Chainsaw Charlie - Kommentare

Alle Kommentare von Chainsaw Charlie

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    "Don't Look Up" von Regisseur Adam McKay gehört zu einer eigenen kleinen Kategorie apokalyptischer Komödien, also zu Filmen, die das Ende der Welt zum Anlass für schwarzen Humor nehmen. Adam McKay hat einen halb ernsten, halb spöttischen Weltuntergangsfilm gedreht, der die drohende Zerstörung des Planeten zum Thema macht und dabei so ziemlich alles satirisch auf die Schippe nimmt. Die amerikanische Politik, die Nachrichtenmedien, die Trends im Internet, der Einfluss der Konzerne auf die öffentliche Meinung und vor allem die moderne Tendenz, selbst die ernstesten Themen zu trivialisieren, werden unaufhörlich der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Astronomen Randall Mindy (Leonardo DiCaprio) und Kate Dibiasky (Jennifer Lawrence, die hierfür eine Oscarnominierung erhalten wird) aus Michigan machen eine erschreckende Entdeckung. Ein riesiger Komet ist auf dem direkten Weg zur Erde. Sie wenden sich an die zuständigen Behörden und werden ins Weiße Haus gebracht, um die US-Präsidentin (Meryl Streep) und ihre Mitarbeiter zu informieren. An diesem Punkt hört die Handlung auf, plausibel zu sein, denn die beiden und ihr Verbindungsmann Dr. Oglethorpe (Rob Morgan) stoßen auf ein absurdes Hindernis nach dem anderen. Ihre Bemühungen, die Bedrohung zu beseitigen oder auch nur die Öffentlichkeit zu informieren, werden durch Belanglosigkeiten, politische und wirtschaftliche Erwägungen und durch frivole Medien behindert, die nicht in der Lage sind, der Sache die gebührende Beachtung zu schenken. Die Reaktion der Öffentlichkeit lässt sich an den flüchtigen Hashtags und Memes ablesen, die die häufigste Reaktion auf jede beängstigende Warnung vor dem drohenden Weltuntergang sind. Die hochkarätige Besetzung ist bestechend. Jennifer Lawrence als wütende und empörte potenzielle Whistleblowerin und Leonardo DiCaprio als glaubwürdiger, wohlmeinender, aber realitätsfremder Wissenschaftler. Meryl Streep ist in einer kleineren Rolle als überhebliche und egozentrische Präsidentin Janie Orlean ein Highlight, während Jonah Hill als ihr unerträglicher Sohn und höchst unqualifizierter Stabschef grandios mißraten ist. "Don't Look Up" hat auch große Stars in kleinen Nebenrollen, darunter Timothée Chalamet als Skateboarder und Wissenschaftsfan, Cate Blanchett als glamouröse, aber oberflächliche Fernsehinterviewerin und die Sängerin Ariana Grande als eine verruchte Kopie von sich selbst. Die Stärken des Films sind definitiv die Schauspielerei und die Interaktion der Charaktere. Die humoristische Seite Von "Don't Look Up" ist breit gefächert und oftmals absurd, aber scharfsinnig genug, um die bittere Wahrheit nicht zu verraten. Mitunter ist der Hohn sogar ein wenig zu konkret, die Charaktere sind etwas zu nah an echten, bekannten Figuren aus der Politik, und die Metaphern sind zu augenscheinlich. Die Persiflage auf gängige Haltungen und Herangehensweisen an ernste Themen gelingt besser. Die parodistischen Verweise sind manchmal fast zu dick aufgetragen, was zu einer Bürde wird und einige der besten Inhalte von "Don't Look Up" unter sich begräbt, aber sie können auch bitterböse und alarmierend präzise sein. Die beste satirische Aussage von "Don't Look Up" ist jedoch eine träfe Komödie, die gleichzeitig so pointiert ist, dass sie eher einem Ritual als Sarkasmus gleicht, wie etwa der erste Versuch der beiden Wissenschaftler, ihre Erkenntnisse im Fernsehen zu verkünden, nur damit die fürchterlichen Fakten von dem Nonsens der Talkshows erstickt werden. Auch die Verpolitisierung des herannahenden Kometen scheint den jüngsten Schlagzeilen entlehnt zu sein. Am unterhaltsamsten und irgendwie wiedererkennbar ist die Einmischung des Wissenschaftsmagnaten Peter Isherwell (Mark Rylance), einer Art verrückten Mischung aus Bill Gates und einem Führer einer Sekte des Neuen Zeitalters, der versucht, den herannahenden Kometen in ein Geldgeschäft zu verwandeln, das auf Kosten der Welt geht. Der Regisseur gewährt uns ein ausgefallenes, märchenhaftes Ende, das die Situation aufhellt, aber nicht von der Skrupellosigkeit der Parodie ablenkt. Die sich abzeichnende drohende Katastrophe in "Don't Look Up" soll offenbar die Bedrohung durch den Klimawandel darstellen. Die beiden Astronomen stehen für frustrierte Wissenschaftler, die versuchen, ihre Botschaft zu vermitteln, aber die ernsthafte Kernaussage des Films geht ein wenig über dieses Thema hinaus. Er wirft auf amüsante, aber pointierte und nicht sachliche Weise einen Blick auf existenzielle Fragen, die nicht objektiv oder rational betrachtet werden, sondern als leichte Unterhaltung oder als Methode dienen, um mutmaßliche Gegner politisch zu schikanieren.

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      über Kate

      "Kate" von Regisseur Cedric Nicolas-Troyan hat einige positive Aspekte, die erwähnenswert sind. Mary Elizabeth Winstead hat sich sichtlich ins Zeug gelegt, um in den zahlreichen hoch choreografierten Actionsequenzen des Films ihr Maximum zu geben. Auch Cedric Nicolas-Troyan und das Stuntteam gaben sich große Mühe, die Kämpfe nicht nur brutal, sondern auch anspruchsvoll für die Beteiligten zu gestalten. Der Rest des Films ist allerdings ziemlich dürftig. Mit wenig Stil und ohne wirkliches Selbstbewusstsein versucht "Kate", dank der Dreharbeiten in Tokio eine kreative Atmosphäre zu schaffen. Dennoch läuft es darauf hinaus, dass eine weiße Frau in einem fernen Land Hunderte von facettenlosen asiatischen Figuren abknallt. Die Tatsache, dass sie eine tödliche Auftragskillerin verkörpert, macht die Sache nicht viel besser. Optisch unterscheidet sich "Kate" von anderen Actionfilmen, in denen ganze Horden von Schergen ausgemerzt werden. Aber selbst wenn man den Look beiseite lässt, der mit einer anderen Besetzung in der Hauptrolle oder einer geschickteren Nutzung der Drehorte als eine Art Erklärung leicht korrigiert werden könnte, ist der Film immer noch lausig. Die Handlung ist eine Mischung aus allem, was man schon einmal gesehen hat, bis hin zu dem altgedienten Mentor (Woody Harrelson), kombiniert mit einem unsinnigen Sammelsurium von Ideen, die kaum einen Sinn ergeben. Wenigstens sieht Tokio toll aus, aber das liegt nicht am Film, der die Stadt so wirken lässt. "Kate" lässt die Stadt für sich agieren, und alles andere ist nur dazu da, von Kugeln durchsiebt oder mit Blut beschmiert zu werden. Die Action ist passabel, aber "Kate" hinterlässt einen üblen Nachgeschmack.

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      • 7 .5
        Chainsaw Charlie 15.01.2022, 13:55 Geändert 15.01.2022, 15:52

        Im Film "Dr. Mabuse, der Spieler" von Regisseur Fritz Lang erscheint einer der ersten Erzbösewichte der Filmgeschichte. Eine manipulative Figur, die mit Hilfe von Hypnose Menschen beeinflusst, sie gegeneinander aufhetzt und ihr Geld stiehlt, indem er sie dazu bringt, Kartenspiele gegen ihn zu spielen, wobei er seine Gegner gezielt verlieren lässt, selbst wenn sie die besseren Trümpfe haben. Er manipuliert für mehr Geld und die Liebe angesehener Frauen, aber sicherlich auch zu seinem eigenen Vergnügen. Es ist nicht nötig zu begründen, warum Dr. Mabuse bösartig ist, er ist es einfach. Das ist es, was einen großartigen und denkwürdigen Filmschurken ausmacht. Die zweite Hälfte des Films ist auf jeden Fall besser als die erste. In der zweiten Hälfte nimmt "Dr. Mabuse, der Spieler" richtig Fahrt und Form auf. Doch die erste Hälfte ist nicht überflüssig. Sie zeigt perfekt, wie manipulativ Dr. Mabuse ist, und auch die Charaktere werden darin stark entwickelt. Allerdings ist der Film in der Tat sehr langatmig. Fast 4 Stunden sind natürlich eine lange Zeit. Das macht den Film keineswegs schlecht oder langweilig, aber es macht ihn manchmal ein bisschen anstrengend. Dem Film ist auch nicht leicht zu folgen, aber das ist oft der Fluch der ersten langen narrativen Filme aus den 10er- und 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. "Dr. Mabuse, der Spieler" konzentriert sich zu 60 % auf Kartenspiele. Einige Sequenzen, in denen es um die Spiele geht, sind aufregender und spannender gestaltet als in jedem beliebigen James Bond Film überhaupt. "Dr. Mabuse, der Spieler" verwendet mehrere gute frühe filmische Ticks und auch einige beeindruckende Erzähltechniken wie zum Beispiel interessante schnelle Rückblenden, um den Zuschauer an frühere Ereignisse zu erinnern. "Dr. Mabuse, der Spieler" zeigt auch einige Tendenzen des frühen Film Noir und andere Thriller und Mystery-Elemente. Nicht nur bei der Geschichte, den psychologischen Thrillerelementen oder der Machart des Films, sondern auch bei den Charakteren. Der Hauptbösewicht Dr. Mabuse ist dafür selbstverständlich das beste Beispiel. Er spielt einen der ersten großen Vollblutschurken des Kinos, der zudem von einer Reihe typisch gaunerhaft aussehender Handlanger begleitet wird. Alles Elemente, die später für das Genre prägend werden sollten. In dem Film geht es um Gut gegen Böse, in guter alter filmischer Form. Dank einiger Kniffe ist "Dr. Mabuse, der Spieler" mit einprägsamen und effektiven Sequenzen gespickt, vor allem was die manipulatorischen Sequenzen der Hypnose von Dr. Mabuse angeht. Dadurch ist der Film sehr einfallsreich und originell. Aus heutiger Sicht ist die schauspielerische Leistung in diesem Film natürlich völlig übertrieben. Fritz Lang hat die Schauspieler nie nur wegen ihrer darstellerischen Fähigkeiten gecastet, sondern vor allem wegen ihres starken Erscheinungsbildes. Das alles trägt dazu bei, dass das damalige Schauspiel in Langs Filmen immer noch faszinierend und kraftvoll anzusehen ist. Bernhard Goetzke als Staatsanwalt von Welk ist ein großartiger Hauptheld für den Film. Natürlich ist auch Rudolf Klein-Rogge als Dr. Mabuse überragend. "Dr. Mabuse, der Spieler" ist definitiv sehenswert, wenn man seine lange Laufzeit ertragen kann.

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        • 8 .5
          Chainsaw Charlie 14.01.2022, 03:58 Geändert 14.01.2022, 04:03

