Chainsaw Charlie - Kommentare

Alle Kommentare von Chainsaw Charlie

  • 7 .5

    In "Rebels of the Neon God", dem bemerkenswert starken ersten Kinofilm des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang, knüpft er sofort an das Thema an, das sein bislangiges Schaffen dominiert hat. Es geht um die zusammenhanglose Verzweiflung, die aus dem Verfall der Städte resultiert. Mit sehr wenig bewegten Bildern und viel Humor, Pathos und verregneten Stadtlandschaften gelingt dem Regisseur ein unterhaltsamer, temporeicher und dennoch ergreifender Blick auf die moderne Einsamkeit. Tsai Ming-Liang verfolgt die Irrungen und Wirrungen von drei problematischen Jugendlichen und den Menschen, die ihnen am nächsten stehen, und schafft so eine Geschichte, die sich größer anfühlt, als sie eigentlich ist. Indem Tsai Ming-Liang immer wieder den jungen Ganoven Ah Bing zeigt, wie er in seiner durchnässten Wohnung aus dem Bett stapft, verdeutlicht er die Wiederholbarkeit der planlosen Routinen der Jungen. Indem er ihnen in die Spielhallen folgt, die mit zahllosen Jugendlichen gefüllt sind, die sich offensichtlich in der gleichen Geisteshaltung befinden, stellt er ihren Zustand als nationale Epidemie dar. Jede Facette des visuellen Designs von "Rebels of the Neon God" scheint einzig und allein dazu da zu sein, den hässlichen Exzess der großstädtischen Zersiedelung zu kritisieren. Überschüssige Beschilderung, die sowohl in chinesischer als auch in englischer Sprache verfasst ist, um die visuelle Wirkung zu verstärken, dominiert die Straßen von Taipeh in einem Maße, dass die Gebäude, an denen sie hängen, kaum sichtbar sind. Fahrradständer, Klassenzimmer und Straßen sind allesamt überfüllte Tummelplätze der Aktivität. Die Videospielhallen und Rollschuhbahnen, die als Vergnügungsstätten dienen, heben sich von der Kakophonie der realen Welt nur dadurch ab, dass sie die visuellen und akustischen Reize, die sie bieten, in noch unwirklichere Höhen schrauben. Hier und da gibt es kleine Andeutungen von traditioneller Kultur, aber da sie mit dem Schönen und Neuen konkurrieren muss, fühlt sie sich unweigerlich an den Rand gedrängt. Die Wohnungen, die angeblich Zuflucht vor all dem bieten, sind unscheinbare, funktionale Kästen, ohne viel Persönlichkeit, abgesehen von der Wahl des Fernsehprogramms. Das Schlimmste ist vielleicht die unaufhaltsame Überschwemmung, die das Stockwerk einer Figur jede Nacht füllt, und die den Eindruck erweckt, dass die Flut der Außenwelt nicht einmal zulässt, dass dieser Raum ohne den Einfluss von außen existiert. Die Handlung von "Rebels of the Neon God" konzentriert sich vor allem auf den allmählichen, unvermeidlichen sozialen Rückzug von Hsaio Kang, gespielt von dem Laienschauspieler Lee Kang-sheng, der in jedem von Tsai Ming-Liang's nachfolgenden Filmen mitgewirkt hat, einem jungen Faulenzer, der noch bei seinen frustrierten Eltern lebt. Zu Beginn des Films scheint er keine Freunde zu haben, doch im Laufe der Geschichte zieht er sich immer mehr in seine isolierte Welt zurück. Jeder Versuch, eine andere Person zu erreichen, sei es sein Vater, ein Altersgenosse oder ein Mädchen, wird unterbunden, was dazu führt, dass er sich emotional fast völlig ausgeschlossen fühlt. Bis "Rebels of the Neon God" seinen schockierenden Höhepunkt erreicht hat, präsentiert er in seiner Hauptfigur eine wahre Fülle von asozialem Verhalten. Da Tsai Ming-Liang jedoch das Umfeld, in dem Hsaio Kang lebt, so gut untersucht, wirken seine Übertretungen weniger wie die Handlungen eines sozial Abtrünnigen als vielmehr wie die eines Menschen, der auf seine Umwelt so reagiert, wie es in seiner Welt konditioniert wurde.

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    • 10
      Chainsaw Charlie 18.03.2022, 18:13 Geändert 03.01.2025, 17:37

      Der Film ist Teil meiner Liste "Chainsaw Charlie's Kommentar-Wunschliste für MP-Buddys". Hier rewatche ich von mir bewertete Filme, zu denen ich keinen Kommentar geschrieben habe, meine MP-Buddys aber gerne etwas von mir zu lesen würden.
      https://www.moviepilot.de/liste/kommentar-wunschliste-von-chainsaw-charlie-chainsaw-charlie

      Für Chionati habe ich mir "The Strangers", das Regiedebüt von Bryan Bertino, noch einmal angeschaut, zu dem er sich einen Kommentar von mir gewünscht hat. Mit seinen 9 und meinen 10 Punkten liegen unsere beiden Meinungen zu diesem nervenaufreibenden Film wohl nicht weit auseinander. Nach meiner zweiten Sichtung bleiben die 10 Punkte weiterhin bestehen. Vor dem Film habe ich dafür gesorgt, dass meine Haustür und alle Fenster fest verschlossen waren.

      Klopft in einem Horrorfilm ein Fremder an das Tor, steht demjenigen, der es öffnet, höchstwahrscheinlich eine Nacht voller Terror und blutiger Ereignisse bevor. In "The Strangers", von Regisseur Bryan Bertino, ist es ein deutliches Klopfen an einer schweren Holztür, das die Geschehnisse des Films in Gang setzt. Diese Nacht ist nicht mehr lang. Es ist 4 Uhr morgens, als James Hoyt (Scott Speedman) mit seiner Freundin Kristen McKay (Liv Tyler) in dem abgelegenen Sommerhaus seiner Familie eintrifft, nachdem er an der Hochzeit eines Freundes teilgenommen hat. Er hat Rosenblätter verstreut und den Champagner gekühlt. Doch seine romantischen Pläne werden durchkreuzt, noch bevor das Paar durch die Tür kommt, und das nicht, weil ein Psychokiller mit Hockeymaske und Kettensäge aus dem Gebüsch auf sie zustürmt.

      "The Strangers" ist eine willkommene Abwechslung zu den übernatürlichen Fluchgeschichten und vor allem zu den Folterpornos, die die Horrorszene während der vergangenen Jahre dominiert haben. Obwohl er im Jahr 2005 spielt, erinnert er an eine sanftere Ära des Terrorfilms. Um uns in die richtige Stimmung zu versetzen, ist das Sommerhaus der Hoyts eine weitläufige Behausung im Landhausstil der 1970er Jahre, dekoriert mit dunklen Holzmöbeln, angemessen kitschigem Nippes und einem tragbaren Plattenspieler. Der Film selbst hat hervorragende Reminiszenzen zu bieten, beispielsweise in Form einer Schallplatte, die während einer extrem spannungsgeladenen Sequenz eine knisternde Phrase von 'Girly Folk' in hoher Lautstärke wiederholt. Sowohl Scott Speedman als auch Liv Tyler liefern solide, nuancierte Darbietungen als ein Paar, das sich im zerbrechlichsten Moment seiner Beziehung befindet.

      Während des wunderbar langatmigen Eröffnungsakts erfahren wir in einer Rückblende, wie James seiner Freundin Kristen auf der Hochzeitsfeier von ihrem Freund einen Heiratsantrag machte und sie ihn abwies, weil sie noch nicht bereit war. Ihre gegenseitige, meist unausgesprochene Unbeholfenheit und ihre Wehmut zeugen von großer Fürsorge. Ihre unmittelbare Zukunft ist jedoch ein kurzes, aber intensives Erlebnis von schierem, unerklärlichem Grauen. Als sie auf das laute Klopfen antworten, finden sie eine zierliche Frau vor, deren Gesicht im Dunkeln liegt, die nach einer Tamara fragt und dann wieder geht. Als James kurz verschwindet, wird Kristens private Introspektion durch merkwürdige Geräusche von draußen gestört, die wiederum durch das Erscheinen einer maskierten Gestalt am Fenster durchbrochen wird. Als James zurückkommt, ist Kristen ganz irritiert, klammert sich an ein Messer und kauert in einer Ecke, obwohl eigentlich nur wenig geschehen ist.

      Das Geheimnis eines guten Horrorfilms liegt in der Inszenierung, und Bryan Bertino, der nach seinem Studium der Kinematographie als Ausstatter bei Independent-Filmen in Los Angeles arbeitete, während er das Drehbuch schrieb, gibt uns viele gute Anhaltspunkte dafür, was dem Paar widerfährt. Er hält die Prämisse der drei maskierten Personen, der titelgebenden Fremden, die das Paar als Opfer auswählen, nur weil sie zu Hause sind, recht simpel. Das übliche Gemetzel ist auf ein Minimum beschränkt, und der Zeitrahmen ist mit 4 Uhr morgens realistisch kurz, was bedeutet, dass der Sonnenaufgang nur ein paar Stunden entfernt ist. "The Strangers" baut sich langsam auf, bleibt aber kompakt und behält ein gutes Zeittempo bei. Die Geschehnisse werden immer bedrohlicher und rücken für das Paar und auch für uns als Zuschauer immer näher, so dass es einem den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Selbst wenn die Sonne endlich aufgeht, bleibt das Unbehagen immer noch an den Knochen haften. Der Film erinnert daran, dass die überzeugendsten und schaurigsten Horrorfilme uns nicht in Vorfreude auf extreme Qualen und Blutrünstigkeit versetzen, sondern uns vielmehr das Fürchten lehren, was direkt vor unserem Fenster lauert, in einer Umgebung, die so alltäglich ist wie die vor unserer Haustür.

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        Chainsaw Charlie 17.03.2022, 18:40 Geändert 03.01.2025, 17:27

        Der Film ist Teil meiner Liste "Chainsaw Charlie's Kommentar-Wunschliste für MP-Buddys". Hier rewatche ich von mir bewertete Filme, zu denen ich keinen Kommentar geschrieben habe, meine MP-Buddys aber gerne etwas von mir zu lesen würden.
        https://www.moviepilot.de/liste/kommentar-wunschliste-von-chainsaw-charlie-chainsaw-charlie

        Der Dude von Nebenan hat sich von mir gewünscht, etwas über seinen Lieblingsfilm "The Big Lebowski" der Regie-Brüder Ethan und Joel Coen zu schreiben, dem ich gerne nachkomme. Auch ich liebe dieses geniale Meisterwerk, das ich schon mehrmals gesehen und unverständlicherweise mit nur 9 Punkten bewertet habe, die ich nun nach Rewatch auf 10 Punkte erhöhe und zu meinen Lieblingsfilmen hinzufügen muss. Während des Films genehmigte ich mir auch einige Drinks.

        "The Big Lebowski" spielt in den frühen 90er Jahren in L.A. und handelt von einem der faulsten Männer der Welt, Jeff 'The Dude' Lebowski (Jeff Bridges), der auf dem Weg in seine Wohnung von zwei großen Schlägern überfallen wird. Sie fordern Geld, das die Ehefrau Bunnie Lebowski (Tara Reid) dem Pornoproduzenten Jackie Treehorn (Ben Gazzara) schuldet, und urinieren zur Einschüchterung auf seinen Teppich, der den Raum eigentlich zu einem Ganzen zusammenhält und ihn gemütlich macht. Leider ist der Dude der falsche Lebowski. Der echte Lebowski (David Huddleston) ist ein invalider und verschlagener Millionär und Philanthrop mit vielen Verbindungen zur Gemeinde, Auszeichnungen der Handelskammer für unternehmerische Leistungen und einem Schlüssel zur Stadt Pasadena, neben zahllosen anderen Anerkennungen, zusammen mit seiner rücksichtslosen jungen Vorzeigefrau. Als der Dude erkennt, dass es sich um eine Verwechslung handelt, macht er sich auf den Weg zum richtigen Lebowski, um nach einem Ersatzteppich zu fragen, wird aber wegen seines vagabundierenden Aussehens hinausgeworfen. Als Vergeltung stiehlt der Dude einen zufälligen Wandteppich, bevor er geht, wird aber später zurückbeordert, um als Kurier für eine Lösegeldübergabe von 1.000.000 Dollar zu helfen, als Bunnie entführt wird. Er erhält 20.000 Dollar, darf den Teppich behalten, bekommt einen Pager und wird gebeten, zu warten, bis Forderungen für Bunnies Leben gestellt werden. Als die ursprüngliche Geldübergabe schief geht, wird der abgetrennte Zeh der Ehefrau als weitere Drohung in einem Umschlag verschickt. Und zu allem Überfluss wird der Dude von Nihilisten mit einem aggressiven Murmeltier besucht, was seine Situation noch viel schwieriger macht.

        "The Big Lebowski" wird von der tiefen, rauen Stimme von Sam Elliott, der auch kurz im Film auftritt, einprägsam erzählt. Wie das wogende Steppengras, das zu Beginn durch die Straßen von Los Angeles rollt, scheint der Hauptdarsteller, der ausdrücklich kein Held, sondern einfach der richtige Mann für die Zeit ist, durch unkonventionelle Missgeschicke zu schlendern, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen, sondern lediglich durch die Ereignisse hindurch. Er ist arbeitslos, trinkt ununterbrochen White Russians, raucht Marihuana und scheint sich um nichts zu kümmern, auch nicht, wenn er mitten in einem Kriminalfall steckt. Es ist wie ein abgebrühter Detektivfilm im Stil des Film Noir, nur ohne die üblichen, intelligenten Beteiligten.

