TommyDeVito - Kommentare

Alle Kommentare von TommyDeVito

  • TommyDeVito 07.10.2020, 18:43 Geändert 07.10.2020, 18:44

    Drei Penisringe den dauergeilen Elbenkönigen hoch im Schlafzimmerlicht,
    Sieben den hemmungslosen und überraschend gut bestückten Zwergenherrschern in ihren Rammelhallen aus Stein,
    Den vergeblich bumsenden Sterblichen, ewig dem Tode verfallen, neun,
    Einer dem Dunklen Herrn auf dunklem Latexthron
    Im Lande Mordor, wo die Sexualstraftäter drohn.

    Eine Reitpeitsche sie zu knechten, sie alle zu finden,
    Ins dunkle SM-Zimmer zu treiben und mit Fesseln ewig zu binden
    Im Lande Mordor, wo die Geschlechtskrankheiten drohn.

    Was für eine uninspirierte Idee... Ausgerechnet die sexlose Welt von Mittelerde muss "sexed up" werden. Wer wollte nicht auch schon immer wissen, ob Gandalfs Schamhaare von grauer zu weisser Farbe wechseln. The carpet matches the wizard drapes, doesn't it?

    12
    • 9
      TommyDeVito 05.10.2020, 21:09 Geändert 05.10.2020, 21:11

      François und Thérèse sind glücklich verheiratet, unternehmen regelmässige Ausflüge mit ihren zwei sehr süssen, anständigen Kindern, und beide sind arbeitstätig. François geht seinem Beruf als Tischler sichtlich gerne nach, während Thérèse gewissenhaft und mit Herzblut als Näherin tätig ist. Sie lieben sich und alles scheint zu schön um wahr zu sein.

      Doch dann verliebt sich François in eine zweite Frau, die im Postamt tätige Émilie, welche dem blondhaarigen und schlanken Typ seiner Frau entspricht, sexuell jedoch noch deutlich attraktiver wirkt (Darstellerin Marie-France Boyer ist wirklich umwerfend hübsch, sodass ich mich auch schnell etwas verliebt habe...).

      François beginnt rasch eine Affäre mit der auch im Bett aufregenderen Émilie, ist ihr gegenüber aber von Beginn an aufrichtig bezüglich seinem Zivilstand und dass sich dieser nicht ändern wird. Dennoch findet er, dass es durchaus möglich sei, zwei Frauen gleichzeitig zu lieben. Das titelgebende Glück, le bonheur, verdoppele sich ganz einfach, so François, der keine Gewissensbisse hat. Im Gegenteil. Bei einem der regelmässigen Ausflüge aufs Land, bei denen die Familie in idyllischer, natürlicher Umgebung ihr harmonisches Leben auskostet, gesteht François seiner Frau, eine Liebhaberin zu haben.

      Überraschend ruhig und mit verblüffender Toleranz nimmt Thérèse diesen unfreiwilligen Schritt von der Mono- in Richtung Polygamie auf.

      Generell ist Agnès Vardas mittlerweile in seiner Reputation deutlich gewachsener Film etwas gespenstisch, irgendwie schief. Bereits die Eröffnungszene ist von geradezu beunruhigender Perfektion. Eine Familie, die im Übrigen von Schauspieler Jean-Claude Drouot und seiner echten Frau und Kindern verkörpert wird, läuft auf ein Feld von Sonnenblumen zu, Kleider und Sommerlandschaft wirken wie aus einem Werbekatalog. Varda zeigt ein Idealbild des Glücks, welches fast an den in Zeitlupe vorbeifahrenden Feuerwehrwagen und den weissen Vorstadtzaun aus Lynchs "Blue Velvet" erinnert. Inspiriert von impressionistischen Malern inszeniert Varda insbesondere die Ausflüge ins Grüne malerisch, warme Farben in Natur und farblich darauf abgestimmten Kleidern und Inneneinrichtungen werden von den Klangfarben der Musik Mozarts komplementiert.

      Doch es tun sich auch in diesem Hort des Glücks Abgründe auf, so scheint es zumindest im späteren Verlauf des Films, wobei Varda niemals in solch explizit schwarze Tiefen wie Lynch abtaucht. Ironische Elemente, welche zuweilen sogar ins Zynische abdriften, und eine sehr subjektive Erzählperspektive, welche im deutschen Titel etwas zu klar interpretiert wird, scheint Varda bewusst einzustreuen, um eine Art feministischen Schauerfilm zu machen, der die gesellschaftlichem Druck geschuldete Unterwürfigkeit der (Ehe-)Frau und die Egozentrik des (Ehe-)Mannes in der traditionellen Ehegemeinschaft hinterfragt. Dies ist zumindest eine gängige Interpretation, welche etwa gestützt wird von einer Szene, in welcher Thérèse ihren Mann fragt, welche französische Schauspielerin - Jeanne Moreau oder Brigitte Bardot - er attraktiver fände. Er weicht aus, verweist stattdessen auf seine Frau, sie sei für ihn die schönste. Doch kurz darauf schneidet Varda schon zu einem Schliessfach an François' Arbeitsplatz. Bilder von "la Bardot" ohne Ende, ist ihr Ehemann also ein skrupelloser Lügner mit Januskopf? Auch an anderen Stellen spielt Varda mit der Subjektivität der männlichen Sichtweise.

      Eine zweite Interpretationsebene eröffnet sich sogar, welche weit über einen Standpunkt zu Geschlechterrollen herausgeht. Farbgestaltung und Idylle scheinen sogar darauf hinzudeuten, dass die Idee des bürgerlich-traditionellen Glückes mit verliebtem Ehepaar, süssen Kindern und stabilem Job eine riesige, lächerliche Lüge, eine Chimäre ist (hier wieder eine gewisse Parallele zu späteren Filmen wie "Blue Velvet" oder "American Beauty"). Nur im Fernsehen oder im Film, deutet Varda womöglich an einer Stelle an, gibt es so etwas. Das Leben ist doch weitaus komplexer, chaotischer, brutaler.

      Doch überrascht die Sichtweise der Autorenfilmerin selber, wenn man sich Interviews zum Film ansieht. Zwar hat Varda "Le Bonheur" in der Tat mit einem reifen Apfel verglichen, in welchem ein Wurm sich eingenistet hat, jedoch sollte man nicht den Fehler machen aufgrund ihres Status als feministische und experimentierfreudige Künstlerin direkt auf eine gewisse ironische Distanz oder sogar eine zynische Gesellschaftssatire zu schliessen. Der Wurm bleibt nur ein Wurm, ist keine Fäulnis, der Apfel bleibt reif, appetitlich.