          "Beasts Clawing at Straws" ist das Regiedebüt des Regisseurs Kim Yong-Hoon und erzählt eine düster komische Reihe von fünf kriminellen Episoden. Alle fünf sind miteinander verknüpft, wobei die Form, in der sie miteinander verbunden sind, und die Abfolge, in der sie erzählt werden, einen Bestandteil der Attraktivität des Films ausmachen. Ein großer Teil von "Beasts Clawing at Straws" beruht auf Archetypen und Genrekonventionen. Nahezu jede der Figuren ist eine dünn skizzierte Verkörperung, wobei die schwindelerregenden Verwicklungen, in die sich der Film verstrickt, großartig konzipiert und enorm erheiternd zu beobachten sind. Am einfachsten ist es, mit Joong-Man mitzufühlen, der seinen Job hasst, es sich aber nicht leisten kann, ihn zu quittieren, und dessen Mutter schleichend in eine demenzielle Störung abgleitet. Joong-Mans Ehefrau verliert zusehends die Geduld, seine Mutter lässt sich nicht zur Raison bringen, und sein Vorgesetzter behandelt ihn mit absoluter Geringschätzung. Die Figur ist ein typischer Vertreter dieser Filmsparte. Er ist erbärmlich, pathetisch und aussichtslos. Bae Seong-Woo gelingt es, eine mitfühlende Note zu zeigen, die die Anteilnahme des Zuschauers auf seiner Höhe hält, aber es ist klar, als er die Tasche mit dem vielen Geld findet, dass jemand zwangsläufig nach ihm suchen wird. Die Sympathie für Mi-Ran, die zu Beginn des Films das Opfer eines brutalen, gewalttätigen Ehemanns ist und aus seinen Fängen nicht nur mit einem einzigen Verbrechen entkommt, ist weniger leicht zu erlangen. Die starke Ader der Humoristik, die sich durch diesen Teil von "Beasts Clawing at Straws" zieht, wird besonders ausgeprägt in Form von Yeon-Hee, einer knallharten Clubmanagerin, die Mi-Ran behilflich ist. Jeon Do-Yeon ist eine exzellente Schauspielerin und eine wahre Bereicherung für den Film. Denn hier ist sie sowohl humorvoll als auch intrigant und ein wenig angsteinflößend. Jeong Man-Sik ist ebenfalls überzeugend, äußerst komisch und als charmanter, aber unberechenbarer lokaler Verbrecherboss Mr. Park, der es schafft, sich in alle fünf Handlungsstränge einzufädeln, geradezu erschreckend. Es dauert eine Weile, bis sich die Geschehnisse vollends ineinander verwoben haben. Der genaue Aufbau wird erst nach der Hälfte von "Beasts Clawing at Straws" klar, während die erste Hälfte etwas Zeit in Anspruch nimmt, bietet die zweite Hälfte eine Fülle von erzählerischen Höhepunkten. "Beasts Clawing at Straws" ist stark von amerikanischen Einflüssen geprägt. Hier ein wenig Tarantino, dort viel von den Coen Brüdern. Durch Kim Yong-Hoons überzeugender Regie fühlt sich das Ganze eher wie eine Mischung aus verschiedenen Kulturen an. "Beasts Clawing at Straws" ist optisch hervorragend gestaltet. Die Nachtfotografie und die vielen Neonlichter erzeugen in jeder Sequenz eine anrüchige, schmutzige und verruchte Atmosphäre. Kameramann Kim Tae-Sung verrichtet hier grandiose Arbeit. "Beasts Clawing at Straws" jongliert auf brillante Weise mit mehreren Handlungssträngen, bis sie in einem Schmelztiegel aus brutalem und blutigem Treiben aufeinander prallen. Diese Herausforderung wird von Regisseur Kim Yong-Hoon mit Bravour gemeistert. Wie zu erwarten, sind die Verbrecher Karikaturen des Bösen, während die Guten ebenfalls das Nachsehen haben. Wenn das Karma zusieht, ist die Vergeltung rasch und elegant ausgeführt. Allerdings nimmt sich "Beasts Clawing at Straws" niemals ernst und spielt mit Klischees. In diesem gekonnt inszenierten Thriller greifen Bestien mit blutigem Charme nach Strohhalmen.

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            Chainsaw Charlie 13.01.2022, 01:06 Geändert 14.01.2022, 05:11

            Unter der Regie von Joel Coen begleitet "Arizona Junior" die Protagonisten Hi (Nicolas Cage) und Ed (Holly Hunter) bei der gemeinsamen Entführung eines Kindes, das sie wie ihr leibliches Baby aufziehen wollen. Dabei kommt es zu Komplikationen, nachdem eine ganze Reihe skurriler Gestalten auf der Bildfläche erscheinen, darunter der Kopfgeldjäger Randall "Tex" Cobb sowie die entflohenen Sträflinge Gale (John Goodman) und Evelle (William Forsythe). Regisseur Joel Coen, der nach einem gemeinsam mit seinem Bruder, Ethan Coen geschriebenen Drehbuch arbeitet, beginnt "Arizona Junior" mit einem enorm unterhaltsamen und mitreißenden Prolog, der den Grundstein für die folgenden Irrsinnigkeiten legt, und es ist natürlich offensichtlich, dass die ungeheuer gemütliche Atmosphäre des Films durch die Leistungen einer hervorragenden Auswahl an Darstellern noch verstärkt wird, vor allem Nicolas Cage und Holly Hunter verkörpern ihre etwas schrägen, aber absolut sympathischen Figuren mit einer Unbeschwertheit, die im Allgemeinen fast hypnotisch wirkt. Es besteht jedoch wenig Anlass zum Zweifel, dass "Arizona Junior" unter einem gewissen erratischen Rhythmus im Mittelszenario leidet, das eine kleine Handvoll schlecht durchdachter Elemente enthält, z. B. alles, was mit Randall Cobbs postapokalyptischer Identität zu tun hat. Dennoch entwickelt sich "Arizona Junior", getragen von Barry Sonnenfelds durchweg eindrucksvoller Kameraführung, zu einem wirklich gelungenen dritten Akt, der mit einem überraschenden und berührenden Abschluss gekrönt wird, der den Platz von "Arizona Junior" als solides Frühwerk der Coen-Brüder letztendlich festigt.

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              Chainsaw Charlie 12.01.2022, 01:54 Geändert 12.01.2022, 02:46
              über Tabu

              Der letzte Film des deutschen Regisseurs Friedrich Wilhelm Murnau nach einem dreijährigen Aufenthalt in Hollywood. Kurz vor der Premiere von "Tabu" verstarb er eine Woche vor der ersten öffentlichen Vorführung bei einem schweren Verkehrsunfall in Hollywood. Angeblich wurde der homosexuelle Filmemacher mit dem Schwanz seines Chauffeurs im Mund aufgefunden. Dieser brillant schlichte, lyrische Film wurde 1929 auf Tahiti gedreht und sollte eine Zusammenarbeit zwischen dem großen Dokumentarfilmer Robert J. Flaherty und Friedrich Wilhelm Murnau selbst sein, aber sie zerstritten sich wegen künstlerischer Differenzen, und das Studio unterstützte Murnaus Vorschlag, "Tabu" als fiktives Melodram über eine unglückliche, verbotene Liebesbeziehung unter den polynesischen Einwohnern zu drehen, und lehnte dankend Flahertys Vorschlag ab, den Film als reinen ethnografischen Dokumentarfilm zu drehen. Friedrich Wilhelm Murnau kaufte Flahertys Anteile auf und drehte den Film im Alleingang, wobei er Robert J. Flaherty als Kameramann behielt. Doch als seine Kamera kaputt ging, verließ er das Set, und das Studio stellte kurzerhand Floyd Crosby ein, dessen Sohn David später eine Karriere als Rocker machte und in der Band Crosby, Stills & Young sang, der für dieses sinnliche, in Schwarzweiß gedrehte Südseemärchen einen Oscar als Kameramann gewann. "Tabu" besteht aus zwei Kapiteln, Paradise und Paradise Lost, und wurde mit einer ansprechenden Besetzung von Amateurschauspielern gedreht. Der Titel des meist tonlosen Films bedeutet wörtlich übersetzt "Tod". Wäre Friedrich Wilhelm Murnau zu dieser Zeit noch am Leben gewesen, hätte er mit ansehen müssen, wie sein Film, der von Paramount auf oft verblüffende Weise geschnitten wurde, seine Kosten an den Kinokassen nicht wieder einspielte. 1940 verkaufte seine Mutter die Rechte an Rowland und Samuel Brown, die den Film mit weiteren Kürzungen neu produzierten, ohne dass "Tabu" ein kommerzieller Erfolg wurde. Erst in den frühen 1970er Jahren wurde eine vollständige Nitratkopie des Originalfilms entdeckt und der Prozess der Restaurierung und Aufwertung begann in vollem Umfang. Die Gischt des Meeres glitzert, und das Lichtspiel der bedrohlichen Schatten, die über das Paradies geworfen werden, ist in voller Schärfe zu sehen. Es ist ein verführerisch anmutender Film. Fast unentgeltlich, exotisch schön. Solide expressionistische Lichttechniken verwandeln ein sonnenüberflutetes Paradies in einen unwirklichen Ort des Grauens, während gleichzeitig das Lichtspektrum auf dem leuchtenden Meer, den schönen Körpern der jungen Liebenden das Auge betört. "Tabu" selbst ist ein verführerischer Film, ein Mephistopheles, dem man nicht widerstehen kann. Die Musik von Hugo Reisenfeld, für die Friedrich Wilhelm Murnau seine letzten Groschen ausgab, ist auch hier zu hören. Sie ist delikat, aber bei anderer Gelegenheit würde es mich interessieren, wie ein moderner Musiker diesen Film untermalen würde. Die Tragödie handelt vom Würgegriff des Schicksals, der sich gnadenlos gegen das Glück der jungen Liebe richtet. "Tabu" ist weit entfernt vom Dokumentarfilm und ebenso kunstvoll wie alle anderen Filme von Murnau. Reri und Matahi leben auf einer abgelegenen und unberührten Südseeinsel und verlieben sich unvermittelt, aber unsterblich ineinander. Die Idylle wird erschüttert, als ein Bote von einer anderen Insel, der sinistre, gesichtslose Hitu, verkündet, dass Reri Tabu ist. Sie ist auserwählt worden, eine Art Vestalin zu sein, ein Totem der Keuschheit und Reinheit, ein symbolischer Obolus, der von der einen Insel zur anderen verlangt wird. Reri muss Matahi entrissen werden, und auch ihre aufkeimende Liebesbeziehung ist Tabu. Die Verliebten entkommen und werden auf einer anderen Insel angespült, die kolonisiert wurde, aber Hitu ist ihnen auf der Spur. Dieses Märchen, in dem sich Folklore und Tragik vermischen, wird mit einem Minimum an Titelkarten und einem Maximum an Anmut erzählt. Murnaus ungestüme Kamera streift über das Meer und den Sand, findet aber bei jedem Bild zu einer malerischen, eleganten Komposition. Die Titelkarten dienen der Erzählung und der Dokumentation, nicht aber dem Dialog. Für viele Stummfilme gibt es das altmodische Adjektiv "ballettartig", welches hier besonders zutreffend ist. Die Lebendigkeit der Massenszenen, das erotische und zugleich traurige Zusammenspiel der verzweifelten Hauptdarsteller und des unheimlichen Bösewichts. Dieses stimmlose Melodrama, so fern und befremdlich es auch wirkt, gleitet einem förmlich unter die Seele. "Tabu" ist keine Kuriosität, sondern ein Film von Friedrich Wilhelm Murnau mit Herz und Verstand. Freude, Tragödie und Selbstaufopferung gibt es genug. Es gibt sogar eine Tanzszene, die geradezu nach "Sonnenaufgang - Lied von zwei Menschen" schreit. Offenbar plante Friedrich Wilhelm Murnau, der von Hollywood gänzlich desillusioniert war, nach "Tabu" auf die Südseeinseln zurückzukehren, um weitere Filme zu drehen. Seine Karriere in den 1930er Jahren hätte wirklich faszinierend sein sollen.

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                über Prey

                "Prey" von Regisseur Thomas Sieben ist einer von diesen Filmen, in denen man mit einem ganz klassischen moralischen Gedanken kämpft: Haben egoistische Arschlöcher es verdient, aus Gründen ermordet zu werden, die nichts mit ihrem arroganten Wesen zu tun haben? Viel mehr gibt es hier nicht zu überlegen, denn der Regisseur verlässt sich auf situative Spannungsschrauben, aber die Batterie seines Akkuschraubers ist schwach. Belangloses Geplänkel der Hauptdarsteller verwässert die dramatischen Umstände, als ob die vage Vorstellung, dass ein Mann einem anderen Mann hilft, einen Job zu bekommen, für alle im Mittelpunkt stehen würde, wenn jeden Moment eine Kugel aus dem Wald schießt und eines ihrer lebenswichtigen Organe trifft. Vielleicht sollten wir "Prey" den Vorzug des Zweifels geben. Eventuell will der Thriller zeigen, wie extreme Bedingungen den wahren Charakter eines Menschen zum Vorschein bringen. Ein Typ ist ein netter Kerl, ein anderer ein Schwächling und zwei andere sind verschiedene Schattierungen von Vollidioten. Das Problem ist, dass wir mehr als nur eine winzige Andeutung ihrer Persönlichkeiten brauchen, bevor sie sich in einer Notlage befinden, in der es um Leben und Tod geht. Die Entwicklungen im dritten Akt führen potenzielle emotionale Komponenten der Handlung ein, die nie zum Tragen kommen. All diese Kritikpunkte würden vielleicht nicht ins Gewicht fallen, wenn Thomas Sieben die Schauplätze mit einem Maximum an Spannung choreografieren und mehr Regiearbeit zeigen würde, aber bei "Prey" begnügt er sich damit, die Arbeit mit dumpfer Effizienz zu erledigen. David Kross ist der Einzige, der mehr als anderthalb Noten zu spielen hat, und man muss ihm zugute halten, dass er den Film zusammenhält. Ob und in welcher Reihenfolge jemand stirbt, wird sich zeigen, daher ist es wohl an der Zeit, den Fundus im Büro zu organisieren.

