegische Film "Oslo, 31. August" ein. Das ist ein in seiner Erzählweise extrem reduzierter Film, der für mich deshalb "ausgezeichnet" ist, da die Geschichte im Kern so schlicht und ergreifend ist. Natürlich ist auch hier die Umsetzung mehr als nur gelungen, eine eindrucksvolle Kamera hat das eindrucksvolle und einmalig ins Szene gesetzte Schauspiel eingefangen und das Endprodukt bekommt man nich so schnell wieder aus dem Kopf. Vor allem ist es jedoch das, was erzählt wird über die Figuren, was Joachim Triers zweiten Spielfilm zu dem macht, was er ist. Zugegeben, auch dieser Film hat seine kleineren Problemstellen und Schwächen, aber im Vergleich zu "Victoria" überkommt er als Gesamtkonzept das Urteil, einfach 'nur' zwecks bestimmter Aspekte "sehenswert" zu sein. Und ich kann einfach nicht aufhören darüber nachzudenken, was entstanden wäre, wenn Sebastian Schipper ein solches Drehbuch zu seinem one-Take-Projekt gemacht hätte. Es will mir auch einfach nicht klar werden, warum das nicht hätte klappen können. Aber möchtegern Denke hat nuneinmal nicht viel mit der Realität zu tun und so bleibt mir eine 'gerade einmal' "sehenswerte" "Victoria" und ein "ausgezeichnetes" "Oslo, 31. August". Aber in so mancher verträumten Nacht darf ich dann doch einen mindestens "herausragenden" Streifen namens "Victoria, 31. August" bestaunen - und das immer und immer wieder.

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                • 00101001100 21.09.2015, 09:59 Geändert 14.11.2015, 04:57

                  Sehr geehrter Herr Schmitt jun.,

                  ich wusste im Prinzip von vornherein, dass ich von einem Kommentar mit der Bezeichnung „Wer ist der schrecklichste Regisseur?“ nicht viel Gutes erwarten darf. Darüber hinaus hatte ich auch schon das Gefühl, dass Sie auf Terrence Malick abzielen und nicht auf Michael Bay, dessen Abbild Sie uns ja zuerst unter die Nase halten. Erstens hatte ich noch einige kritische Kommentare und Randnotizen ihrerseits gegen Malick im Hinterkopf, andererseits konnte ich bereits ihre Strategie erkennen, ganz bestimmte Leute zum Schauen ihres Videos zu bewegen, nur um Sie dann aus einer ach so unerwarteten Richtung zu attackieren. Das sind beides Faktoren die keine besonders gute Basis für eine rationale Auseinandersetzung mit der Materie bilden, aber da ich Ihre Kommentare bis jetzt eigentlich stets wenigstens in gewissen Maßen interessant und fundiert empfand, habe ich mich darauf eingelassen, Ihren Ausführungen auch diesmal zu folgen.

                  Was dann aber folgt ist eine der irrationalsten Kritiken gegen Irrationalität die ich je gehört habe. Selbst diejenigen ihrer Argumente gegen Malicks Werke, welche an sich recht interessant oder wenigstens diskussionswürdig sind, gehen unter in einer Rhetorik der Stereotypisierung und Vereinfachung. Nebenbei beleidigen Sie mal eben eine ganze Gruppe von Menschen (ich sage nur „Globolis frühstücken“ oder „überwiegend mit Astro-TV telefonieren“), ohne wirklich einen 'kritischen' Standpunkt auszuführen. Sie zitieren nach wie vor ein paar Worte die Tarkowski vielleicht irgendwann mal gesagt haben mag, rufen dazu auf zu „sehen statt nur zu schauen“ und dabei legen Sie dem guten Mann einfach allerlei eigene Meinung in den Mund. Auch Ihre Kommentare sind hochgradig ideologisierend in ihren Forderungen nach „Rationalität“, „Intelligenz“, oder „Wahrheit“ - seit diesem Kommentar bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob Sie sich dessen bewusst sind. Natürlich haben Ihre Ausführungen einen gewissen sarkastischen Reiz und Witz, aber das lediglich durch reißerische Spitzen auf Kosten anderer. In manchen Kommentaren zuvor hatte ich bereits den Eindruck gehabt, dass Sie ganz scharf am Grad zwischen fundierter Argumentation und snobistischer Agitation entlang schlitterten, aber irgendwie hat es sich dann doch meistens die Waage gehalten. Das hatte übrigens nichts damit zu tun, ob ich Ihnen nun zugestimmt habe oder nicht, es ging dabei stets alleinig um ihre Methodik. Diesmal jedoch haben Sie eindeutig die Balance verloren und sind in eine unwürdige Abkanzelung verfallen, die sich nicht mehr wirklich klar von Bashing unterscheiden lässt.

                  Wie mittlerweile klar sein sollte dient mein Kommentar nicht der Verteidigung von Malicks Werken gegen ihre Vorwürfe. Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass der Grund dafür, dass sich ein Film von Terrence Malick unter meinen Lieblingsfilmen befindet, ein irrationaler ist. Lieblingsfilme unterscheiden sich von anderen Filmen letztendlich vor allem aus emotionalen Gründen. Aber ich weiß auch ganz genau, was Malicks Werke für mich darstellen, zu welchen Überlegungen sie mich geführt haben, welchen inhaltlichen Wert sie für mich haben. Im Endeffekt sind Denken und Fühlen sehr stark miteinander verknüpft, dass dürfen Sie, Herr Schmitt, nicht vergessen. Ich habe diesen Kommentar verfasst, um Sie davor zu warnen, die Chance einer interessanten, diskussionsanregenden Filmkritik zu verschenken in dem sie in die gleiche Rhetorik verfallen, welche Sie meines Erachtens nach zu entlarven versuchen.

                  Mit freundlichen Grüßen,
                  Ihr Mittelstrahl-Fetischist

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                    00101001100 07.09.2015, 07:01 Geändert 25.08.2016, 10:59
                    über Moebius

                    Es ist schon erstaunlich: Kim Ki-duk hat 2013 einfach mal so einen quasi-Stummfilm gedreht und weder das internationale cinephile Publikum noch die Kritiker hat es bis jetzt wirklich interessiert. Ich wollte Moebius letztes Jahr unbedingt auf Leinwand sehen, konnte aber die EINZIGE Vorführung im kleinsten Kino meiner Stadt nicht wahrnehmen und musste deshalb bis letzte Woche warten, um die Möglichkeit zu erhalten. Nun gut, es ist ja kein wirklicher Stummfilm, man hört stets genau, was vor sich geht, jedes noch so kleine Geräusch wurde vorschriftsmäßig aufgezeichnet. Das macht es aber zu einem noch viel radikaleren Ansatz, denn Kims Protagonisten reden einfach nicht, mag die Situation auch noch so extrem sein. Entweder sie können nicht, oder sie wollen einfach nicht. In jedem noch so schweigsamen Stummfilm bis heute wird mehr geredet. Was der koreanische Regisseur, der auch das Drehbuch für Moebius geschrieben hat, wirklich aus der Ära des Stummfilms extrahiert und in die Form der heutigen Filmsprache übersetzt hat, ist die Wucht, Emotionalität, sowie die Erzählkräft von Bildern, Handlungen, Gesten und Blicken. Die Filmemacher der Stummfilmära hatten keine wirklich guten Möglichkeiten um Ton und Bild synchron aufzuzeichnen, wollten ihre Charaktäre dennoch zu Wort kommen lassen. Kim Ki-duk hat alle Möglichkeiten und hat sich entschieden, seine Charaktäre dennoch verstummen zu lassen. Nun ja, eigentlich ist es dann auch wieder gar nicht so erstaunlich, dass solch ein Monsterprojekt bislang relativ unbemerkt geblieben ist: es braucht einen Film wie Michel Hazanavicius' "The Artist", um weltweit Aufmerksamkeit zu erhalten und vor allem auch Geld einzuspielen. Man muss einfach sämtliche Aspekte eines stereotypen Stummfilms kopieren, noch einen kleines Spiel mit dem Ton einbringen, das ganze im Jahr 2011, und schon steht die Mehrheit Kopf und feiert es als eine Weltneuheit. Im Kontrast dazu ist Moebius inhaltlich und thematisch bereits zu provozierend, zu extrem, um viele Menschen zu erreichen. Jedoch waren die wenigsten von Kim's Filmen bisher leicht verdaulich und selbst ein Film wie Pieta, welcher inhaltlich mindestens ebenso provozierend und extrem ist wie Moebius konnte locker mehr Aufmerksamkeit erregen.

                    Und das ist schade, denn mit Moebius gelingt ihm nicht nur formal ein innovativer Sprung in eine wegweisende Richtung weg von dialoglastigen Independentstreifen, Kim formuliert auf diese Weise zugleich auch diskussionswürdige Gedanken über die Verbindung zwischen Geschlechterrollen, Familiendynamik und sexueller Gewalt.
                    Es mag sein, dass einige dieser Aspekte, einige der Handlungsstränge etwas überzeichnet sind und zu Freudianisch anmuten. Die Darstellung von 'Männlichkeit' als alleinig durch das Geschlechtsteil definierte Eigenschaft, der Einsatz des Penis als Waffe (vor allem gegen Frauen und Menschen ohne Penis) und dementsprechend die vollkommene Entblößung des Mannes durch dessen Verlust ist jedoch stark und einprägsam. Auch interessant ist, wie Kim Ki-duk nachzeichnet, dass sich eine Vater-Sohn Beziehung hauptsächlich durch eben dieses Geschlechtsteil definieren kann. Und noch eindrücklicher ist die Kompensation, welche in Moebius als der einzige Ausweg für geschlechtslose Ex-Männer erscheint: Eine radikale Neuinterpretation von Sex, bei dem sie nur durch Selbstverstümmelung und Folter zu Befriedigung gelangen können - und das stets mit großem Leid spätestens nach dem Klimax. Eigentlicht ist Gechlechtsverkehr in Moebius von vornherein gleichbedeutend mit Schmerz und stets ein Akt des Masochismus. Nun mag man dies für zu übertrieben halten und als psychotische Wahnvorstellung abtuen, zumal wenn man selbst nicht die Erfahrung gemacht hat, dass Sex und Gewalt stets in einem engen Zusammenhang stehen müssen. Aber ganz widerlegen kann man Kim Ki-duk in keinem Fall, dafür geschehen nach wie vor einfach zu viele Gewaltverbrechen aus sexuellem Anlass oder bedienen sich des Geschlechtsaktes als Instrument der Erniedrigung. Der Regisseur hat diesen Fakt in seinem 19. Spielfilm genauer analysiert, auf die Spitze getrieben und fragt sich genauso wie jeden Zuschauer, woher genau diese Verbindung kommt, wie sie entstehen kann und was eventuell familiäre Strukturen damit zu tun haben könnten. Auch wenn man am Ende des Films höchstwahrscheinlich nicht vollkommen mit Kims Menschenbild übereinstimmen wird, man wird in jedem Falle über das eigene Verhältnis zur Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen und Geschlechtsverkehr nachdenken. Sollte man Moebius als Gruppe schauen, ist die Gefahr groß, dass es danach zu einer Diskussion kommt. Und es ist wirklich wichtig, dass dieses Thema diskutiert wird, selbst oder gerade in Zeiten der scheinbaren Aufklärung und Dekonstruktion von Geschlechterrollen.