      Varda scheint es durchaus ernst zu meinen mit ihrer Darstellung des perfekten Glücks und mit Figuren wie François, welcher eine Lebensphilosophie an den Tag legt, welche sowohl befremdlich als auch irgendwo bewundernswert wirkt. Was wäre also, wenn Menschen so direkt mit ihren Gefühlen umgehen würden und dies auch ohne ihren Partnern etwas vorzuspielen? Dazu gibt es wie in "Cléo de cinq à sept" ein im weiteren Sinne existenzialistisches Element, welches wohl den von Varda intendierten Wurm darstellt und Unangenehmes über menschliche Vergänglichkeit, über das unaufhaltsame Fortschreiten der Zeit ausdrückt.

      Nur zwei Dinge können zu "Le Bonheur" letztlich eindeutig gesagt werden: Die formale Umsetzung, insbesondere Schnitt, Farbgestaltung und Farbdramaturgie (welche auch eine Jahreszeitendramaturgie ist), ist hervorragend; zweitens lässt "Le Bonheur" kaum einen Zuschauer ohne Irritation, ohne Denkansätze zurück. Ein faszinierender Film, den ich jedem aufgeschlossenen Zuschauer ans Herz lege.

      10
      • TommyDeVito 04.10.2020, 22:04 Geändert 04.10.2020, 22:11

        Interviewerin: "Of course, Godard is the person who's come closer to your position than..."
        Jonas Mekas: "Now?"
        Interviewerin: "Now."
        Jonas Mekas: "Not in these last... okay, maybe he has cut back since his last film, okay that's not what I want to talk about it. It's so stupid and you see, he's very clever, that I have to admit. To hide the stupidity of his talking about in... in whatever the title of his last film, I wiped it out already of my head, he has cut it to little pieces, abstracted so that when something, some stupid statement is cut to pieces abstracted there, it sounds okay, you see. But when you put it together you begin to think and put it together again, it's naive, it's naive and stupid and simple-minded. He's talked there about the French Resistance and the whole thing is stupid. No, I don't think he has... he has left that, you know, active kind of Marxist or whatever position, but now he has... I think, maybe his brain has melted, he's now totally in... descended into the... totally nit-witty, stupid."

        Quelle: https://youtu.be/jkEFultPpts
        Interview stammt aus dem Jahr 2003, demzufolge müsste Godards damals letzter Film "Auf die Liebe" gewesen sein.

        4
        • Ein wunderbarer Artikel bzw. eher eine Zusammenstellung von Bildern, die das Herz jedes Filmfans etwas höher springen lässt:
          https://www.thefilmhashery.com/articles/did-you-know-who-kept-satyajit-ray-company
          Zu sehen sind etwa Ingmar Bergman und Satyajit Ray beim gemeinsamen herzhaften Lachen oder Antonioni, Ray und Billy Wilder in einem Café in Cannes (wobei Billy die anderen beiden mit Sonnenbrille und Zigarre in Sachen Coolness locker aussticht).

          Dazu noch ein ähnlicher Artikel mit einem Foto von Antonioni, Kurosawa und Ray vor dem Taj Mahal (also drei Meister und ein Meisterwerk):
          https://www.criterion.com/current/posts/3038-a-tour-of-the-taj-with-satyajit-ray

          3
          • 8 .5
            TommyDeVito 01.10.2020, 00:22 Geändert 01.10.2020, 11:42

            In "Tage und Nächte in der Wildnis" reisen vier gebildete Männer aus Kalkutta für ein paar Tage aufs Land. Angezogen werden sie etwa durch die Eingeborerenstämme, welche sich in der Region befinden und deren Frauen gerade auf einen der Männer, der vor kurzem von seiner Flamme fallen gelassen wurde, durch exotisches Aussehen begehrenswert wirken. Auch setzen sie sich schon früh über Regeln hinweg, indem sie einen Wächter eines Bungalows bestechen, obwohl auf dem Schild vor dem Gebäude explizit Übernachtungen ohne Reservationen verboten sind. "Thank god for corruption", kommentiert dies der Wächter, während er dankbereit das Geld zählt und schon machen sich bei Ortsansässigen Sorgen breit, dass die Ankunft der Städter eher eine unerfreuliche Seite hat. Diese kümmern sich jedoch nicht weiter darum, frönen der Regellosigkeit, dem Ausbruch aus der monotonen Arbeitswelt und der stickigen Stadtluft und verbrennen symbolisch eine Zeitung. Auf Wiedersehen, Zivilisation! Willkommen Ausgelassenheit, Waldluft und Gesang und Tanz, der wie aus einer vergangenen Epoche zu stammen scheint.

            Neben den Zusammentreffen mit dem Landvolk und traditionsträchtigen Stämmen, welche Regisseur Satyajit Ray subtil und zugleich messerscharf seziert, um städtische Überheblichkeit, Klassenunterschiede und ökonomisches Gefälle blosszustellen, spielt sich besonders viel zwischen den jungen Männern und einer lokalen Familie ab. Einerseits eine junge Witwe, die sichtlich Gefallen an den Gästen und der damit einhergehenden Vergnüglichkeit findet, andererseits eine zunächst eher unnahbar scheinende Dame, was die zwei grössten Stars des Films zusammenführen wird (Soumitra Chatterjee wird trotz seines Charmes von der Intelligenz und Eleganz der herausragend spielenden Sharmila Tagore eingeschüchtert).

            Ray, wie immer mit einem äusserst empathievollen Blick, habe ich ausser in "The Chess Players" noch nicht so unbeschwert, so leichtfüssig und so lustig erlebt. Betrunken tanzen die Kerle eines Nachts einen Twist und versperren damit einem heranfahrenden Auto den Weg - unwissend, dass die beiden Damen sich im Wageninnern auf ihre Kosten amüsieren. An einem anderen Tag steht der Besuch einer Kirmes an, die am Karussell montierte Kamera, welche fast an die Schaukel an "Charulata" erinnert, und die lachenden Gesichter versprühen Leichtigkeit, Sorgenlosigkeit. Doch auch Frustrationen und (Existenz-)Ängste, welche - typisch Mann - beim Saufen Raum finden, genauso wie aufkeimende Liebe sorgen für (Gefühls-)Chaos. Auch Krankheit, Tod und Suizid sind Themen, die Ray nicht ausspart. Dass der im Originaltitel als "Aranyer Din Ratri" bekannte Film, welcher 1970 das dritte Schaffensjahrzehnt von Satyajit Ray sozusagen eröffnete, dabei nicht bleischwer wird, liegt an dem unverkennbaren Humanismus des indischen Meisters. Die "New York Times" schrieb von einem "‘rare, wistful movie that somehow proves it’s good to be alive". In der Tat, auch wenn ich das natürlich nicht wirklich glaube (das mit dem "good to be alive").