        Am Ende löst der Dude den Fall praktisch nur noch in kurzen Anfällen von wiedererlangtem Bewusstsein. Ein einfacher Plan wird ungeheuer kompliziert, als Details, Motive und Beteiligte unkontrollierbar durcheinander geraten. Angetrieben von mehreren halluzinogenen Traumsequenzen, einschließlich einer großartigen Musicalnummer, ist "The Big Lebowski" absolut, frappierend einzigartig. Und die ganze Tortur wird durch die wunderbar idiosynkratischen Nebendarsteller noch lustiger. John Goodman ist das Highlight als durchgeknallter Vietnamveteran Walter Sobchak, der sich versehentlich in so ziemlich alles einmischt. Steve Buscemi ist Donny, der ständig gescholtene Mitspieler in der Bowlingliga. John Turturro bekommt eine urkomische Nebenrolle als aufbrausender, unsportlicher Gegner. Und Julianne Moore ist die ungemein sonderbare und feministische Tochter des echten Lebowski, Maude.

        Die Dialoge sind durchsetzt mit geistreichen, witzigen Beleidigungen, unvergleichlichem Wortwitz und allerlei sarkastischem Blödsinn, und die Mimik in Zeitlupe ist unbezahlbar. Die Gespräche über eine Vielzahl von Themen, die nichts miteinander zu tun haben, scheinen sich immer wieder zu überschneiden, mit zahlreichen Personen und Inhalten, die sich gegenseitig überlagern, im Prinzip wie in einer derben Screwball-Komödie. Am Ende wird die Geschichte zu einer über Freundschaft und die Einfachheit des Lebens und nicht zu einem umständlichen Geheimnis, das in seiner Verwirrung fast folgenlos ist. Das ist Teil der Absicht der Filmemacher, mit dem Genre zu spielen, auch wenn der Spieß umgedreht wird, Lügen aufgedeckt werden und ein doppeltes Spiel betrieben wird. Der durchweg unterhaltsame Film ist eine der witzigsten Komödien überhaupt und eine Bereicherung für die vielfältige Filmografie der legendären Coen-Brüder.

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          Chainsaw Charlie 15.03.2022, 16:24 Geändert 22.06.2023, 15:46

          "Cannibal" ist ein äußerst verstörender Film, der die Begegnung von Armin Meiwes (The Man) und Bernd Jürgen Brandes (The Flesh) und die darauf folgenden Ereignisse sehr bildhaft darstellt. Die erste Einstellung beginnt mit der Stimme einer Mutter, die einem kleinen Kind mit großen Augen Hänsel und Gretel vorliest. Während der Vorspann läuft, schwenkt die Kamera über verschiedene Bücher, beginnend mit Kinderbüchern und langsam übergehend in Bücher über die Nazis, Jeffrey Dahmer und das Thema Anatomie. Zunächst sieht es so aus, als würde 'The Man' versuchen, online Männer zu treffen. Wir sehen, wie er Anzeigen aufgibt, die wie Kontaktanzeigen aussehen, und seine verschiedenen Treffen scheitern. Einmal trifft er einen Junkie mit frischen einstichen auf seinem Arm. 'The Man' starrt ihn an und geht schließlich mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck davon. Als er endlich den Richtigen mit 'The Flesh' trifft, liegt eine Spannung in der Luft, die man mit einem Fleischermesser durchschneiden könnte. Er rasiert sich, bügelt seine Hose, entstaubt und fegt seine Wohnung und geht dann zu seinem Treffen.

          "Cannibal" ist von einer düsteren Atmosphäre geprägt. Voller unzüchtiger Homosexualität und realistischer blutiger Gewalt ist dies kein Film für den Gelegenheitszuschauer. Wenn man einen Schritt zurücktritt und sich an das Thema erinnert, das in den Fall eingebettet ist, kann man Marian Doras künstlerische Einsprengsel erkennen. Kaum Dialoge, dafür viel Bildmaterial. Jede Szene ist in einem körnigen, ausgewaschenen Grünton gehalten. Die Schauspieler werden stark in Anspruch genommen, um den grotesken Handlungen lustvolle Ausdrücke zu verleihen. In Anbetracht der Geschichte und des Budgets gut gemacht. Es gibt seltsam schöne Momente, in denen der Regisseur versucht, etwas Tiefgründiges über den Menschen und die Gesellschaft zu sagen. Am Anfang schafft es Marian Dora sogar, dass wir mit 'The Man' mitfühlen, als er seine erste Ablehnung erfährt. Die Botschaft des Films wird jedoch von starken visuellen Störimpulsen überschattet. Dies ist einer der, wenn nicht DER, verstörendste Film, den ich je gesehen habe. Ich könnte jedes nachfolgende Detail aufzählen, jeden Spoiler, und man wäre immer noch nicht bereit für die grafischen Details und das realistische Aussehen des Höhepunkts in diesem Film.

          Es gibt harten, detailiert gezeigten Sex, der von Pferdegeräuschen begleitet wird, und blutige Szenen, die an Snuff erinnern, einschließlich einer langen Penisentfernungsszene, auf die sofort das folgt, was ich mir in der Küche der Hölle vorstellen kann, wenn der Penis gebraten und dann zwischen den beiden Männern geteilt wird. Von hier an wird es nur noch schlimmer. Der erste Film seit langem, der mich zutiefst verstört hat. Die gesamte zweite Hälfte des Films besteht aus ununterbrochenem menschlichem Leid, Betrübnis, Verstümmelung und Kannibalismus. Es fühlt sich sehr real an, als würde der Betrachter aus dem Nebenzimmer zuschauen, aber auch als würde man etwas Reales sehen. Das Beängstigende ist, dass es irgendwo da draußen ein Video von den tatsächlichen Ereignissen gibt. Vielleicht besitzt Marian Dora das besagte Video und hat einfach ein Remake davon gedreht.

          Ich kann nicht genug betonen, wie sehr meine Haut immer noch kribbelt, jetzt, zwei Tage nachdem ich diesen Film gesehen habe. Es gibt Bilder und Geräusche, die sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt haben und für lange Zeit nicht mehr verschwinden werden. Sie verdrängen die Schildkrötenverstümmelung aus "Nackt und zerfleischt". Wie kann man aus dieser Anschauung mit einem Gefühl des Friedens herausgehen, wenn man weiß, dass es Menschen wie 'The Man' tatsächlich gibt? Vielleicht durch den beruhigenden Gedanken, dass Armin Meiwes, die reale Version von 'The Man', jetzt überzeugter Veganer ist.

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            Chainsaw Charlie 13.03.2022, 19:41 Geändert 14.03.2022, 00:31

            Das eindringliche Coming-of-Age-Drama "11 Blumen", das in der Endphase der chinesischen Kulturrevolution spielt, ist einer der besten Filme von Regisseur Wang Xiaoshuai. Der Filmemacher der sechsten Generation schildert ein kurioses Kapitel seiner eigenen Kindheit auf dem Lande und bietet eine persönliche Perspektive auf eine unruhige und chaotische Zeit, wobei er einen bedeutenden historischen Kontext mit einer bewegenden Beschwörung der Kindheit verbindet. Das genaue Jahr wird zwar nie genannt, aber aus einem Schwarz-Weiß-Prolog kann man schließen, dass der Film 1975 spielt, ein Jahr bevor der Tod von Mao Tsetung und Premierminister Zhou Enlai das Ende der Kulturrevolution einläutete. Wang konzentriert sich hier auf die zahllosen Festlandbewohner, die auf Geheiß von Mao die großen Hafenstädte Chinas verlassen und in Fabriken in verarmten ländlichen Gebieten arbeiten sollten, um die Verteidigungsanlagen des Landes gegen einen möglichen Angriff der Sowjetunion zu stärken. In "11 Blumen" geht es um eine Familie, die in einem kleinen Dorf in der Provinz Guizhou am Fluss lebt. Ohne in Geiz zu verfallen, sind die ersten Szenen von einem fast schwärmerischen Gefühl der Entbehrung geprägt und zeigen, wie die Familie sich bemüht, trotz der widrigen Umstände über die Runden zu kommen und dabei optimistisch zu bleiben. Da sein Vater (Wang Jingchun) in der Fabrik arbeitet, ist der 11-jährige Wang Han (Liu Wenqing) oft mit seiner Mutter (Yan Ni) und seiner jüngeren Schwester (Zhao Shiqi) allein. Als der Junge als Übungsleiter für die Schule bestimmt wird, wofür er ein neues Hemd braucht, kommt es zu Konflikten. Seine Mutter weigert sich zwar, die Stoffgutscheine eines ganzen Jahres für einen solchen Komfort auszugeben, willigt aber schließlich ein. Eines Nachmittags, als er mit seinen Freunden im Fluss spielt, wird Wang Han plötzlich ohnmächtig, und als er wieder zu sich kommt, ist das Hemd weg. Der Junge vertreibt seine Freunde mit dem Vorwurf, einer von ihnen habe es gestohlen, und gerät plötzlich in die blutigen Klauen von Jueqiang (Wang Ziyi), einem jungen Mann auf der Flucht vor der Polizei. Wang Hans Schicksal wird mit dem des Flüchtigen verwoben, der wegen Mordes an einem Mann und dem Versuch, die Fabrik in die Luft zu sprengen, gesucht wird. Das Drehbuch des Regisseurs und von Lao Ni hat eine fast surreale Qualität. Alles, was passiert, nachdem Wang Han das Bewusstsein verloren hat, könnte sich in einem verschobenen Traumzustand abspielen. China selbst scheint in einer kollektiven Benommenheit versunken zu sein, während es auf eine ungewisse und bedenkliche Entwicklung zusteuert, in der Gerüchte über Komplotte immer am Horizont auftauchen und die Polizei nur eine schwache Kontrolle über die lokalen Bandenaktivitäten behält. Der Autor Dong Jinsong zeigt immer wieder suggestive Bilder wie den Dampf eines Badehauses, in dem Wang Han dem neuesten Geschwätz lauscht, oder den Frost am Fenster, durch den er und seine Eltern einen Blick auf zwei Seelen erhaschen, denen es deutlich schlechter geht als ihnen selbst. "11 Blumen" vermittelt ein umfassendes Verständnis von Zeit, Ort und historischen Details, ohne die kindliche Perspektive aufzugeben. Wenn einige der Ereignisse an einem vorbeizurasen beginnen, bevor man ihre Bedeutung voll erfassen kann, ist ein gewisses Maß an spielerischer Unverständlichkeit durchaus angebracht. Der Ton des Films ist wechselweise wehmütig, hoffnungsvoll und manchmal sogar lustig, vor allem dank der energischen Clownerie von Wang Hans Freunden, die nicht nur für Komik, sondern auch für einen Sinn für das Universelle sorgen. Wenqing Liu hinterlässt einen gefühlvollen Eindruck als temperamentvolles, schelmisches, aber gut erzogenes Kind und als winziges Abbild des Regisseurs. Wang Jingchun ist ein ruppiger, aber liebenswürdiger Vater, der versucht, seinem Sohn die Liebe zur Kunst beizubringen, indem er ihm das Malen beibringt, während Yan Ni als Mutter, die hart arbeitet, um es ihren Kindern recht zu machen, aber nicht in der Lage ist, ihre Wut beim kleinsten Anzeichen von Undankbarkeit zu zügeln, energisch Wut und Zuwendung vermittelt. Die Kamera fängt klare Bilder und die trostlose Schönheit der Provinzstadt ein, in der Wang Han lebt, vom tückischen Flussufer bis zu den Wohnblocks, deren harte Bedingungen dennoch einen starken Gemeinschaftssinn fördern. Wenn man den Titel des Films aus dem Chinesischen übersetzt, hat er überhaupt nichts mit Blumen zu tun, sondern heißt schlicht und treffender: "Ich bin 11".