                    Ein wichtiger Film also, auch wenn die Inszinierung mitunter holpert und manche Szenen etwas zu lange darauf verharren, einen Aspekt auch wirklich jedem Betrachter einzubläuen. Aber gerade diese Ecken und Kanten helfen wahrscheinlich, oder verhindern zumindest nicht, dass Moebius ein Gewaltakt ist, der einmal gesehen noch lange nachhallt. In Südkorea war der Film ja zunächst verboten und erhält dadurch hoffentlich jetzt genug Aufmerksamkeit, nachdem er dort mittlerweile geschaut werden darf. Und auch international wird Moebius hoffentlich retrospektiv so bald wie möglich (wieder)entdeckt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so gar keinen Einfluss auf zukünftige Filme haben wird.

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                      00101001100 18.05.2015, 00:04 Geändert 25.08.2016, 11:00

                      Ach, wie erfrischend! Nach einer Reihe ärgerlicher Erlebnisse mit Komödien der Marke Massenproduktion a la Hollywood, kam mit World's Greatest Dad endlich die Erlösung. Dieser Film ist ein so ein deutliches Beispiel dafür, wie lohnenswert ein mit Hingabe geschriebenes Skript ist, wie viel mehr Witz eine fundierte Geschichte beinhaltet. Es sind gerade die Momente, welche die eigenen Erwartungen an einen Film hintergehen, die Komik letztendlich ausmachen. Es sind jene sperrige Figuren, welche nicht so leicht in ein Raster zu drücken sind, zu denen der Zuschauer in eine Beziehung treten kann. Und es ist eben der Schmerz, den man braucht, um im Lachen eine wirkliche Erleichterung zu verspüren. Aber auch das muss nicht bedeuten, dass der eine oder andere Gedanke nicht auch nach dem Film noch im Kopf verbleiben kann.

                      Viele dieser Eigenschaften hat Goldthwaits Film und bildet dabei ein eigenes, sehr verschrobenes Ganzes, welches einen gut und gerne auch seine schwächeren Momente verzeihen lässt. World's Greatest Dad macht nicht den Eindruck, als nehme sich der Film selbst zu ernst und erst recht scheint er nicht den Anspruch von Perfektion erheben zu wollen. Für manche mögen gewisse Aspekte geschmacklos, gewisse Szenen unangenehm anzuschauen sein, aber genau darin liegt die Stärke dieser Geschichte. Sie beschäftigt sich mit der Sperrigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, der rauen Wahrheit, welche allzu oft unter der begradigten Oberfläche verborgen bleibt. Jemanden zu lieben bedeutet nicht, die Kanten dieser Person einfach hinzunehmen, sondern sich an ihnen zu stoßen und dennoch nicht weniger Hingabe zu verspüren. Und Robin Williams verkörpert diese emotionale Zwiespältigkeit derart hingebungsvoll, dass es oftmals schmerzt ihm dabei zuzuschauen. Andererseits möchte man nicht wegschauen, weil er dabei einfach zum schießen ist. Daryl Sabara kann ihm in seiner Rolle als Sohn anfangs ohne Weiteres das Wasser reichen, auch wenn die Bedeutung seines Charakters sich in ihrer Kraft vor allem erst in seiner Abwesenheit entfaltet. Das ist aber definitiv beabsichtigt und auch gut so und liegt keineswegs an seinem Schauspiel. Eine ebenso große Freude ist es, wie Bobcat Goldthwait mit öffentlicher Trauerarbeit allgemein, aber eben vor allem mit der amerikanischen Variante abrechnet. Er zeigt die Heuchelei, lässt sie aber nicht ohne tieferliegende Wahrheit verpuffen, sondern schlussfolgert vielmehr, dass sich die Menschen durch die eigens geschaffene Realität selbst am meisten offenbaren. Da wird eine andere Person oftmals in der gemeinsamen Vorstellung so zurechtgeformt, wie man sich selbst gerne wahrnehmen würde. Die ehrliche Sehnsucht offenbart sich gerade im Selbstbetrug. Von dieser kulturellen Praxis schließt Goldthwait niemanden aus, stellt sie als zutiefst menschlich hin.

                      Uns so wird man, während eine der herrlichsten und zugleich stärksten Szenen gegen Ende des Films vor den eigenen Augen abläuft, doch etwas wehmütig. Wieso können einen Komödien nicht öfter derartig überraschen, derart auf Augenhöhe abholen und zugleich derart zufrieden hinterlassen? Man würde sich ja über den unangestrengten Einheitsbrei nicht so sehr ärgern, wenn man nicht ab und zu vor Augen geführt bekäme, dass es eigentlich doch möglich ist. Und wieso wird olle Robin nie wieder derart geläutert und zutiefst befriedigt ins Wasser springen dürfen?

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                        00101001100 09.05.2015, 16:15 Geändert 25.08.2016, 11:09

                        Dieser Film ist ganz einfach eine Beleidigung für jeden Filmkonsumenten und Filmemacher. Das man für solch ein generisches Skript überhaupt 54 Millionen Dollar Budget auftreiben konnte ist schon entsetzlich genug, dass der Film am Ende dann auch noch so aussieht, ist schlichtweg unbegreiflich. Ausgeleuchtet und gefilmt wie eine der schlechteren Folgen von Beverly Hills 90210 wurde das armerudernde Schauspiel sämtlicher Beteiligter eingefangen. Ihr Ringen mit dem Material kann man jedoch noch am besten nachvollziehen, denn was da erzähltechnisch zusammengeschustert wurde ist derart halbseiden und dreist, das es schmerzt. Was für ein Menschenbild hat denn bitte schön der Autor dieses Skripts? Und was für ein Bild vom Zuschauer? Wie soll man sich am Ende des Films anders fühlen, also vor den Kopf gestoßen angesichts dieser eindimensionalen Betrachtungsweise zwischenmenschlicher Beziehungen. Vor einer Sache bewahrt einen der Streifen jedoch sehr erfolgreich: vor dem Lachen. Mir ist bewusst, dass es häufig einheitlich produzierte Hollywood/RomCom-Produkte gibt, aber dies ist die unverschämteste Variante, die ich seit langem zu Gesicht bekommen habe. Danke übrigens, zdf_neo!

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                          00101001100 25.03.2015, 10:31 Geändert 25.03.2015, 11:12

                          Eine Frau. Ein Mann. Ein Haus. Diese rudimentäre Beschreibung, welche auf dem deutschen Filmplakat von Exhibition zu finden ist, trifft den Nagel so genau auf den Kopf, wie es nur möglich ist. Endlich mal wieder ein Film, welcher die Charakterbildung seiner Protagonisten, eben ein Frau, ein Mann und ein Haus, in keinster Weise einem Plot opfert. Es ist eine so intime, so ausführliche Hommage an diese drei Figuren, wie sie in einem klassischen Erzählkino schlichtweg nicht möglich wäre, da es in einem solchen stets bestimmte Charaktereigenschaften braucht, um die Geschichte voranzutreiben, oder zu rechtfertigen. Nicht so in diesem Film von Joanna Hogg. Alles dreht und entwickelt sich um dieses seltsame Haus herum, einem verwinkelten, hochgradig funktionalem Architekturkunstwerk, in welchem man jederzeit hören kann, was in einem anderen Zimmer gerade gemacht wird, sich dabei aber nur äußerst selten zu Gesicht bekommt. Genau diese Eigenschaft scheint die Beziehung des Künstlerpaares H und D entscheidend geprägt zu haben in den 17 oder 18, gefühlt jedenfalls 40 Jahren, welche sie nach eigenen Angaben schon in diesem Gebäude leben. Sie verbringen ihren Alltag im Prinzip aneinander vorbei, arbeiten in ihren jeweiligen Arbeitszimmern, kommunizieren ab und zu über das interne Telefonnetz und sehen sich wenn dann bei Malzeiten. Manchmal überkommt es H auch und er fragt per Telefon an, ob D nichtmal zu ihm kommen möchte, um ihn von der Arbeit abzulenken, manchmal gesteht er ihr auch seine Gefühle auf diese Art und Weise. Wenn sie sich dann tatsächlich sehen, scheinen sie sich gleichzeitig eher fern zu sein, wie zum Beispiel in der Szene, in welcher H um Sex bettelt, dann aber nicht mit einer lustlosen D schlafen möchte, die höchstens einen Quickie ertragen würde und sich nicht auf seine Versuche, zärtlich zu sein, einlassen will oder kann. "I don't want to sleep with just a body, you know?" Auf der anderen Seite kann H genauso kalt werden, wenn D um Nähe und LIebe bemüht ist. Dann reagiert er beispielsweise einfach nicht, wenn sie um ein Lob bittet, geht einfach aus dem Raum. Stattdessen fantasiert und genießt D nur in vollem Maße, wenn H neben ihr im Bett schläft. Vielleicht fantasiert sie von einem jüngeren H, welcher noch anders zu ihr war, liebevoller, aufmerksamer, anregender. Auch H bemerkt, dass die Dinge nicht mehr wirklich so funktionieren wie früher noch und sucht die Lösung des Problems in einer Änderung der Umgebung: das Haus soll verkauft werden, so dass mehr Raum gewonnen wird, um der Beziehung neue Freiheiten, neuen Schwung zu geben. Aus der Sicht von D scheint die Lösung nicht ganz so einfach zu sein, denn sie hängt so sehr an diesem Haus, dass sie geradezu damit verwachsen scheint und vielleicht ist es ja wirklich nur dieses Gebäude, welches ihre Beziehung mit H noch zusammenhält.