            7
            • TommyDeVito 30.09.2020, 16:40 Geändert 30.09.2020, 16:49

              Zu Nosferatu:
              "Dutch behavioral biologist Maarten 't Hart, hired by Werner Herzog for his expertise of laboratory rats, revealed that, after witnessing the inhumane way in which the rats* were treated, he no longer wished to cooperate. Apart from traveling conditions that were so poor that the rats, imported from Hungary, had started to eat each other upon arrival in the Netherlands, Herzog insisted the plain white rats be dyed gray. To do so, according to Hart, the cages containing the rats needed to be submerged in boiling water for several seconds, causing another half of them to die. The surviving rats proceeded to lick themselves clean of the dye immediately, as Hart had predicted they would. Hart also implied sheep and horses that appear in the movie were treated very poorly but did not specify this any further."
              *(Der Autor und Biologe Maarten ’t Hart erzählte 2010 in der niederländischen Fernsehsendung „Zomergasten“ über seine Mitwirkung als Rattenexperte beim Film. Gemäß ’t Hart wurden entgegen seiner Empfehlung 12.000 Ratten aus Ungarn in die Niederlande verfrachtet, wo eine Pestszene gedreht werden sollte. In der Sendung bezeichnete er das Vorgehen Herzogs als „unmoralisch“.)

              Zu Stroszek:
              "This last episode focuses on a chicken that is lured to stand on a hot plate to eat – not so hot that she is seriously injured, but hot enough that she “dances” in constant discomfort."

              Zu "Game in the sand":
              "Game in the Sand (German: Spiel im Sand) is an unreleased short film written and directed by Werner Herzog in 1964. The plot concerns four children and a rooster in a cardboard box, and includes a scene where the chicken is buried in sand up to its neck. Very little information about the film and its production is known. The film has never been published or publicly exhibited, and Herzog has stated that he will never give it a release in his lifetime. Herzog says that the shooting "got out of hand," in a way which caused him to abandon the project. He has likened the shoot to controversial moments in his later film Even Dwarfs Started Small, such as young piglets suckling on the corpse of a dead mother pig, and cannibalistic chickens, or when an actor was accidentally set on fire and run over by a truck."

              Und darauf Kunstkritiker Jonathan Jones (The Guardian) so:
              "An alligator hit by a car lies squirming on a blood-smeared road outside New Orleans. It's terribly realistic, and there's nothing at the end of the film to say it was created with special effects – nor did I notice one of those declarations that no animals were hurt during the making of the film. What I did spot was a credit saying that Werner Herzog, the film's director, personally photographed the animal scenes in Bad Lieutenant: Port of Call – New Orleans.

              You wouldn't want to be an animal in a Herzog movie. Few of them seem to lack a scene of animal cruelty. In Aguirre, Wrath of God the crazed conquistador antihero, played by Klaus Kinski, tosses aside a monkey as if it were a banana skin. In Nosferatu the Vampyre, thousands of rats were let loose in Delft and I don't know if they were all accounted for at the end {nein, waren sie nicht}. And let's not even talk about the fate of the pig in Even Dwarfs Started Small. Herzog's raw relationship with the natural world is one of the reasons he is the greatest film-maker of our time."

              Einer der grössten lebenden Regisseure ist Herzog sicherlich. Furchtlos? Ja. Eine ungeschönte Betrachtung und Beziehung zur "Natur", eine Perspektive, die in seinem Werk eine entscheidende Rolle spielt? Ja, ohne Frage, auch wenn man Herzog in dieser Hinsicht teilweise fast als (Schwarz-)Romantiker bezeichnen könnte - eine nüchtern-naturalistische Sicht ist das häufig nicht.

              Aber dass man wie Herr Jones bei einer Szene, bei der man nicht klar erkennen kann, ob Tierquälerei vorhanden war, gerade das zum Qualitätsmerkmal und zu einem Paradebeispiel visionärer künstlerischer Unerschrockenheit (v)erklärt? Für mich lächerlich. Aber vielleicht muss man ein Kunstkenner sein, um das zu verstehen.

              7
              • Quentin Tarantino falling in love... (irgendwann in den 90ern)

                "...now, Wong Kar-Wai, for my money, is one of the most exciting filmmakers that has come out since I've personally been making films..."

                ...and out of love again... (Interview 2015)

                "And he’s so specific, but as opposed to a lot of these specific art-film directors that you’re going to get tired of, like Wong Kar-wai, you never get tired of Almodóvar."

                3
                • Der verlorene Zwillingsbruder des Schotten Richard Madden (Robb Stark aus "Game of Thrones").

                  1
                  • 6
                    TommyDeVito 18.09.2020, 03:18 Geändert 18.09.2020, 03:33

                    Netflix goes Southern Gothic (auch wenn die Handlungsorte nicht im eigentlichen Süden der USA liegen).

                    Regisseur Antonio Campos entwirft anhand des hochgelobten, mir bis dato unbekannten gleichnamigen Debütromans von Donald Ray Pollock - vielversprechend beschrieben von einem Literaturkritiker als "[...] love child of [Flannery] O'Connor and [William] Faulkner [...] captured by Cormac McCarthy, kept in a cage out back and forced to consume nothing but onion rings, Oxycontin and Terrence Malick's Badlands" -
                    ein (für das Genre typisch) grimmiges Bild amerikanischer Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg.

                    Mit einer bereits schwer erträglichen Szene inmitten des Pazifikkrieges, welche mich unweigerlich an Zhang Yimous (blut-)rotes Kornfeld erinnerte, wird der Themenkomplex über Sünde, Leiden, Korruption und Sehnsucht nach Transzendenz, nach sinnstiftendem Halt in einer Welt mit schier endlosen Abgründen, welche den Film und seine Figuren fortan unnachgiebig begleiten werden, in religiöser Symbolik gebündelt.