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            • 7 .5

              Sechs Jahre lang recherchierte der serbische Regisseur Ognjen Glavonić zu einem verborgenen Ereignis aus dem Kosovo-Krieg für einen geplanten Kinofilm, den er jedoch aus Geldmangel nicht realisieren konnte. Dieses Ziel erreichte er schließlich 2018 mit dem stillen, aber grandiosen "The Load". Seine Arbeit führte jedoch zu diesem eindrucksvollen Dokumentarfilm "Depth Two", den er bereits 2016 veröffentlichte und der auf der Berlinale seine Weltpremiere erleben durfte. Mit seinem ersten Langspielfilm erzählt er von einem Massenmord aus dem Kosovo-Krieg 1999, als ein Tiefkühltransporter mit 55 Leichen albanischer Zivilisten, die von der serbischen Polizei und Armee ermordet wurden, nahe der serbisch-rumänischen Grenze von der Straße abkam und in die Donau stürzte. Ognjen Glavonić beruft sich auf die Aussagen der Täter, von Zeugen und einem Opfer, das den Tod vorgetäuscht hat, um das Blutbad zu überleben. In einem Vorort von Belgrad wurden zwischen 2001 und 2002 fünf Massengräber entdeckt, und zwar an dem Ort, an dem sich damals der Übungsplatz der Antiterror-Sondereinheiten befand. "Depth Two" untersucht, wie diese zwei Vorfälle auf außergewöhnlich effiziente Weise miteinander einhergehen. Der Film beginnt an der Donau, in der Nähe der Stadt Tekija, wo der Transporter aus dem Wasser gezogen wurde. Die Worte eines Polizisten, der als erster am Tatort war, kommen aus dem Off, wie alle Zeugenaussagen im Film, und werden visuell mit Aufnahmen des Ortes am Fluss verbunden. Auch die Berichte anderer Zeugen werden mit Szenen verknüpft, die nur 17 Jahre später an den jeweiligen Orten gedreht wurden. Diese reichen von der Donau über Priština und zwei Kleinstädte im Kosovo bis nach Zentralserbien und schließlich nach Batajnica, dem Ort der Massengräber. Die Kombination aus den beunruhigenden, tragischen und bestürzenden Geschehnissen und den Aufnahmen von den Tatorten unterstützt den Betrachter anfangs dabei, sich auf die Stimmen zu konzentrieren. Dann aber geschieht etwas Neues für den Zuschauer. Unsere Imaginationsfähigkeit wird angeregt und es entstehen Bilder in unserem Kopf, die fast wie Hypnose zu wirken scheinen. Und diese Vorstellungen sind schlichtweg grausam. Darüber hinaus ermöglicht es die Thrillerstruktur dem Zuseher, die Zusammenhänge selbst zu erkennen, was wiederum das Empfinden von Konzentration und schließlich des Schocks verstärkt. Im Zentrum von "Depth Two" stehen abwechselnd die Schilderungen des albanischen Überlebenden und eines der Soldaten, die das Massaker auf dem Balkan begangen haben. Hört man dem Soldaten zu, kommt man nicht umhin zu begreifen, dass auch er ein Opfer ist. Ognjen Glavonić lässt jedoch keinen Raum für die Entschuldigungsgründe, die selbst die besten Filme aus dem balkanischen Sektor, die sich mit Kriegsverbrechen befassen, für ihre eigenen Nationen formulieren. Hier ist endlich ein international beachteter Film, in dem ein Regisseur aus einem der ehemaligen jugoslawischen Länder sagt, dass sie schuldig sind, und sich in Grund und Boden schämen sollten. Und wenn es jemals einen perfekten Ort gab, um diese Aussage zu machen, dann gewiss in Berlin. Die meisten Tonaufnahmen wurden bei den Prozessen gegen Milošević und seine Untergebenen vor dem Internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag gemacht. Die Editorin Jelena Maksimović schafft einen unerbittlichen Rhythmus, in dem es keinen Moment der Entspannung gibt, auch nicht in den Szenen, die keine Zeugenberichte beinhalten. Das Tempo von "Depth Two" ist zwar gemächlich, aber der Inhalt ist zu gewaltig, um den Zuschauer atmen zu lassen. Das sollte man sich für die Zeit nach dem Filmerlebnis aufheben, das noch lange nachhallt.

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              • 8

                Das tschechische Historiendrama "Die Hexenjagd" des Regisseurs Otakar Vávra handelt von der Panik, die die Gesellschaft ergreift, wenn die Hysterie der Hexenverfolgung einsetzt. "Die Hexenjagd" ist eine schonungslose allegorische Fabel über den Kommunismus und die totale moralische Korruption des Machtstrebens. Als eine ältere Frau töricht versucht, eine Hostie aus der Kirche zu rauben, verdichten sich die Ereignisse zu einer Untersuchung, bei der fast jeder in einem Umkreis von einigen Städten beschuldigt wird, sich mit dem Teufel eingelassen zu haben. Am Ende stehen sich zwei Männer von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und zwar Lautner (Elo Romančík), ein unvollkommener Gottesmann, und der monströse Inquisitor Boblig (Vladimír Šmeral). "Die Hexenjagd" zeichnet die historisch korrekten Ereignisse der Prozesse nach, in denen eine unschuldige Frau und ein ebenso unschuldiger Mann nach brutaler Folter die Hexerei gestehen, damit ihre Qualen endlich ein Ende haben. Obwohl "Die Hexenjagd" mit Szenen von Gewalt und Nacktdarstellungen nicht spart, gibt es hier kein exploitatives Element. Stattdessen handelt es sich um einen anspruchsvollen Film mit einer klaren Botschaft über politische Repression und die Gewalt gegen Frauen. Es ist fast unmöglich, nicht wütend zu werden über die grassierende Hypokrisie, die stattfindet, nicht zuletzt, weil es etwas ist, was wir Menschen immer wieder getan haben, weil wir uns scheinbar weigern, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Elo Romančík ist ein überragender, faszinierender Hauptdarsteller, der sich hoffnungslos an seinen Glauben klammert, der auf verheerende Weise schwindet, als er sich im Zentrum eines Rachefeldzugs von Boblig wiederfindet. Als eitler, käuflicher und machthungriger Boblig ist Vladimír Šmeral beängstigend realistisch und gibt einen der bösartigsten und sittenwidrigsten Bösewichte der Filmgeschichte. Otakar Vávra, der gemeinsam mit Ester Krumbachová Regie führte und das Drehbuch verfasste, präsentiert uns einen bedächtigen, gefühlskalten und objektiven Film, der in vielen Momenten visuelle und schwermütige Poesie ausdrückt. Die Kameraführung von Josef Illík ist beachtlich, und das Produktionsdesign ist vorbildhaft gestaltet. Das Werk ist subversiv, verstörend und höchst einprägsam inszeniert. Im Vergleich mit anderen Filmen wie dem außergewöhnlichen "Die Teufel" von Regisseur Ken Russel kann "Die Hexenjagd" durchaus standhalten.

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                • Es handelt sich bei dieser Liste um Filme, die WIR schon gesehen haben, über die ihr aber etwas von mir lesen wollt. Ich freue mich, dass die Idee mit der Liste hier gut ankommt. Ich werde mir die von euch gewünschten Filme noch einmal ansehen, soweit ich noch Zugang zu ihnen habe. Parallel dazu schreibe ich an anderen Filmen, die ich gerade sehe, also wird es ein paar Tage dauern, bis die Kommentare dazu erscheinen.

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                  • 6 .5

                    Bei einem Filmtitel wie "Jug Face" von Regisseur Chad Crawford Kinkle ist so ziemlich alles denkbar. Das Gute an einem ungewöhnlichen Titel ist, dass er einen dazu zwingt, sich dem Film mit einer gewissen Vorsicht und einer Prise Neugierde zu nähern. "Jug Face" ist eine bizarre, aber selbstbewusste und eigenartige, aber grimmige Geschichte über falsche Religion, böse Geister und sehr schlechtes Verhalten. Genauer gesagt geht es in "Jug Face" um einen hinterwäldlerischen Clan, der eine mysteriöse Senke tief im Wald verehrt. Ihr Glaubenssystem sieht vor, dass ein spezieller Töpfer einen Krug modelliert und derjenige, dem das Gefäß ähnelt, der nächste ist, der der Grube geopfert wird. Unsere Antipathin Ada (Lauren Ashley Carter) ist offenbar dazu auserkoren, die nächste Opfergabe der Grube zu werden, aber sie wirft ihr getöpfertes Krug-Gesicht in den Wald und schmiedet einen Plan, um den Töpfer dazu zu bringen, ein neues Stück präkognitiver Keramik herzustellen. Übrigens ist die gute Ada schwanger, was den Plänen der Töpferbande einen Strich durch die Rechnung machen dürfte. Falls diese Kurzbeschreibung sich interessant und bizarr anhört, wirst du sicherlich viel Vergnügen bei dem Bemühen haben, die tiefgründigen Motive zu erkunden, die in Chad Crawford Kinkles wunderbarem, abgedrehtem "Jug Face" zum Tragen kommen. Am spannendsten ist wohl die Perspektive des Zusehers, der die Handlung aus der Innensicht des gläubigen Clans der Grubenfanatiker betrachten darf. Obwohl praktisch jede einzelne Figur auf sehr spezifische Weise unziemlich oder verabscheuungswürdig ist, wirken ihre Glaubensüberzeugungen verhältnismäßig wohlbegründet. In anderen Worten ausgedrückt haben diese blutschänderischen Schweinehirten wirklich eine wahnwitzige Glaubensrichtung im Kopf inne und was ist, wenn in dieser widerwärtigen Grube tatsächlich etwas existiert? "Jug Face" ist vielmehr ein Film mit erschreckenden Gedanken als mit Jumpscares, und es ist die sachliche Charakteristik, mit der die Hinterwaldbewohner porträtiert werden, durch die der Film über eine relativ begrenzte Anzahl von Schwachstellen hinaus attraktiv bleibt. Die Hauptdarstellerin Lauren Ashley Carter ist fabelhaft in der Verkörperung eines rehäugigen Mädchens, das unsere Empathie zu verdienen scheint, aber im fortschreitenden Filmverlauf könnte man beginnen, Bedenken zu hegen. Der gesamte Cast ist ziemlich kompakt, wenngleich Sean Bridgers, der in "The Woman" großartig war, als Referenz auffällt. Sean Young, die Adas autoritäres und sexuell repressives Muttertier spielt, ist ebenfalls ausgesprochen lobenswert! "Jug Face" wird nach der ersten Sichtung zu einer äußerst intensiven Erfahrung, da alle Aspekte endlich aus dem düsteren Gewand hervortreten. Ich persönlich war beim Betrachten von Chad Crawford Kinkles Film wie hypnotisiert von Adas Odyssee und fokussierte mich auf das kultische Entsetzen und die abgründigen Ereignisse in der Kruggrube. Chad Crawford Kinkle erhielt auch tatkräftige Unterstützung von Larry Fessenden, einem Experten des Low-Budget-Horrors, und dem ausführenden Produzenten Lucky McKee, doch vor allem das konsequente Insistieren des Regisseurs darauf, eine potenziell bissige Horrormär so simpel und authentisch wie möglich zu präsentieren, hebt "Jug Face" über den Status einer bloßen Kuriosität hinaus.

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                      Der irische Slasherfilm, in dem die Opfer Schüler sind, die auf Psychedelika trippen, mag vielleicht 10 Minuten lang reizvoll sein. Aber im weiteren Verlauf wird "Shrooms" von Regisseur Paddy Breathnach zu einem langweiligen Schundfilm, der durch einige visuelle Effekte unterstrichen wird, die das Erlebnis der Einnahme von Magic Mushrooms imitieren sollen. Hinter der Handlung verbirgt sich die übliche unerträgliche Ansammlung junger Klischees. Ein Sportler, ein gesunder Typ Cheerleader, ein angeblicher Kampfsportler und so fort, die trotz des Schauplatzes in einer nebligen irischen Landschaft Amerikaner sind. Sie sind auf die Smaragdinsel gereist, um Jake (Jack Huston) zu besuchen, der ihnen erzählt hat, dass es in Irland die besten Magic Mushrooms auf Erden gibt. Die Amerikaner werden von Tara (Lindsey Haun) angeführt, die Jake bei einem früheren Urlaub kennen gelernt hat und in ihn verknallt ist. Das Waldstück, das für den Drogenausflug der Gruppe ausgewählt wurde, hat naturgemäß eine unheimliche Bewandtnis, von der Jake am Lagerfeuer erzählt. Offenbar befand sich in der Nähe ein Gefängnis für Jugendliche, das für die miserable Behandlung seiner Bewohner berüchtigt war, ein Ort, der Geschichten über Folterungen und Morde hervorgebracht hat, angeblich durch die Hand eines Schwarzen Bruders, einer Kapuzengestalt, die vielleicht immer noch in der Gegend herumgeistert. Ein paar sabbernde Hohlköpfe, die sich in großem Maße aus der Zivilisation abgesetzt haben, sorgen für noch mehr Panikmache. Bevor die Zwerge durchdrehen und so sterben, gibt Jake noch einen Ratschlag in die Runde: Iss nicht die Totenkopfpilze. Die verliebte Tara ignoriert diese Weisheit fast sofort, mit sehr unbequemen Konsequenzen. Merkwürdiges ereignet auf einmal. Gegenstände beginnen zu vibrieren und zu pochen. Die Kids glauben, im Wald seltsame Dinge zu sehen und fangen an zu zanken. Passiert das wirklich? Oder sind das alles Halluzinationen? Was kümmert das eigentlich? Fairerweise muss man sagen, dass Regisseur Paddy Breathnach und Drehbuchautor Pearse Elliott mit ein paar netten Einfällen aufwarten können, darunter eine geniale Dummheit mit einem sprechenden Tier, die darauf schließen lässt, dass sie eine gewisse Perspektive für diesen abgedroschenen Stoff haben. Pilze schmecken am besten, wenn man sie kurz bei hoher Temperatur in etwas Butterschmalz mit Zwiebeln und ein wenig Speck anbrät. Temperatur reduzieren und etwa 5 Minuten unter Wenden weiterbraten. Wegen ihres hohen Wassergehalts können sie schnell matschig werden. Aber das wussten die Filmemacher nicht und tischen uns mit diesem halbgegarten Werk einen Wässrigen Mürbling auf.