                          Insgesamt liegt der Fokus von Exhibition auf der Figur D, denn sowohl H, als auch das Haus werden zumeist nur in Relation zu ihr definiert. Sie wirkt mitunter kindisch in ihrer Angst vor dem lärmenden London ausserhalb der Mauern, wo wir, wie sie, größtenteils nur drohende Gefahren vernehmen, Rufe, Schreie, Sirenen, Veränderung durch laute Baumaßnahmen. Am wohlsten fühlt sie sich in der klar definierten Umgebung des Hauses, geschützt durch dicke Wände und das Alarmsystem. Hier kann sie sich in ihr künstlerisches Schaffen vertiefen, gerade hier kann sie eine ungemeine gedankliche Freiheit entwickeln. H hingegen scheint oftmals eher durch das Gebäude in seinen Gedanken und seiner Person eingeschränkt zu werden, er kommt mit seiner Arbeit nicht voran, versucht sich entweder mit einer telefonischen Konversation mit D abzulenken, oder, falls das nicht klappt, flüchtet sich einfach nach draußen. Es scheint ihn etwas zu treiben, zu bedrängen, was er nicht rauslassen, nicht loswerden kann, auch nicht durch sein künstlerisches Schaffen. Dem Zuschauer wird angedeutet, was genau er da macht, man sieht Pläne eines Gartenbaus, alles genauestens im Fussmaß ausgemessen, keinen Müh Abweichung von der ursprünglichen Idee. Oder er wird gezeigt, wie er an einem geometrischen 3D-Modell am Rechner arbeitet, er dreht und wendet es, zähl Fenster an einem Gebäude. Alles scheint klar zu sein, nichts dem Zufall überlassen, was noch offensichtlicher wird, wenn er mit anderen über seine Kunst spricht. Aber es scheint ihn nicht wirklich zu erfüllen, nicht weiter zu bringen. Was hingegen D genau unter ihrer Kunst versteht, wird nie eindeutig definiert, relativ schnell wird klar, dass es sehr viel mit Körperlichkeit, Performance und Sexualität zu tun hat. Mal sehen wir sie nackt im Swimmingpool eine seltsame Figur entwickeln, öfter sehen wir, wie sie versucht, mit verschiedensten Outfits eine ganz bestimmte Sitzhaltung auf einem Hocker einzunehmen. Häufig berührt sie sich auch dabei erregt, während sie sich vor den großen Fenstern fremden Blicken aussetzt. Hier liegt die große künstlerische Stärke von H und vor allem von Exhibition: Alles ist hochkomplex, ambivalent und uneindeutig. Während sich H extrovertiert, wortgewandt und selbstsicher gibt, ist er in seiner Kunst und in sich eingeschränkt, vorsichtig, geradezu unsicher. D hingegen erscheint beinahe paranoid in ihrer Angst vor der Außenwelt, kann sich in einer klar abgesteckten Umgebung jedoch uneingeschränkt künstlerisch entfalten und findet in ständiger Veränderung, sowie körperlicher Offenlegung ihre Freiheit. Mit Hs intellektuellen, wortreichen Einschätzungen ihres Schaffens möchte sie nichts zu tun haben, möchte sie nichteinmal hören, denn sie fühlt sich dadurch eingeschränkt, geradezu missverstanden. Dennoch braucht sie ihn als ihren Beschützer und Begleiter, sorgt sich um ihn, wenn er wieder mit sich selber ringt. Sie bekommt Bestätigung in ihrer künstlerischen Integrität, durch das Angebot einer frei zu gestaltenden Ausstellung unter einer angesehen Kuratorin, während er mit der Kunstkritik kämpft, gegenüber der er sich ständig rechtferigen und erklären muss.

                          Tatsächlich scheint die Aussicht auf den Verkauf des Hauses neues Leben in die Beziehung der beiden zu bringen: D kann sich plötzlich auch freier außerhalb der Wände bewegen und nimmt zugleich auf ihre ganz eigene Art und Weise Abschied von den so sehr mit ihr verbundenen Räumen, zur gleichen Zeit liebt sich das Paar wieder leidenschaftlicher, scheint erneut zueinander zu finden. Aber auch dieser Wandel ist nicht schlicht konstruiert, wie nichts an diesem Film, und so kann sich der Zuschauer am Ende keineswegs sicher sein, dass das Scheiden von diesem Gebäude nicht zugleich auch das Scheiden voneinander bedeutet. Joanna Hogg fasst all dies in eine Bildsprache so komplex wie die Figuren, welche sie erschafft, so vielfältig und unübersichtlich wie die Architektur des Hauses, welche alles zu beeinflussen scheint. Manches wird direkt gezeigt, nah oder fern, anderes wiederum nur über Spiegelungen, von außen durch die Fenster. Manches ist auch nur zu hören und wird gar nicht gezeigt, höchstens über die Reaktion eines Zuhörers. Doch was man sieht ist stehts hochgradig symbolisch und voller Inhalt, welchen sich der Zuschauer jedoch nur selbst herausarbeiten kann. Ein Beispiel hierfür wäre die Schnittsequenz, in welcher D über das Telefon H seine Liebe eingesteht. Die Worte sind im Off zu hören, über dem Bild des leeren Wohnzimmers, dann gibt es einen Schnitt und wir sehen H im Garten liegen und einen Stein umarmen. Nichts wird dem Zuschauer vorgekaut und leicht verdaulich zugefüttert, er ist selbst gefragt und mit einbezogen. Auch das Haus wird nie in seiner Gesamtheit offenbart, außer als originalgetreues Zuckermodell auf der offiziellen Abschiedsparty, welches kurz darauf von H und D zerstört und zusammen mit Gästen verspeist wird. Alles an Exhibition ist einem ständigen Wandel unterworfen und nur wenige Sachen bleiben am Ende wirklich übrig, der entgültige Kaffeesatz. Es sind eben diese Klarheiten, welche sich aus der radikalen Sprache des Films herausbilden, welche am stärksten nachwirken. Und dafür bin ich Hogg dankbar, denn sie überdenkt das Medium Film mit seinen Möglichkeiten und seinen Konventionen von Grund auf und erschafft dadurch neues Kino. Im Zusammenspiel mit einem großartigen Cast, sowie einer mehr als nur kompetenten Crew, schafft sie in einer nahezu perfekten Inszenierung Freiräume für eine oft als bereits saturiert erklärte Kunstform. Und beim Abspann war ich mir dann sicher, dass es etwas derartiges bis jetzt noch nicht gegeben hat, Film kann sich weiterentwickeln und das gibt mir Mut, mich weiterhin damit zu beschäftigen und darüberhinaus auch eigenes zu schaffen.

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                            00101001100 20.03.2015, 01:47 Geändert 25.08.2016, 11:23
                            über Ran

                            Es ist schon erstaunlich, wie langsam ein Film über das Chaos beginnen kann. Aus dem Schwarz der ersten Titel tauchen grasige Hügel auf, vor blauem Himmel mit sich türmenden Wolken. Ein leichter Wind fährt durch die Halme, Reiter in prächtiger Montur sitzen gespannt auf ihren Pferden und sehen sich konzentriert um, eigentümlich still fotografiert, in der Landschaft verteilt und geradezu in einem abstraktem Verhältnis zur Umgebung, schaut jeder von ihnen in eine andere Richtung. Nur ganz vorsichtig erklingen Streicher im Hintergrund, mit einem vereinzelten Schlaginstrument und dumpfen Bläsern, genug, um den gemäldegleichen Bildern Spannung und Düsternis zu verleihen. Dann erscheinen die Wildschweine, nach denen Ausschau gehalten wurde, die berittenen Jäger setzen sich in Bewegung zur Hatz, unter ihnen ein alter Mann mit weißen Haaren und solch einem vernichtenden Blick, dass man meinen könnte, er brauche den Langbogen, welchen er vor sich gespannt hält, gar nicht unbedingt, um diese wilden Tiere zu erledigen. Ebenso tödlich trifft den Zuschauer das unmittelbar hart eingeschnittene Schwarzbild mit den blutroten Schriftzeichen: Ran. Sogar die Schrift scheint hier ihren eigenen Lebenssaft zu vergießen, denn sie ist nicht klar abgegrenzt, sondern wie gerade erst auf die Leinwand gemalt, mit Blutspritzern. Auch wenn der Film keineswegs chaotisch beginnt, sondern so kontrolliert und streng wie kaum ein anderer von denen, die ich bis jetzt gesehen habe, wird einem also auf sämtlichen symbolischen Ebenen bereits in dieser Auftaktsequenz eingebrannt, was unaufhaltsam auf einen zukommt: Tod, Leid und Zerstörung.

                            Der Tod der Wildschweine wird auch nicht direkt vor die Kamera geworfen, sondern auf viel bedeutsamere Weise und einprägsamer vorgeführt: Nach erfolgreich abgeschlossener Jagd sitzen die Lords im Kreis um den Großmeister Hidetora Ichimonji in ihrer Zeltburg beim Mittagessen. Es ist der alte Mann mit dem weißen Haar, welchen man so eben noch bei der Jagd gesehen hat, nach wie vor mit destruktivem Blick. Bei ihm sitzen seine drei Söhne, sowie die Lords der eigentlich verfeindeten Familien, welche scheinbar dem Treffen beiwohnen, um sich um einen friedlicheren Bund zwischen den Klans zu bemühen. Es wird auf Hidetora angestoßen, welcher wohl das größte Schwein erjagt hat. Er selbst scheint aber unzufrieden, verschlossen. Und bereits die ersten Worte dieses Familienoberhauptes bezeichnen schmerzlich das tragische Spektrum aller noch folgenden Ereignisse: Er verschmäht es, das eigenhändig geschossene Tier zu verspeisen, da es zu alt sei und sein Fleisch zu zäh. Es sei im Großen und Ganzen wie er selbst. Ob die Gäste es denn über sich bringen würden, ihren Gastgeber zu verspeisen? In diesen wenigen Worten verbirgt sich bereits so viel von dem, was die Figur des Hidetora ausmacht, und schließlich ist er der Mittelpunkt, um den sich stets alles entwickeln wird. Er ist alt, unsicher gegenüber seine Umgebung, zugleich von unheimlicher Eitelkeit und Stolz, wie auch zerstörerischem Selbsthass und Paranoia getrieben. Es sind diese Eigenschaften, welchen ihn bald schon eine derart fatale Entscheidung treffen lassen, dass sie eine unablässige Katastrophe in Gang setzt. Und es werden auch diese Eigenschaften sein, welche ihn immer näher an den eigenen Abgrund bringen werden. Wohlgemerkt, auch diese entscheidende Szene nach der Jagd ist noch in einem unfassbar ruhigen Ton erzählt, in unglaublich malerischer Atmosphäre gehalten. Ran naht in Stille, erst langsam wird sich sein Ausmaß entfalten und ganz gleich wie verheerend das Gezeigte auch je sein wird, nie verliert der Film selbst seine Ruhe. Er ist wie die Natur drumherum, welche die Familien kommen und sich selbst zerstören sieht, ohne sich davon vom eigenen Fluss abbringen zu lassen.

                            Und so fühlt sich Akira Kurosawas "Ran" auch nie nach dem an, was er eigentlich ist: eine große Materialschlacht. Ganze Horden von Pferden und voll ausstaffierter Kriegerkomparsen mussten Wochenlang koordniert werden, selbst der innere Stab der Hauptdarsteller ist schon eine beachtliche Anzahl an Menschen. Es brennt, es raucht, es staubt, es blutet und das über weite Strecken unter freiem Himmel, bei ganz bestimmten Lichtstimmungen und Wetterverhältnissen. Man muss nicht erst Chris Markers "A.K." gesehen haben, um zu verstehen, was für Schweiß und Herzblut darin steckt. Und dabei muss man noch beachten, dass der Regisseur zum Zeitpunkt des Drehs bereits Mitte Siebzig war und sein naher Beraterstab am Set im Prinzip auch. Aber andererseits überrascht einen das auch nicht wirklich. Eine derartige Präzision in der Ausführung, solch ein Auge für Details und die Inszinierung kann nur das Erzeugnis langjähriger Erfahrung sein. "Ran" ist in seiner Tragweite derart filmisch ausdifferenziert, dass er beim ersten Konsum schlichtweg nicht vollständig erfasst werden kann. Vielleicht auch noch nicht beim zweiten Mal. Eine perfekte Versinnbildlichung davon im Film selbst sind seine letzten Einstellungen: man muss drei mal hinsehen, jedes mal noch näher, um wirklich zu erkennen, dass man bereits am Abgrund steht. Und dann möchte man doch gleich wieder wegblicken und vergessen, nur um sich "Ran" gleich nochmal anschauen zu können. Und sei es nur wegen der operngleichen Schlachtszenen, übertönt von unvergesslicher Musik, oder dem ständig wechselndem Lichtspiel der japanischen Landschaft. Oder eben wegen diesen Anfangssequenzen.