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                  Chainsaw Charlie 09.01.2022, 19:20 Geändert 09.01.2022, 20:12
                  über Zwei

                  Im Film "Zwei" von Regisseur Mar Targarona wachen David (Pablo Derqui) und Sara (Marina Gatell) in einem fremden Zimmer auf, wo sie eng aneinander geschmiegt im Bett liegen und zu ihrem Entsetzen feststellen, dass ihre Bäuche zusammengenäht wurden. Nachdem sich der erste Schock über diese Erkenntnis gelegt hat, versuchen die beiden Unbekannten herauszufinden, wer dahinter steckt, wie sie sich trennen und wie sie entkommen können. Gemälde an der Wand verraten, dass Kameras jeden ihrer Bewegungen beobachten. Sie finden eine Bibel, die kryptische Botschaften hinterlässt. Während sie versuchen, ihre letzten kohärenten Erinnerungen herauszufinden, bevor sie auf diese Weise aufgewacht sind, beginnen sie zu enthüllen, wer sie vor diesem Ereignis waren. Als ein Telefonanruf eingeht, bei dem ein Stück von Wolfgang Amadeus Mozart gespielt wird, vermutet Sara, dass ihr Mann, ein eifersüchtiger und sadistischer Mensch, der davon überzeugt ist, dass Sara eine Affäre hat, hinter dem steckt, was mit ihnen geschieht. Während sie weiter darum bemüht sind, sich zu befreien und zu fliehen, wird ihnen klar, dass etwas viel Unheimlicheres und Psychotisches hinter den Geschehnissen steckt und warum gerade sie beide aneinander genäht wurden. Die durchgehende Hektik lässt niemandem genug Zeit, um nicht voll und ganz in die Handlung einzusteigen, und das ist auch gut so. "Zwei" startet direkt mit der Prämisse, dass zwei Fremde in einem unbekannten Zimmer am Unterleib zusammengenäht wurden, und der Zuseher erlebt das, was sie erleben, mehr oder weniger in Echtzeit. So bleibt keine Möglichkeit, die Logik und Flexibilität zu hinterfragen, wie die beiden in diese missliche Situation geraten sind, und während die Fakten allmählich aufgedeckt werden, wird mehr Zeit damit verbracht, den nächsten Moment zu erwarten, als mit dem eigenen Skeptizismus in Kontakt zu treten. Es gibt auch ein tieferes Thema hinter all dem, wie im Titel angedeutet, und in einer Zeit, in der die meisten Leute denken, dass ein infamer Film über zusammengenähte Menschen ein weiterer Film zu viel ist, helfen das Mysterium, die Suspension und die Aktivität in diesem speziellen zusammen genähten Horrorfilm "Zwei", seinen eigenen Rahmen und seine Eigenständigkeit zu finden. Das einzige wirkliche Problem, wenn man über die Ausgangslage hinwegsehen kann, ist das pompöse Ende. Das kunstvolle Finale wird eher ein Aufstöhnen hervorrufen, als dass es zeigt, worum es hier eigentlich gehen sollte. Das ist bedauerlich, denn ansonsten sind die schauspielerischen Leistungen, das Timing und die Erzählung so gut, dass "Zwei" mehr ist als die übliche platte Dummheit, die man von einem Film wie diesem erwarten würde. Er ist wirklich unterhaltsam, vor allem, weil er sich fast ausschließlich in einem Zimmer abspielt und sich nahezu vollständig auf zwei Figuren beschränkt, die nur sehr wenig Bewegungsfreiheit haben. Außerdem hat er mit 1 Stunde und 15 Minuten die perfekte Länge, um eine derartige Geschichte zu erzählen, und macht nicht den Fehler, den so viele andere Regisseure machen, nämlich die Handlung mit lästigen und sinnlosen Randgeschichten und redundanten Szenen aufzustocken, die das wiederholen, was der Zuschauer bereits wissen sollte, wenn er aufmerksam gewesen ist.

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                    Chainsaw Charlie 09.01.2022, 16:10 Geändert 09.01.2022, 16:18

                    "Faces in the Crowd" von Regisseur Julien Magnat ist im Gegensatz zu den meisten miesen Thrillern verdammt lustig. Ich mache keine Scherze, er ist extrem witzig, einer der spaßigsten Filme, die ich seit langem gesehen habe, und er nimmt sich selbst so ernst, dass man nicht anders kann, als in Augenblicken vermeintlich gesteigerter Spannung in Gelächter auszuarten. Kennt ihr das Gefühl, das man manchmal hat, vor allem bei Low-Budget-Filmen, dass die Autoren ein medizinisches Lehrbuch nach obskuren Krankheiten, Infektionen und Gebrechen durchforsten, die noch nicht verfilmt wurden, und ihr Drehbuch darauf aufbauen? Wenn ihr euch noch nicht so gefühlt habt, obwohl ich davon ausgehe, dass ihr es bis zu einem gewissen Grad getan habt, wird euch "Faces in the Crowd" definitiv in diese Richtung lenken. Es gibt eine Krankheit namens Prosopagnosie, bei der die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, Gesichter zu erkennen und zu unterscheiden, beeinträchtigt ist. Diese Störung gibt es wirklich, und ich kann mir vorstellen, dass es für diejenigen, die darunter leiden, ein verdammt hartes Problem ist, damit umzugehen. Umgangssprachlich wird Prosopagnosie als Gesichtsblindheit bezeichnet, was, wie wir alle zugeben können, bescheuert und erfunden klingt. Auch das ist ein furchtbares Leiden, aber klingt das für euch nicht wie ein erfundener Nonsens? Gesichtsblindheit steht im Mittelpunkt von "Faces in the Crowd". Anna Marchant (Milla Jovovich) hat ein klischeehaftes, filmisch perfektes Leben. Sie ist jung, hübsch, hat ein paar kesse beste Freundinnen und einen attraktiven, netten, idyllischen Freund, von dem sie vermutet, dass er ihr bald einen Antrag machen wird. Die Dinge laufen so gut, dass man einfach weiß, dass es einen Haken gibt, der nur darauf wartet, ins Werk zu fallen. Dieses Hindernis kommt in Form des örtlichen Serienmörders Tearjerk Jack. Sagt diesen Namen ein paar Mal, er geht nie richtig von der Zunge, und ich werde diese gewagte Behauptung aufstellen: Es ist ein scheußlicher Pseudonym für einen Serienmörder. Tearjerk Jack, tötet und vergewaltigt seine weiblichen Opfer und weint über die Leichen, die er soeben vergewaltigt hat. Nach einem nächtlichen Ausflug hat Anna das Pech, Tearjerk Jack in einer dunklen Gasse bei seinem Treiben zu beobachten. Auf der Flucht stürzt sie von einer Brücke, stößt sich den Kopf und als sie wieder aufwacht, ist sie Gesichtsblind. Ich kann den Reiz des Stoffes verstehen. Denn was ist erschreckender als aufzuwachen und nicht in der Lage zu sein, die Menschen, die man am meisten liebt, von völlig Fremden zu unterscheiden? Und der Ansatz von Regisseur Julien Magnat hat definitiv Potenzial. Nach dem Trauma spielen mehrere Schauspieler jede Rolle. Jedes Mal, wenn jemand einen Raum verlässt, von einer Menschenmenge verdeckt wird und wieder in den Fokus rückt, oder auch wenn Anna ihre Augen schließt, sieht sie ein neues Gesicht, einschließlich ihres eigenen Gesichts im Spiegel. Das Dumme ist nur, dass es Sie völlig kalt lässt. Milla Jovovich's Darstellung in "Faces in the Crowd" ist so aufgeblasen, dass es an eine Seifenoper grenzt. Es ist stillschweigend unmöglich, sie in diesem Film überhaupt ernst zu nehmen, vom obligatorischen Aufwachen nach einem Koma bis hin zu Anna, die ihren eigenen Vater in der U-Bahn nicht erkennt. Ihre Leistung ist wirklich eine der großartigsten komödiantischen Leistungen die ich jemals sah und das alles ungewollt, was "Faces in the Crowd" umso amüsanter macht. Ich will nichts verraten, aber sagen wir einfach, dass es eine der lustigsten Sexszenen seit Elizabeth Berkeleys und Kyle MacLachlans epileptischer Begegnung im Schwimmbad in "Showgirls" gibt. Man hat eindeutig den Verdacht, dass Julien Magnat zwar geforscht und die Krankheit ausfindig gemacht hat, dass er aber selbst nicht unbedingt daran glaubt. Wenn der Arzt versucht, Anna und ihren Freund Bryce davon zu überzeugen, dass es Prosopagnosie tatsächlich gibt, hat man das Gefühl, dass er auch versucht, sich selbst zu überzeugen. Als Bryce den Arzt bittet, "ein bisschen leiser zu sein, Doc", wird einem klar, dass diese Bemerkung für den kompletten Film zutrifft. "Faces in the Crowd" schafft es nicht, Spannung oder Dramatik zu erzeugen, und er versagt auch als Kriminalfilm. Wenn man überhaupt aufpasst, weiß man nach etwa dreißig Minuten genau, wer hinter Tearjerk Jack steckt. Aber das macht nichts, denn irgendwann gibt die Story den Blickwinkel, einen Serienmörder zu fassen, völlig auf und konzentriert sich auf Anna, die versucht, mit ihrer Behinderung, Gesichter zu unterscheiden, klarzukommen. "Faces in the Crowd" irrt eine Zeit lang umher, es gibt eine unpassende Liebesgeschichte zwischen Anna und Detective Kerrest (Julian McMahon), der einzigen Person, die sie tatsächlich erkennt, und natürlich kommt sie an den Punkt, an dem sie sich selbst nicht mehr erkennen muss, um herauszufinden, wer sie wirklich ist. Tiefsinnig, nicht wahr? Trotz eines einigermaßen faszinierenden Grundkonzepts fällt "Faces in the Crowd" bei allem, was er erreichen will, komplett durchs Raster. Der Film ist komödiantisch überzogen, weder straff, noch beängstigend oder besonders packend in irgendeiner Hinsicht. Was er ist, ist unabsichtlich komisch. Wenn man in der Stimmung ist, sich einen Film mit ein paar Kumpels anzuschauen, ein paar Flaschen Bier zu zischen und sich über das, was man auf der Mattscheibe sieht, kaputt zu lachen, dann ist "Faces in the Crowd" genau das Richtige für einen, andernfalls sollte man ihn lieber im Supermarktregal stehen lassen.

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                      Der deutsche Journalist und Regisseur Michael Obert, dessen Freundschaft mit Jim Jarmusch, der in einigen Szenen auftaucht, und dem Dokumentarfilm "Song from the Forest" eine kulturelle und künstlerische Note verleiht, wechselt zwischen den Straßen von New York und den üppigen Regenwäldern Afrikas, während Louis Sarno sein faszinierendes Werk in die Welt setzt. Louis Sarno hörte als junger Mann ein Lied im Radio, das ihn in seinen Bann gezogen hatte, und er ging dieser musikalischen Botschaft bis zu ihrem Ursprung im zentralafrikanischen Regenwald nach, wo er den Stamm der Bayaka-Pygmäen fand, eines Volkes von Jägern und Sammlern. Etwa 25 Jahre später lebt er als einer von ihnen, spricht die Sprache der Bayaka und zieht seinen Pygmäensohn Samedi auf. Er hat über 1.000 Stunden einzigartiger Aufnahmen von Bayaka-Musik gesammelt, die er dem Pitt Rivers Museum in Oxford im Vereinigten Königreich geschenkt hat. Louis hatte ihm versprochen, Samedi zu zeigen, wo er ursprünglich herkommt, und so nimmt er den 13-Jährigen mit, um ihm das zurückgelassene Leben in den USA zu zeigen. Sie begegnen unter anderem Sarnos bestem Freund Jim, der sich an ihre Collegezeit erinnert und daran, wie sich Louis nach seinem ersten Ausflug zu den Bayaka verändert hat. Die Geschichte ist liebenswert und wunderschön gefilmt. Die Rückkehr in die USA fällt Sarno, der in die Kultur der Bayaka eingetaucht ist und eine Beziehung mit einer Stammesangehörigen hatte, mit der er ein Kind hat, etwas schwerer als Samedi, der von seiner neuen Umgebung eher irritiert als interessiert zu sein scheint. Am besten ist "Song from the Forest", wenn er seine reizvollen Bilder mit Sarnos Arbeit verbindet und der Film sowohl visuell als auch akustisch besticht. Und während es im Inneren des Films viel altmodische Konversation gibt, sind es Klang und Optik, die "Song from the Forest" zu einem wirkungsvollen und leicht gespenstischen Film machen.