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                        Das makabre Meisterwerk "Die blinde Bestie" von Regisseur Yasuzô Masumura zeichnet das verstörende Porträt eines Künstlers und seiner Muse. Diese Geschichte wird von Schwarz-Weiß-Bildern von Aki (Mako Midori) flankiert, die der Fotograf Yamana für eine Ausstellung aufgenommen hat, die großes Aufsehen erregte. Auf diesen Fotografien ist Aki sowohl nackt als auch in Ketten gefesselt, und auf einigen ist ihr Konterfei vervielfältigt, so dass ein psychedelisches Pastiche der 60er Jahre entsteht, das ihren Körper entblößt und gleichzeitig ihre Identität verwirrt und ihre Innerlichkeit verdeckt. Damit werden Themen vorweggenommen, die den Rest des Films beherrschen werden, denn ein anderer Künstler reduziert Aki auf das bloße Fleisch, setzt sie verschiedenen Arten von Fesseln aus und zerlegt sie schließlich in ihre Einzelteile. Sogar die monochrome Präsentation dieser fotografischen Stills in einem Film, der ansonsten in Farbe gedreht wird, führt das Schlüsselthema der eingeschränkten Empfindung auf raffinierte Weise ein. Als Aki früh zu einer Besprechung in die Galerie kommt, sieht sie einen einsamen Mann, der seine Hände langsam über eine Skulptur ihres nackten Körpers streicht. Sie macht die seltsame synästhetische Erfahrung, dass sie das Gefühl hat, seine Hände seien tatsächlich auf ihr. Später, erschöpft von einem langen Tag als Model, ruft sie einen örtlichen Masseur an, der ihr in ihrer Wohnung eine wohltuende Rückenmassage gibt. Als sie merkt, dass dieser blinde Mann, Michio (Eiji Funakoshi), dieselbe Person ist, die sie in der Galerie gesehen hatte, betäubt er sie mit Chloroform und bringt Aki mit Hilfe seiner Mutter (Norika Sengoku) in sein abgelegenes, privates Lager. Aki erwacht in der Dunkelheit, um sich und den Zuschauer an Michios Welt der Blindheit zu gewöhnen. Michio erscheint mit einer Taschenlampe, offensichtlich eher zu Akis Nutzen als zu seinem eigenen. Während sie versucht, ihm in diesem großen Atelierraum auszuweichen, beleuchtet er die verschiedenen Wandabschnitte, an denen sie vorbeikommt, die mit überdimensionalen Skulpturen von Augen, Nasen, Ohren, Lippen, Armen, Beinen und Brüsten verziert sind, während in der Mitte des Raumes zwei gigantische Ganzkörperstatuen stehen, eine auf dem Rücken, die andere auf dem Bauch. Michio ist ein Künstler, seine bevorzugte Form ist der weibliche Körper. Und dieses weltfremde, etwas naive Muttersöhnchen will, dass Aki als Modell für sein Meisterwerk dient, ob sie will oder nicht. Die Einrichtung von Michios Atelier mit all den körperlosen Teilen erinnert an das Gleichnis vom blinden Mann und dem Elefanten. Michio, der von Geburt an blind ist und dessen Erfahrung mit dem Weiblichen auf seine Mutter beschränkt ist, reduziert die Frauen auf ihre physische Form, die er in einzelne Gliedmaßen zerlegt und als greifbare Dekoration aufbläst, um seine Fantasien und Wünsche zu befeuern. Nun, da er Aki in seinen Fängen hat, hofft Michio, aus einer rohen Tonmasse eine synthetische Nachbildung von ihr zu formen, Glied für Glied, wie Pygmalion seine perfekte Geliebte, bevor Aki ihm die größere Anziehungskraft einer echten, lebenden, atmenden Frau zeigt. Die Beziehung von Michio und Aki wechselt ständig zwischen Gefangener und Entführer, Katz und Maus, Künstler und Muse, Mörder und Komplize und perversem, sich selbst verzehrendem Liebespaar, in einer Erzählung, die sich an den paradoxen Einflüssen des Stockholm-Syndroms und der BDSM-Bindung orientiert.Michio behauptet, dass seine Arbeit mit Aki ein völlig neues Kunstgenre schaffen wird. Man vermutet, dass der Regisseur Yasuzô Masumura diesen Anspruch teilt. Nachdem er sich bereits in Filmen wie "The Red Angel" mit Sex und Begehren auseinandergesetzt hatte, wandte sich Yasuzô Masumura für "Die blinde Bestie" dem von Edogawa Rampo verfassten "ero guro nansensu" zu. Auf der Grundlage einer Rampo-Adaption seines Drehbuchautors Ishio Shirasaka reduziert Yasuzô Masumura Sex und sexuelle Beziehungen auf ihre körperlichen Grundlagen und findet dabei Wege, die Flüchtigkeit und Exklusivität des Begehrens auszudrücken. Auch Yasuzô Masumura stellt taktile Empfindungen in den Vordergrund, und zwar mit Hilfe eines Mediums, das normalerweise dem Sehen und dem Ton den Vorzug gibt und die tatsächliche Berührung ausschließt. Masumuras Strategie zur Verwirklichung eines haptischen Kinos besteht darin, die Figuren ständig von der Erfahrung des Tastens, Ertastens und Sondierens erzählen zu lassen oder ihre Dramen auf und um Skulpturen von Körpern und Körperteilen zu inszenieren. Während Aki allmählich ihr Augenlicht verliert und sich in diese dunkle, hermetische Umgebung flüchtet, führt Yasuzô Masumura einen Tunnelblick-Effekt ein, indem er die intimen Umarmungen der Liebenden vor einen Hintergrund stellt, der immer schattiger und undeutlicher wird, so dass wir praktisch nur noch den engen Kontakt von Fleisch auf Haut sehen, losgelöst von jedem größeren Kontext. Das Atelier des Künstlers und Filmemachers wird zu einem mythischen, psychologischen Raum. In Vorwegnahme der obsessiven, abartigen Leidenschaft von Nagisa Oshimas skandalösem "Im Reich der Sinne" ist "Die blinde Bestie" ein reflexiver Film über Kunst und Liebesbeziehungen. Seine irrationale Geschichte endet, wie sie beginnt. Mit einer Frau, die zerstückelt und auf ihr sexualisiertes Abbild verkürzt wird, als ein Kunstwerk und ein Objekt, auch wenn ihre Erzählerstimme sie als Individuum aus Fleisch und Blut kennzeichnet und uns daran erinnert, dass sie die ganze Zeit über diese Darstellung ihrer eigenen Gefangenschaft kontrolliert hat. Aki ist wie eine Venus, die zum Lustobjekt wird, gerade weil sie unter dem männlichen Blick oder zumindest der Berührung zerstückelt und zu einer Liste von verdinglichten Segmenten verdichtet wurde. Und doch ist sie mehr als die Summe ihrer Teile, und "Die blinde Bestie" haucht ihr neues Leben ein, auch wenn sie zulässt, ja sogar will, dass man es ihr nimmt. Dieser Widerspruch ist das Herzstück von Yasuzô Masumuras seltsamem, surrealem Film. Frauen sind eingebildet und müssen dominieren, sagt Aki zu Michio, der die Frauen in Wirklichkeit überhaupt nicht versteht. Und Aki tut es, indem sie ihre eigenen Wünsche einer Geschichte aufzwingt, die sich angeblich um Michio dreht, und sich weigert, das Opfer, das Spielzeug oder das Subjekt von jemand anderem zu sein. Letztendlich ist es eine Geschichte von Liebestod, die ganz im Sinne der Protagonistin erzählt wird, und in den letzten Szenen ist alles auf das Abstrakteste und Animalischste reduziert. Was bleibt, ist ein sinnliches, sensationslüsternes Werk, wie man es noch nie zuvor gesehen hat.

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                          In dem Meisterwerk "Der Diener" des Regisseurs Joseph Losey sieht man vor dem Haus, das der reiche Tony (James Fox) gerade gekauft hat, Schnee fallen, der genauso gut von der Decke kommen könnte, wenn man die Kälte bedenkt, die diesen Film über psychologische Machtspiele umgibt. Sein Geld ist veraltet, seine Haltung ungehobelt, kein Wunder also, dass die Idee, einen Diener zu haben, verlockend ist. Er bräuchte das alles, sagt er lässig zu Barrett (Dirk Bogarde), dem Mann, der den Job bekommt und dessen nördliche Vokale und fast zuckende Ehrerbietung seinen Platz in der Hackordnung markieren. Dies war der erste von drei Filmen, in denen Joseph Losey und sein Drehbuchpartner Harold Pinter, der hier eine Novelle von Robin Maugham adaptierte, einen scharfen Blick auf das Thema Klasse und damit auch auf den sozialen Status warfen. Um zu sehen, welchen nachhaltigen Einfluss dieser Film auf andere Filmemacher hat, muss man sich nur Bong Joon Hos "Parasite" ansehen. Nicht nur die Architektur der Beziehungen, sondern auch der Raum, den sie einnehmen, ist von entscheidender Bedeutung. Das Haus, das zu Beginn nicht viel mehr als eine Hülle ist, entwickelt sich zu einem vergoldeten Käfig, in dem Tony zunehmend durch seine eigenen Abhängigkeiten gefangen ist. Dirk Bogarde, der nicht zum ersten Mal beweist, dass er mehr als nur ein Schönling ist, verleiht Barrett eine echte Subtilität und Prägnanz. Er mag zwar zurückhaltend sein, und sein leichtes Auftreten schmälert auch seine Bedrohlichkeit in Tonys Augen, aber der Schauspieler lässt gerade genug von seinem Machiavellismus durchscheinen, um uns wissen zu lassen, dass mehr dahintersteckt, als man auf den ersten Blick sieht. Auch Tonys Freundin Susan (Wendy Craig, in einer Glanzleistung) ist misstrauisch. Harold Pinter zeigt durch das Drehbuch, dass sie als jemand, der aufgrund ihres Geschlechts viel mehr damit vertraut ist, am falschen Ende von Machtspielen zu stehen als Tony, die Machenschaften von Barrett viel besser durchschaut und ebenso mehr daran gewöhnt ist, eigene Manipulationen anwenden zu müssen. Als Barrett Tony überredet, seine "Schwester" Vera (Sarah Miles) als Dienstmädchen einziehen zu lassen, ahnt der reiche Mann nicht, dass er in eine Honigfalle getappt ist. Schon bald zeigt sich, dass Dirk Bogardes Barrett ein Meister darin ist, das Richtige zum passenden Zeitpunkt bereitzustellen, sei es der Schokoriegel, auf dem Vera kurz nach ihrer Ankunft aufgeregt herumkaut, oder die Zigarre, die genau im richtigen Moment in Tonys Hand gelangt. Das sind nur kleine Ausschnitte aus der Handlung, die sich mit reizvoller Präzision dreht und wendet, während Beziehungen entgleiten und verzerrt werden wie die Reflexionen, die wir immer wieder in einem konvexen Spiegel an einer der Wände des Hauses sehen. Kameramann Douglas Slocombe trägt mit niedrigen und hohen Kamerawinkeln, Licht und Schatten zur allgemeinen Beunruhigung bei. Auch die Filmmusik von John Dankworth und insbesondere das von seiner Frau Cleo Laine gesungene Lied "All Gone" erweisen sich mit jedem Refrain als zunehmend zweideutig. Einige Szenen zwischen James Fox und Dirk Bogarde sind homoerotisch aufgeladen, aber Joseph Losey und Harold Pinter interessieren sich weniger für die sexuellen Manöver selbst als für die Frage, wer die Oberhand hat. Alles wird schlüpfrig und nicht mehr ganz so, wie es zunächst schien. Nehmen wir zum Beispiel das Geländer, durch das wir oft in Barretts Zimmer blicken. Zunächst mögen sie an ein Gefängnis erinnern, doch später wird deutlich, dass sie vielleicht etwas viel Wilderes einschließen. Barrett spielt schließlich nicht dasselbe Spiel wie Tony, der so sehr in seinem Glauben an die Zwänge des Klassensystems gefangen ist, dass er den Aktionsradius des anderen erst erkennt, wenn es zu spät ist.

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                            "Sans Soleil", ein experimenteller Dokumentarfilm des Regisseurs Chris Marker, gehört in die Kategorie des prätentiösen Blödsinns, den man lieben oder hassen kann. "Sans Soleil" ist eine 100-minütige Collage unzusammenhängender Bilder aus der ganzen Welt mit Schwerpunkt auf Japan und Afrika und wird von den existenziellen, elliptischen Betrachtungen einer Erzählerin begleitet, der die Schriften eines fiktiven Kameramanns namens Sandor Krasna vorliest. Man könnte zwar argumentieren, dass der Film lose von Erinnerung und Zeit handelt, aber das wäre ein Versuch, dem, was im Wesentlichen eine zufällige Reihe von philosophischen Abschweifungen ist, eine Ordnung zuzuschreiben. Fairerweise muss man sagen, dass einiges von dem, was Chris Marker zu sagen hat, wenn nicht interessant, so doch zumindest unterhaltsam ist. Er bleibt jedoch nie lange genug bei einem Thema, um es fruchtbar zu machen, sondern zieht es vor, zu etwas anderem überzugehen. Seine Monologe sind philosophisch und pedantisch. Er hält viele Vorträge, und ein Großteil der Dialoge hat etwas Elitäres an sich, was darauf hindeutet, dass der Filmemacher glaubt, erstaunliche Wahrheiten zu verkünden. Die Bilder sind absichtlich banal. Nur wenige, wenn überhaupt, bleiben im Gedächtnis haften. "Sans Soleil" springt von Thema zu Thema wie ein verrückter Schmetterling, der in der einen Minute Einblicke in die revolutionäre Denkweise gewährt und in der nächsten eine Dekonstruktion von "Vertigo" bietet. Es gibt keine nennenswerte Handlung. Der Film besteht aus einer Erzählerin, die aus Briefen liest, die Sandor Krasna, ein Pseudonym für Chris Marker, an sie geschrieben hat, während auf dem Bildschirm von ihm gedrehte Clips abgespielt werden. So hat Chris Marker die Freiheit, über jedes Thema zu referieren, das ihm gerade in den Sinn kommt. Der Titel "Sans Soleil" bezieht sich auf einen Science-Fiction-Film, den er plant, aber nicht zu realisieren gedenkt. Wie viele seiner Diskurse berührt er Ideen über Zeit, Erinnerung und deren Verflechtung. Chris Markers Film wurde als Reisebericht, als Dokumentarfilm und als Sammlung von filmischen Essays bezeichnet. Keine dieser Beschreibungen ist ganz zutreffend, aber zusammengenommen vermitteln sie ein gutes Bild von dem, was "Sans Soleil" ist. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wurden vier Versionen von "Sans Soleil" produziert. Visuell gibt es keine Unterschiede, aber jede hat eine völlig andere Tonspur. Der Film wurde auf Englisch (Alexandra Stewart als Erzählerin), Französisch (Florence Delay), Japanisch (Riyoko Ikeda) und Deutsch (Charlotte Kerr) veröffentlicht. Es gibt keinen Grund, die eine der anderen vorzuziehen. "Sans Soleil" wurde für die Elite der Cineasten gedreht und erfreut sich in Programmkinos und Filmschulen großer Beliebtheit. Viele Kritiker haben ihn gelobt. Der Daily Telegraph zählte ihn zu den 100 besten Filmen aller Zeiten, und die Ausgabe 2014 von Sight & Sound setzte ihn auf Platz drei ihrer Liste der besten Dokumentarfilme überhaupt. Chris Marker untersucht die Qualität des heutigen Lebens, obwohl er eigentlich nur seine eigenen Reaktionen auf unsere Welt erforscht, die nicht immer logisch oder besonders aufschlussreich sind. "Sans Soleil" ist ein völlig selbstverliebter Film, der alle ausschließt, außer die eifrigsten Chris Marker Fans. Die meiste Zeit über schwankt sein Verhalten zwischen dem eines herablassenden Touristen und dem eines Amateuranthropologen. Ich weiß, das ist eine brutale Abrechnung mit dem Film, aber sie trifft den Kern dessen, was den Film zu einem langweiligen Erlebnis macht. Obwohl seine zahlreichen ausschweifenden Reden eindeutig die Abschweifungen von jemandem sind, der über einen umfangreichen Sprachschatz verfügt und sich selbst für einen tiefgründigen Denker hält, sind sie in erster Linie nur für ihn selbst und für diejenigen von Interesse, die behaupten, seine Jünger zu sein. Nachdem ich "Sans Soleil" gesehen hatte, spürte ich, dass ich zwar einiges über Chris Markers Weltanschauung erfahren hatte, aber keine neuen oder überraschenden Ideen kennengelernt habe. Vielleicht waren einige seiner Konzepte in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren revolutionär gewesen. Wenn sie es jemals waren, sind sie es heute nicht mehr. Lässt man die verbalen Aspekte des Films beiseite und wendet sich den banalen Bildern zu, hat "Sans Soleil" einen gewissen historischen Wert. Obwohl er 1983 in die Kinos kam, wurde der Großteil der Dreharbeiten in früheren Jahren, vor allem in den 1970er Jahren, durchgeführt und stellt somit eine Zeitkapsel dieser Ära dar. Chris Marker hat den Film heruntergespielt und ihm nicht den Glanz verliehen, den einige seiner Befürworter für ihn beanspruchen. In einem Essay auf seiner Website bezeichnete er den Film sogar als reinen Heimatfilm. Aus dieser Perspektive ist er eine beeindruckende, vielleicht sogar bemerkenswerte Leistung. Ich gebe freimütig zu, dass ich mir nicht gerne meine eigenen "Homevideos" ansehe, geschweige denn solche, die von jemandem gemacht wurden, den ich nicht kenne.