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                              Ich habe gestern zum ersten Mal die Redux-Version dieses Films sehen können und das auch noch im Kino! Und ich muss sagen, dass es die Kinofassung für mich sehr wohl mehr bringt, als diese längere Version. Es sind zwar mitunter auch interessante Kapitel und Szenen hinzugekommen, aber die machen höchsten zwanzig Minuten der beinahe ganzen Stunde Mehrzeit aus. Dazu gehören eine Szene, in welcher die Truppe unter Captain WIllard nocheinmal persönlich auf die Playmates treffen, welche zuvor ihren großen Auftritt hatten und einige zusätzliche Szenen des Colonel Kurtz, welche seine Persönlichkeit noch etwas genauer zeichnen. Dafür vermindert die zusätzliche Verlängerung der ohnehin stattlichen Spielzeit ganz schön den Biss des ganzen Films. Und an Atmosphäre hat die Kinoversion schon genug, dafür braucht es schlichtweg keine Ergänzung. Letztendlich würde ich definitiv jedem Erstkonsumenten dieses Films empfehlen, es zunächst mit der kürzeren Version zu versuchen und, falls diese begeistert, sich zum Vergleich auch mal an die längere Fassung zu wagen. Während ich der Kinoversion also meine 9,0 widme, würde ich der Redux-Variante höchstens eine 8,0, vielleicht sogar "nur" eine 7,5 geben. Das heißt für mich, ich habe sie einmal gesehen und werde sie nicht nocheinmal schauen, sehr im Gegensatz zur kürzeren Version.

                              Was mir beim Wiederschauen des Films nach einer langen Zeit leider zum ersten Mal negativer aufgefallen ist, als zuvor, waren die Synthesizer-Kompositionen, die immerhin einen Großteil des Soundtracks bestimmen. Es muss jedoch erwähnt werden, dass das auch wieder an den bestimmten, für mich überflüssigen, zusätzlichen Szenen der Redux-Version gelegen haben könnte. Hier driftete das Thema mitunter regelrecht in Kitsch ab. Die verstörenden, psychotischen Szenen untermalt es im Schnitt noch ganz gut. Aber auch in seiner Gesamtheit ist dieser Aspekt von Apocalypse Now für mich unglücklicherweise eine Qualitätsminderung an einem sonst einmaligen Werk der Filmgeschichte.

                              UPDATE:
                              Ich durfte auch die "Final Cut"-Version von Apocalypse Now im Kino genießen. Was vielleicht im bisherigen Vergleich zwischen der ursprünglichen Kinofassung und der Redux-Fassung noch zu kurz kam, ist die Beschreibung der des hypnotischen Soges, welchen dieser Film (in egal welcher Fassung) verursacht - zumindest über lange Strecken und bis zum Schluss. Dieser Sog ist betörend und verstörend und hinterlässt einen sowohl restlos begeistert, wie auch abgestoßen, so wie es sich für einen starken Anti-Kriegsfilm gehört. Das unbegreifliche am Monstrum Krieg kann nur einigermaßen filmisch begreiflich gemacht werden, wenn dessen Überschwang und Niedertracht vereint gezeigt werden. Genau dieser Kunstgriff gelingt streckenweise so unglaublich gut in Apocalypse Now, macht den Film zeitlos und lässt einen, einmal gesehen, nie wieder los.

                              Diese Sog-Wirkung hat mich auch dieses Mal wieder voll erwischt. Die Bildqualität hat sich zwar im Vergleich zur Redux-Kinoversion nicht wirklich verbessert, ist aber nach wie vor sehr beeindruckend. Einen merklichen Unterschied macht tatsächlich die neue Tonabmischung, welche vor allem durch einen eindrücklichen Tiefenfrequenzanteil überzeugen konnte. So konnte man beispielsweise die Explosionen und Helikopterrotoren bereits in der Brust spüren, bevor sie überhaupt hörbar waren. Die neue Schnittfassung hat mir um einiges besser gefallen, als die Redux-Version, vor allem in ihrer Gesamtheit. Sie hat sich deutlich kurzweiliger angefühlt, die Verknappung war also sinnvoll.

                              Der einzige Aspekt, welchen ich immer noch nicht nachvollziehen kann, ist, dass auch hier wieder die langatmige und meiner Meinung nach überflüssige Sequenz bei den französischen Siedlern enthalten ist. Sie fällt qualitativ vollkommen ab im Vergleich zum restlichen Film, vor allem durch ihre generische Bild- und Lichtgestaltung. Außerdem ist hier der bereits erwähnte, teilweise schlecht gealterte Synthi-Soundtrack besonders kitschig und störend. In Ansätzen kann ich verstehen, was die Funktion dieser Sequenz sein soll, nämlich eine zusätzliche Betonung, wie unnötig und unmöglich der Vietnamkrieg doch war: Eine stumpfsinnige Wiederholung der Fehler, welche die Franzosen zuvor bereits gemacht und dafür bezahlt hatten. Dramaturgisch, wie auch künstlerisch wurde dieser Ansatz für mich jedoch vollkommen verfehlt. Diese Sequenz kann einem gut und gerne das Seherlebnis zerstören, zumal sie sich ziemlich genau in der Mitte des Filmes befindet. Dafür macht der sich anschließende Rest dieses großen Werkes alles wieder wett. Auch die starken Marlon Brando-Szenen am Ende, welche in der Kinofassung leider zu kurz geraten sind, sind in der "Final Cut"-Version zum Glück enthalten. Leider sind dafür jedoch manch andere interessante Szenen rausgefallen, welche ich jederzeit der Sequenz mit den französischen Siedlern vorgezogen hätte.

                              Insgesamt bleibt für mich das Fazit so ziemlich bestehen, dass ich die ursprüngliche Kinofassung jederzeit den längeren Schnittversionen vorziehen würde, sei es nun, um Apocalypse Now immer mal wieder zu erleben, oder um den Film für den ersten Seheindruck zu empfehlen. Da diese Version jedoch heutzutage wahrscheinlich so gut wie unmöglich zu bekommen sein sollte, würde ich von den längeren Fassungen definitiv die "Final Cut"-Variante empfehlen. Sie vermittelt noch am besten den unvergleichlichen Apocalypse Now-Sog, ohne dabei zu sperrig zu sein.

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                                00101001100 10.03.2015, 02:59 Geändert 17.03.2017, 22:50

                                Nach "There Will Be Blood" und "The Master" zeichnet Paul Thomas Anderson mit "Inherent Vice", nach dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers Thomas Pynchon, seine Chronik der Vereinigten Staaten weiter. Angefangen im schieren Dreck und Leid des Ölrausches im unmenschlichen Westen des frühen 20. Jahrhunderts, über die psychischen, sowie spirituellen Wirren der direkten Nachkriegszeit, nun Mitten hinein in die Zeit des auslaufenden Vietnamkrieges und der späten Hippiezeit. Eine Zeit, welche vor allem durch eine Sache eindeutig dominiert wird: Groovy dope. Ansonsten ist eigentlich nichts klar. Horden von ernüchterten Blumenkindern dröhnen sich zu, während sie nicht mehr wirklich viel mit ihrer urkapitalistischen Heimat anfangen können und sich nach einem alternativen, friedlicheren Leben sehnen. Gleichzeitig wird der Ekel vor diesen unamerikanischen Langhaarschlaffies in anderen Teilen der Bevölkerung immer größer, so, wie auch die rassistisch-nationalistischen Tendenzen und der Hass auf den Erzfeind Kommunismus wachsen. Ganz nebenbei gibt es noch Juden, die sich zum eigenen Schutz mit arischen Bruderschaften umgeben, welche wiederum auch Geschäfte mit den Black Panthern betreiben. Und all das wird irgendwie durch den Treibstoff Drogen am Laufen gehalten, manche verdienen sich daran eine goldene Nase, aber so gut wie jeder konsumiert sie.

                                Im Zentrum von all diesem Tohuwabohu steht 'Doc', eine Figur so undurchsichtig und schwer einzuschätzen wie schon Freddie Quell in "The Master", eigentlich wieder die gleiche Person, nur eben in einer anderen Zeit. Ein Mann, der anders ist als alles um ihn herum und zugleich das um ihn herum so sehr verkörpert wie keiner sonst. Ein Nabel der Welt, welche ihn erschaffen hat, erneut durch Joaquin Phoenix verkörpert. Man könnte Doc als Hippie bezeichnen, vielleicht auch als Junkie, ganz offiziell ist er barfüssiger Frauenarzt, aber eigentlich doch eher ein Schnüffler, jedenfalls einer, der die Dinge ganz genau untersucht. Und als seine Verflossene mit einem Problem und der anschließenden Suche um Hilfe aus dem Nichts wieder bei ihm auftaucht, muss er plötzlich dem Wahnsinn um ihn herum Sinn geben. Zwar kann er noch vage Erinnerungen an vergangene Fälle aus seinem neblig-löchrigen Gedächtnis kramen, aber das waren alles Lappalien, schnell und einfach verdientes Geld, welches stets den Stoff finanziert hat. Das hier ist von einem ganz anderen Kaliber, gewaltiger und irgendwie angsteinflößend, aber es geht nunmal um Shasta und das ist schließlich keine Bagatelle. Und so beginnt Doc, sich einen Reim zu machen, es wenigstens zu versuchen, auch wenn er dadurch ganz schön einstecken muss und letztendlich auch nicht viel schlauer ist. Aber er hat nunmal ein unschlagbares Gespür, geradezu einen sechsten Sinn, verkörpert durch seine allwissend-mythische Freundin und treibende Kraft Sortilege. Das macht ihn zu einem tragischen Helden, welcher zwar manchen zwielichtigen Gestalten, aber nicht dem zerstörerischen Sog seiner Zeit zu entkommen vermag.