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                        Chainsaw Charlie 09.01.2022, 01:33 Geändert 09.01.2022, 01:36

                        Roman Polanskis viel zu wenig beachteter Thriller "Der Tod und das Mädchen" aus dem Jahr 1994 stellt eine ganze Reihe von moralischen Fragen zu Schuld, Rache, Strafe, Gerechtigkeit und der Verantwortlichkeit des Menschen für sich und die Gesellschaft. Doch trotz seines schweren thematischen Gepäcks funktioniert der Film, der auf dem Theaterstück von Ariel Dorfman basiert, der auch das Drehbuch mitverfasst hat, am besten als schauspielerisches Schaufenster für seine drei gleichmäßig herausragenden Hauptdarsteller, die mit der Heftigkeit von Faustkämpfern um die Wette kämpfen und sich schlagen. Paulina Escobar (Sigourney Weaver) ist die wohlhabende Ehefrau des Anwalts Gerardo Escobar (Stuart Wilson), der kürzlich damit betraut wurde, eine Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen zu leiten, die von der ehemaligen Diktatur in ihrem anonymen lateinamerikanischen Land begangen wurden. Das Setting deutet zwar auf das Chile nach Pinochet hin, aber die Geschichte hätte genauso gut in jedem anderen Land spielen können, das seine ersten Tage frei von despotischer Herrschaft erlebt. Als jugendliche Revolutionärin wurde Paulina von einer Todesschwadron gefangen genommen und gezwungen, monatelang Elektroschocks und Vergewaltigungen zu ertragen, weigerte sich aber, ihren damaligen Freund Gerardo zu verraten. Ihre körperlichen Narben sind zwar verheilt, aber die Intensität von Sigourney Weavers Darstellung lässt die psychischen Folgen dieser leicht verstörten Frau erahnen. Als sich beispielsweise ein fremdes Auto ihrem Haus nähert, macht Paulina sofort das Licht aus, holt eine geladene Pistole und versteckt sich auf der Lauer. Das unbekannte Fahrzeug, das die kurvenreiche Straße zu ihrem abgelegenen Haus am Wasser entlangfährt, gehört Dr. Roberto Miranda (Ben Kingsley), der Gerardo großzügigerweise nach Hause gefahren hat, nachdem er ihn mit einer Autopanne aufgefunden hatte. Als Paulina Mirandas Stimme hört, identifiziert sie ihn sofort als den Arzt, der sie Jahre zuvor zu den Klängen von Schuberts "Der Tod und das Mädchen" brutal missbraucht hat, und macht sich daran, ihn inoffiziell für seine Verbrechen vor Gericht zu stellen. Nachdem sie sein Auto von einer Klippe gestürzt hat, fesselt und knebelt Paulina Miranda und verlangt von ihm, dass er gesteht und Buße tut oder dem Tod ins Auge sieht. Gerardo, der unsicher ist, ob seine labile Ehefrau den Fremden falsch identifiziert hat oder ob Miranda nur ein kühner und überzeugender Lügner ist, der versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, wird zum Augen- und Ohrenersatz für das Publikum, das als unparteiische Geschworene fungieren soll, um die Wahrheit herauszufinden. Das Drehbuch ist jedoch so sehr auf Paulinas Seite, dass "Der Tod und das Mädchen" nicht in der Lage ist, uns über Mirandas Täterschaft im Dunkeln zu lassen, und Dorfmans Skript verlagert seinen Schwerpunkt schließlich auf schwerwiegendere Fragen: Wie kann man die Wahrheit feststellen? Wer hat das Gesetz, Leben zu nehmen? Verschafft die Vergeltung inneren Frieden, oder macht sie das ursprüngliche Opfer nur zu dem, was der Gewalttäter war? Dieser Didaktizismus droht regelmäßig, die wachsende Volatilität des Films zu sabotieren, aber das Zusammenspiel zwischen Sigourney Weaver, Ben Kingsley und Stuart Wilson ist von einer solch sengenden Schärfe und Wildheit, dass es leicht ist, selbst während der periodischen Abstecher in plumpe Moralvorstellungen gespannt zu bleiben. Ben Kingsleys krachende Gipfelrede enthüllt das Übel als eine Kreatur, die sich nicht so einfach klassifizieren und explizieren lässt, aber erst im Epilog entfacht Regisseur Roman Polanski den letzten und stärksten Schlag seines Films mit einer geschmeidigen Kranaufnahme in einer Konzerthalle, die das unentwirrbare Geflecht aus Täuschung, Brutalität und Schande evoziert, das die drei verstörten Gestalten von "Der Tod und das Mädchen" miteinander verbindet, und die zudem auf eindrucksvolle Weise verdeutlicht, wie sich die Verbrechen des Menschen gegen seine Mitmenschen häufig hinter einer Fassade des alltäglichen Anstands verbergen.

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                          über Teacher

                          Im Zentrum von Adam Dicks einfühlsamem Erstlingswerk "Teacher" steht der engagierte Englischlehrer James Lewis (David Dastmalchian), der gerade eine schwierige Scheidung durchmacht. Als er Zeuge wird, wie zwei Teenager in seiner Klasse gnadenlos drangsaliert werden, verliert er allmählich die Beherrschung über seine Gefühle, erinnert sich an seine schlechten Kindheitserfahrungen und begibt sich auf einen sehr düsteren Pfad. "Teacher", der manchmal wie eine höfliche, bürgerliche Variante von "Taxi Driver" wirkt, zeigt eine bewundernswerte Behutsamkeit bei der Darstellung von seelischem Verfall und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Diese Zurückhaltung verstärkt die Wirkung des Films sogar zusätzlich. Die erste Hälfte von "Teacher" konzentriert sich stark auf das Mobbing selbst, doch schon in diesem Stadium ist die moralische Situation kompliziert. Preston (Matthew Garry), das junge Mobbingopfer, zeigt eine gemeine Ader, als er versucht, sich an Tim (Curtis Edward Jackson), einem der Jungen, die ihn misshandeln, zu rächen. Curtis Edward Jackson ist eine der prägnantesten Figuren des Films. In einer Schlüsselszene, in der wir den wahren Jungen unter der Maskierung der Härte sehen, wenn sich der Film zu wandeln beginnt, liefert er eine echte Glanzleistung ab. Als Tims erfolgreicher und ehrgeiziger Vater verleiht Kevin Pollak dem Film zusätzliches Volumen, indem er den viel größeren James eindrucksvoll einschüchtert. Die Interaktionen zwischen den beiden, wenn sie Tims Verhalten diskutieren, führen das Thema des Mobbings über das Klassenzimmer hinaus und verdeutlichen die Unangemessenheit eines einfachen "Es wird besser" Vorgehens bei solchen Problemen. "Teacher" erforscht die Ausdrucksformen von Männlichkeit und die Methode, mit der homophobe Äußerungen verwendet werden, um sich über ein Verhalten zu mokieren, das als unzureichend hart empfunden wird, und beschäftigt sich mit den Folgen, die es für Männer hat, wenn sie versuchen, in diesem Rahmen zu konkurrieren oder eine Autorität aufzubauen. Die Frauen in "Teacher" sehen die Dinge anders, scheinen aber ebenso wenig in der Lethargie zu sein, mit Aggressionen umzugehen, abgesehen von einer Lehrerkollegin, die sich mit James verabredet. Die zugrundeliegende Tragik all dessen ist, dass niemand wirklich glücklich zu sein scheint, aber Adam Dicks Film hat dennoch Energie und schwelgt nicht einfach im Trübsinn. Während die Klasse den Kaufmann von Venedig studiert und darüber spricht, wie schwierig es ist, zwischen Helden und Schurken zu unterscheiden, bewahrt James eine Art naiven Optimismus, der ihn leicht sympathisch macht. Einer dieser Lehrer, der wirklich für die Schüler da zu sein scheint, die bereit sind, sich die nötige Mühe zu machen. Selbst wenn sich die Situation ändert, fällt es leicht, mit ihm zu sympathisieren, denn er hat das Herz auf dem rechten Fleck, und es kann einen Moment dauern, bis man erkennt, wie weit er vom Kurs abgebogen ist. Der Zuschauer wird leicht zum Mittäter, der sich in Handlungen verstrickt, die im Nachhinein als eindeutig unangemessen angesehen werden. Obwohl "Teacher" die Grenzen seines kleinen Budgets nie ganz ausschöpft, ist es ein souveränes Spielfilmdebüt. Die Besetzung, die aus der Art von Schauspielern besteht, die das Rückgrat vieler amerikanischer Dramen bilden, ohne jemals die Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten, ist perfekt aufeinander abgestimmt, und David Dastmalchian, der nur selten eine Hauptrolle bekommt, lässt James' Zorn lange Zeit köcheln, bevor er zum Siedepunkt kommt. Wenn dieser Punkt erreicht ist, ist bereits so viel offenbart worden, dass es schwierig ist, zu ergründen, was wirklich in jedem der Schauspieler steckt, mehr als ein unterdrückter Groll und eine gewisse Abneigung.

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                            In dem schäbigen Thriller "Hypnotic" von Regisseurin Suzanne Coote und Co-Regisseur Matt Angel wird Hypnose als Terrormittel eingesetzt, das Menschen dazu bringt, entweder fürchterliche Taten zu begehen oder zu glauben, dass ihnen solche Taten angetan wurden. Für die Person, die unter dem Bann steht, kann sich eine Stunde wie eine Minute anfühlen. Eine neidische Feststellung als undankbare Mühe, die aus dem Abfalleimer gekramt wurde. Ein billiger, zutiefst alberner Film über einen bösen Hypnosetherapeuten, in dem sich zu viele kluge Menschen völlig blöd verhalten. Es ist die Form von halbgarem Schrott, die massenhaft für ein Publikum von Netflix produziert wird, das diese unterirdische Qualität inzwischen als Norm erwartet und akzeptiert. Ein niedriges Budget muss natürlich nicht gleichbedeutend mit geringem Engagement sein, aber es ist schwer zu begreifen, wo hier die Energie herkommt, so dass es unmöglich ist, sie beim Zusehen aufzubringen. Es ist ein Film über das Einschlafen, der uns auch dorthin führt. Es geht um Jenn (Kate Siegel), eine Frau in den Dreißigern, die damit kämpft, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Auf der Party ihrer besten Freundin, auf der sie versucht, ihrem Verflossenen aus dem Weg zu gehen, trifft sie den charmanten Hypnotherapeuten Dr. Meade (Jason O'Mara), der ihr einen Weg aus ihrer Blockade anbietet. Jenn zögert zunächst, willigt dann aber ein und lässt sich hypnotisieren. Sie erwacht erfrischt, doch eine Verkettung von Geschehnissen lässt sie bald begreifen, dass Dr. Meades Absichten vielleicht doch nicht so edel sind, wie sie glaubte. Nach einer lachhaft ineffektiven Eröffnungssequenz, die ein theoretisch beängstigendes Szenario praktisch inkompetent umsetzt, werden wir mit dem schalen Gefühl bestraft, dass wir dabei sind, einen wirklich mangelhaften Film zu sehen. Ein Gefühl, das sich auch in den nächsten, immerhin barmherzigen 88 Minuten fortsetzt, in denen es immer mehr abwärts geht. Der Seelenklempner ist so offensichtlich ein bösartiger Psycho, dass das einzige große Fragezeichen ist, warum jemand bereit ist, auch nur einen Augenblick allein mit ihm in einem Behandlungszimmer zu verweilen. Drehbuchautor Richard D'Ovidio spielt seine Karten so frühzeitig aus, dass für den Rest von "Hypnotic" kaum noch genügend Treibstoff in der Maschine ist. Die Idee eines potentiell interessanten, wenn auch nicht gerade originellen, submanschurischen Kandidaten wird völlig uninteressant. Das Skript des ersten Teils verlässt sich auf zu viele Fälle, in denen sich scheinbar clevere Personen wie zertifizierte Fachidioten aufführen, um die Verschwörung voranzutreiben. Es ist eine Ansammlung von dämlichen Fehlentscheidungen, die in einem 80er Jahre Slasher ebenso absurd wirken würden wie in einem Film, der sich selbst ernster zu nehmen versucht. Matt Angel und Suzanne Coote, die Regisseure, versagen trotz des Hitchcock'schen Ansatzes bei der Umsetzung und geben sich stattdessen damit zufrieden "Hypnotic" so aussehen zu lassen, als würde er in einer Endlosschleife an der Rezeption eines Bürokomplexes abgespielt werden. Sowas ist fade und leblos. Kate Siegel ist hier so seifig wie der Film und die Darsteller um sie herum. Es ist kaum möglich, sich dafür zu begeistern, was mit ihr oder sonst jemandem in diesem Film passiert, und noch unwichtiger wird es, wenn man erfährt, dass es auch niemanden sonst zu interessieren scheint. Hypnotisch ist das genaue Gegenteil.