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                              Ein kräftiger Applaus für Netflix, das dem Meister der düsteren französischen Skurrilität, Regisseur Jean-Pierre Jeunet, dem Schöpfer von "Delicatessen", "Die fabelhafte Welt der Amélie" und "Die Stadt der verlorenen Kinder", Geld für die Verfilmung einer seiner abgedrehten Geschichten in seinem unnachahmlichen visuellen Stil gegeben haben. Schade nur, dass "Bigbug" so plastisch wie Frischhaltefolie, so warm wie Packpapier und so amüsant wie ein in Klarsichtfolie eingewickeltes Huhn ist. Seine große Idee für den Streaming-Dienst ist eine weitere Geschichte, in der Menschen in der Zukunft, die in absurder Weise von der KI abhängig sind, in ihren Häusern eingesperrt werden, während die KI-Singularität erreicht wird und plötzlich "Terminator" beginnt. Die Drehbuchautoren versuchen, den lächerlichen Menschen, die sich bemühen, die Maschinen zu überlisten, Pathos, Nervenkitzel und Lacher abzuringen, mit dem zusätzlichen Bonus, dass ihre mechanischen Haushaltsmekas, die Roboter, mit den Menschen sympathisieren und menschlich sein wollen, also helfen sie, so gut sie können. Die Candy Bots, die Mode, die Haushaltsgeräte und alles andere sind so beeindruckend, dass der Filmemacher innehält, um sich den schlauen Bot Einstein oder Monique (Claude Perron) anzusehen, das Dienstmädchen, das sich anpasst, um seinen menschlichen Besitzern zu gefallen, auch auf sexuelle Weise. Das ist es, was mit den Haushaltsrobotern vor sich geht. Sie verhätscheln sich und schmeicheln sich bei den Menschen ein, die in ihnen gefangen sind, als sich der große Stau, ein massiver Verkehrsstau mit selbstfahrenden Autos, als Vorbote der Roboter-Apokalypse entpuppt. Können die Familienroboter ihre Menschlichkeit unter Beweis stellen und den Menschen helfen, die Situation zu retten? Die Cyborg-Sicherheitsroboter des Hightech-Unternehmens Yonyx sehen alle aus wie Francois Levantal, der sich als RoboCop-Mitglied der Borg verkleidet hat. Diese Cyborgs moderieren beliebte Reality-TV-Shows und kandidieren für das Präsidentenamt. Und sie sind äußerst gefährlich, ausgestattet mit Lasern und neuen Regeln und Gesetzen, die sie selbst geschaffen haben, um ihre Machtübernahme zu erleichtern. Aber warum sollten sie sich über Menschen ärgern, die sich wehren? Keiner von ihnen kann aus seinem schmucken Gehäuse entkommen. Die Witze sind dürftig. Jean-Pierre Jeunet ist eher für abgedrehte Gags bekannt, und es gibt nur einen davon, der sich für mich wirklich gelohnt hat. Ein hypnotisiertes Dummchen (Claire Chust) wird von einem Cyborg zu etwas gezwungen, von dem sie überzeugt ist, grenzenlose Kraft zu entwickeln. Daraufhin schleppt sie alle anderen geschiedenen Eltern, ihre abhängigen Teeniekinder und eine Nachbarin quer durch das Wohnzimmer, um den Auftrag der bösen Yonyx Corp zu erfüllen. Französische Pantomimen und ihre Kunst. Die Menschen, die Maschinen spielen, stechen aus der Besetzung heraus, aber nicht, weil sie etwas Neues mit dem "Ich bin steif und zucke herum, weil ich ein Roboter bin." Sie stechen vor allem deshalb hervor, weil die Menschen, die menschliche Charaktere spielen, meist langweilig sind, selbst der Trottel. Nicht einmal über einen geklonten, ewig unausstehlichen Jack-Russell-Terrier, den Hund des Nachbarn, kann Jean-Pierre Jeunet etwas Lustiges finden, nachdem er ihn eingeführt hat. Aber ich applaudiere Netflix dafür, ihm eine letzte Chance zu geben. Auch wenn er es vermasselt hat, sieht "BigBug" immer noch aus wie nichts anderes, das seit Jahren auf dem Bildschirm erschienen ist. Es ist nur so, dass er früher berührendere und skurrilere Geschichten mit diesen schrulligen Settings erzählt hat.

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                                Chainsaw Charlie 06.03.2022, 14:51 Geändert 06.03.2022, 15:07

                                Man kann natürlich einen italienischen Doppelgänger von Robert Pattinson als Nachwuchs für einen romantischen Thriller engagieren. Das heißt aber nicht, dass Sie mit Feenstaub, Funkeln und so weiter glänzen müssen. Es brauchte nur einen der sechs Drehbuchautoren, die für "Töte mich nicht" von Regisseurin Andrea De Sica vorgesehen waren, um eine neue Kreuzung aus Vampir und Zombie für diejenigen zu erfinden, die nicht ohne großen Aufwand getötet werden können. Sechs Drehbuchautoren, und einer von ihnen sagte: "Nennen wir sie die Übertoten" und verdiente damit sein Stipendium. In diesem italienischen Thriller, der eher blutrünstig als packend ist, geht es um die jungfräuliche Teenagerin Mirta (Alice Pagani), die sich mit dem grüblerischen Robin (Robert Pattinson... ähm.. ich meinte Rocco Fasano) einlässt. Sie hat fast sofort Gewissensbisse, als er sie überredet, etwas mit schwarzem Teer durch Augentropfen einzunehmen, und ihre Welt mit dem einzigen Sex, den sie je hatte, ins Wanken bringt. Denn das bringt sie beide in den Sarg. Nur dass sie diejenige ist, die aufwacht und sieht, wie sich ihre Augen in riesige schwarze Puppenkugeln, ihre Finger in hexenhafte Knorren und ihre Vorlieben auf Menschenfleisch richten. "Ich kann mir vorstellen, dass du mit den schmackhafteren Teilen des Körpers vertraut bist", sagt ihre erste Auslegungshilfe, Sara (Silvia Calderoni) zu Mirta, die durch die Gegend stolpert, um sich an verheirateten Raubtieren zu laben, die sich in Clubs herumtreiben, und an der lüsternen Haushälterin, die ihr Vater ausgewählt hat. Was funktioniert, sind die einleitenden Kapitel dieses langsamen Thrillers von einem Schreiberling und Enkel von Vittorio De Sica. Wir sehen, wie rücksichtslose Teenager in einem GTI über die kurvenreichen Straßen der norditalienischen Dolomiten rasen, er fährt, mit geschlossenen Augen, wie ein Dämon, sie versucht verzweifelt, ihm die Richtung zuzurufen, damit er sie nicht von einer Klippe oder in einen entgegenkommenden Traktor stürzt. Wir hören die Aufforderung, ihre Bemühungen, ihren Junkie-Schönling von dem Zeug wegzubringen, das er mit einem Löffel kocht und in ihre Augen träufelt. Und wir sehen die Leichen, nachdem sie sich nach dieser Mutprobe ins Grab gelegt hat. Lasst die Finger von Drogen, Kinder! Und von Vampiren, die sich selbst als Zombies bezeichnen! Am faszinierendsten sind die ersten Tage, in denen Mirta mit ihrer Fähigkeit zu kämpfen hat, ein Grab zu öffnen und wieder ins Leben auf der Erde zurückzukehren. Ihre Augen, ihre knorpeligen Glieder, ihre Nosferatu-Finger und ihr Appetit verändern sich auf drastische Weise. Wo ist ihr Gefährte im Tod? Ohne ihn hat sie keinen Grund für alles, was sie geopfert hat, keinen Wegweiser. Für den Moment. Wie viele Horrorfilme über Untote verliert sich auch "Töte mich nicht" in den Ausführungen zur Geschichte der Übertoten und ihrer Jäger, der Benandanti. Sie sind eine Art katholische Sekte mit schallgedämpften Pistolen und Elektroschocker. Der Versuch, das Unmögliche logisch zu machen, ist wenig überzeugend, und die sechs Drehbuchautoren von Andrea De Sica geben sich auch nicht viel Mühe. Wir sehen, wie Mirta beschützt und sogar übermäßig protektiert wird, wenn die Bösen sich ihr zum ersten Mal nähern, nur damit dieser großschwesterliche Beschützer sie plötzlich im Stich lässt, sobald sie einen Club betreten, der für ihren Geschmack etwas zu wild und zügellos ist. Nichts, was nun folgt, macht mehr Sinn als dieser Punkt.