                                Anderson schickt seinen Zuschauer einfach gleich mit und gibt ihm kein wirklich tieferes Verständnis von dem, was genau da gerade abläuft. Aber dass alles miteinander zusammenhängt wird uns genauso glasklar wie dem lieben 'Doc'. Und dass irgendetwas grundsätzlich nicht rund läuft an der ganzen Geschichte und dass die Gesamtsituation nicht gesund sein kann wird auch irgendwie klar. Aber was man direkt spüren kann ist die geradezu groteske Enge dieser Zeit. Ein schmerzhaft bunter Hippiealbtraum auf Lachgas, welcher trotz massenhaft Narkotika oft unangenehm real zu werden droht. In langen Dialogen versucht der Privatdetektiv Herr der Lage zu werden, driftet aber stattdessen immer weiter ab in die Düsternis seiner eigenen und der amerikanischen Seele. Optisch makellos, dabei stimmungsvoll, bis auf ein paar kleinere Ungereimtheiten großartig inszeniert und durch befreite Schauspieler beeindruckend in Szene gesetzt ist "Inherent Vice" für mich das, was seine Vorgänger bereits geschaffen hatten: Eine Befreiung von vorgekauten und aufgedrängten Deutungsansätzen, sondern fühlbar lebendiges Kino. Achja, und amüsant ist das Ganze auch noch.

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                                  00101001100 25.02.2015, 17:12 Geändert 10.01.2017, 20:02

                                  'Liebe mit zwanzig' ist ein wunderbarer Episodenfilm, welcher einen unterschiedliche kulturelle und filmische Herangehensweisen an ein Thema Anfang der sechziger Jahre erkennen lässt. Truffaut führt seinen Alter Ego Antoine Doinel durch die Wirren der ersten Liebe im klassikbesessenen Paris der frühen Nouvelle Vague. Roberto Rossellini zeigt eine dramatische Eifersuchtsgeschichte-a-trois voller schöner Menschen, lässiger Sportwagen und bella roma. Shintaro Ishihara offenbart das düstere Innenleben eines jungen, verliebten japanischen Arbeiters, welcher seine Gefühle nicht gewöhnlich auszudrücken vermag. Marcel Ophüls konfrontiert einen erfolgreichen Fotografen und Lebemann mit den Folgen eines One-Night-Stands, sprich der Verantwortung einer ungewollten Vaterschaft. Und Andrzej Wajda zeichnet das Aufeinandertreffen der polnischen Vor- und Nachkriegsgeneration in einer so leidenschaftlich wie subversiv erzählten Episode nach.

                                  Für mich gibt es zwischen den einzelnen Filmen durchaus qualitative Unterschiede. So wirken Truffauts, Ishiharas und Wajdas Beiträge einfach frischer und haben eine deutlichere eigene Filmsprache als der italienische und der deutsche Beitrag. Letztere wirken eher wie Artefakte aus einer eingestaubten Vergangenheit, welche zwischen all der frechen Moderne etwas spröde wirken. Insgesamt haben alle Beiträge jedoch zumindest einige interessante Aspekte und der Episodenfilm als Gesamtwerk ist stimmiger, kurzweiliger und unterhaltsamer als einige andere Erzeugnisse dieser Art. Darüber hinaus bleibt neben einigen eindrücklichen Bildern vor allem die fabelhafte Musik im Kopf verhaftet, welche die einzelnen Abschnitte miteinander verknüpft.

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                                    00101001100 21.02.2015, 16:05 Geändert 25.08.2016, 11:40

                                    Biutiful ist ein Film so komplex wie der Mensch, welcher seinen Mittelpunkt bildet. Er ist ebenso hart und unnachgiebig wie liebevoll und verzeihend. Oft ebenso unbeschreiblich wunderbar wie schwer zu ertragen. Er reißt schmerzende Wunden auf, um sie dann selbst zu lindern, versucht jedoch gar nicht erst, sie als geheilt anzusehen. Die dargestellten Handlungen haben eine moralisch fragwürdige Seite, sind aber nachvollziehbar unter den beschriebenen Umständen.

                                    Es ist ein Film über Uxbal, welchem das harte Schicksal zuteilwird, der Stützstein eines hoffnungslos kranken Systems zu sein. Seine beiden Kinder haben niemand wirklich ausser ihm, der für sie sorgt, denn ihre Mutter ist sogar noch unselbstständiger als sie. Darüber hinaus ist er noch für das Überleben zahlreicher chinesischer und kameruner Einwanderer verantwortlich. Sie sind vor den unwirtlichen Zuständen in ihrer Heimat geflohen und nun illegal in Spanien, brauchen Schutz vor der Polizei sowie ein zum Leben ausreichendes Einkommen. Alles hängt zusammen und alles hängt an Uxbal. Durch diese gewaltige Last erkrankt er gleichnishaft und verständlicherweise selbst unrettbar und muss nun irgendwie dafür Sorge tragen, dass nicht alles einfach in sich zusammenfällt, sobald er weg ist.

                                    Natürlich ist Uxbal dadurch selbst Teil eines unmenschlichen Kartells, welches Menschen nachts in kalten Kellern auf dreckigen Matratzen hausen lässt, um sie dann tagsüber billige Dinge produzieren zu lassen, welche anschließend illegal und gewinnbringend an die Spanier verkauft werden. Und er verdient daran, zwar am Ende vor allem für seine Kinder, aber er verdient an dem Schicksal dieser Menschen. Dennoch scheint er derjenige in dieser Maschinerie zu sein, welcher noch am ehesten erkennt, wie sehr da doch etwas falsch läuft. Er sieht die Personen und ihr Elend, begibt sich auf ihre Ebene. Ihm scheint ihre traurige Existenz nicht vollkommen gleichgültig zu sein, er setzt sich für sie ein, zwar lediglich im ihm sich bietenden Rahmen, aber immerhin. Umso katastrophaler sind die Konsequenzen für diese Personen, sobald Uxbal, von der Gesamtsituation schlichtweg überfordert, diesen humanen Überblick einmal verliert und nur im Sinne seiner eigenen Familie handelt. Letztendlich ist er eben kein übermenschlicher Held, welcher sich über die Verhältnisse hinwegsetzen und alles retten kann, sondern nur der kleine Teil eines großen Problems.

                                    Innerhalb dieses scheiterndem systematischen Überbaus geht es jedoch vor allem um Uxbals Auseinandersetzung mit seiner Familie, ihrer Geschichte und um das Ringen mit sich selbst. Die über allem hängende Last ist dabei stets der Tod, eine Thematik, welche in Mexiko, Inarritus Heimat, einen sehr großen gesellschaftlichen Stellenwert besitzt. Natürlich ist der filmische Umgang mit diesen doch so fundamental-menschlichen Themen in gewissen Maßen dramaturgisch verdichtet und dadurch überhöht. Aber dennoch erfolgt die Auseinandersetzung unter dem Strich subtil, fein und präzise. Sowohl durch Gesten, Blicke, Worte und Handlungen, als auch durch eindrückliche Bilder und Symbole, werden diese schwierigen Themen derart greifbar eingefangen, dass es mich wundern würde, wenn nicht jeder Mensch etwas in Biutiful finden sollte, mit dem er sich auf einer zutiefst persönlichen Ebene identifizieren kann. Und zwangsläufig irgendwann einmal selbst auseinandersetzen muss, denn sie lassen sie immer weniger aus dem Alltag ausblenden, egal wie sehr man auch versucht, sich davon abzulenken.

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                                      00101001100 20.02.2015, 19:03 Geändert 20.02.2015, 19:18

                                      Ein Film wie ein Gedicht. Ein Film wie ein Traum. Ein Film so zweifelhaft und wahr wie Erinnerung. Er entzieht sich jeglicher ideologischer Macht und das obwohl er sich durch die Zeit bewegt, durch die persönliche, die russische, die Weltgeschichte. Er begibt sich in eine Dimension, welche der damaligen sowjetischen Zensur ebenso entglitt, wie einer heutigen Klärung.

                                      Für mich sind beispielsweise sowohl die Episode in der Druckerei, als auch die Erlebnisse der Kinder in der Armee Eindrücke eines Alltags unter dem Zwang eines totalitären Systems. Eine Belastung, welche sowohl die Psyche der betroffenen Individuen, als auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen verstümmelt, indem sie ihre Ängste aneinander auslassen. Andere Szenen wirken auf mich wie eine Kritik am männlichen Blick auf die Frau, ein Blick, welcher lange und unnachgiebig ist, sobald er aber einmal auf den Mann selber gerichtet wird, wirkt dieser eingeschüchtert und verloren. Generell dominieren Männer den Film eher durch ihre körperliche Abwesenheit und Ungreifbarkeit. Sie sind im Krieg, hinterlassen Gedichte und Erinnerungen, während die Frauen und Kinder mit den Konsequenzen zurechtkommen müssen. Insgesamt schafft der Film viel mehr Bilder, welche solch eine Kraft entwickeln, dass sie sich vollends einer Deutung entziehen. Und das ist auch gut so, denn so wirken sie viel länger und stärker als jegliche Form der Interpretation.

                                      Dies sind jedoch nur ein paar meiner eigenen Gedanken über den Film, welche für viele wahrscheinlich gar nicht stimmig sind, denn dieses Werk bewegt sich auf der Ebene des inneren Erlebens. Diese Erzählform ist ein Kampf für den Zuschauer, welcher mit seinen eigenen Erwartungen ebenso ringen muss, wie mit seiner Reaktion auf das Gesehene. Der Betrachter wird zu einem Spiegel, eingeschränkt in seinem Sichtfeld und Gezwungen zu betrachten und reflektieren.

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                                        00101001100 17.02.2015, 00:51 Geändert 20.03.2015, 02:39

                                        Die rhetorische Macht einer Narration liegt in ihrer Fähigkeit, den Schein von Kausalität zu erzeugen. Der Mensch hat ein natürliches Verlangen nach einer sequenziellen Abfolge von Ursache und Wirkung, welche ihm das Gefühl gibt, den ursprünglichen Grund eines Geschehnisses finden zu können. Und genau dieses Verlangen nutzt eine kraftvolle Erzählung aus: Sie intrumentalisiert den Eindruck eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen den dargestellten Ereignissen, um ihnen eine normierende Wirkung zu geben. Es wird der Eindruck der Plausibiltät vermittelt und die Handlung, welche am kausal sinnvollsten wirkt, erscheint gleichzeitig auch am glaubwürdigsten. Somit ist die Wahrhaftigkeit einer Erzählung unmittelbar mit ihrer Plausibilität und Nachvollziehbarkeit verbunden. Aber letztendlich ist all dies nur ein Konstrukt, welches dem menschlichen Verlangen nach Kausalität, Normalität und Glaubhaftigkeit eingegen kommt. Dass dieses Konstrukt auch einfach manipuliert werden kann, weiß David Fincher, und genau diese Erkenntnis ist die Essenz von Gone Girl.