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                            • 7 .5

                              Diese Formulierung kennen wir aus Berichten über Vergewaltigungsprozesse. Ein Mann mit großem Potenzial, so das Argument, sollte wegen eines einzigen Fehlverhaltens nicht zu hart bestraft werden. Es handelt sich um besonders tragische Sachverhalte. Manche sind auch Opfer. Stellt euch vor, was eine lange Haftstrafe uns alle kosten könnte. Das unterschätzte Potenzial von Frauen wird selten thematisiert. Natürlich polarisieren solche Argumentationen die Öffentlichkeit. "A Young Man with High Potential" von Regisseur Linus de Paoli, den er zusammen mit seiner Frau Anna entwickelt hat, ist ein stiller, verstörender Film, der den Zuschauern Unbehagen bereitet, egal was sie davon halten. Piet (Adam Ild Rohweder) ist ein Mensch, der wenig soziale Erfahrungen mit Frauen hat. Er ist ein hoch intelligenter Nerd und beschäftigt sich ausschließlich mit Informatik und erwartet nicht wirklich, dass sie sich für ihn interessieren. Das Angebot, mit Klara (Paulina Galazka) zusammenzuarbeiten, stößt bei ihm zunächst auf Widerstand. Zu ihrer beiderseitigen Überraschung finden die beiden jedoch zueinander, und sie lockt ihn allmählich aus seinem Schneckenhaus heraus. Sie ahnt nicht, wie überwältigend das für ihn ist. Als er sie eines Nachts küsst und sie sich zurückzieht, um ihm zu erklären, dass sie nicht auf diese Weise an ihn denkt, ist er am Boden zerstört. Was er daraufhin tut, erscheint einerseits wie eine logische Konsequenz, andererseits wie etwas, das so weit von menschlichen Emotionen entfernt ist, dass es weder moralisch noch aus psychologischer Sicht einen Weg zurück gibt. Die Genialität von "A Young Man with High Potential" besteht in der Ausgewogenheit dieser Situation. Linus De Paoli setzt eine ganze Palette von cineastischen Mitteln ein, um den Betrachter dazu zu bringen, sich mit Piet in seinen tiefsten Momenten zu solidarisieren und ihn eine Zeit lang vom Abgrund wegzuholen. Dass seine Ziele nicht den eigenen Erwartungen entsprechen, unterstreicht die Kluft zwischen seinen Ansichten über sich selbst und der Wirklichkeit und das Ausmaß, in dem er seine eigene emotionale Beziehung zur Welt opfert, indem er seine Gefühle bewusst unterdrückt, bis er sie nicht mehr wiederfinden kann. Macht ihn das zu einem tragischen, bemitleidenswerten Menschen? Ja, aber gleichzeitig auch pathetisch. Es ist unmöglich für den Zuschauer, das Entsetzliche der Lage aus dem Auge zu verlieren, denn er kann es sehen. Zu einem späteren Zeitpunkt, als Piet mit den Folgen seines Handelns konfrontiert wird, sehen wir, wie eine Situation nach der anderen aus dem Ruder läuft, fast bis zur Farce, und alles, was das Filmwesen uns gelehrt hat, bringt uns dazu, ihm zu wünschen, dass er damit durchkommt, lädt uns ein, zu Komplizen zu werden. Das ist schwarze Komödie in ihrer rauesten Form. Das Lachen wird zu einem Bewältigungsmechanismus. Linus De Paoli nutzt diese Möglichkeit, um uns mit den anderen Figuren in Einklang zu bringen, die sich, ob wissentlich oder nicht, an Piets Versuch der Vertuschung beteiligen. Das Verlangen, dass all diese Probleme verschwinden, dass alles wieder normal wird, ist groß und für Klara ist das natürlich unerfüllbar. Die anfänglichen Szenen von Paulina Galazka sind von zentraler Bedeutung, denn sie zeigen uns den Charme, die Herzlichkeit und die jugendliche Unbeholfenheit von Klara. Sie ist manchmal unbedacht und kann gemein sein, wenn sie verärgert ist, aber nicht schlimmer als Piet. Sie ist klug und humorvoll und steckt voller Potenzial. Linus De Paoli zeigt sie in warmem Licht, in einer leuchtend roten Jacke. Wenn Piet allein ist, ist seine Welt ein Flickenteppich aus schattigen Blau und Grautönen, unterbrochen von strengem, klinischem Weiß. Die Einblicke in Piets soziales Leben zeigen, dass er zu dauerhaften Freundschaften fähig ist, wenn er nicht zulässt, dass ihm sexuelle Gefühle in die Quere kommen, und seine Streberhaftigkeit erinnert daran, dass toxische Männlichkeit nicht auf die adretten Treuhandfondsjungen beschränkt ist, die die meisten der jüngeren Unmenschen des Kinos ausmachen. "A Young Man with High Potential" zeigt Leere und Frustration, ohne dass die Spannung auch nur einen einzigen Bruchteil der Aufmerksamkeit verliert. Linus De Paoli hat hiermit ein Werk geschaffen, das sein Potenzial voll ausschöpft und nicht nur einen starken eigenständigen, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Diskussion leistet. Eine Nebenrolle von Amanda Plummer als elegant gekleidete Ermittlerin mit Columbo-ähnlichen Fähigkeiten fügt der Schlussszene eine komplexe Bedeutung hinzu. Es gibt hier keine simplen Erklärungen, und niemand, am allerwenigsten das Publikum, sollte erwarten, dass er hinterher ruhig und zufrieden einschlafen kann.

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                                über Antlers

                                "Antlers" ist ein surrealistischer Horrorfilm unter der Regie von Scott Cooper und der Produktion von Guillermo Del Toro. Vor seinem Kinostart wurde der Film überraschend stark vermarktet, vermutlich vor allem wegen des guten Renommees von Del Toro und Cooper. Nach der nun üblichen Abfolge langer Verzögerungen im Zusammenhang mit COVID gelang es "Antlers" einfach nicht, ein Massenpublikum zu begeistern. In einem unterirdischen Meth-Labor in Oregon greift eine geheimnisvolle, übernatürliche Gestalt zwei Drogenköche an. Später lenkt der Sohn eines der Männer die Aufmerksamkeit der Lehrerin Julia Meadows (Keri Russell) auf sich. Um sein Befinden besorgt, folgt sie ihm nach Hause, wo er etwas Unaussprechliches in seinem Heim bewahrt. Inzwischen hat Julias teilweise entfremdeter Bruder, Sheriff Paul Meadows (Jesse Plemons), die Hälfte eines geschundenen menschlichen Körpers in den Wäldern entdeckt. An "Antlers" scheint vieles zu stimmen. Die Kulisse der Provinz wird hervorragend dargestellt, und die Charaktere sind besonders morbid und unheilvoll. Ihre Motivationen und Hintergründe sind gut nachvollziehbar, entwickeln sich aber nach und nach. Die Darsteller sind stark, vor allem Jesse Plemons als der etwas verschlossene Paul und Leinwandlegende Graham Greene aus dem Filmklassiker "Der mit dem Wolf tanzt" als ehemaliger Sheriff im Ruhestand, der die wahre Ursache dessen erkennt, was sich in dem Haus mit dem jungen Lucas (ein ausgezeichneter Jeremy T. Thomas) verbirgt. Das Ungetüm, das im Fokus der Ereignisse steht, ist prächtig gestaltet und stimmungsvoll in Szene gesetzt. Dank Kameramann Florian Hoffmeister und Editor Dylan Tichenor ist dies ein gelungener Horrorfilm. Wenn man "Antlers" als das akzeptiert, was er darstellt und wie er inszeniert ist, dann ist er ein unterhaltsames, wenn auch blutloses Werk der Unterhaltung. Man strauchelt eigentlich nur, wenn man darüber nachdenkt, welcher Film im Vergleich zu dem, der erschienen ist, auf dem Regiestuhl sitzen geblieben ist. Die Ausgangslage von "Antlers" ist reich an thematischem Potenzial. Amerikanische Ureinwohner, Umweltfragen, wirtschaftliche Missstände und verschiedene Möglichkeiten, wie die fantasievollen Horrorbilder reale Probleme widerspiegeln könnten. Wer seine Erwartungen nicht zu hoch schraubt, bekommt mit "Antlers" einen soliden Monsterfilm mit ein bisschen mehr Substanz als ein üblicher Vertreter dieser Kategorie. Fordert man zu viel, kann der Film nur enttäuschen.

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                                  Chainsaw Charlie 05.01.2022, 19:45 Geändert 05.01.2022, 19:48

                                  Wenn zwei Wahnsinnige in der Filmwelt an einem Projekt arbeiten, wie der irre amerikanische Schauspieler Nicolas Cage und der japanische Kultregisseur Shion Sono, dann ist ein verrücktes und verdrehtes Bild so gut wie garantiert. Und genau das bekommt man in dieser Mischung aus Samurai-Western und postapokalyptischem Horrorthriller. In "Prisoners Of The Ghostland" geht es um die Befreiungsgeschichte einer vermissten Frau namens Bernice (Sofia Boutella), aus einem kahlen Ödland aus nuklearem Abfall in Japan, das als Ghostland bekannt ist, und das in seine eigene bizarre Richtung abschweift. Es ist ein verwunschener Ort, an dem die Bevölkerung vom dortigen Regime versklavt wird. Ein namenloser, inhaftierter, Bankräuber (Nicolas Cage), wird von einem despotischen Kriegsherrn, dem reichen, in einem weißen Anzug steckenden, schmierigen Gouverneur (Bill Moseley) einer unwegsamen Stadt, die eine Mischung aus einem Samuraidorf und dem alten japanischen Land ist, beauftragt, seine Enkelin zu finden, die vor ihm davongelaufen ist. Dabei wird Nicolas Cage in einen Lederanzug gesteckt, der mit einer Sprengfalle versehen ist, die sich selbst zerstört, wenn er bei der Suche vom Weg abkommt. In diesem stilistischen, aber sinnlosen Genrefilm kommt es zu blutigen Schwertkämpfen und Schießereien, während Nicolas Cage als Held versucht, die unterjochte Bevölkerung zu befreien und Bernice aus den Fängen ihres bösartigen Großvaters zu retten. Nick Cassavetes hat einen wunderbaren Cameo-Auftritt als durchgeknallter waffenvernarrter Psychopath, und auch die blendenden Martial-Arts-Bewegungen von Tak Sakaguchi, dem zwiespältigen Handlanger des Gouverneurs, sind ein Augenschmaus. Das Szenario ist düster, die Landschaften sind freudlos, das Vorankommen ist quälend zäh, aber die Optik von "Prisoners Of The Ghostland" ist insgesamt betrachtet von außerordentlicher Ästhetik. Die Handlung ist zwar sinnentleert, geisteskrank und hat keine wirkliche Gefühlsebene, dürfte jedoch für den passenden Zuschauerkreis unterhaltsam sein dem es nichts ausmacht, einen Film zu sehen, in dem Nicolas Cage einfach mal ein Hoden weggefetzt wird.

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                                    Unter der Regie des verstorbenen Regisseurs John Sturges ist "Stadt in Angst" eine Mischung aus packender Action, Dramatik und einem klassischen Western. In der atemberaubenden Kameraführung werden die weiten zerklüfteten Wüstenlandschaften Kaliforniens inszeniert, während Altmeister Spencer Tracy seine Schauspielerqualitäten unter Beweis stellt. Eine facettenreiche Schilderung von Rache, Wiedergutmachung und ergreifendem Wagemut. "Stadt in Angst" war ein gelungenes Filmerlebnis. John Macreedy (Spencer Tracy) kommt mit dem Zug in der Kleinstadt Black Rock an und erntet sofort Antipathie. Er ist auf der Suche nach einem japanischen Mann namens Komoko, einem alten Bekannten, der in der Gegend von Adobe Flat zu Hause war. Die Stadt Black Rock birgt jedoch ein böses Omen, und ihr Oberhaupt Reno Smith (Robert Ryan) wird nichts unversucht lassen, um Macreedy an der Aufdeckung des Verbleibs von Komoko und der Ursachen zu hindern, die vor Jahren dazu geführt haben, dass die Stadt allen Fremden gegenüber feindselig und verschwiegen ist. Der wahrscheinlich ungewöhnlichste Gesichtspunkt von "Stadt in Angst" ist seine Bildgestaltung. Regisseur John Sturges und der Kameramann William Mellor verwenden viele weite Perspektiven, die es dem Auge des Betrachters gestatten, panoramische Gebirgslandschaften und den tiefblauen Himmel im Hintergrund zu bewundern. Mit einem geübten Blick für Szenerie und Bildausschnitt verzichtet die Kamera auch nahezu vollständig auf Großaufnahmen. Der Zuschauende sieht in fast jeder Szene vom Hut bis zum Stiefel jeder Figur, was Black Rock ein voyeuristisches Element und eine Außenseiterperspektive verleiht, die der Perspektive von der Hauptfigur ähnelt. Diese Weitwinkelaufnahmen machen die unwirtliche Stadt noch isolierter von der Außenwelt. "Stadt in Angst" bleibt dem traditionellen Western Look treu, mit rauen Cowboys, die in Pulver und Staub bedeckt sind, und einer kargen Wüstenatmosphäre. Dank der Verwendung von Autos anstelle von Pferden, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden, wird "Stadt in Angst" jedoch auf besondere Weise aktualisiert. In einem besonders packenden Abschnitt wird Macreedy von seinem Gefolgsmann Coley (Ernest Borgnine) über eine verlassene Straße gehetzt, was für Spannung und explosive Szenen sorgt. Dabei handelt es sich keineswegs um eine herkömmliche Verfolgungsjagd mit dem Auto, sondern um eine Hetzjagd zu Ross im Wilden Westen, bei der die kultigen Huftiere durch gewichtige mechanische Apparaturen ausgetauscht werden. Macreedy ist eine einzigartig schlagkräftige Figur. Im Krieg verstümmelt, hat er immer eine Hand in der Hosentasche, was ihm ein eher ungefährliches Erscheinungsbild verleiht. Er hat jedoch einen selbstsicheren, ernsten Gesichtsausdruck, und auch wenn er manchmal nachgibt, um unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden, hat er anscheinend vor nichts Angst. Er setzt zwar seine Intelligenz ein, um körperliche Konfrontationen zu umgehen, ist aber im Falle einer unvermeidlichen Kollision bemerkenswert fähig, sich mit kühlem Kopf zu verteidigen. Macreedy entscheidet sich meistens dafür, seinen Intellekt statt roher Gewalt anzuwenden, wobei er jedoch beide Techniken deutlich beherrscht, was die symbolische einhändige Reformation der verängstigten Gemeinde ermöglicht. "Stadt in Angst" hat zwar bewundernswerte Spannungsmomente zu verzeichnen, zieht sich aber an anderen Stellen zu sehr in die Länge. Sorgsam, aber zu langwierig, wird der Betrachter in das düstere Geheimnis der Stadt eingelullt, das leider schon sehr früh auf der Hand liegt. All die aufgebaute Antizipation überschattet die eigentliche Offenbarung der Wirklichkeiten, obwohl es oft schon amüsant genug ist, Macreedys mutiges Durchhalten und sein Eintreten für die Gerechtigkeit zu beobachten. Als Mischung aus Noir und Western ist "Stadt in Angst" eine typische Persönlichkeitsstudie, ein moralisches Drama und ein abenteuerlicher Kriminalfilm, der für drei Oscars nominiert wurde, darunter für die beste Regie und den besten Hauptdarsteller.