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                                  Als erster Marvel-Film mit einem asiatischen Hauptdarsteller lastet viel auf den Schultern von "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" von Regisseur Destin Daniel Cretton. Obwohl der Film einen der überzeugendsten Bösewichte vorstellt, die Marvel je hatte, kann selbst die Magie von Tony Leung nicht verhindern, dass der Film dank eines uninspirierten Drehbuchs und eines stümperhaften dritten Akts in die Mittelmäßigkeit abrutscht. Der Film "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" mit Simu Liu in der Hauptrolle folgt Shang-Chi (Simu Liu), dem Sohn des alten Kriegsherrn Wenwu (Tony Leung), der das Geheimnis des ewigen Lebens besitzt und mit Hilfe der mystischen zehn Ringe eine geheime Söldnerarmee befehligt. Shang-Chi oder Sean, für seine beste Freundin Katy (Awkafina), versucht, ein normales, verstecktes Leben in San Francisco zu führen, als er eine mysteriöse Postkarte erhält, die ihn in das brutale, kampfgetriebene Leben zurückholt, vor dem er vor Jahren geflohen ist. Zusammen mit seiner entfremdeten Schwester Xialing (Meng'er Zhang) und Katy kämpft Shang-Chi gegen die Zeit, um seinen Vater daran zu hindern, ein den Planeten zerstörendes Übel zu entfesseln. Was die Herkunftsgeschichten von Helden angeht, ist die von Shang-Chi vielleicht die interessanteste und komplizierteste im MCU. Sie umfasst ein verstecktes Dorf voller magischer Kreaturen und mystischer Kräfte, einen jahrhundertealten Kriegsherrn, der ihn von Geburt an zu einem skrupellosen Killer ausbildete, ein seelenfressendes Monster, das dazu bestimmt ist, das Dorf seiner Mutter zu verschlingen, und natürlich die zehn Ringe selbst, die dem Träger alle möglichen raffinierten Kräfte verleihen, darunter auch Unsterblichkeit. Der erste Akt von "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" ist dementsprechend temporeich und geschichtsträchtig und macht ausgiebig Gebrauch von Rückblenden und praktischen Erklärungen, um so viele Informationen wie möglich unterzubringen. Die erste Stunde von Shang-Chi funktioniert wirklich gut. Die ersten beiden großen Actionszenen sind raffinierte, gut choreografierte Kampfsequenzen, die das Setting und die Kampfstile auf interessante Weise nutzen und typische MCU-Kampfszenen mit klassischen Martial-Arts-Filmtechniken kombinieren. Die zumindest im Vergleich zu den MCU-Kampfszenen einzigartigen Szenen, verbunden mit einer stärkeren Betonung des Humors, auch wenn dieser nicht immer zündet, verleihen dem ersten Akt mehr als genug Lebendigkeit und Versprechen, um den Film für eine zufriedenstellende zweite Hälfte vorzubereiten, aber sobald die Handlung in Gang kommt, werden die Dinge etwas uninspiriert. "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" ist auffallend träge, wenn man bedenkt, wie schnell der erste Akt voranschreitet, aber sobald Shang-Chi, Xialing und Katy auf Wenwus Anwesen ankommen, fühlt sich alles von da an wie eine willkürliche Verfolgungsjagd an, die sowohl den Charakteren als auch der Erzählung selbst einen bedeutsamen Bärendienst erweist. Der zentrale Gedanke hinter Shang-Chis dramatischer Spannkraft ist, dass es sich um eine Familienangelegenheit handelt. Sowohl Shang-Chi als auch Xialing sorgen sich sehr um den Bösewicht Wenwu und umgekehrt, denn auch wenn er ein massenmordender, unsterblicher Kriegsherr mit einer geheimen Armee von Elitekriegern ist, ist er immer noch ihr Vater, und das Einzige, was er sich mehr als alles andere wünscht, ist die glückliche Wiedervereinigung ihrer Familie und er ist bereit, zu jedem Mittel zu greifen, um sicherzustellen, dass er, seine Kinder und seine tote Frau wieder zusammenkommen können. Es ist eine zutiefst persönliche Verbindung zwischen Held und Bösewicht, der wir bisher nur bei Thor begegnet sind, und selbst dort ist der Konflikt angesichts von Lokis Herkunft ein wenig vorprogrammiert, was für einen niederschmetternden letzten Akt sorgen sollte, unabhängig vom Ausgang. Alle drei Hauptfiguren haben etwas zu verlieren und sorgen sich sehr um einander und ihr Wohlergehen, auch wenn sie auf entgegengesetzten Seiten stehen. Shang-Chi durchkreuzt dieses Konzept jedoch komplett und macht Wenwu stattdessen zu einem cartoonhaften, zielstrebigen Bösewicht, obwohl Tony Leung viele Versuche unternimmt, der Rolle Tiefe zu verleihen, und jede Gelegenheit auslässt, die reichhaltigen Spannungslinien zwischen Vater, Sohn und Tochter zu erkunden. Noch schlimmer ist, dass "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" nach zwei Akten geerdeter, cleverer und gut inszenierter Action, die in der Rangliste der MCU-Kampfszenen ganz oben steht, seinen Ton komplett über Bord wirft und der dritte Akt ein CGI-lastiges Durcheinander eines Kampfes ist, der sich mehr für riesige fliegende Drachen und Awkwafina, die lernt, wie man ein Bogenschütze ist, interessiert als für Shang-Chi oder Xialing, die eine besonders interessante Konfrontation mit ihrem Vater haben. Der bereits erwähnte Tony Leung ist zwar zweifellos der Höhepunkt der Besetzung, doch Simu Liu ist ein blasser, biederer Hauptdarsteller, der versucht, ihm irgendeine Art von Persönlichkeit zu verleihen. Seine Vorgeschichte ist zwar unglaublich düster, doch scheint sie ihn als Erwachsenen nur oberflächlich zu beeinflussen, und Shang-Chi entscheidet sich stattdessen dafür, die meisten Charaktereigenschaften durch Humor zu vermitteln, wobei er meist auf Awkwafinas Katy anspielt. Leider fallen die meisten Witze jedoch flach, und Awkafinas eintönige Comedy-Masche wird schnell öde. Die beiden geben ein passables Duo ab, aber wenn die einzigen wirklichen Momente des Charismas des Hauptdarstellers darin bestehen, die zweite Geige nach dem komischen Relief zu spielen, ist es schwierig, sich in die Figur zu versetzen. "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" ist sicherlich nicht unverzeihlich schlecht oder gar schrecklich, aber er ist auch nicht gerade vertrauenserweckend, wenn es um die Fähigkeit des MCU geht, eine neue, fesselnde Generation von Helden zu schaffen, die in die Fußstapfen der ursprünglichen Rächer treten. Während ein interessanter Bösewicht und kreative Kampfszenen dazu beitragen, "Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings" von der typischen Genrekost abzuheben, lassen ein lausiger dritter Akt und verworrene Charaktereigenschaften für eine Ursprungsgeschichte von Superhelden viel zu wünschen übrig.

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                                    Chainsaw Charlie 05.03.2022, 10:23 Geändert 05.03.2022, 10:33

                                    Der Film "Harmonium" von Regisseur Kôji Fukada beginnt mit den Klängen des gleichnamigen Instruments, das verstimmt gespielt wird. Die junge Hotaru (Momonemeta Shinakawa), die für ein Konzert übt, erkennt ihre eigenen Unzulänglichkeiten als angehende Musikerin und schaltet ein Metronom ein, um all den verpatzten Noten einen Anschein von Ordnung zu verleihen. Dies steht auch als Metapher für Hotarus Familienleben. Ihre Mutter Akie (Mariko Tsutsui), eine Protestantin, spricht vor dem Frühstück das Tischgebet und plaudert dann mit Hotaru. Ihr atheistischer Ehemann Toshio (Kanji Furutachi) vergräbt sich derweil am Tisch in seine Zeitung und ignoriert die beiden. Er und seine Frau lassen ihre lieblose Ehe einfach weiterlaufen und hoffen, dass die Routine allein ausreicht, um die unterschwelligen und quälenden Dissonanzen in diesem Haushalt zu überdecken. In einer späteren Szene wird sich herausstellen, dass Toshio trotz seiner angeblichen Unbeteiligtheit in Wirklichkeit dem Geschwätz seiner Tochter über eine Spinnenart zugehört hat, deren Junge ihre willige Mutter verschlingen. Dieses trivial anmutende Gespräch wirft unerwartet theologische Fragen über das Wesen von Gut und Böse auf. Kommt die sich aufopfernde Mutter in den Himmel? Werden ihre Kinder in die Hölle kommen? Und war die Mutter nicht selbst einmal ein Kind? Gleichzeitig setzt sie einen Kontrapunkt zu einer Erzählung, in der die Sünden der Eltern auf die Kinder gemünzt werden. Die häusliche Disharmonie der Familie wird durch die Ankunft von Yasaka (Tadanobu Asano) aufgedeckt, einem alten Freund von Toshio, der gerade aus einem 11-jährigen Gefängnisaufenthalt wegen Mordes entlassen wurde. Mit seinem zugeknöpften Hemd, seiner Ordentlichkeit und seiner steifen Art fällt Yasaka sofort als Außenseiter auf, aber er ist auch freundlich, aufmerksam und hilfsbereit, mit anderen Worten, alles, was Toshio nicht ist. Auf ihre unterschiedliche Sichtweise hin lieben Akie und Hotaru ihn beide. Toshio hingegen fühlt, dass er die Rückkehr eines schlechten Gewissens und eines lange vergrabenen Geheimnisses bedeutet. "Harmonium", der an die Familienfilme von Hirokazu Koreeda oder auch Yasujiro Ozu erinnert, mit seiner Kamera als distanziertem Begleiter subtiler und unauffälliger Interaktionen, ist sicherlich ein Familiendrama, aber auch etwas viel Dunkleres, das die in Familienstrukturen verborgene Gewalt und Rachsucht mit einer strengen Spannung einfängt. "Harmonium" ist in zwei diskrete Hälften unterteilt, die durch acht Jahre voneinander getrennt sind und in denen Wiederholungen und Entsprechungen eine Art strukturellen Rhythmus bilden. Der Fokus liegt immer wieder auf den Müttern und einem besonders leuchtenden Scharlachrot der Kleidung, der Blumen und des Blutes. Die metronomischen Impulse früherer Szenen werden durch das ängstliche, zwanghafte Zählen von Akie in späteren Szenen wieder aufgegriffen. Durch die Anwesenheit von zwei Männern verschiedener Generationen, die in Toshios Werkstatt aushelfen, wird der Rhythmus der Familie durcheinander gebracht. Und das fotografische Bild von vier Figuren, die an einem Fluss liegen, wird in der zweiten Hälfte des Films wiederkehren und radikal überarbeitet werden. Wenn man genau hinschaut, so Akie zu Yasake, findet man in dem schönen roten Kleid, das sie gerade für ihre kleine Tochter genäht hat, viele Unvollkommenheiten. Auch "Harmonium" lädt das Publikum dazu ein, die Unstimmigkeiten zu betrachten, die tief im Gewebe der oberflächlichen Symmetrien einer Familie stecken.

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                                      über Poetry

                                      Leere Seiten oder leere Bildschirme haben etwas an sich, das verlangt, dass wir sie mit ein wenig von uns selbst füllen. Aus diesem Grund hat sich die Schreibblockade in Filmen wie "Barton Fink" und "Swimming Pool", die sich mit dem kreativen Prozess selbst befassen und ihre eigene phantasievolle Konstruktion von etwas aus dem Nichts dramatisieren, als so gängiges erzählerisches Mittel erwiesen. Im Film "Poetry" des südkoreanischen Regisseurs Lee Chang-dong steht die rüstige sechzigjährige Mija (Yun Jeong-hie) vor ihrem eigenen leeren Blatt. Sie hat gerade einen Poesiekurs belegt, um ihr in der Schulzeit erkanntes und dann aufgegebenes Talent wiederzubeleben, und soll bis zum Ende des Monats ein Gedicht schreiben. Die Inspiration kommt nicht von ungefähr. Ihre Bemühungen, sich selbst auszudrücken, werden durch die ersten Symptome einer Demenzerkrankung behindert, während ihre Bestrebungen, das Schöne im Alltag zu finden, durch die Entdeckung, dass ihr unbeholfener jugendlicher Enkel Wook (Lee Da-wit) eine widerwärtige und skrupellose Rolle bei dem kürzlichen Selbstmord eines 16-jährigen Mädchens spielte, ernsthaft in Frage gestellt werden. Doch aus all ihren Gefühlen der Trauer und des Leids, der Schuld und des Bedauerns wird Mija ihr erstes und womöglich letztes Gedicht schreiben. Ein Lied von Unschuld und Erfahrung, das, wie einer ihrer Dichterkollegen es ausdrückt, einen Wald der Leere schaffen wird. In Mijas erster Poesiestunde hält der Lehrer einen einfachen Apfel hoch und sagt zu seinen Schülern, wenn man etwas wirklich sieht, kann man es natürlich auch fühlen. Ein solcher Naturalismus bestimmt auch die Poetik von Lee Chang-dongs Film, in dem auf übersteigerte Ästhetik, Spezialeffekte und sogar auf eine musikalische Untermalung verzichtet wird, um sich auf das Gewöhnliche zu konzentrieren und es uns zu überlassen, unsere eigenen Gefühle in all der leeren Alltäglichkeit von Mijas Leben zu finden. Die bekannteste koreanische Schauspielerin, Yun Jeong-hie, kehrte aus ihrem 16-jährigen Ruhestand zurück, um Mija zu spielen, und ihre Darstellung ist der Mittelpunkt des kompletten Films. Doch paradoxerweise bezieht die Schlusssequenz von "Poetry" ihre emotionale Wirkung aus ihrer Abwesenheit. Wo ist sie hin? fragt der Lehrer, wenn alles, was von Mija übrig bleibt, Poesie ist, und wie bei jeder anderen Lyrik auch, wird diese am besten von denen verstanden, die bereit sind, zwischen den Zeilen zu lesen.

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                                        Chainsaw Charlie 03.03.2022, 16:03 Geändert 03.03.2022, 16:23

                                        Wer hier noch nie über die wörtliche Bedeutung des Begriffs "Kniefall" nachgedacht hat, könnte etwas aus dem inszenierten Dokumentarfilm "Paths of the Soul" des chinesischen Regisseurs Zhang Yang lernen, der ein gutes Dutzend tibetischer Dorfbewohner auf einer 1.200 Meilen langen Pilgerreise durch den Himalaya nach Lhasa begleitet, die der buddhistischen Tradition folgt. Dies wäre schon eine beschwerliche Wanderung, aber die Herausforderung wird noch dadurch erhöht, dass sich die Pilger alle paar Schritte auf den Bauch fallen lassen und die Stirn auf die Erde legen müssen. Um ihren Körper zu schützen, tragen sie Lederschürzen und haben Holzbretter an ihre Hände geschnallt, die ein Geräusch wie das Klicken von Kastagnetten erzeugen. In Ermangelung einer konventionellen Filmmusik wird dieses Geräusch zum zentralen Bestandteil des Soundtracks des gesamten Films. "Paths of the Soul" ist nicht ganz Fiktion, nicht ganz Dokumentarfilm. Aus Berichten geht hervor, dass die Reise, die wir sehen, real ist, und die Laiendarsteller Versionen ihrer selbst spielen. Aber es hat auch den Anschein, dass Yang Zhang die Ereignisse in der Manier eines Reality-TV-Produzenten manipuliert hat, indem er beispielsweise dafür sorgte, dass eine schwangere Frau Teil der Gruppe war, um eine Sequenz rund um die Geburt ihres Kindes aufzubauen. Allerdings entspringt die begrenzte Dramatik hier eher der Natur, etwa einer drohenden Lawine oder Überschwemmung, als den Konflikten zwischen den Charakteren, die sowohl in der erklärten Fiktion als auch im Reality-TV üblich sind. Während die Pilger nach Alter und Geschlecht variieren, erfahren wir wenig über sie als Individuen. Der Großteil der Handlung ist in Totalen gefilmt, als ob es wichtiger wäre, die Berge im Blick zu behalten, als uns die Gesichter der Figuren sehen zu lassen. Auch spirituell bleibt "Paths of the Soul" auf Distanz und geht schnell an der Frage vorbei, warum sich jemand überhaupt auf diese anstrengende und riskante Reise begibt. Yang Zhang, der selbst nicht religiös ist, scheint das Beste aus beiden Welten haben zu wollen, indem er ein vages Gefühl von Erhabenheit erzeugt und gleichzeitig buddhistische Rituale als charmant und wunderlich darstellt. Es überrascht nicht, dass in einem chinesischen Film über Tibet politische Themen völlig außen vor bleiben, obwohl es bemerkenswert ist, dass die Charaktere keine Probleme zu haben scheinen, ihre traditionelle Lebensweise beizubehalten. Kurz gesagt, es ist ein beruhigender Film mit wenig Substanz. Dass man zwei Stunden lang das Interesse aufrechterhalten kann, hängt von der Begeisterung für Berglandschaften und für das Beobachten von Menschen ab, die sich anbiedern. Für mich hat der Reiz schnell nachgelassen. Der unpolitische buddhistische Dokumentarfilm franst schon nach kurzer Zeit aus.