                                        Der Film ist ebenso künstlich und schwer zu fassen wie die Figuren und Taten, welche er zeigt. Er ist allglatt und oberflächlich wie das pervertierte Verhältnis zwischen den Menschen und den Medien, welches er darstellt. Er lässt uns nicht wirklich in die Intentionen der Protagonisten einsehen, aber den Protagonisten scheinen diese letztendlich ohnehin selbst nicht klar zu sein. Zwischenmenschlich zeigen sie immer nur die jeweils beste Narration ihrer selbst, so konstruiert diese auch sein sollte. Eine wirkliche Auseinandersetzung miteinander findet zu keiner Zeit statt und letztendlich leben sie alle in der durch die Öffentlichkeit inszenierten Wirklichkeit, auch wenn ihnen das oftmals gegen die eigene Natur geht. Eindrücklich zeigt sich das an der Figur des Nick Dunne, welcher plötzlich in den Fokus der Medien gerät und dort so gar nicht hingehört. Er verhält sich auffällig anders, als es von ihm erwartet wird und muss erst lernen, sich entsprechend darzustellen. Er hasst es zwar, diesem Zwang durch Beobachtung nachzugeben, vermag aber nur, sich dagegen zu wehren, indem er sich dem allgemeinen Prinzip anpasst. Die einzige Macht ist und verbleibt also stets die Öffentlichkeit, gegen sie vermag sich keiner zu wehren. Und selbst wer denkt, sie sich zu Nutze machen zu können, um selber Einfluss zu nehmen, ist ganz schnell gefangen in der Narration, welcher er sich unterwirft. Aber das ist natürlich lediglich die Sichtweise, die mir am plausibelsten erscheint.

                                        Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Gone Girl behandelt dieses Thema und sich selbst mit einem Zynismus, einer absurd-satirischen Art, dass es eine reine Freude ist. Jeder, der sich zu ernsthaft mit diesem Film auseinandersetzen will, wird sich weh tun.

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                                          00101001100 16.02.2015, 03:37 Geändert 07.09.2015, 20:16
                                          über Drive

                                          Drive ist ein Thriller mit einem vorherrschenden romantischen Kern. Er zeigt actionreiche, zum Teil auch sehr brutale Szenen mit blutigen Effekten. Grob umrissen ist die Handlungsstruktur nicht sehr komplex und leicht zu überschauen, es geht um mittelgroße und kleine Gangster, Fluchtwagenfahrer und zwielichtige Geschäftsmänner, welche auf Grund von Geld, Rivalität und Schulden aneinander geraten. Es gibt einen klaren Protagonisten, den Fahrer, und eindeutige Gegenspieler, die mittelschweren Gangster und ihre Handlanger. Inhaltlich erfindet der Streifen das Rad also keineswegs neu und das Genre ist auch nicht eben ein Garant für Filme, die mir überdurchschnittlich zusagen. Dennoch habe ich den Film gerade zum wiederholten Male angeschaut, hatte ihn damals sogar zweimal im Kino gesehen, und stehe jetzt erneut vor der selben Frage: Was genau hebt ihn für mich von anderen Fabrikaten mit ähnlicher Handlung ab?

                                          Zunächst einmal ist das Ganze ein durchgestyltes Produkt. Von der Jacke des Fahrers, seinen ledernen Handschuhen, im Grunde seinem ganzen Outfit, über die Dialoge, die Kameraarbeit, die Lichtsetzung, die Ausstattung, den Soundtrack und so weiter und so fort, bis hin zur Schriftart der Titel: Hier wurde ein Feuerwerk der Lässigkeit abgebrannt und darauf zielt der Film auch sehr bewusst ab. Mitunter legt er dabei auch eine Schippe zuviel drauf, wodurch manche Szenen einfach sehr künstlich daher kommen. Im Großen und Ganzen ist dieser Aspekt jedoch ein klarer Grund dafür, Drive mehrmals zu schauen. Man kann sich an diesem Werk erfreuen, wie man sich beispielsweise auch immer wieder an einem gut gearbeiteten Möbelstück erfreuen kann. Aber gerade diese handwerkliche Finesse lässt manche Kratzer im sonst so einwandfreien Lack der Inszenierung sehr stark auffallen. Bei manchen handelt es sich dann doch um kleine handwerkliche Schwächen, bei anderen um minimale schauspielerische Aussetzer (ich sage nur Christina Hendricks), aber am schwerwiegendsten sind für mich gewisse inszinatorische Fehlgriffe. Am meisten störe ich mich da immer noch an diesen italienischen "Gangstern", welche ich einfach schwerlich ernst nehmen kann in nahezu allem, was sie tun. Einerseits sind sie zwar tatsächlich eine Karrikatur gerade der Gangsterklischees, die man eben aus diesem Genre so kennt, aber anderseits wird man im Verlaufe des Films viel zu sehr dazu gezwungen, sie als Figuren auch wirklich ernst zu nehmen, als dass man ihre komische Seite vollends geniessen könnte.
                                          Bis dato gleichen sich also Stärken und Schwächen des Films noch zu sehr aus, als dass man tatsächlich von einem "ausgezeichneten" Thriller sprechen könnte.

                                          Was letztendlich einen entscheidenden positiven Unterschied zu anderen Filmen diesen Kalibers ausmacht, ist einzig und allein die unfassbar starke Figur, die im Zentrum von Drive steht und welche alle anderen Aspekte weitestgehend zusammenhält. Mit dem Fahrer haben Nicolas Winding Refn, Hossein Amini und Ryan Gosling genau das Rätsel geschaffen, was mich den Film immer wieder erstaunt studieren lassen wird. Er ist ein Charakter von tragischer, ja geradezu mythischer, opernhafter Dimension und der einzige Grund, welcher die gesamte theatrale Übertriebenheit drumherum rechtfertigt. Es handelt sich bei dieser Figur eher um eine Maschine, als um einen Menschen. Ein Cyborg vielleicht, die Verkörperung des Deus ex Machina, oder, um auf der Ebene der Mythologie zu bleiben, ein Halbgott. Auf jedenfall zwinkert er nicht so oft, wie ich Menschlein das immer machen muss. Anfangs will diese Person unerkannt bleiben, lebt ein Leben der Enthaltsamkeit, arbeitet sowohl tags als auch nachts mit einer geradezu unmenschlichen Präzision bei allem was er tut. Eine moralische Einschätzung dessen, was er gerade macht, scheint er nicht wirklich zu treffen. Es ist ihm gleich, ob er für irgendeinen Filmstunt oder für irgendwelche Einbrecher durch die Gegend fährt (ein sehr amüsantes Gleichnis). Generell scheint ihm gleichgültig zu sein, was er macht, Emotionen sind nicht so sein Ding, Schlaf auch nicht. Hauptsache, er bleibt ihn Bewegung und schafft Geld ran. Wofür auch immer. Wahrscheinlich, um weiterhin in Bewegung bleiben zu können, denn auch Übermenschen kommen um diese miese Währung nicht herum. Doch plötzlich lässt etwas seine menschliche Seite hervortreten und wirft seinen perfekt geölten Alltag durcheinander: er lernt die Nachbarin und ihr Kind kennen und zeigt Gefühle. Nun ist es sehr verständlich, dass dies unheimlich intensive Gefühle sind, denn wenn ihm denn ausnahmsweise einmal etwas nicht gleichgültig ist, muss sich ja zwangsläufig alles andere daran ausrichten. Demnach kommt es auch nicht ganz unerwartet, dass er die beiden mit allen ihm gegebenen Mitteln beschützen wird, ohne Rücksicht auf irgendwas, irgendwen und schon gar auf sich selbst, zu nehmen. Das Übermenschliche, die unkontrollierbare Kraft und Macht der tödlichen Maschine, des Terminators, des nahezu göttlichen Wesens richtet sich gegen alles, was die Frau und das Kind bedroht und zerstört es. Zum Teil im wahrsten Sinne des Wortes. Die tragische Seite dieses Vorganges ist, dass er zwar sämtliche Gefahren eliminieren kann, hat er doch aufgrund der Schicksalhaftigkeit ohnehin keine andere Wahl, gleichzeitig aber eine unüberwindbare Distanz zu ihnen aufbaut. Die Frau sieht, zu was er fähig ist, wie unmenschlich er im Grunde ist, und bekommt verständlicherweise Angst vor seiner unkontrollierbaren Natur. Zwar wird sie sich nach der initialen Entfremdung nocheinmal fassen und versuchen, mit dem Fahrer Kontakt aufzunehmen, aber an dieser Stelle haben die Zahnräder des Dramas schon längst gegriffen und der tragische Held ist in seinem wiedererlangten, maschinellen Bewegungsdrang weitergezogen. Er hat ja seine Aufgabe im Weltzusammenhang ohnehin erfüllt: Er hat alles vom Kopf zurück auf die Füsse gestellt und eine unmögliche Zukunft möglich gemacht für die einzigen beiden Menschen, welche ihm wirklich etwas bedeuteten. Und mich hat er wiedereinmal über die paar Unebenheiten im Weg geleitet, ohne dass ich mich jetzt noch groß an ihnen störe. Und genau das wird er auch beim nächsten Wiedersehen wieder schaffen.

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                                            Prisoners ist ein Film über Blindheit. Die Behörden sind schon seit Jahren blind für die Dinge, die in ihrer Gegend passieren. Der Vater von Anna, einem der zwei entführten Mädchen, ist blind vor Wut darüber, dass er seiner Rolle als Beschützer der Familie nicht ausreichend gerecht wird und reagiert wie ein Getriebener. Die anderen Eltern sind blind gegenüber seinen Handlungen, denn er macht wenigstens etwas, während sie schon lange nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Auch der zuständige detective ist blind für das, was genau um ihn herum geschieht. Und letztendlich ist auch der Zuschauer blind, denn er sieht zwar mehr, als einzelne Akteure im Film, aber auch nicht mehr als sie alle zusammen. Denis Villeneuve und Aaron Guzikowski setzen uns zum Teil derart undurchsichtige Charaktere vor, dass wir bereits an ihrer Oberfläche scheitern. Und genau das macht sie fühlbar und gibt ihnen und damit dem Film Leben. Zum Beispiel detective Loki: Warum ist er so wahnsinnig unaufmerksam in vielem was er tut, obwohl er andererseits so viel Kraft in den Fall steckt? Warum lenkt ihn sein Mobiltelefon so oft ab? Wofür stehen seine Tätowierungen, welche uns wiederholt vorgeführt werden? Es scheint sich noch eine Ebene hinter diesen Charakteren zu verbergen, die uns schlicht vorenthalten wird. Das ist viel effektvoller, als wenn der Film auf Krampf versucht hätte, komplexe Figuren auszuformulieren, um ihre Handlungsweisen zu erklären.

                                            Insgesamt handelt es sich bei Prisoners aber einfach um einen bis zum Ende fesselnden, düsteren, atmosphärisch dichten Thriller. Nicht mehr und nicht weniger. Und das ist auch gut so, denn er versucht gar nicht erst, mehr sein zu wollen. Die Szenen sind zumeist eindrücklich inszeniert und schauspielerisch fast immer großartig ausgefüllt. Die Dialoge haben ihre Wirkung und die Handlungen der Figuren sind eigentlich nachvollziehbar, wenn auch mitunter moralisch fragwürdig, was sie ja noch interessanter macht. Die Bilder, großartig fotografiert von Roger Deakins, bleiben einem noch lange im Kopf, genauso wie die Frage, wie man den mit einer derartigen Situation selbst umgehen würde. Dennoch gibt es für mich ein paar inszinatorische Schwächen, welche aber im Gesamten betrachtet sehr klein sind und die Gesamtleistung des Films nicht zu sehr stören. Sie sind nur der Grund, warum ich keine höhere Wertung gegeben habe.