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                                      Wäre John Fords "Faustrecht der Prärie" ein Stummfilm, würde man vieles vermissen. Der entspannte Tonfall von Henry Fonda, die verschiedenen Instrumentalversionen des Titelsongs, der in unterschiedlichen Rhythmen daherkommt, mal verspielt, mal sanft. Der Effekt von Fords Entscheidung, das Finale mit minimalem Ton zu drehen, doch man könnte "Faustrecht der Prärie" auch ohne verstehen. Zunächst ist Ford im Monument Valley zu sehen, das die majestätische und dynamische amerikanische Landschaft andeutet. Dann ist da Tombstone, ein berühmter Außenposten, dessen Gesetzlosigkeit sich in unheimlicher, staubiger Dunkelheit ausdrückt. Im Inneren des Hotels und des Saloons hat die Belichtung etwas von der Chiaroscuro-Wirkung des Film Noir, indem strittige Beziehungen in schrägen Winkeln und tiefen Schatten und intime Verbindungen in weichem Licht dargestellt werden. Und schließlich ist da noch der Sonnenaufgang vor der Schießerei am Korral, ruhig und schön, aber auch angespannt vor Angst, denn es geht nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch um die Zerstörung der Zivilisation. Der Mythenmacher Ford war 1946 in "Faustrecht der Prärie" auf dem Höhepunkt seines Könnens, aber es ist ein bemerkenswert entspanntes und sicheres Werk, so entspannt wie Fonda, der seinen Stuhl auf der Holzveranda zurückkippt. Es liegt nicht nur daran, dass Fonda der richtige Mann ist, um Wyatt Earp zu spielen, den widerwilligen Gesetzeshüter, der in Tombstone für Recht und Ordnung sorgt, sondern auch daran, dass Ford den Film auf den einzigartigen Stil seines Stars zuzuschneiden vermag, der eine Menge vertrauter Western mit Schießereien und Verfolgungsjagden, romantischen Rivalitäten und mörderischen Rachefeldzügen, dem Tugendhaften und dem Gewalttätigen in etwas tonal Neues verwandelt. Henry Fondas Wyatt Earp ist auch überraschend zweideutig, wenn man bedenkt, dass man mit ihm die Anständigkeit des Salzes der Erde assoziiert. Sein Wyatt Earp bleibt aus zwei Gründen in Tombstone: Um sich an den Männern zu rächen, die seinen Bruder ermordet haben, und um die Stadt wieder zu einem Ort zu machen, an dem man sich problemlos rasieren lassen kann, ohne erschossen zu werden. Diese Ziele sind nicht ganz miteinander vereinbar. In klassischer Legendenbildung manipuliert oder verwirft John Ford die Geschichte Wyatt Earps für seine Zwecke, und zwar von Anfang an, als Earp und seine Brüder als Viehdiebe durch das Monument Valley ziehen. Nach einem Gespräch mit Old Man Clanton (Walter Brennan) und einem seiner skrupellosen Jungs in der Prärie erfährt Earp von Tombstone und beschließt, in dieser Nacht mit zwei seiner Brüder in die Stadt zu gehen, während der dritte auf das Vieh aufpasst. Als ein betrunkener amerikanischer Ureinwohner anfängt, wahllos um sich zu schießen, ist Wyatt Earp der einzige, der den Mut hat, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, aber er lehnt das angebotene Angebot ab, den Stadtmarschall zu ersetzen, der resigniert seine Marke abgab. Er ändert jedoch seine Meinung, als er in die Steppe zurückkehrt und seinen Bruder tot und das Vieh gestohlen vorfindet. Er nimmt den Posten an, unter der Bedingung, dass seine überlebenden Brüder als seine Hilfsmarshals dienen. Weitere spannende Nebenhandlungen tauchen auf, vor allem die sich entwickelnde Beziehung zwischen Wyatt Earp und Doc Holliday (Victor Mature), der seine Praxis und seine Frau (Cathy Downs) im Osten für ein Leben in Tombstone als trinkfreudiger Glücksspieler und Saloonbetreiber aufgegeben hat. Die Lebenserwartung in einem so gefährlichen Beruf ist gering, aber Hollidays Tuberkulose verkürzt sie ohnehin. Doch die beunruhigende Ironie von "Faustrecht der Prärie" besteht darin, dass Wyatt Earp das Gesetz als Deckmantel für seine Selbstjustiz nutzt und dabei fast nebenbei den Ort moralisch aufwertet. Und vielleicht ist es genau das, was Tombstone braucht. Weder einen White Hat noch einen Black Hat, sondern jemanden, der die ethische Grauzone dazwischen überwinden und die Stadt ins richtige Licht rücken kann. Obwohl John Ford beweist, dass er immer noch die weitläufige Action von "Stagecoach" aus dem Jahr 1939 liefern kann, legt "Faustrecht der Prärie" mehr Wert auf Innenräume, sowohl im wörtlichen als auch im psychologischen Sinne. Wyatt Earp und Doc Holliday sind gepeinigte Charaktere, und ihre Partnerschaft macht ihr Leben nicht weniger umständlich. Als sie an jenem verhängnisvollen Morgen gemeinsam ausreiten, um die Clantons ein für alle Mal zur Verantwortung zu ziehen, sind die Clantons nur ein Teil der unerledigten Angelegenheiten. Regisseur John Ford inszeniert eine sonnige, überzeugende Anklage, obwohl das Studio mit verschiedenen Endfassungen und mehreren Schnittvarianten herumspielte, denn "Faustrecht der Prärie" ist ein Vorbote der unruhigen, kunstvollen Formen der Anti-Western, die ein paar Jahrzehnte später folgen sollten.

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                                        Regisseur Fredrik Gerttens "Bikes vs Cars" ist passioniert, aber widersprüchlich. Eine frustrierende Kombination für einen Dokumentarfilm, der mit zugegebenermaßen interessanten Daten wirbt, um unsere autoverrückte Welt vom übermäßigen Fahren zu entwöhnen. Getreu seinem Titel präsentiert Gertten den Film als Kampf zwischen den beiden Verkehrsmitteln, die um ihren Anteil an der Straße kämpfen, sowie als Konflikt zwischen Radfahrern und Lokalpolitikern in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt über eine Stadtplanung, die sich nicht um Autos dreht. "Bikes vs Cars" besucht viele dieser Orte, wie z. B. São Paulo und Toronto, wobei das Radfahren oft simplifizierend als romantische Novität und nicht als Fortbewegungsmittel betrachtet wird, und gipfelt in Passagen in Los Angeles, der verkehrsreichsten Stadt Amerikas, wo er dem engagierten Radfahrer und Gemeindeorganisator Dan Koeppel folgt. Der Lebensstil des Mannes, der sich in Los Angeles ohne Auto fortbewegt, und seine Ausführungen über die Vergangenheit der Stadt als Fahrradmekka bieten einen verständnisvollen Kontext zu dem zunehmenden Rückgriff des Films auf sprechende Köpfe und Grafiken, die Zahlen vorlesen. Im ominösesten Abschnitt des Besuchs in Los Angeles wirft Gertten einen Blick auf eine öffentliche Sitzung, in der Koeppel häufig mit widerstrebenden Stadtvertretern streitet, die die Straßen nicht für Radfahrer freigeben wollen und von denen sich später herausstellt, dass sie Gelder von Energiekonzernen annehmen. Seltsamerweise ist dies die seltene Sequenz im Dokumentarfilm, die nicht nur den Würgegriff des Erdöls auf die Politik, sondern auch die mit den Kohlenstoffemissionen verbundenen Umweltprobleme anerkennt. Kopenhagen, eine Stadt, in der das Fahrrad das wichtigste Verkehrsmittel ist, ist im Grunde eine Vorstellung von der von Gertten angeblich ersehnten Welt. Doch der Filmemacher sendet eine gemischte Botschaft aus, indem er den Radverkehr als öffentliches Ärgernis für Autofahrer darstellt, während er Ivan Naurholm begleitet, einen Taxifahrer, der über seinen täglichen Umgang mit Radfahrern genervt ist. Naurholm beklagt immer wieder seinen Unmut darüber, dass Kopenhagen radfahrerfreundlich und weniger abhängig vom Auto geworden ist, und da diese Sequenzen aus Naurholms Perspektive erzählt werden und nur Aufnahmen von Radfahrern zeigen, die sich nicht an die Verkehrsregeln halten, scheint Fredrik Gertten ihm sogar beizupflichten. Nachdem er leidenschaftlich dafür plädiert hat, dass mehr Städte so werden sollten wie Kopenhagen, weil es sich immer mehr vom Auto löst, erweist sich Gerttens Aufenthalt an eben diesem Ort als irreführend, weil er seine These effektiv negiert. Wenn er am Ende mit überzeugenden Beweisen und Erfolgsberichten von Aktivisten für mehr Fahrradverkehr in den Städten wirbt, hat man fast das Gefühl und das ist angesichts der lobenswerten Ambitionen des Films etwas ungünstig, dass man es mit einem gewissen Maß an Vorsicht genießen sollte.

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                                          Chainsaw Charlie 02.01.2022, 00:33 Geändert 02.01.2022, 01:04
                                          über Nebenan

                                          Viele von uns waren schon einmal in einen Streit in einer Bar verwickelt, der ein bisschen zu lange dauerte, der ein paar Mal zu feindselig wurde, mit jemandem, den wir nicht so gut kannten, und das ist selten eine Erinnerung, die man sich gerne einprägt. Würde es helfen, wenn der Kerl am anderen Ende der bierseligen Debatte der gutaussehende, versierte, allgemein sympathische Deutsch-Spanier Daniel Brühl wäre? "Nebenan", in dem Brühl eine dünnhäutige Version seiner selbst durch die psychologische Presse schickt, legt das Gegenteil nahe. Das filigrane, selbstreflexive Regiedebüt des Schauspielers wandelt sich in der Zeit, die man braucht, um ein paar Bier zu kippen, von einer unaufdringlichen Meditation über die Privilegien und Gefahren des Starseins zu einem weit hergeholten Stalkerdrama, wobei er die Grenzen einer schäbigen Berliner Kneipe kaum verlässt. Doch die Spielchen des Films mit dem Genrewechsel und der Selbstironie der Prominenten können die wesentliche Eintönigkeit seines Kernkonflikts nicht überdecken. Die Bekanntheit von Daniel (Brühl) ist so groß, dass er nicht einen Schritt gehen kann, ohne für ein Selfie angehalten zu werden, wie "Nebenan" in einem ironischen Scherz anmerkt. Andernorts ist es schwieriger zu beurteilen, was die internationalen Filmverleiher und das dortige Publikum von einem Film halten werden, der sich nicht nur um die öffentliche Person des Regisseurs dreht, sondern auch um die brüchige Politik und die sich wandelnden sozialen Strukturen Berlins in den 30 Jahren seit dem Fall der Mauer. Das ist ein sehr spezifischer Ballast, der eine sonst so luftig gestaltete Abwechslung beeinträchtigt. Dennoch ist es schwer, Brühl diese Art von personalisierter Gaumenreinigung zu missgönnen, zumal sie vor seinen großen Aufgaben in den Franchises "The King's Man" und "The Falcon and the Winter Soldier" liegt. Seine jüngsten Erfolge im Marvel-Universum werden im Drehbuch des Autors und Dramatikers Daniel Kehlmann immer wieder auf die Schippe genommen. So lernen wir den aalglatten, erfolgreichen Star Daniel kennen, der zu einem Casting in London für einen schwachsinnig klingenden Superheldenfilm unterwegs ist. Es scheint ein Reboot von "Darkman" zu sein, obwohl paranoide Produzenten das Skript hüten, als wäre es die Bundeslade. Während er mühsam seinen schurkischen Text für den Castingtermin einstudiert, geht Daniel durch einen typischen Vormittag in seinem privilegierten Leben. Er schwitzt leicht im Fitnessraum, streift durch seine geräumige, gläserne, moderne Loftwohnung in Berlins schickem Stadtteil Prenzlauer Berg, kümmert sich um seine beiden Kinder, bevor er sie in die Obhut eines zuvorkommenden Kindermädchens gibt, und küsst seine schlafende Ehefrau, bevor er zum Flughafen fährt. Gut gelaunt lehnt er das frühe Auto ab, das man ihm geschickt hat, und nimmt sich stattdessen eine Auszeit in seiner Stammkneipe, bevor er sich selbst auf den Weg zu seinem Flug macht. Das erweist sich als ein großer Fehler. Unter den wenigen anderen Gästen des Lokals befindet sich Bruno (Peter Kurth), ein verhärmter Nachbar mittleren Alters, der Daniels Vormittag verderben will. Was Daniel großspurig als seinen Danny-Boy-Charme bezeichnet, eine eifrige, burschikose Heiterkeit, die Branchenleute und glotzende Passanten gleichermaßen für sich einnimmt, trifft in Bruno, der in Daniels Haus wohnt, auf eine Grauzone, nicht dass der Schauspieler ihn je eines Blickes gewürdigt hätte. Der Ostberliner, dessen Leben ins Stocken geraten ist, während seine Heimatstadt floriert, sieht in dem Schauspieler die lebende Inkarnation der deutschen Gentrifizierung. Daniel, der sonst so gelackt und unbeirrbar ist, reagiert entnervt auf den lautstarken Abneiger. Anstatt es einfach hinzunehmen, hält ihn sein Beharren auf diesem Missstand davon ab, die immer stickigere Bar zu verlassen, wodurch sein Zeitplan immer mehr in Unordnung gerät. Umso länger die beiden sich in ihrer Passiv-Aggressivität gegenseitig an die Kandare nehmen, desto umfangreicher und finsterer wird Brunos Plan, die Sache zu Fall zu bringen und wenn wir nur diese schmutzige Wasserstelle endlich verlassen könnten, würde sich vielleicht sogar ein Sinn für die reale Gefährdung in das Szenario schleichen. Kehlmann schreibt dieses erbitterte Kräftemessen der Egomanen mit einem Gefühl für belanglose menschliche Bosheiten und Abwehrreaktionen, das auf der Bühne vielleicht besser zur Geltung käme, wo wir uns von dieser klaustrophobischen Umgebung ganz und gar absorbiert fühlen könnten. So aber, auch wenn Brunos Neugierde dank Peter Kurths trockener, meisterhaft modulierter Darstellung ins eindeutig Soziopathische abgleitet, ist es schwierig, sich nicht zu fragen, warum wir und Daniel so viel Zeit mit ihm verschwenden, wo wir doch alle andere Dinge zu erledigen haben. Die Regie von Daniel Brühl ist so elegant und souverän, dass man sich ernstlich fragt, was er mit einem weniger auf sich selbst bezogenen, größeren Drehbuch machen könnte. Am Ende von "Nebenan" spürt man, dass Daniel Brühl seiner eigenen Darstellung ein wenig überdrüssig geworden ist. Der eindeutigste Anhaltspunkt in diesem sonderbaren Spiegeltheater ist die Kuriosität, dass er und der Daniel des Films nicht ganz ein und derselbe Mensch zu sein scheinen.