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                                          über Ryna

                                          "Ryna" von Regisseurin Ruxandra Zenide spielt in einer kleinen rumänischen Stadt im Donaudelta, wo ein Fluss auf das Meer trifft, einem Dorf, das stellvertretend für jede arme und etwas rückständige Gemeinde irgendwo stehen könnte, wo ein 16-jähriges Mädchen aufgrund seines Reifegrades zu einer lebenswichtigen Identitätsfrage gelangt ist, die gelöst werden muss. Auch sie gilt als Stellvertreterin. Einerseits ist Ryna (Doroteea Petre) das kleine Mädchen ihres Vaters, dessen Fähigkeiten im Bereich der Automechanik inzwischen die seinen übertreffen. Sie ist sich ihrer Rolle als der Sohn, den er sich immer gewünscht hat, voll bewusst und erfüllt sie in jeder Hinsicht, bis hin zum Tragen von Arbeitsanzügen und anderen weiten Kleidungsstücken, um die Merkmale ihres Geschlechts zu verbergen, die nun im Konflikt mit dem burschikosen Wesen stehen, das dem Vater so gut gefällt. Selbst als er darauf besteht, ihr wunderschönes, lockiges schwarzes Haar auf eine Knabenlänge abzuschneiden, unterwirft sie sich. Ohne die Locken hat sie einen Teil ihrer weiblichen Anziehungskraft eingebüßt, aber die natürliche Schönheit und das mutige Temperament ihrer Persönlichkeit bleiben unangetastet. Man kann seine Blicke einfach nicht von diesem Mädchen abwenden. Biri, ihr Vater (Valentin Popescu), ist ein rauer Kleinbauer, der zum Alkohol, zur Habgier und zum schlechten Urteilsvermögen neigt. Als Mann und Ernährer seiner Familie besteht seine einzige Tugend offenbar in der Sensibilität und angeblichen Liebe, die er seiner Tochter entgegenbringt. Seine Frau und Rynas Mutter (Aura Calarasu) und Großvater George (Matthieu Roz'), dessen Liebe und Schutz verlässlich und umfassend sind, vervollständigen den Familienkreis. Aber je mehr sie heranwächst, desto deutlicher wird, dass sie der Stadtfang ist, auf den die Männer ein Auge geworfen haben. Der Briefträger (Theodor Delciu), für den sie eine Vorliebe zeigt, gesteht ihr seine Liebe, Marcu (Constantin Ghenescu), ein französischer Arzt, kommt mit einem Motorproblem an den Straßenrand und wird bald zu einem ihrer Höflinge, und der schleimige Bürgermeister lässt sein lüsternes Interesse und seine Schikanen erkennen. Was Biris geschäftliche Sorgen nur noch vergrößert, denn es wird deutlich, dass immer weniger Menschen Reparaturen benötigen, was zu einer Reihe von Maßnahmen führt, die die Situation der Familie nachhaltig beeinflussen dürften. Zunächst nimmt er Ryna mit auf einen seiner nächtlichen Streifzüge, bei denen Papas kleiner Schmieraffe unter Autos krabbelt, um sie auf irgendeine Weise mechanisch zu verunstalten. Die Idee spricht Rynas Gefühl dafür an, wer sie jetzt ist, und sie behauptet ihr Frausein gegenüber einem Vater, der es nicht wahrhaben will und einen weiteren drohenden Verlust nicht verkraften kann. Aber sie ist in größerer Gefahr, als sie ahnt, denn sie muss im Lastwagen warten, wenn ihr Vater die Dorfkneipe besucht, wo er sich besäuft. Sie wartet, ausgeliefert jeglicher Gefahr, bis sie feststellt, dass er nach Hause gefahren werden kann. All dies ist eine Demonstration der kreativen Magie, die möglich ist, wenn es eine perfekte Synergie zwischen Geschichte und Star gibt. Drehbuchautorin und Regisseurin Ruxandra Zenide hätte die Familientragödie von ihr und Co-Autor Marek Epstein nicht besser umsetzen können als durch die Augen, das Temperament und die Entwicklung dieser jugendlichen Figur, die von Doroteea Petre so ausdrucksstark zum Leben erweckt wird. Wenn "Ryna" so viele Zuschauer findet, wie er es verdient, sollte er sich als ein Talent auszeichnen, das dazu bestimmt ist, einen tiefen Eindruck im internationalen Kino zu hinterlassen. Wie gesagt, ich konnte meine Augen nicht von diesem Mädchen lassen. Und alle Faktoren, die ihr Schicksal beeinflussten, konnten mich nicht mehr aus der Fassung bringen.

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                                            In "Nymph" des thailändischen Regisseurs Pen-Ek Ratanaruang gleitet die Kamera flüssig durch die Baumkronen eines Dschungels hinab zum Boden und zeichnet beiläufig den Weg einer verzweifelten Frau auf der Flucht und ihrer beiden männlichen Verfolger auf. Dann kehrt sie die Richtung um und umkreist einen Baum bis zum sandigen Ufer eines Baches, wo sie wieder in die Baumkronen aufsteigt. Sie bewegt sich durch die Luft über das Wasser zu den gegenüberliegenden Baumkronen, bevor sie sich wieder einer Luftaufnahme des Baches zuwendet, in der die Leichen der beiden mutmaßlichen Vergewaltiger schwimmen, bevor die Kamera wieder abtaucht und auf einige umgestürzte Bäume am Flussufer zusteuert. Selten sind Eröffnungssequenzen so bravourös wie diese. In dieser einzigen, ungeschnittenen Einstellung, die mehrere Minuten dauert, scheint es fast unmöglich zu sein, handgeführte Aufnahmen, fahrende Drohnen und Kranarbeiten zu kombinieren und gleichzeitig ein Ereignis einzufangen, dessen Einzelheiten im Dunkeln bleiben. Mehr noch, trotz der unheimlich kantigen Richtungswechsel der Kamera und der unnatürlichen Sprünge vom Waldboden zur Krone des Laubes und wieder zurück, macht das gelegentliche Geräusch weiblichen Atmens, das sich in das Ächzen und Vogelgezwitscher des Dschungels einmischt, deutlich, dass das, was wir beobachten, in all seiner rätselhaften Paradoxie den Standpunkt einer unsichtbaren und scheinbar übernatürlichen Gestalt inmitten der Bäume darstellt. Dieser Auftakt könnte den Eindruck erwecken, dass "Nymph" ein Horrorfilm ist. Dieser Gedanke wird durch die anschließende Einführung des männlichen Protagonisten Nop (Jayanama Nopachai) verstärkt, der mit einer altmodischen Kamera Fotos von einem Mann auf dem Lande macht, der von Geistern spricht. Der Umstand, dass Nop dann gezeigt wird, wie er seinen eigenen Film in einer privaten Dunkelkammer entwickelt, scheint der entscheidende Hinweis auf das Genre zu sein, denn es handelt sich bis auf das fotografische Thema und das thailändische Setting um ein Remake von "Shutter" der Regisseure Banjong Pisanthanakun und Parkpoom Wongpoom aus dem Jahr 2004. Ist es aber nicht. Denn während das, was in diesem siebten Spielfilm von Pen-Ek Ratanaruang folgt, sicherlich creepy und mysteriös ist, liegt der wahre Fokus hier auf der Fäulnis, die in einer städtischen Ehe Wurzeln geschlagen hat. Die Beziehung zwischen Nop und seiner Frau May (Wanida Termtanaporn) hat schon lange den Geist aufgegeben, und sie hat schon seit einiger Zeit eine Affäre mit ihrem Chef Korn (Chamanum Wanwinwatsara). Doch als das Paar einen Campingausflug in den Dschungel unternimmt und Nop kurz darauf verschwindet, nachdem er einen uralten Baum fotografiert und umarmt hat, findet sich May in ihren anhaltenden Gefühlen für ihren Mann nicht weniger verloren wieder, als sie es im Dschungel war, bevor sie sich schließlich der Urgewalt stellte, die ihn von ihr weggelockt hat. In "Nymph" werden wir durch eine berauschende, atavistische Landschaft geführt, die dem Verstand und dem Herzen ebenso gehört wie den konventionellen Räumen der Topografie, obwohl hier die manische Trauer und Wut durch die ruhigeren, aber ebenso zerstörerischen Kräfte der Zeit, der Natur und des Verfalls ersetzt wurden, die Fabrice Du Welz' ähnlichen Film "Vinyan" antrieben. "Nymph" besticht durch wunderschöne Aufnahmen und ein atemberaubendes Sounddesign, bei dem sich das Waldambiente nahtlos mit Koichi Shimizus elektro-perkussiver Filmmusik vermischt. Der Film ist letztlich wie die lange Eröffnungssequenz bedächtig, schematisch und etwas irreführend, aber gerade deshalb kunstvoll, weil er nur das zeigt, was er wirklich enthält, und es dem Betrachter überlässt, die Bedeutung dessen, was er gesehen hat, und das, was in den schattenhaften Ellipsen, die im Off geblieben sind, passiert sein könnte, zu ergründen.

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                                              Regisseur Nathan Grossmans "I am Greta" über Greta Thunberg und ihre leidenschaftliche Aufforderung an die Staats- und Regierungschefs der Welt, sich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen, ist weniger ein Dokumentarfilm über eine Aktivistin als vielmehr ein Film über eine Akteurin. Wie der Titel schon andeutet, konzentriert sich der Film weniger auf die globale Erwärmungskrise oder die von Jugendlichen angeführte Umweltbewegung als vielmehr auf die Person, die sich in den letzten zwei Jahren an die Spitze dieser Bewegung katapultiert hat und dabei sowohl den Zorn als auch die gönnerhafte Bewunderung von Staatsoberhäuptern auf sich gezogen hat. Dieser individuelle Ansatz hat seinen eigenen Wert. Es ist sicherlich sinnvoll, eine junge Frau zu vermenschlichen, deren bekannte Asperger-Diagnose zu grausamen Unterstellungen von rechtsextremen Schurken wie Lou Dobbs und Rush Limbaugh über ihre geistige Gesundheit und ihre angebliche Manipulierbarkeit durch ihre Eltern, durch die Sozialisten, durch George Soros und durch jeden vagen antisemitischen Unruhestifter geführt hat, den die Rechte für den Moment ausgeheckt hat. Grossmans Kamera begleitet Greta Thunberg von April 2019 bis zu ihrer Reise mit dem Segelboot in die Vereinigten Staaten zu einer Konferenz der Vereinten Nationen im September 2019 und gewährt einen umfassenden Einblick in ihr Leben, das in mancher Hinsicht immer noch dem eines typischen Teenagers gleicht. Wir sehen, wie ihr Vater Svante sein Leben an ihren Zeitplan und ihre Ambitionen anpasst, wie er früh aufsteht, um sie zu Gipfeln zu fahren, als wäre sie in einer Sportmannschaft, und wie ihre Mutter Malena ihr Mittagessen einpackt und vor Stolz darüber weint, dass ihre Tochter mit 16 Jahren bereits eine bedeutende Frau geworden ist. Als ständiger Begleiter von Greta Thunberg steht ihr Vater im Film mehr im Mittelpunkt als ihre Mutter. Das bewegendste Bild, das Grossman in einem so intimen Moment einfängt, ist das von Svante, der Lebensrettungskurse besucht, für den Fall, dass ein Anschlag auf Thunbergs Leben verübt wird. Im Übrigen entpuppt sich "I am Greta" fast als ein Film über die tiefe Selbstlosigkeit guter Väter. Svante erzählt, wie Greta Thunberg, die sich oft überfordert fühlt und zeitweise abschalten muss, fast vier Jahre lang an selektivem Mutismus litt und nur mit ihrer Schwester und ihren Eltern sprach. Der Sinn, den sie im Klimaaktivismus gefunden hat, scheint sie für den Moment vom Schlimmsten ihrer Widerspenstigkeit geheilt zu haben. Das zeigt sich nicht nur daran, dass sie in der Lage ist, auf einigen der größten Bühnen der Welt selbstbewusst zu sprechen, sondern auch an den neuen Verbindungen, die sie mit anderen jungen Klimaaktivisten in ganz Europa knüpfen kann. "I am Greta" zeigt, dass ihre unwahrscheinliche Verwandlung in die faktische Anführerin einer Millionenbewegung die heroische, poetische Ironie in sich trägt, dass der Zustand, der ihr das gesellschaftliche Leben zum Kampf machen kann, auch einen Teil ihrer Persönlichkeit bildet, der ihren kompromisslosen Antrieb und damit ihren Aufstieg ermöglicht. Weniger inspirierend sind die Einblicke, die Grossman uns in die Diplomatie hinter Greta Thunbergs mitreißenden Reden gewährt. Wir erhalten zum Beispiel ausführliche Aufnahmen von Thunbergs vielbeachtetem Treffen mit Emmanuel Macron. Die plumpen, herablassenden Fragen des französischen Präsidenten zeigen, wie ernst er den schwedischen Teenager nimmt, aber auch Thunberg kommt in solchen Aufnahmen nicht besonders gut weg, da sie zumindest in den Aufnahmen, die Grossman zeigt, in großen Allgemeinplätzen spricht. In jedem Fall wird deutlicher als je zuvor, zumindest für den Betrachter, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs in Thunberg nicht mehr als einen bloßen Fototermin sehen, eine Requisite, die den Anschein erwecken soll, sie würden etwas unternehmen. Das hat auch Greta Thunberg erkannt: "Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, warum ich überhaupt eingeladen bin", gesteht sie verzweifelt, nachdem Jean-Claude Juncker, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, ihre Rede vor dem EU-Parlament im Wesentlichen unbeachtet lässt. Mit seinen aufmunternden Bildern von Greta Thunberg, die sowohl vor einer Menge von Demonstranten als auch vor führenden Politikern der Welt steht, hat man das Gefühl, dass "I Am Greta" inspirierend sein will, aber wenn es darum geht, Hoffnung auf Maßnahmen gegen den Klimawandel zu wecken, provoziert es hauptsächlich Frustration. Genau das Gefühl, das Greta Thunberg vor der UN-Generalversammlung zu Tränen treibt. Was der Film, vielleicht unbeabsichtigt, offenbart, ist, dass die Machthaber, so mutig und selbstlos Thunberg auch ist, ihr nicht zuhören. Selbst diejenigen, die scheinbar gute Absichten haben, wie Arnold Schwarzenegger, antworten auf ihr Argument für einen ganzheitlichen Ansatz zum Klimawandel mit leerem Gewäsch wie: "Nein, absolut, die Punkte zu verbinden ist ein sehr guter Punkt". Solche Momente sind zweifellos aufschlussreich, aber an solchen Stellen fühlt sich "I Am Greta" auch weniger substanziell an, als es hätte sein können. Der Film konzentriert sich zu sehr darauf, eine Ode an sein Thema zu verfassen, etwas, das bereits durch eine Million Denkanstöße und Tweets erreicht wurde. Die Verherrlichung einer Person lässt es ein wenig zu sehr so aussehen, als sei sie gekommen, um uns alle zu retten, als sei ihr Einsatz genug. Auch wenn es um eine Person geht, die mit Mut über die Dringlichkeit der globalen Krise spricht, besitzt "I Am Greta" selbst nicht genug von dieser Dringlichkeit.