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                                              ACHTUNG! Die folgende gedankliche Auseinandersetzung mit dem Film enthält wichtige inhaltliche Plotpunkte. Wer also den letzten Mann noch noch nicht gesehen hat und sich daran stören würde, sollte nicht weiterlesen. Alle anderen sind herzlich dazu eingeladen. ACHTUNG ENDE!

                                              Friedrich Wilhelm Murnau und der Drehbuchautor Carl Mayer führen uns den gesellschaftlichen Status als eine tückische Falle vor Augen, indem sie ihren letzten Mann zum Opfer gerade der Umgebung werden lassen, welche er selbst für sich geschaffen hat. Die längste Zeit ist er als Hotelportier erhobenen Hauptes und mit prunkvoller Uniform in seiner ärmlichen Wohngegend ein- und ausgekehrt. Morgens auf dem Weg zur und Abends auf dem Weg von der Arbeit, bei welcher er sich geachtet fühlte. Die Nachbarn haben ihn für seine erwürdige Anstellung in einem gehobenen Etablissement bewundert und er hat sie zu sich aufblicken lassen. Der Status und die ehrfürchtigen Blicke der Mitmenschen taten ihm gut, während jene das kleine bisschen Glanz genossen, welches er in ihren harten und grauen Alltag brachte. Wie ersetzbar er jedoch innerhalb der Hierarchie des Hotels eigentlich ist, muss der alte Mann mit aller Unnachgiebigkeit erfahren, als ihn der Hoteldirektor dabei beobachtet, wie mühevoll ihm im Alter das Koffertragen geworden ist. Schnell ist ein jüngerer, starker Mann für seinen Posten gefunden und er selbst ersetzt einen sogar noch älteren Mann als Handtuchhalter in der Kellertoilette. Nun ist die Entscheidung des Direktors auf der einen Seite durchaus nachvollziehbar, schließlich hatte der Mann tatsächlich bereits Schwierigkeiten, seine Arbeit zu leisten, auf der anderen Seite ist sie natürlich auch unglaublich gefühllos. Also ehrlich jetzt, musste es unbedingt gleich eine derartige Herabstufung sein? Naja, lassen wir ihn mal einen von diesen Heinis sein, welche sich herzlich wenig dafür interessiert, was sich im Leben ihrer Angestellten so abspielt. Der Oberschicht, welche im Hotel verkehrt, scheint ohnehin gleichgültig zu sein, in welchen Umständen die sie bedienenden Menschen hausen müssen. Der Film versucht gar nicht erst, dieser Bevölkerungsgruppe sowas wie Mitgefühl oder andere Tugenden nachzusagen und zeigt sie eindeutig in ihrer Ignoranz. Viel interessanter ist es, wie der alte Mann selbst mit einer derartigen Behandlung umgeht: Sie scheint ihn förmlich zu zerstören. Als ihm die Uniform abgenommen wird, hat es den Anschein, als hätte man ihm genauso gut auch bei lebendigem Leibe die Haut abziehen können. Schnell wird klar, dass die Uniform alles an ihm ist und sich darunter kein wirklicher Mensch befindet. Sein Blick ist leer und seelenlos, oft starrt er lange Zeit einfach vor sich hin und als er sich dann doch wieder bewegt, wirkt der Alte eher wie ein schlecht gebauter Roboter, nicht mehr wie ein Mensch. Erst als er den Anzug heimlich entwendet und wieder angelegt hat, kann er sich in die Öffentlichkeit, kann er sich wieder nach Hause trauen. Seine Nichte heiratet an diesem Abend, da muss er als Respektsperson auftreten. Er sagt seiner Familie und den Bekannten kein Wort von der beruflichen Herabstufung und versteckt die Uniform am nächsten Tag vorsichtshalber in der Bahnhofsgardarobe, damit ihm seine Persönlichkeit nicht wieder genommen werden kann. Danach erst geht der letzte Mann wieder ins Hotel, um seiner neuen Arbeit nachzugehen, nun erneut wie ein kaum funktionierender Automat.

                                              Und letztendlich beweist sich diese Scham, die der Mann ohne Uniform an den Tag legt, als gerechtfertigt, sobald seine Umgebung von seinem Unglück erfährt. Die Nachbarn lachen über seinen Gesichtseverlust und scheinen sich geradezu an seiner Degradierung zu erfreuen. Und sogar seine Familie, namentlich Schwester, Nichte und deren Ehemann, nimmt ihn hart dafür ins Gericht. Nun bringt ihm nicht einmal mehr der prunkvolle Anzug eine Form von Respekt und Menschlichkeit, so dass er, als er ihn wieder zum Hotel zurückbringt, entgültig in sich zusammenbricht. Es ist sein Ende und er findet es ausgerechnet dort, wo seine Scham ihren Anfang nahm: auf der Herrentoilette im Keller des Hotels. Interessanterweise meldet sich an diesem Punkt der „Autor“ per Schrifttafel zu Wort und fabuliert über ein alternatives Ende, welches er dem alten Herren lieber geben möchte, als dieses tragische, welches ihm im wahren Leben höchstwahrscheinlich zuteil werden würde. Aber nichteinmal das folgende, positivere Ende, ohnehin ja von Anfang an als Imagination dargestellt, kann als Happy-End an sich wahrgenommen werden. Der Mann hat in dieser Vorstellung durch einen glücklichen Umstand Millionen geerbt und kann es sich mit seinem Freund, dem Nachtwächter, ordentlich gut gehen lassen. Sie ertränken ihre zuvor durchlebte Demütigung in Bergen von gutem Essen und Flaschen mit teurem Champagner – vor den Augen des Direktors. Der alte Mann kann sogar all die ärmlichen Menschen in seiner Umgebung mit einem Münzregen erfreuen, aber seinem Dilemma, was bereits in der ersten Version der Geschichte zur Kathastrophe geführt hatte, kann er dadurch nicht im Mindesten entkommen. Auch seine Freude am Geld und die Anerkennung der Menschen für seine Großzügigkeit machen ihn nicht zu einem vollwertigeren Menschen. Sie stellen nur eine weitere äußerliche Hülle dar, welche man ihm imaginär überstülpen muss, um ihn in der Gesellschaft wieder funktionieren zu lassen. Er entwickelt eine große Abhängigkeit zum oberflächlichen Status und baut sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen auf diesem illusorischen Respekt auf, so dass seine Lebenswelt sofort in sich zusammenfällt, sobald er diesen Status verliert. Natürlich ist es auch ein kritischer Blick auf die Oberflächlichkeit der Gesellschaft im Allgemeinen, den Murnau und Mayer mit diesem Film werfen, aber der zentrale Knackpunkt ist nun einmal dieser letzte Mann. Er geht von Anfang an und ohne Kompromisse auf die im angebotene Statusbesessenheit ein, fühlt sich als Respektsperson, begegnet den Menschen in seiner Umgebung als in gewissen Maßen überlegen und merkt nicht, auf welch unsicherem Grund er seine Existenz damit gründet. Es ist ihm einfach nicht bewusst, dass es der Glanz seiner Uniform ist, welcher die Menschen blendet und dass sie ihm sein Verhalten nur deshalb durchgehen lassen. Sobald er diese Uniform ablegen muss, ist er ein Nichts, denn er hat zu keinem Zeitpunkt eine Persönlichkeit unabhängig von ihr entwickelt. Stellen wir uns einmal vor, er wäre persönlich eng mit seiner Familie und seinen Freunden verbunden gewesen. Die Degradierung hätte ihn nichtsdestotrotz sehr hart getroffen, aber sie hätte ihn nicht als Mensch zerstört, denn er hätte sich auf den Rückhalt dieser Umgebung vertrauen können. Mögen die Nachbarn zunächst vielleicht auch gelacht und getuschelt haben, schnell hätten auch sie seine neue Situation akzeptiert, zumal die meisten von ihnen wahrscheinlich durch sogar noch niedrigere Arbeiten ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Und auch wenn sie ihn nicht mehr mit einer großen Achtung und Verehrung begegnet wären, er hätte diese Achtung dann jedoch sich selbst gegenüber haben können. Diese Vorstellung wäre ein wirkliches Happy-End für den alten Mann gewesen, aber da er sich durch seine Handlungen bereits so weit in die Statusfalle begeben hatte, konnte ein positiveres Ende für ihn nur noch in einem materiellen Deckmantel gefunden werden. Und wenn man ihn sich in seiner tatsächlichen, gebrochenen Situation des ersten Endes träumend vorstellt, so würde er sich sicherlich auch genau das herbeigesehnt haben, welches ihm die Geschichte letztendlich auch gewährt. Wenn auch nur als bekennende Illusion, um die schmerzhafte Wirklichkeit zu lindern.

                                              Der Film zeigt diesen düsteren Abgesang auf die Oberflächlichkeit des Menschen auf eine eindrückliche Art und Weise. Der Niedergang des letzten Mannes wird unnachgiebig vor Augen gehalten und die Kamera befreit sich sogar von der zu dieser Zeit so typischen Starrheit in den dadurch noch für heutige Verhältnisse verstörenden Traumszenen. Und Emil Jannings verkörpert diesen zerbrechenden Menschen mit einer solchen Intensität, dass es einen beinahe gruselt. Seinen Blick werde ich zumindest nicht so schnell wieder vergessen. Ebenso unvergesslich ist die Lichtsetzung in den letzten Einstellung des ersten Endes, wo der alte Mann nach und nach immer weiter in der Dunkelheit versinkt und letztendlich vollkommen darin untergeht.

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                                              • 8 .5
                                                00101001100 09.02.2015, 12:07 Geändert 09.02.2015, 12:08

                                                Ein kurzer Film über die Liebe ist reines Metakino, vergleichbar etwa mit Hitchcocks Fenster zum Hof oder Powells Peeping Tom: Tomek beobachtet durch sein Teleskop, über den Hinterhof hinweg, das Leben von Magda. Zumindest den Teil ihres Lebens, welchen er durch ihre Fenster hindurch beobachten kann. Und wir beobachten ihn wiederum dabei durch unsere Art von Teleskop. Er verliebt sich in diese Frau, leidet wenn sie leidet, kann nicht ertragen, wenn sie jemand anderem nah ist, und wir leiden mit ihm, auch wenn wir zugleich immer mehr an der moralischen Tragbarkeit seiner Handlung zweifeln. Aber Moment mal, wir machen ja das Gleiche.. Ähm.. Egal, er ist schlimmer, denn er beginnt, in Magdas Leben einzugreifen, zunächst noch heimlich und anonym, dann immer offensichtlicher, bis er sich letztendlich ganz offenbart. Dieses Heraustreten aus seiner sterilen Traumwelt mit ungefährlichen Beobachtungen und visueller Befriedigung stürzt ihn in eine schmerzhafte Realität, welche in auch nicht zu knapp zurechtstutzt und verbeult. Diese Realität eben. Halt, wir beobachten ihn doch immer noch.. Ist er uns jetzt etwa schon einen Schritt voraus? Jedenfalls hat Tomek dadurch die Möglichkeit, Magda von Nahem kennenzulernen und das ist alles zwar nicht mehr so einfach, wie das reine Beobachten, aber dafür viel intensiver. Am schlimmsten ist wohl die Erfahrung, dass er über sich und seine Handlungen nun direkt reflektieren, sich vor Magda rechtfertigen muss. Sie ist in Wirklichkeit nämlich ein tatsächliches Wesen aus Fleisch und Blut, kompliziert und komplex.
                                                Und wir beobachten ihn einfach weiter bei seinem Aufprall auf die Wand namens "reale Welt", langsam ahnend, dass uns Ähnliches blüht, sobald der Film zwangsläufig mal sein Ende nehmen wird. Aber darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist, Tomeks' Auseinandersetzung ist gerade viel spektakulärer anzuschauen. Und so wunderbar fotografiert..