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                                            Für einen relativ unauffälligen, kleinen Science-Fiction-Film hat "The Trouble with Being Born" der österreichischen Regisseurin Sandra Wollner eine Menge Kontroversen ausgelöst. Der Film wurde auf Anraten von zwei forensischen Psychologen, die ihn angeblich nicht vollständig gesehen haben, aus dem Veranstaltungsprogramm des diesjährigen Melbourne Film Festivals gestrichen. Weshalb konnten sich die Psychologen "The Trouble with Being Born", der nur 94 Minuten dauert, nicht ganz ansehen? Und seit wann agieren Psychologen als Filmkritiker und Zensoren? Anders als in Deutschland wo der Film eine FSK 16 Freigabe bekam, hat der Film in Australien eine FSK 18 erhalten, was eine Enttäuschung für diejenigen sein wird, die denken, dass alle Filme mit Freigabe ab 18 eine offensiv hohe Dosis an Sex und Gewalt enthalten. Abgesehen von einem kurzen Blick auf die Nacktheit enthält "The Trouble with Being Born" nichts, was diejenigen beunruhigen sollte, die sich um die Auswirkungen von Filmen auf junge Menschen sorgen. Die Einstufung ist ein Maß für die moralische Panik, die gegenwärtig bei der geringsten Andeutung einer Sexualisierung von Minderjährigen ausbricht. Der Titel "The Trouble with Being Born" stammt aus einem Buch mit Aphorismen des rumänischen Philosophen E. M. Cioran aus dem Jahr 1973, einem unerbittlichen Pessimisten, der sich daran ergötzte, unsere alltäglichen Annahmen umzukehren. "Wir eilen nicht dem Tod entgegen", schreibt er, "wir fliehen vor der Katastrophe der Geburt, die Überlebenden kämpfen darum, sie zu vergessen." Der Film von Sandra Wollner ist in Bezug auf Leben und Tod ebenso zweideutig. Er spielt in einer identischen Welt wie die Gegenwart, mit einer ähnlichen Atmosphäre wie die, die Jonathan Glazer in "Under the Skin" aus dem Jahr 2014 heraufbeschwört. Ihre ständigen Themen sind die Virtualisierung von Erfahrungen und die sich entwickelnde Rolle der künstlichen Intelligenz in unserem Leben. Es ist die Geschichte von Elli, einem lebensechten Androiden, der wie ein zehnjähriges Mädchen aussieht. Elli lebt mit einem Mann mittleren Alters, den sie Papa nennt, in einem modernen Haus mitten im Wald. Sie verbringt ihre Zeit im Swimmingpool oder wartet einfach auf Papa (Dominik Warta), wenn er zur Arbeit oder in eine Bar geht. Eine ruhige, wenn auch einsame Existenz. Elli und ihr Papa scheinen einander treu ergeben zu sein, doch wir beginnen uns über die Art ihrer Beziehung zu sorgen. Elli ist kokett und ihr Vater stets bereit, sie zu umarmen. Obwohl es nie genau erläutert wird, hat man den Eindruck, dass ihre gegenseitige Zuneigung eine sexuelle Richtung einschlägt. Kann man eine unangemessene Beziehung zu einem minderjährigen Androiden haben? Derzeit gibt es keine rechtlichen oder ethischen Grenzen, die die Beziehung zwischen einem Menschen und einer Maschine regeln. Wenn wir Elli als menschliches Wesen oder gar als 10-jährige Schauspielerin betrachten, wird die Sache noch heikler. Die Hauptdarstellerin, Lena Watson, trägt während des gesamten Films eine Silikonmaske, die ihr ein leicht gespenstisches Aussehen verleiht. Durch die Abteilung für Spezialeffekte wurden nachträglich kurze Momente der Nacktheit eingebaut. Die Geschichte wird noch verzwickter, als Papas Tochter aus Fleisch und Blut auftaucht, wobei es sich jedoch nur um eine Rückblende in frühere Zeiten handeln kann. Bei dem Versuch, die Ereignisse zusammenzufügen, stellen wir uns vor, dass diese Tochter gestorben ist oder auf irgendeine Weise entfremdet wurde, und Elli ist der Ersatz. Es ist unmöglich zu sagen, welche Art von Beziehung Papa zu seiner tatsächlichen Tochter hatte, aber Elli wurde mit den Erinnerungen dieses Mädchens programmiert. In Gesprächen mit Papa erinnert sie sich an gemeinsame Erlebnisse oder auch an solche, die vor einer abwesenden Mama geheim gehalten werden mussten. Vermutlich spielt Elli eine dieser Erinnerungen durch, während sie nachts das Haus verlässt. Auf der Straße wird sie von einem anderen Mann mittleren Alters gefunden, der sie reprogrammiert und sie seiner betagten Mutter (Ingrid Burkhart) als Geschenk überlässt. Als die alte Dame sich unwohl fühlt, verändert er Ellis Äußeres und ihr Geschlecht und macht sie zu einem Abbild ihres Bruders Emil, der starb, als er noch ein Kind war. Der Androide ist nun mit neuen Erinnerungsstücken und einem neuen Zuhause ausgestattet, es entstehen jedoch Probleme, wenn diese aufeinanderfolgenden Identitäten vermischt werden und die Gedächtnisinhalte in die Tat umgewandelt und eingesetzt werden. Sandra Wollner hat Elli als Anti-Pinocchio beschrieben, weil sie keine verzweifelte Sehnsucht hat, ganz zum menschlichen Wesen zu werden. Von einem Elternteil zum nächsten bleibt sie ein passives Gefäß für die Gedanken und Erfahrungen der anderen. Sie drückt Zuneigung aus und empfängt oder verweigert sie auf mechanistische Weise. Weil sie so verstörend realistisch erscheint, bilden sich emotionale Verbindungen, das heißt aber auch, dass die Gefühle, die Elli hervorruft, ebenso künstlich sind, wenn sie nur ein virtuelles Kind ist, ein Replikant, um die Terminologie von "Blade Runner" zu verwenden. Es ist bereits möglich, mit Hilfe der kognitiven Technologie einen Algorithmus zu erstellen, der die Persönlichkeit eines geliebten Menschen, der gestorben ist, dupliziert, und wir werden bald in der Lage sein, diesen auf einen Roboterkörper zu übertragen. Mit jedem weiteren Schritt verschwimmt die Grenze zwischen Mensch und Maschine mehr und mehr. Es ist eine plausible Zukunftsvision, aber solche intellektuellen Leistungen laufen immer Gefahr, unsere emotionalen Fähigkeiten zu übersteigen. Es könnte sein, dass Elli Realität wird, bevor wir die damit verbundenen Risiken vollständig begriffen haben.

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                                              Chainsaw Charlie 31.12.2021, 14:02 Geändert 31.12.2021, 15:05

                                              Der britische Regisseur Ben Wheatley gibt sein Leinwanddebüt mit "Down Terrace", einem durchwachsenen Indiefilm, der zwar einige berührende Szenen hat, sich aber auf dem Weg ins Makabre verliert. Es ist eine seltsame Mixtur aus schwarzer Komödie, Haushaltsdrama und Kriminalfilm. Die Geschichte spielt sich über dreizehn Tage in dem Küstenort Brighton ab. Der ehemalige irregeleitete Hippie und Amateurgitarrist Bill und das dreißigjährige, zu Trotzanfällen neigende Muttersöhnchen Karl sind Vater und Sohn (wie auch im realen Leben), die gerade aus einem viermonatigen Gefängnisaufenthalt wegen eines nicht näher erläuterten Verbrechens entlassen wurden. Sie leben in einem bescheidenen Häuschen in einem Vorort von Brighton zusammen mit der praktischen, aber verärgerten und leidgeplagten Mutter, Maggie, und bilden eine funktionierende, aber gestörten Familie mit ungesunder Tendenz. Es kommt zu Spannungen zwischen dem Vater, der seinen Sohn schikaniert, und der Mutter, die ihm eine bedenkliche Liebe entgegenbringt, die ihren erniedrigten Sohn an ihre Schürze fesselt. Die Kleindealer erhalten in ihrem Haus regelmäßig Besuch von ihren exzentrischen, zwielichtigen Geschäftsfreunden wie Garvey und Eric, mit denen sie zwar rumalbern, ihnen aber nie ganz vertrauen. Die Lage wird immer hektischer, als Valda, eine Brieffreundin von Karl aus dem Gefängnis, nach langer Abwesenheit unerwartet hochschwanger auftaucht und behauptet, Karl sei der Vater, was seine Eltern verunsichert, die bezweifeln, dass es das Kind ihres Sohnes ist. In der Zwischenzeit sind die Männer weiter gestresst, weil sie glauben, dass ein Spitzel unter ihnen ist, der dafür verantwortlich ist, dass sie ins Kittchen wanderten, und sie agieren abrupt, um sich an denen zu rächen, die sie verdächtigen, obwohl sie so wenig Anhaltspunkte haben. Die paranoiden Männer geraten bald in Schwierigkeiten mit dem Londoner Verbrechersyndikat, in das sie verwickelt sind, und es kommt zu einem heillosen Blutbad, bei dem sich die Toten türmen. Der dritte Akt schaltet einen Gang zurück und gibt "Down Terrace" das Gefühl eines ernsthaften Familiendramas, das sich in einen exzentrischen Gangsterfilm verwandelt hat. Letztendlich scheint dieser ambitionierte Film zu besagen, dass die Realität durch den Missbrauch von bewusstseinsverändernden Drogen oder aufgrund von Charakterschwächen oder Psychosen verdreht wird. Das Dilemma ist, dass die Ereignisse zusehends unangenehmer werden, ohne dass sie viel Aussagekraft haben, dass es zu viele Schwachstellen in der Erzählung gibt, dass keiner der besudelten Figuren es wert ist, dass man sich für sie begeistert, und dass das Drehbuch längst nicht so klug ist, wie es zu sein vermeint. Doch "Down Terrace" hat eine beunruhigende Wirkung, und die Darsteller sind gut. Es ist ein Indie-Film, der risikoreich und kreativ ist. Dinge, die ich bei solchen Experimenten schätze.