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                                                Es gibt so viel zu bewundern an Jean-Xavier de Lestrades langer Dokumentarserie "The Staircase", dass man leicht die Frage aus den Augen verliert, die im Mittelpunkt der Serie steht. Diese Frage steht am Anfang, und sie taucht sporadisch wieder auf, aber die meiste Zeit der etwa achtstündigen Laufzeit der Serie wird der Zuschauer von der zermürbenden Logik des Prozesses abgelenkt sein. Es handelt sich um eine Vorführung über einen Mord, einen echten Mord, ein echtes Opfer, aber die Frage was geschehen ist scheint in diesem Krimi in einer Flut von juristischen Wertungen unterzugehen. Zudem ist die Serie kein neutraler Teilnehmer. Anfangs sieht es so aus, da sowohl der Angeklagte als auch die Ermittler zu Wort kommen, doch im weiteren Verlauf wird die Dokumentation zu einem Bericht über die Verteidigung und die Bemühungen, den Beschuldigten zu entlasten. Es gibt viele Fakten, auch wenn das Fehlen von Zeugen in diesem Fall einige davon anfechtbar macht. Unstrittig ist der Tod von Kathleen Peterson, die von ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Michael Peterson, am Fuße einer Treppe in ihrem Haus in Durham, North Carolina, gefunden wurde. Es ist Michaels Stimme, die man beim Notruf hört, und seine Version der Ereignisse zu diesem Zeitpunkt ist, dass Kathleen die Treppe hinuntergefallen ist und im Sterben liegt, wenn auch noch nicht tot ist. Michael, ein Geschichtenerzähler, fügt später noch einige Details hinzu. Es war ein schöner Abend, sie hatten sich eine DVD angesehen und waren nach draußen an den Pool gegangen. Nach einer Weile ging Kathleen ins Bett, und das, sagt Michael, war das letzte Mal, dass er seine Frau lebend gesehen hat. Dann korrigiert er sich. Nein, sie war noch am Leben, als er sie gefunden hat. Hat er es getan? An dieser Stelle in der Geschichte könnte man das annehmen. Die Polizei ist sich sicher. Art Holland, der leitende Ermittler, stellt fest, dass sie sehr viel Blut auf dem Boden und an den Wänden verloren hat. Das passt einfach nicht zu ihrem Sturz die Treppe hinunter. Jim Hardin, der Bezirksstaatsanwalt, glaubt, dass sie zu Tode geprügelt wurde. Die Fotos der Toten sind wirklich grausam und zeigen zahlreiche Platzwunden am Kopf. Und so beginnt das Gerichtsverfahren. Langsam, aber stetig scheint die Frage, wer es getan hat, zu verschwinden und durch eine andere, subtil andere Frage ersetzt zu werden, die durch die Bemühungen seines Anwalts David Rudolf neu formuliert wurde. Stattdessen geht es nun darum, zweifelsfrei zu beweisen, dass Peterson seine Frau nicht ermordet hat. So funktioniert natürlich das Rechtssystem, und es ist nicht unbedingt dasselbe wie die Wahrheitsfindung. An einer Stelle spricht Rudolf über das schottische Urteil "nicht bewiesen", obwohl das in North Carolina keine Option ist. "The Staircase" ist eine merkwürdige Form des Krimis. Er hat nichts von der Kunstfertigkeit fiktiver Mordgeschichten, obwohl es einige schockierende narrative Wendungen gibt. Man beachte das Fehlen eines Feuerhakens. Juristisch gesehen ist "The Staircase" interessant. Im Kern geht es um eine außergewöhnliche Studie über den Charakter eines Mannes, Michael Peterson, einen Geschichtenerzähler, der in seinem eigenen Drama gefangen ist und mitspielt. Ist er schuldig? In einigen Dingen sicherlich. Wird ihm Gerechtigkeit widerfahren? Technisch gesehen, vielleicht, am Ende. Auf manche Fragen gibt es keine guten Antworten, aber wenn man sich mit ihnen beschäftigt, kann der neutrale Beobachter zu einem Experten für die Analyse von Blutspuren werden. Wird hier Gerechtigkeit geübt, oder sehen wir, wie man mit einem Mord davonkommt?

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                                                  Chainsaw Charlie 26.02.2022, 13:46 Geändert 26.02.2022, 13:52

                                                  "Invisible Waves" ist die zweite Zusammenarbeit des Regisseurs Pen-Ek Ratanaruang mit der Autorin Prabda Yoon, dem Kameramann Chris Doyle und dem Schauspieler Tadanobu Asano. Es ist die scheinbar einfache Geschichte eines Japaners im Exil und auf der Flucht. Die Erzählung von "Invisible Waves" ist "scheinbar einfach", denn wie die zarten Bilder, aus denen sie sich zusammensetzt, ist die Geschichte eine Reihe von Andeutungen und Ellipsen, die der Betrachter selbst ergänzen und ausmalen muss. Alles sind entsättigte Weitwinkelaufnahmen oder schräge Nahaufnahmen von allem, was kein Gesicht hat. Jede Beschreibung der Handlung ist notwendigerweise vorläufig und provisorisch. Auf dem Papier mag "Invisible Waves" wie ein weiterer asiatischer Action-Polizei- oder Rachethriller klingen, aber in Wirklichkeit ist er viel abstrakter und schwer fassbarer, denn der Film zeigt nur ein indirektes Interesse an der Darstellung von Gewalt, und wenn er auch ein launischer Film Noir ist, ist er auch teils absurde Komödie, teils erlösendes Psychodrama, teils Geistergeschichte, teils melancholisches Porträt der Entfremdung mit drei verschiedenen Inseln als Schauplätzen und einem Mann aus einem vierten Inselstaat als Protagonisten und teils metaphysischer Reisebericht über die stygische Überfahrt vom Leben zum Tod. Es bleibt die Frage offen, ob Tadanobu Asanos Figur zu Beginn der Ereignisse tot sein könnte. Eine Unklarheit, die an den geplagten Protagonisten von John Boormans ähnlich rachsüchtigem "Point Blank" erinnert. Die Idee, dass Kyoji (Tadanobu Asano) in einer Vorhölle verloren sein könnte, in der sich kriminelle und höllische Unterwelten treffen, wird durch die Besetzung von Eric Tsang als Mönch und durch Anspielungen auf "Gozu" unterstützt. "Gozu" wurde von Ratanaruangs altem Freund Takashi Miike inszeniert und handelt wie "Invisible Waves" von einem kleinen Gangster, der zu einem Ausflug in eine alptraumhafte Zwischenwelt verdonnert wird, und vom ausgiebigen Trinken von Milch. Diese Auffassung von "Invisible Waves" als einem Film, der in einem fließenden Raum zwischen Leben und Tod spielt, wird durch seinen prominentesten Bezugspunkt, Stanley Kubricks erschreckendem Übernaturenthriller "The Shining", noch unterstrichen. Der wechselnde Schauplatz von Kyojis Gespräch mit dem jenseitigen Barkeeper, das in einer ansonsten leeren Bar beginnt und im angeschlossenen Badezimmer endet, ist eindeutig an Jack Nicholsons unheimliches Gespräch mit dem zum Barmann umfunktionierten Hausmeister Grady angelehnt. Die verwinkelten Straßen von Macao, die verschiedenen Decks des Kreuzfahrtschiffs und die sich schlängelnden Korridore des thailändischen Hotels verschmelzen zu einem einzigen höllischen Labyrinth, ähnlich wie die Hotelkorridore und das Gartenlabyrinth in Kubricks Film, und das Graffitogramm "Redrum" prangt auffällig auf einem Bild in Kyojis Hotelzimmer und wird in einem Spiegel wiederholt seitenverkehrt gezeigt. Doch "Invisible Waves" ist nur der leiseste Hauch eines Horrorfilms, ohne die für dieses Genre typischen reißerischen Elemente oder Spezialeffekte, auch wenn er bei aller Zurückhaltung nicht weniger eindringlich ist. Im Laufe der Jahre hat sich der Schauspieler Tadanobu Asano als einer der besten Vertreter der Ruhe im Kino etabliert, und die Stille, die er hier ausstrahlt, unterstützt durch den vibrierenden Soundtrack von Hualampong Riddim, durchdringt den Film mit einer gedämpften Stille, die durch die düstere Farbgebung von Chris Doyle ergänzt wird. Dieses melancholische Unterniveau verleiht "Invisible Waves" seine Poesie, die auf ungeahnte Tiefen unter der kräuselnden Oberfläche hindeutet. Es sind Gewässer, die es wert sind, mehr als einmal durchquert zu werden.

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                                                    Der erste Spielfilm von Regisseur Gilles Mimouni, "Lügen der Liebe", ist ein rätselhafter, von Alfred Hitchcock inspirierter romantischer Thriller und eine technische Meisterleistung. Die Handlung ist spannend, durchweg aufregend, gut geschauspielert und raffiniert umgesetzt. Max (Vincent Cassel) ist ein junger, aufstrebender Firmenchef, der gerade aus New York in seine Heimatstadt Paris zurückgekehrt ist. In New York hat er sich frisch in Muriel (Sandrine Kiberlain), die Schwester seines Chefs, verliebt und will ihr einen Verlobungsring schenken. In einem Café trinkt Max mit seinem Chef und seinem japanischen Kunden und will gerade zu einer Geschäftsreise nach Tokio fliegen, als er die Stimme von Lisa (Monica Bellucci) aus einer Telefonzelle hört. Sie ist die schöne Schauspielerin, die ihn vor ein paar Jahren sitzen gelassen hat und verschwunden ist. Aber Lisa ist zur Tür hinaus, bevor er sie erreichen kann, und so beschließt Max impulsiv, nach seiner verlorenen Liebe zu suchen, anstatt die Geschäftsreise anzutreten, und bittet seinen besten Freund Lucien (Jean-Philippe Ecoffey), den Besitzer eines Damenschuhgeschäfts, um Hilfe. Man merkt, dass dies ein französischer Film ist, denn die Romantik kommt vor dem geschäftlichen Teil. In der Gegenwart erleben wir, wie Max in Hochstimmung gerät, als er glaubt, Lisa gefunden zu haben. Sie entpuppt sich jedoch als Alice (Romane Bohringer), die Doppelgängerin von Lisas Mitbewohnerin, die die Dinge noch verwirrender macht, indem sie Max nicht sagt, dass sie diejenige ist, in die sich Lucien verliebt hat, und andere Lügen. Die liebeskranke Alice nutzt nun ihre Verletzlichkeit, um den empfänglichen Max zu verführen, den sie noch nie getroffen, aber immer begehrt hat. In der Zwischenzeit hat Lisa eine heftige Affäre mit dem reichen, verheirateten Daniel (Olivier Granier), einem besessenen Mann, der von Lisa so angetan ist, dass er sogar einen Mord begehen würde, um sie nicht zu verlieren. Nahtlos verwebt Gilles Mimouni Vergangenheit und Gegenwart zu einer ebenso komischen wie spannenden Geschichte mit vielen Wendungen und einem schockierenden Ende, das nicht ganz befriedigend ist, aber durchaus Sinn macht, weil es dem entspricht, was Gilles Mimouni bezweckt hat. In Amerika wurde er als "Sehnsüchtig" mit einem fehlbesetzten Josh Hartnett in der Hauptrolle schwach neu verfilmt.

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