                                                • 7 .5
                                                  00101001100 09.02.2015, 11:14 Geändert 09.02.2015, 11:24

                                                  Foxcatcher ist ein sehr guter Film. Vor allem die eröffnenden zwanzig bis dreißig Minuten haben mich direkt getroffen und sehr beeindruckt. Kein schnickschnack, geradliniges Erzählen, jede Szene und Kameraeinstellung hat gesessen und die einzelnen Charaktere so fühlbar gemacht, wie es ein Drama nur machen kann. Es wird einem der Alltag und die Härte als professioneller Ringer nicht erst umständlich erläutert, man fühlt sich einfach von Anfang an selbst von diesem Druck betroffen. Die Schauspielleistungen sind derart auf den Punkt und ehrlich, dass es eine Freude ist sowohl Haupt- als auch Nebendarstellern zuzuschauen. Nach dieser ersten halben Stunde entwickelt sich der Film keineswegs zu einem schlechten, aber er verliert nach und nach etwas von seiner anfänglichen Kompromisslosigkeit, die Interpretation mancher Figurenkonstellationen wird einem als Zuschauer geradezu aufgedrängt und das wäre meiner Meinung nach nicht nötig gewesen.Dadurch hat der Film auch mitunter ein paar Längen. Channing Tatum und Mark Ruffalo, den ich ohnehin schon seit Langem für einen großartigen Schauspieler halte, liefern jeweils auf ihre Art eine großartige Darstellung ab. Sie verkörpern so glaubhaft diese brüderliche Abhängigkeit, dass es schmerzt. Steve Carell rutscht durchaus öfters in seine ihm typische, abgedrehte Darstellungsweise und ist dann schlicht und ergreifend witzig, mitunter schafft er es aber auch, eine schwer zu durchschauende, schwer gestörte und dadurch destruktive Figur zu verkörpern. Ich weiß nicht, ob diese komödiantischen Aspekte durch den Regisseur auch wirklich so beabsichtigt waren, aber es macht die Figur des John du Pont im Endeffekt noch subversiver. Allgemein gibt es im Mittelteil ein paar Szenen, die einfach einen sarkastischen Unterton hatten und mich zum Schmunzeln gebracht haben. Zum Beispiel die frappierende Ähnlichkeit zwischen Mark Schulz, im stehen pinkelnd, und der Frau auf dem Ölgemälde an der Badwand direkt neben ihm, höchstwahrscheinlich eine Du Pont. Das schien ihm auch aufgefallen zu sein, denn er schaut wiederholt hin. Einfach kleine Gesten, Kommentare und Handlungen, welche den alles in allem kargen bis düsteren Ton des Films aufgebrochen haben.

                                                  Also insgesamt ein sehr guter Film, welcher aber leider nicht vollends auf seine erzählerische Stärke vertraut, sondern durch ein paar unnötige Wiederholungen und demnach Längen einiges an Potential verschenkt.

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                                                  • 8 .5
                                                    00101001100 08.02.2015, 15:09 Geändert 07.09.2015, 20:28

                                                    Vor allen anderen Dingen ist Birdman oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit ein Meisterwerk der Organisation. Wer auch nur ungefähr eine Vorstellung davon hat, wie Filme hinter der Kamera entstehen, muss einfach wertschätzen, wie viel Zeit und Anstrengung allein in die Vorbereitung dieses Projekts gesteckt wurden. Sicherlich war die Produktion mit einem ca. 18 Millionen Dollar Budget nicht gerade unterfinanziert und hatte dementsprechend genügend Ressourcen, aber das allein ist noch nicht einmal annähernd ein Garant dafür, dass ein derartig komplexes Produkt nun als eine funktionierende Einheit über die Leinwände flimmern kann. Und selbstverständlich würde kein Zuschauer in der Vorstellung verbleiben, dass der gesamte Film tatsächlich aus nur einer Kameraeinstellung besteht, denn dafür gibt es zuviele ersichtliche verdeckte Schnitte, digitale Überblendungen, schnelle Schwenkschnitte, Schwenks in den Himmel mit anschließendem Locationwechsel, und auch offensichtliche, harte Schnitte. Aber die perfekte Illusion von genau einer, ununterbrochenen Kamerafahrt kann auch gar nicht die Intention zu diesem Film gewesen sein, weshalb diese Brüche keineswegs die Leistung des Ganzen schmälern. Die Leistung des Films ist vielmehr eine geradezu meditative: er ist ein filmischer Gedankenfluss, vielschichtig sowohl in Zeit als auch Raum und letztendlich vollkommen losgelöst von jeglicher Unterscheidung von Realität und Fiktion, denn das einzige, was er ganz offensichtlich klarstellt ist, dass es sich hierbei stets um Kino handelt und nichts anderes. Nun weiß ich nicht, wie groß der jeweilige Anteil von Produktion, Regie, Kamera und den anderen Departments an dieser Leistung ist und es wäre auch vollkommen hirnrissig, diese hier prozentual aufschlüsseln zu wollen, aber es ist offensichtlich, dass Einiges bei der Zusammenarbeit des Teams funktioniert hat. Rein formal hatte ich sogar beim zweiten Kinogang rein gar nichts an Birdman zu bemängeln, er ist schlicht und ergreifend eine große kinematografische Leistung.

                                                    Nun ist es jedoch klar, dass man durch die Wahl einer solch komplizierten Darstellungsform auf sämtlichen Gebieten in gewissen Maßen eingeschränkt ist. Kamera, Schauspieler, Dialoge, ja die gesamte Mise-en-Scene muss daraufhin ausgelegt sein, dass die jeweiligen Szenen rein technisch ein großes Ganzes ergeben und eben diesen fließenden Effekt erhalten. Auch dieses Zusammenspiel ist meiner Meinung nach vollkommen gelungen. Emmanuel Lubezki hat trotz aller Einschränkungen genug Freiheiten erhalten, um sich sowohl dem Raum, als auch den Schauspielern mit seiner Kamera nähern zu können, so dass auch kleinere Details, welche inhaltlich mitunter große Wirkung entfalten, nicht in einer ständigen Bewegung untergehen. Ein Film, welcher auf einen offensichtlichen Schnittrhytmus verzichtet, muss durch die Bewegung der Kamera im Raum im Takt gehalten werden und das wurde definitiv erreicht. Die scheinbar federleichte Kamera schwebt, fliegt, verweilt manchmal länger an Orten als sämtliche andere Akteure. Sie entwickelt eben ein Eigenleben und atmet genauso wie der Schlagzeugsound, der sich im Hintergrund oft eigenmächtig entfaltet. Alejandro González Iñárritu muss als Regisseur all seine Akteure recht gut im Griff gehabt haben, denn die Atmosphäre stimmt in nahezu allen Szenen. Die Schauspieler scheinen durchweg Spaß daran gehabt zu haben, ihren Charakteren nahe zu kommen, so dass Birdman eine große gesamtschauspielerische Leistung ist. Einzig Naomi Watts kam mir mitunter in ihrem Spiel selbst nicht vollkommen überzeugt und dementsprechend auch nicht immer überzeugend vor. An ganz wenigen Dialogstellen ist mir auch ein seltsam starrer, lebloser Blick mancher Schauspieler aufgefallen, beispielsweise bei der Theaterkritikerin in ihrer Auseinandersetzung mit Riggan Thompson, und ich war mich nicht ganz sicher, ob das nun ein inszinatorischer Effekt ihrer Rolle sein sollte, oder schlicht dem Fakt geschuldet war, dass sie rigide ihren Blickpunkt einhalten musste für eventuelle versteckte Schnitte. Insgesamt ist also auch die Inszenierung sehr gelungen und das trotz des strikten formalen Überbaus des Films.

                                                    Was das Inhaltliche betrifft, so muss man hier ganz klar sagen, dass sich die Komplexität des Films eher aus seiner Form speist, als aus der Geschichte und den Dialogen. Wenn man die Grundstory zusammenfassen wollen würde, wäre sie schon nach wenigen Sätzen vollends dargestellt, was ja bereits in vielen Kommentaren hinlänglich gezeigt wurde. Aber wie bereits geschrieben, ist sich dieser Kinofilm zu jeder Zeit seiner Funktion bewusst und entfaltet gerade in seiner ausufernden Darstellung der sehr komprimierten Handlung seine Komplexität. Er spielt mit genretypischen Klischees, lässt seine Figuren diese zum Teil auch selbst als unwahr erkennen, und trotzdem reinfallen, genau wie den Zuschauer. Der dargestellte Humor reicht von plump zu subtil, von albern bis intelligent und wird, wie man es von Inarritus Filmen schon gewöhnt ist, stets von einer großen menschlichen Schwere und Tragik begleitet. Im Kern behandelt Birdman das Scheitern eines Menschen und dessen fruchtlose Versuche, sich künstlerisch diesem Scheitern zu enziehen. Er zeigt einen Menschen, welcher in seiner Umgebung untergeht, sich aber gerade in dieser Umgebung noch zu beweisen versucht, anstatt sich ihr einfach zu entziehen. Und dennoch schafft es dieser Mensch letztendlich, sich aus dieser Lage zu befreien, auch wenn die Intention dazu wiederum vom System selber ausgeht. Aber dennoch hat der Regisseur und Drehbuchautor mit Birdman oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit meiner Meinung nach ein Novum für sich erschaffen. Inarritu verlässt die Härte und Unnachgiebigkeit seiner vorherigen Filme, welche ich bereits sehr geschätzt habe, für einen komödiantischen Unterton und steigt dadurch noch eine Stufe auf: Der Film räsoniert und reflektiert über sich selbst, und akzeptiert, dass er sich nicht vollends entschlüsseln kann. Genau so, wie Raymond Carvers Kurzgeschichte über die Bedeutung von Liebe und Riggan Thompson über seine Daseinsberechtigung als Schauspieler rätselt. Und gerade in dieser Ahnungslosigkeit liegt eben die Macht von Birdman: er hat mich zwei Mal mit einem breiten Grinsen aus dem Kinosaal entlassen, mit Freude bereit völlig ahnungslos zu scheitern. Sonst hätte ich diesen Kommentar auch niemals geschrieben.. Oder vielleicht doch?

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