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                                                Chainsaw Charlie 31.12.2021, 09:54 Geändert 31.12.2021, 09:59

                                                "Ermordet: Tatort Times Square" ist eine Dokumentarserie über eine grausame Mordserie und die zwielichtige Vergangenheit des Times Square. Wer in den letzten 30 Jahren am Times Square war, kann sich nicht vorstellen, dass die Gegend nicht voller familienfreundlicher Einzelhandelsgeschäfte, Olivenbäume und falscher Elmos, die Geld für Fotos verlangen, ist. In den 60er und 70er Jahren war der Platz die Sexarbeitshauptstadt von New York, insbesondere die Gegend um die 42nd Street. In diesem Umfeld untersuchte das NYPD in den Jahren 1979 und 80 einige entsetzliche Morde, die sich als das Werk eines Serienmörders herausstellten, der seit den späten 1960er Jahren Sexarbeiterinnen ermordet hatte. Dies ist das Thema der zweiten Staffel von Joe Berlingers Crime Scene Serie. Eine Ansicht von Manhattan aus der Vogelperspektive, während wir im Radio Beschreibungen des Times Square aus alten Zeiten hören. Dann sehen wir die berühmte Besucherattraktion in der Version von 2021 von oben. Unter dem Untertitel The Times Square Killer wirft der gefeierte Regisseur von True-Crime-Dokuserien einen dreiteiligen Blick auf eine Reihe von makabren Mordtaten, die selbst die relativ gesetzlose Version des Times Square im Dezember 1979 erzittern ließen. Damals entdeckten NYPD-Beamte ein brennendes Zimmer im Travel Inn Motel und fanden dort die Leichen von zwei jungen Frauen, denen Köpfe und Hände fehlten. Es gab jedoch keine Blutspritzer, das Feuer zerstörte die wenigen Beweise, die zurückblieben, und es gab keine Möglichkeit, die Opfer in jenen Tagen vor der DNA zu identifizieren. Durch die übliche Kombination von Archivmaterial, das größtenteils vom damaligen Sender WNEW stammt, Nachstellungen und Interviews mit Journalisten und Strafverfolgungsbehörden, die den Fall untersuchen, zeichnet Berlinger ein Bild davon, wie sehr sich der Times Square in den Jahren verändert hat, in denen der Serienkiller, der später als Richard Cottingham identifiziert wurde, die NYPD in Atem hielt. In einem Großteil des Viertels, vor allem um die 42. Straße herum, gab es zahlreiche Peepshows und XXX-Kinos, von denen viele den Mafiafamilien der Stadt gehörten. Prostitution und Drogen waren so weit verbreitet, dass die Polizei nicht viel tun konnte, um die Aktivitäten einzudämmen. Während die New Yorker Polizei ermittelt und einen Tipp erhält, der dazu führt, dass eines der Opfer als Deedeh Goodarzi identifiziert wird, hören wir von Goodarzis leiblicher Tochter, die von ihr erfuhr, als sie ihre Abstammung recherchierte. Wir erfahren auch etwas über den Pornokönig Marty Hodas, der in den späten 60er Jahren die erste Guckkastenbühne in der Region eröffnete. In den dazwischen liegenden mehr als zehn Jahren nahm die Präsenz von Pornos und Sexarbeitern exponentiell zu, was zu mehr Verbrechen und mehr Gewalt führte. In dieser Welt musste die Polizei agieren, um weitere Morde zu verhindern. Tempo und Tonfall sind ähnlich wie in der ersten Staffel, in der es um einige mysteriöse Morde im Cecil Hotel in Los Angeles ging. Aber diese Version hat ein besseres Verständnis für die Historie der Region, in der die Gräueltaten geschehen sind. "Ermordet: Tatort Times Square" handelt ebenso vom alten Times Square wie von dem Fall selbst. Cottingham weitete seine Mordserie auf New Jersey aus, wo er schließlich 1980 gefasst und in mehreren Prozessen Anfang der 1980er Jahre verurteilt wurde. Er behauptete, zwischen 1967 und seiner Verhaftung mehr als 80 Menschen getötet zu haben, allerdings wurde er nur für 11 Morde schuldig gesprochen. Dass Cottingham den Times Square in Angst und Schrecken versetzt hat, ist also eigentlich sekundär gegenüber einer Untersuchung darüber, wie die Gegend in den späten 70er und frühen 80er Jahren aussah, wie sie entstanden ist und unter welchem Stigma Sexarbeiterinnen litten, selbst im Tod. In dieser Hinsicht geht "Ermordet: Tatort Times Square" weit über die meisten Doku-Serien hinaus, die sich mit dem Times Square jener Zeit und New York City im Allgemeinen beschäftigen. Anstatt nur zu sagen, dass der Times Square damals verrucht war und heute nicht mehr, geht er der Frage nach, wie es dazu kommen konnte. Sie erkennen auch an, dass Porno und Sexarbeit nur ein Aspekt einer Umgebung waren, die schon damals als Drehscheibe der Welt galt, wo Tourismus, Handel und, auch Sexarbeit an einem faszinierenden Ort zusammenkamen. Diese Staffel besteht nur aus drei Teilen, woran man erkennen kann, wie viel von den Morden und der Verfolgung Cottinghams erzählt werden wird. In Anbetracht der Tatsache, dass er 1980 geschnappt wird, wird es wahrscheinlich mehr um die Morde gehen, die er zugibt und die für die Behörden in New York und New Jersey bereits ungelöste Fälle waren. Der Versuch, einem eigentlich eher rückwärtsgewandten Fall Dramatik zu verleihen, ist eine Herausforderung, und Berlinger verlässt sich ein wenig zu sehr auf Aktenmaterial, das nicht in den zeitlichen Rahmen des Falles passt, und stützt sich auf grässliche Nachstellungen der Tatorte selbst. Aber das ist keine Füllung, sondern nur das Ergebnis eines Mangels an dynamischem Videomaterial. Das hoffe ich zumindest. Selbstverständlich wird in der gesamten Staffel über Porno und Sexarbeit gesprochen, und wir sehen einige Archivaufnahmen von nackten Sexarbeiterinnen in Live-Sex-Shows. Aber es ist weniger lüstern und mehr lehrreich. "Ermordet: Tatort Times Square" ist keine Darstellung über Cottinghams mörderische Taten, sondern vielmehr ein eingehender Bericht über die Vergangenheit des Times Square, der in den 1970er und 80er Jahren einen schäbigen Charakter hatte. Und das ist eine erfreuliche Alternative zum gängigen Modell des wahren Verbrechens.

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                                                  Chainsaw Charlie 29.12.2021, 16:12 Geändert 29.12.2021, 20:54

                                                  Nur die größten Verbrecher der Welt bekommen eine "Red Notice", das offizielle Etikett, das Interpol einem anheftet, wenn man konsequent und auf hohem Niveau gegen das Gesetz verstößt. Die gute Nachricht über den neuen Film von Regisseur Rawson Marshall Thurber, der ebenfalls "Red Notice" heißt, ist, dass dieses Kinoabenteuer nicht mit einem "Do Not Touch-Schild" versehen ist. Das ist purer eskapistischer Spaß, angetrieben von starbesetzten Hauptdarstellern. Der organisch geschulte Cineast wird argumentieren, dass Dwayne Johnson, Ryan Reynolds und Gal Gadot in "Red Notice" nicht viel schauspielern, aber genau das ist die Idee. Diese von Netflix finanzierte Produktion ist die perfekte Schüssel mit gestohlenen Bonbons für Erwachsene an einem Freitagabend, an dem das Denkvermögen ausgeschaltet und die Anzahl der kruden Lacher in die Höhe gejagt wird. Im Zentrum der Handlung steht ein FBI-Profiler (Dwayne Johnson), der sich widerwillig mit einem Kunstdieb (Ryan Reynolds) zusammentut, um die legendären Eier der Kleopatra aufzuspüren. Das einzige, was ihnen im Weg steht, ist die Meisterverbrecherin (Gal Gadot), die dem gerissenen Duo das Leben schwer macht. Die Szenen beginnen in Rom und rasen um die Welt, mit Haltepunkten in London und Argentinien. Das, was man erwartet, passiert auch in der Tat, aber das ist nicht der Knackpunkt. Eskapistisches Vergnügen ist selten intelligent und hat nicht viel Substanz, aber das Schöne hier ist, dass der Humor die sinnlose Action übertrifft. Es gibt Verfolgungsjagden, Faustkämpfe, Schießereien und jede andere Art von genretypischen Angriffen, doch es wird viel gelacht und das zu Recht. Kein Mensch könnte von einem Ziegeldach springen, einen Stromschlag bekommen, hundertmal geschlagen und getreten werden und es trotzdem schaffen, in modellhafter Kleidung durch die Welt zu reisen. Wenn ihr einen Streifen sehen wollt, in dem "The Brahma Bull" von einer schlecht konstruierten Brücke springt, die mit einem dunklen Gefängnis für wirklich böse Menschen verbunden ist, und hofft, in einer extrem kalten Gegend einen sich bewegenden Hubschrauber zu erwischen, um ein preisgekröntes Drehbuch zu bekommen, seit ihr im falschen Film. "Red Notice" ist der Inbegriff von ironischer Unterhaltung. Thurbers Drehbuch wird zwar keinen Filmpulitzer gewinnen und die Geschichte ist ziemlich skurril, aber die Rollen sind perfekt auf die Qualitäten der Stars zugeschnitten. Gal Gadot, die aschkenasisch-jüdischer Abstammung ist, ist den meisten Kinobesuchern als die heldenhafte Wonder Woman bekannt. Sie in der Rolle der Antagonistin, zu sehen, ist daher ein überraschender Nervenkitzel. Sie genießt die Gelegenheit, die Herren zu verprügeln, und das sorgt für eine Menge Unterhaltung. Sobald Dwayne Johnson im Film zu sehen ist, stellt ihn euch einfach als Superhelden in Zivil vor. Jemand, der aus dem Fenster springen und durch eine Ladenmarkise direkt auf eine Betonplatte krachen kann, um dann wieder aufzuspringen, als wäre nichts passiert. Eine gut gekleidete Wand. Doch der gebürtige Wrestler, Dwayne "The Rock" Johnson versteht es auch, witzige Dialoge zu schreiben und sein Charisma aufblitzen zu lassen, wenn es darauf ankommt. Seine Talente passen perfekt zu Reynolds, der hier ganz auf Tempomat eingestellt ist. Glücklicherweise ist Reynolds' Tempomat immer noch eine bissige Lachmaschine, die die verschiedensten Sprüche von sich gibt. Ich habe während der kurzen und rasanten 100-minütigen Laufzeit viel gelacht und hatte nicht das Gefühl, dass meine Zeit verloren ging. Das Timing war auch gut. Kurz vor der Strenge der deprimierenden Filme, auch bekannt als Preisverleihungssaison, ist etwas guter, altmodischer, wenn auch vertrauter und leichter Spaß angebracht. Erwartet keinen Tiefgang. Öffnet euch ein Bier, denn "Red Notice" ist Spaßkino.

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                                                    über Fatman

                                                    "Fatman", der neue Film der Regiebrüder Eshom und Ian Nelms, leistet einen weiteren Beitrag zum großen Winterspaß, darüber zu streiten, ob bestimmte Filme als Weihnachtsfilme klassifiziert werden können oder nicht. Mel Gibson ist Chris Cringle alias der Weihnachtsmann, eine desillusionierte Ikone, die sich über die Kommerzialisierung von Weihnachten ärgert. Vielleicht ist es an der Zeit, den Mantel abzulegen, sagt er zu Mrs. Claus (Marianne Jean-Baptiste). Er hat an Einfluss verloren und ist nur noch ein dummer fetter Mann in einem roten Anzug. Weihnachten ist zu einer Farce geworden und er zu einem Witz. Seit Jahren gibt es keinen Weihnachtsgeist mehr auf der Welt. Nach einer Reihe unglücklicher Weihnachten ist er pleite und gezwungen, einen Militärauftrag für die Herstellung von Schalttafeln für Kampfjets anzunehmen, um die Elfen zu beschäftigen und seine Stromrechnung zu bezahlen. "Ich hätte für mein Abbild eine Lizenzgebühr verlangen sollen", schimpft er. In der Zwischenzeit heuert ein reicher Teenager vom Typ Patrick Bateman, der sich darüber aufregt, dass er einen Klumpen Kohle in seinen Strumpf bekommen hat, einen skrupellosen Auftragskiller namens Skinny Man (Walton Goggins) an, der den Weihnachtsmann umlegen soll. Die Jahreszeit des Gemetzels und des Blutvergießens ist angebrochen. Es gibt eine Botschaft in "Fatman", aber sie handelt nicht vom guten Willen gegenüber allen Menschen. Es ist ein Essay über das Versagen der Menschheit, den Mangel an Moral oder Angst vor Konsequenzen. Wie das, was Weihnachten ausmacht, nämlich Familie, Großzügigkeit, Glück und Freude sind in der heutigen Welt irgendwie ausgelöscht worden. Wir wissen das, weil Gibson unaufhörlich darüber grummelt und murrt, bevor die Schießerei in der Werkstatt des Weihnachtsmanns den größten Teil der letzten halben Stunde des Films einnimmt. Ist "Fatman" also ein Weihnachtsfilm? Nicht wirklich. Tatsächlich weiß er nicht so recht, was er sein will. Er ist abwechselnd düster, cartoonhaft gewalttätig und brutal, und das alles umhüllt von einem Leichentuch aus schwarzem Humor. Es ist ein verwirrendes Konzept, das auf der Suche nach einem richtigen Ton ist. Völlig furchtbar ist es nicht, doch sollte dieser Weihnachtsmann in deine Stadt kommen, solltest du dich in Acht nehmen.

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