                    Die Handlung ist erkennbar romanhaft, erstreckt sich über einen langen Zeitraum - eingerahmt wird "The Devil All The Time" einerseits vom bereits erlebten Trauma des zweiten grossen globalen Blutbades des 20. Jarhunderts und andererseits dem Versprechen neuer nationaler Traumata im (noch nicht?) apokalyptischen Vietnam.

                    Campos wechselt die Perspektive von einer Familie zur anderen, von einer Figur zur nächsten. Die bereits erwähnte religiöse Komponente in mannigfalten, aber stets (selbst-)destruktiven Ausprägungen durchzieht die Geschehnisse in Ohio und West Virginia - (jetzt alle zusammen: "...mountain mamaaaaa!") - als verzwirbelten roten Faden, dessen Aufspulen einige Gewalt und Sex mit sich bringt, was mit Bibelstellen, Predigten und subjektivem Glauben begründet und gerechtfertigt wird; Hauptsache in Übereinstimmung mit "meiner" Idee Gottes, meiner Konzeption von Gerechtigkeit, von Anstand... (Und kein liberaler Theologieprofessor weit und breit zu sehen, um von den Vorzügen und der Unabdingbarkeit einer korrekt vorgenommenen Exegese zu schwadronieren.)

                    Zeitsprünge sind für den Regisseur unentbehrlich, schliesslich scheint sehr viel Stoff abzuarbeiten zu sein. Obwohl es nicht schwer fällt Empathie (oder deutliche Antipathie) für die verschiedenen Charaktere zu entwickeln, so konnte ich mich trotz der 138 Minuten Laufzeit nicht des Gefühls erwehren, dass die (meist) harten Schicksale dieser fiktiven Menschen, die durch das hervorragende Ensemble zu filmischem Fleisch und Blut werden, eine gewisse Leere aufweisen, die sich bei mir als emotionale Ermüdung erkennbar machte.

                    Diese Leere ist nur teilweise mit dem grösstenteils pessimistischen Ton zu erklären, welcher vom Erzähler - gesprochen vom Autor der Vorlage höchstpersönlich - zeitweise mit fast süffisanter Bösartigkeit unterstrichen und dann wiederum mit moralischer Abscheu - etwas erinnernd an den Roman, nicht den Film, "No Country for old men" - verbal getreten wird. Es ist nicht so, dass ich die negativen Urteile zu "The Devil All The Time" wirklich teile, denn von "a colossal misfire, a sweaty mess from start to finish", wie ich an einer Stelle las, kann meines Erachtens nie und nimmer die Rede sein.

                    Die erwähnten Schauspielleistungen (u. a. Henry Melling, Jason Clarke, Eliza Scanlen) und die durchweg sehr solide Inszenierung des mir bis anhin unbekannten Regisseurs schaffen es genügend Momente zu kreieren, welche zuweilen zum Nachdenken anregen und einen Anflug von Wärme, einen Hauch von Zärtlichkeit in dieser Tristesse bieten. Gerade Tom Holland, den ich nur als frecher und im Vergleich zu Tobey Maguire für mich weitaus uninteressanterer Peter Parker kannte, ist ein emotionaler Anker, der so etwas wie eine Identifikationsfigur für den Zuschauer darstellt, jedoch selbst als Herz des umfassenden Narrativs nicht verhindern kann, dass das filmische Schiff wiederholt in den dramaturgischen und gleichgültigen Wassermassen des Southern Gothic-Sturmes unterzugehen droht.

                    Als pessimistischer Mensch frage ich mich, wieso ich gerade mit kompromisslos düsteren Filmen mit expliziter Gewalt ab und an so meine Probleme habe. Auf dem Papier sollte "The Devil All The Time" bei mir grundsätzlich offene (Kirchen-)Türen einrennen... Und genau da liegt der, ähem, Hund begraben. Was in Form des geschriebenen Wortes bei mir manchmal zur ergreifenden Lektüre wird (etwa wie Cormac McCarthy über hunderte Seiten einen abnormal blutigen Meridian durch Amerika zieht), kann alleine bei der Vorstellung einer zu expliziten Filmversion ein Grauen sein.

                    Antonio Campos erliegt zwar nie dem reisserischen Selbstzweck, lässt manche Gewaltausbrüche abseits der Kamera geschehen oder deutet nur an, für mich war das trotzdem einmal zu oft und zu repetitiv von diabolischer Härte, die der dichte Film insgesamt nicht wirklich rechtfertigen kann - auch wenn das bereits im Titel als durchgehendes Programm verkündet wird. Es gibt zwar sogar einzelne recht lustige Momente, die der Romanvorlage geschuldete Komplexität harmoniert, wie ich finde, nicht in zufriedenstellendem Masse mit der durchweg finsteren Grundhaltung.

                    8
                    • TommyDeVito 17.09.2020, 17:58 Geändert 17.09.2020, 18:03

                      Den Bewertungen zufolge scheint Polanski nicht so dein Fall zu sein. Woran liegt's? Edit: Wobei du bei der Punktevergabe generell strenger zu schein seinst (als ich), das ist mir klar.

                      • "The quiet but deep observation, understanding and love of the human race, which are characteristic of all his films, have impressed me greatly. … I feel that he is a “giant” of the movie industry. Not to have seen the cinema of Ray means existing in the world without seeing the sun or the moon. I can never forget the excitement in my mind after seeing it (Pather Panchali).

                        It is the kind of cinema that flows with the serenity and nobility of a big river. People are born, live out their lives, and then accept their deaths. Without the least effort and without any sudden jerks, Ray paints his picture, but its effect on the audience is to stir up deep passions. How does he achieve this? There is nothing irrelevant or haphazard in his cinematographic technique. In that lies the secret of its excellence."
                        -Akira Kurosawa (1975)

                        2
                        • TommyDeVito 15.09.2020, 16:44 Geändert 15.09.2020, 17:04

                          1. Singin' in the rain!
                          2. The Sound of Music
                          3. Top Hat
                          4. Cabaret
                          5. All That Jazz
                          Bei der Zusammenstellung einer solchen Liste merke ich, dass ich in diesem Genre noch gigantischen Nachholbedarf habe... mit Busby Berkeley, Vincente Minelli etc. liesse sich da wohl einiges tun.

                          1
                          • 9
                            TommyDeVito 13.09.2020, 21:24 Geändert 13.09.2020, 21:36

                            "You only had my interest before. Now you have my admiration."
                            Wie es in den anderen Kommentaren mal mit Lob und mal eher mit etwas kritischem Unterton beschrieben wurde, Josef von Sternbergs "Shanghai Express" lebt vor allem von den expressiven Bildern und der umwerfenden Lichtsetzung, welche von Sternbergs Muse Marlene Dietrich (erneut) zur Leinwandgöttin stilisieren. Ich fands grandios, was auch an den gut besetzten Nebenfiguren und dem an (kulturellen) Stereotypen orientierten, leichtfüssigen Humor lag. Elegantes und charmantes Hollywoodkino mit formaler Raffinesse, welches ich schmerzlich vermisse.

                            6
                            • Jungspund David Lynch (33) in einem Interview zu "Eraserhead", in welchem auch sehr amüsante zeitgenössische Reaktionen zum Horrorkultfilm vorkommen:
                              https://youtu.be/l3WFOPWbG8I

                              "I didn't want big names, I wanted people that were obscure because if you're going into the netherworld, you don't wanna go in with Chuck Heston, you know?"

                              2
                              • TommyDeVito 13.09.2020, 01:41 Geändert 13.09.2020, 02:15

                                Ich poste an dieser Stelle etwas willkürlich ein Ranking der Filmografie von Francis Ford Coppola von der Seite Taste of Cinema (http://www.tasteofcinema.com/2017/all-24-francis-ford-coppola-movies-ranked-from-worst-to-best/), welches insgesamt in den Begründungen nachvollziehbar und mehr oder weniger gelungen wirkt und ich eventuell als Orientierungshilfe nutzen werde, falls ich neues Interesse an FFC-Filmen entwickeln sollte. (Ich hätte auch eine Liste auf meinem Profil anlegen können, es ist jedoch wahrscheinlicher, dass ich irgendwann wieder hier lande.)

                                1. The Godfather (1972)
                                2. The Conversation (1974)
                                3. The Godfather Part II (1974)
                                4. Apocalypse Now (1979)
                                5. Rumble Fish (1983)

                                6. Bram Stoker's Dracula (1992)
                                7. Tucker: The Man and His Dream (1988)
                                8. The Rain People (1969)
                                9. One from the Heart (1982)
                                10. Youth Without Youth (2007)

                                11. The Outsiders (1983)
                                12. Tetro (2009)
                                13. The Rainmaker (1997)
                                14. Peggy Sue Got Married (1986)
                                15. Gardens of Stone (1987)

                                16. You’re a Big Boy Now (1966)
                                17. The Cotton Club (1984)
                                18. Dementia 13 (1963)
                                19. Finian’s Rainbow (1968)
                                20. The Godfather Part III (1990)

                                21. New York Stories (1989) (Segment: “Life Without Zoe”)
                                22. Jack (1996)
                                23. Twixt (2011)
                                24. Tonight For Sure (1962)

                                Persönliche Sicht aus der Erinnerung: "Tucker" ist eine rundere Sache als der Dracula-Film, "The Cotton Club" und der dritte Pate werden wohl zu kritisch betrachtet.

                                5
                                • 8
                                  TommyDeVito 12.09.2020, 13:23 Geändert 12.09.2020, 23:25

                                  Leos Carax erzählt in "Les amants du pont-neuf" eine Liebesgeschichte, wie ich sie so noch nicht erlebt habe.

                                  Alex (Denis Lavant), obdachlos und abhängig von Alkohol und Schlafmitteln, kreuzt seinen Weg ohne sein Wissen mit Michèle (Juliette Binoche), nachdem er einmal mehr zusammengebrochen und von der öffentlichen Fürsorge mitgenommen und gepflegt worden ist.

                                  Er kehrt zurück an seine Wohn- und Schlafstätte, eine heruntergekommene, abgesperrte Brücke in Paris, welche bald renoviert werden soll. Doch neben seinem einzigen Nachbar, dem deutschen Hans, ist nun auch Michèle eine unerwartete Bewohnerin der Brücke, was Hans fuchsteufelswild macht - er duldet diesen Eindringling nicht. Doch auf Alex hat die junge Frau, eine erblindende Malerin eine gänzlich andere Wirkung.

                                  Seine einsame Existenz in Armut und Dreck, in welcher er nur noch durch Schlafmittel überhaupt durch die Nacht kommt, wird ordentlich durchgerüttelt, Gefühle, welche er wahrscheinlich nicht mehr für möglich gehalten hat, entwickeln sich. Langsam kann er sich Michèle annähern, doch diese wird von ihrer Vergangenheit, welche Carax glücklicherweise nie näher erklärt, wiederholt heimgesucht.

                                  Alex fürchtet, dass er wieder alleine zurückbleiben könnte...

                                  "Les amants du pont-neuf" ist wie schon mein Erstkontakt mit Carax ("Holy Motors") kompromissloses, teilweise visionäres Kino. Die ungeschönte Realität, auch fürchterliche Gewalt am eigenen oder fremden Körper werden nicht ausgespart. Dafür schwingt sich der Film in seinen poetischsten, leichtfüssigsten Sequenzen - etwa in dem vielleicht atembaurendsten, irrwitzigsten Feuerwerk der Filmgeschichte - in ergreifende Höhen, welche für mich die eine oder andere subjektiv empfundene Länge vergessen machen.

                                  Denis Lavant ist wieder einmal mit so viel Körpereinsatz dabei, dass es teilweise schon unheimlich anmutet, und Juliette Binoche steht ihm abgesehen von der Akrobatik in Nichts nach. Die Szenerie von Paris und insbesondere die titelgebende Brücke, deren Verwendung das erwartete Filmbudget aus den Nähten platzen liess, spiegeln das turbulente Innenleben der Figuren, wobei Carax niemals in Sentimentalität verfällt. So kann romantisches Kino auch aussehen.

                                  6
                                  • 9 .5
                                    TommyDeVito 10.09.2020, 23:17 Geändert 10.09.2020, 23:26

                                    Louis Malle verarbeitete in den 80ern Kindheitserinnerungen an seine Zeit in einem katholischen Internat während des Zweiten Weltkrieges.

                                    Es ist "Au revoir les enfants" anzumerken, wie lebendig Malles Reminiszenzen damals noch waren. Ähnlich wie des Regisseurs fiktive Entsprechung in einer Szene an einem Brief der in Paris lebenden Mutter riecht, um den Duft von ihr, von Heimat, von Geborgenheit einzufangen, so kann man in diesem Film förmlich riechen, welche Düfte in der Küche, im Esssaal oder in der Kirche des Internats vorzufinden sind. Selten war eine filmische Rekreation für mich so greifbar, so unmittelbar und das obwohl Louis Malle wie schon in "Lacombe Lucien" trotz anspruchsvoller, heikler Thematik hinter der Kamera (und zuvor auch am Schreibtisch) auf jedwelchen dramatischen Holzhammer verzichtet. Ein Film wie "Au revoir les enfants" schleicht sich auf leisen Sohlen, aber doch mit zumehmender emotionaler Resonanz ins Herz des Zuschauers, ist dabei ohne Sentimentalität und doch auch irgendwo ergreifendes Gefühlskino.

                                    Wenn sich Protagonist Julien etwa bei seiner Schatzsuche im fast übernatürlich anmutenden Wald verirrt oder er heimlich seinen neuen Freund beim nächtlichen Beten beobachtet, dann muss ich wiederholt konstatieren, dass es gerade dieser schwer festzumachende Begriff "Atmosphäre" ist, welcher immer wieder Regisseure mit kompetentem Handwerk von Künstlern trennt.

                                    Kein Wunder, dass Malles indirekte Hommage an Charlie Chaplin so gelungen ist. Wenn er den zuschauenden Knaben als auch den Geistlichen bei einer Filmaufführung von "The Immigrant" folgt, ihr Lachen, ihr Erstaunen einfängt, dann stellt er exakt die Magie dar, welche auch mich bei der Sichtung von "Au revoir les enfants" an den Bildschirm gefesselt hat. Das ist intelligentes Kino für Kopf und Herz und darüber hinaus sicherlich eine der unvergesslichsten Freundschaften der Filmgeschichte.

                                    11
                                    • TommyDeVito 09.09.2020, 12:10 Geändert 09.09.2020, 13:13

                                      Das erinnert mich an eine Drehbuchautoren-Runde des Hollywood Reporter, zu welchem es in den Youtube-Kommentaren Kritik gab, da die Runde abgesehen von einer Frau nur aus Männern bestand. Dass etwa der anwesende Autorenfilmer Pedro Almodóvar sehr aus der Reihe tanzte aufgrund seines unvergleichliches Stils, der Ästhetik seiner Filme und seinem Mix aus Hollywoodmelodram ("All About Eve", Douglas Sirk) und europäischem Arthouse-Kino, war dem oder den Kommentierenden dabei schnurzpiepegal. Die Ironie war dabei zusätzlich, dass Almodóvar sicherlich einer der bekanntesten homosexuellen Künstler der Welt ist, und dass die einzige Frau in der Runde mit Abstand als die Person mit dem naivsten, seichtesten Gemüt rüberkam - ob ästhetisch oder, wie ich vermute, auch was die Weltanschauung angeht.

                                      Und damit möchte ich mich natürlich nicht dafür aussprechen, Frauen von solchen Diskussionsrunden zu verbannen. Nein, im Gegenteil, es sollte viel mehr Wert darauf gelegt werden, wie sich Künstler in ihrem Handwerk, in ihrem persönlichen Ausdruck und evtl. in ihren theoretischen Ansätzen unterscheiden. So könnte man beispielsweise einen Sitzplatz in einer solchen Diskussionsrunde, der für einen (männlichen) Regisseur generischer Filme bestimmt ist, stattdessen an eine herausragende, ungewöhnliche Regisseurin vergeben.

                                      Doch geht es in Hollywood ja nur bedingt um Kunst, schliesslich haben sie es ja auch nur selten geschafft, einen Regisseur eines fremdsprachigen Films auszuzeichnen, obwohl es in der Vergangenheit Nominierungen in der Kategorie für u. a. Ingmar Bergman, Federico Fellini, Akira Kurosawa und (verblüffenderweise) selbst Hiroshi Teshigahara gab und obwohl ausserhalb der englischsprachigen Welt schon in früher Filmgeschichte Bemerkenswertes gedreht wurde. Mit dem Hauptpreis-Gewinn von "Parasite" ist nach ca. 125 Jahren Filmgeschichte das nicht-englischsprachige Kino den hohen Standards der Academy scheinbar erst würdig geworden. (Ja, ich bin mir bewusst, dass die Oscars einen amerikanischen und deshalb recht auf die eigene Filmindustrie fokussierten Filmpreis darstellen.)

                                      Zurück zu den geplanten Änderungen:
                                      Dass "der beste Film" nun gekoppelt ist an bestimmte Quoten-Vorgaben, macht für mich die paar aus meiner Sicht mehr oder weniger überraschenden Gewinner in der Kategorie in den letzten Jahren fast zur traurigen Angelegenheit. Klar, dass "Moonlight" nicht einzig aufgrund der an etwa Wong Kar-Wai angelehnten Inszenierung, sondern auch der Thematik, die sicherlich von manchen Wählern oberflächlich für gut befunden wurde, Pluspunkte sammeln konnte. Klar, dass auch die Arthouse-Aufmachung von "Birdman" inkl. Godard-Zitat ohne den Fokus auf die Filmwelt nicht gewonnen hätte. Klar, dass "Parasite" nicht einzig wegen seiner Qualität und dem behaupteten Interesse der Academy für südkoreanisches Kino gewann. Trotzdem schien mir (wohl naiverweise), dass sich die Academy etwas mehr in Richtung Filmkunst und weg vom immer wiederkehrenden "oscar bait" zu bewegen schien.

                                      Die Kriterien sind ohnehin zu kurz gedacht.

                                      -Erstens wird die Möglichkeit von herausragenden kleineren Produktionen gar nicht erst bedacht, was gerade die Kriterien zur Besetzung oder zur Crew angeht - man denke etwa an "My Dinner with Andre", etliche Kammerspiele, generell intimere Produktionen mit kleiner Crew etc.

                                      -Zweitens könnte sich daraus letztlich nur ein Trend entwickeln, alibimässig in Positionen bezüglich Marketing oder gewissen technischen Aufgaben "diverse" - nebenbei ein fürchterliches Wort - Menschen zu besetzen, um eine Chance auf den Preis zu haben. Zwar hätte man dann bezüglich der gewünschten Vielfalt etwas erreicht, doch auch nur auf dieselbe Weise, wie jeder ethisch fragwürdige Konzern mit gewissen Kampagnen, Marketing und Imagepflege eine saubere Aufmachung suggerieren möchte.

                                      -Drittens hilft man auch in anderer Hinsicht grossen Studios wie Disney, die sich diese Anbiederung ans Publikum mit vermeintlichem sozialen Bewusstsein am besten leisten können und gerne ihre aufgeblähten, überteuren Monster-Produktionen bei angesehenen Filmpreisen nominiert sehen.

                                      -Viertens ist es schlicht und einfach kunstfeindlicher Unsinn, die Möglichkeit einen solchen Preis zu gewinnen, an solche Kriterien zu binden. Es reicht schon, dass extrem viel von Oscar-Kampagnen, Beziehungen in der Industrie, Screenings in bestimmten US-Städten oder plumper Thematisierung von komplexen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen abhängt. So hat es nun erst recht nichts mehr mit Kunst zu tun. Es ist mir schlicht egal, ob "Black Panther" diverser als Bergmans "Licht im Winter" oder Wong Kar-Wais "In the mood for love" ist. Über Qualität sagt das nichts aus. Nichts.

                                      3
                                      • 8 .5
                                        TommyDeVito 06.09.2020, 13:44 Geändert 06.09.2020, 14:13
                                        über Limit

                                        "Limite" (1931), das einzige Werk von Mário Peixoto, gilt als heiliger Grahl des brasilianischen Kinos. Im Erscheinungsjahr erhielt der Film wenig Beachtung, langsam wuchs jedoch das Ansehen des Stummfilms und so wurde etwa dem in den 40ern in Brasilien tätigen Orson Welles, dessen "The Magnificent Ambersons" in der Zwischenzeit in der eigenen Heimat verstümmelt wurde, das technisch bemerkenswerte Werk vorgeführt.

                                        In den 60er-Jahren war der Film bereits so stark beschädigt, dass er nicht mehr projiziert werden konnte. Darüber hinaus wurde er schliesslich von der damaligen Militärdiktatur konfisziert. Ein Herr mit dem Namen Pereira de Mello konnte den Film mit dem in Brasilien indessen mythischen Status schliesslich - die Details sind mir nicht bekannt - zurückholen und eine sehr aufwändige Restauration begann.

                                        2015 wurde "Limite" von der brasilianischen Kritikervereinigung Abraccine zum grössten Film in der Geschichte des Landes gewählt. Jahrzehnte zuvor hatte Regisseur Peixoto selber nachgeholfen, indem er einen Text mit einer Lobpreisung fälschte, welche er Sergei Eisenstein zuschrieb.

                                        "Limite" ist eine Art existenzialistische Parabel und beginnt mit einem an einer Fotografie angelehnten Bild einer Frau, deren Hals von den beiden in Handschellen gefesselten Händen eines Mannes umschlungen ist. Dieses Bild, welches Mann und Frau gefangen, eingeengt, in emotionaler und physischer Bedrängung zeigt, war Inspirationsquelle und Startpunkt für Peixotos lose Handlung.

                                        Drei Menschen befinden sich auf einem Boot, es sind deren zwei Frauen und ein Mann. Diese drei Menschen sind von tiefer Verzweiflung und emotionalem Schmerz geplagt, was sie hierher geführt hat: Ins Nichts, ans Ende, ans Limit ihrer Existenz. Sie treiben auf dem Wasser und versinken in bittere Erinnerungen, welche durch Flashbacks Stück für Stück in Fragmenten der Vergangenheit wie kleine Wellen auf den Zuschauer losrollen.

                                        Mit kraftvollen Push-ins, unzähligen kreativen, zuweilen verblüffenden Kameraperspektiven (insbesondere die Verwendung von teilweise extremer Auf-, Unter- und Schrägsicht), Eisenstein'schen Bildwiederholungen, einer teilweise erratisch-schwebenden Kamera und cleveren Szenenübergängen nutzt Peixoto mit unbändiger Ausdruckskraft das zur Verfügung stehende filmische Vokabular der Zeit, um ins Innere der Figuren vorzudringen. In einer Szene bewegt sich die Kamera einen Strand entlang, betrachtet Fussspuren im Sand. Eine Welle nagt an den Spuren, eine zweite wischt auch den Rest weg. Erinnerungen verblassen und auch das menschliche Leben ist vergänglich, unbedeutend.

                                        Die fragmentarisch-enigmatischen Bilder fügen sich zu einem einzigartigen Filmgedicht zusammen, welches zusätzliche Resonanz durch Musik von Debussy oder Satie erhält und in angenehme Melancholie verfallen lässt. Auch wenn mich nicht alles bei dieser Erstsichtung überzeugt hat - eine Zweitsichtung wird irgendwann folgen -, kann ich mit Sicherheit sagen, dass "Limite" für jeden Filminteressierten und vor allem für Stummfilmliebhaber ein absolutes Muss ist.

                                        9
                                        • 4 .5
                                          TommyDeVito 05.09.2020, 19:31 Geändert 06.09.2020, 13:54

                                          "Wavelength" - laut moviepilot ein 45-minütiger, also knackiger Actionfilm. Das kann, möchte man angesichts dieses hektisch-überdrehten und effekthascherischen Unterhaltungsfilmes von Michael Snow meinen, nur ein bewusst und schelmisch in der Filmdatenbank platzierter Gag sein, lässt mich aber über die Vorstellung schmunzeln, dass dieser Film beispielsweise als Vorfilm zur nächsten "Fast and Furious"-Fortsetzung gezeigt wird.

                                          5
                                          • 5
                                            TommyDeVito 05.09.2020, 03:52 Geändert 05.09.2020, 04:27

                                            SPOILER!

                                            "I'm thinking of ending things", Charlie Kaufmans neuer Film, offeriert vieles auf einmal: Eine Geistergeschichte, die vielleicht doch keine ist, eine Meditation über den Umgang mit dem eigenen Alterungsprozess und dem der Mitmenschen, über Zeit, Sterben und Vergänglichkeit, Reflexion über, Kritik und Ode an Kunst- und Unterhaltungsform Film, pop- und hochkulturelles Zitatenspiel, welches an die im Film erwähnten Trivia-Quizze erinnert, selbstreflexives Vexierspiel, Musical, Thriller, Drama, Groteske, filmisches Essay über Beziehungen, Gewalt, Sexualität...

                                            Kaufman ist also selbst für seine Verhältnisse höchst ambitioniert und lässt den einigermassen aufmerksamen Zuschauer schon früh aufgrund nicht angeschnallter Hauptfiguren oder Dialogzeilen über Knochen, die mit direktem und eventuell eine vierte Wand durchbrechendem Blick in die Kamera vorgetragen werden, vermuten, dass sich die Filmhandlung auf einer anderen, traumähnlicheren Ebene bewegt und die vorkommenden Figuren entweder bereits tot sind oder nie wirklich existiert haben.

                                            Dadurch bleibt fortwährend das unangenehme Gefühl, dass es letztlich doch auf einen gängigen Twist wie eine multiple Persönlichkeitsstörung oder eine Geistergeschichte herausläuft und Kaufman scheint neben den vielen Hinweisen über die Irrealität der Filmhandlung auch mit genussvoller Ironie an Genreklischees zu erinnern (beispielsweise wird vom Gang in einen Keller mit versperrter und seltsam zerkratzter Türe mit direktem Bezug auf Horrorfilme abgeraten).

                                            Die Vorlage, welche ich nicht gelesen habe und nicht lesen werde, scheint konventioneller gestrickt zu sein, Kaufman lässt bewusst weitaus mehr offen. Was in adaptierter Filmform herausgekommen ist, ist für meinen Geschmack ein eher unausgegorenes Mischmasch von etlichen Themen und Einfällen. Zwar gibt es einige tierschüfernde Dialoge, welche sich insbesondere dem Älterwerden als zentralstem Thema widmen, die ständigen Zitate und Infohäppchen aus den Bereichen Medizin, Physik, Literatur, Malerei und natürlich Film wirken irgendwann aber ermüdend.

                                            Ständig konnte ich als Zuschauer Zitate wiedererkennen (die Eröffnungszeile aus "Anna Karenina", auch wenn ich den Roman noch ungelesen zu Hause rumliegen habe), mich daran erfreuen, dass ich gewisse Dinge bereits wusste (etwa, dass Mussolini nicht verantwortlich für vermeintlich pünktliche Züge im faschistischen Italien war), konnte mich als Kunstbanause auf die eigene Schulter klopfen, wenn ich sofort wusste, welcher amerikanische Maler und welches Gemälde gemeint waren, oder ich durfte mich als Filmfan fasziniert wundern, weshalb Kaufman plötzlich einen dialektischen Mini-Essay über Cassevetes' "A woman under the influence" vortragen lässt.

                                            Selbstverständlich sind die Referenzen etwas gehobener und substanzieller als dies etwa in "Forrest Gump" der Fall ist, trotzdem wurde ich gerade an den Hollywood-Streifen von Zemeckis mit seinen repetitiven "Aha"-Momenten erinnert. Derselbe Robert Zemeckis, den Kaufman hier scheinbar aufs Korn nimmt in einem kuriosen, fiktiven Film-im-Film über eine als Kellnerin tätige Veganerin, die für einmal nicht auf den Sack geht. Damit mag Kaufman meine Vorbehalte antizipiert haben, genauso wie er sich über die eigene Zitierwut im Klaren sein wird, wenn ein Oscar Wilde-Zitat über Leute, die sich u. a. durch die Verwendung von Zitaten definieren, mit doppelter Ironie zitiert wird.

                                            Trotz meiner Hochachtung vor Kaufmans fortwährendem Bestreben das Publikum lieber über- als unterfordern zu wollen, trotz meiner Freude an in Dialogen aufblitzenden harten "Wahrheiten" über das tatsächlich in vielerlei Hinsicht grausame Leben und trotz guten schauspielerischen Leistungen ist mir das für einmal zu manieriert, zu überfüllt und ja, zuweilen auch zu nervig, um die Laufzeit von 134 Minuten rechtfertigen zu können. Dann doch lieber imaginäre Eingänge in das Bewusstsein von John Malkovich. Malkovich, Malkovich, Malkovich.

                                            9
                                            • TommyDeVito 04.09.2020, 12:36 Geändert 04.09.2020, 12:36

                                              Ich dachte, Fledermäusen könne Corona nichts anhaben. Jedenfalls gute Besserung!

                                              2
                                              • 7
                                                TommyDeVito 02.09.2020, 20:39 Geändert 02.09.2020, 22:05

                                                Kann ein Film mit einer stattlichen Länge von 185 Minuten mich insgesamt überzeugen, auch wenn ich die ersten 145 Minuten ausserordentlich genervt bin, zappelig werde, als wäre dies mein Erstkontakt mit Tarkowski (oder einem elektrischen Zaun), und den Namen des Regisseurs (Jacques Rivette) während dieser Zeit innerlich so vehement und hasserfüllt verfluche, als hätte er meinem 12-jährigen Ich die Videospiel-Konsole kaputtgemacht, Welpen vor meinen Augen zum Spass ertränkt und darüber hinaus äusserst unehrenvoll meine Mutter beleidigt?

                                                Diese wichtige Frage wurde nun beantwortet. Danke, Jacques.

                                                "Céline und Julie fahren Boot" zitiert u. a. Lewis Carroll und die Marx Brothers, erinnerte mich zeitweise an Nicolas Roegs "Don't look now", die französischen Spätwerke von Luis Buñuel und an versch. Film- und TV-Projekte von David Lynch, ist letztlich aber trotz ähnlicher Sprengungen narrativer Konventionen doch etwas völlig anderes, was zumindest bei mir zu deutlichen Frustrationen führte. Die Erinnerung an diesen einzigartigen und von kreativen Einfällen strotzenden Klassiker des mittlerweile vielleicht am wenigsten bekannten "cahiers du cinéma"/Nouvelle Vague-Regisseurs wird mir dennoch wohl positiv in Erinnerung bleiben.

                                                John Cassavetes hat womöglich die Erklärung dafür:

                                                "You go with the expectancy as an audience that you're gonna see something that's gonna knock you off your feet. And you settle for a nice movie [...] and you think: 'I don't wanna see something different, I don't want to, I hate it, I hate it! I want it in my form, I want action, I want this...'. And then when you see something that's different [...] and you can't get it out of your mind, you're still angry with the son of a gun and you think: 'Aaargh, I hated that picture, I hated it', but...uh, 10 years later you remember it and you think 'I saw something that's interesting'". (Herrlich im O-Ton: https://youtu.be/SNMYmMDGZZ0)

                                                8
                                                • TommyDeVito 02.09.2020, 19:53 Geändert 02.09.2020, 19:58

                                                  Björk und Willem Dafoe in einem Wikinger-Film? Na, wieso eigentlich nicht?

                                                  Freut mich, dass die Isländerin nach einer sehr unangenehm empfundenen Zusammenarbeit mit von Trier wieder zum Film zurückkehrt, lässt das Projekt auf jeden Fall vielversprechend wirken. Eggers hat mich bisher noch nicht enttäuscht, auch wenn ich "The Lighthouse" bei weitem nicht so überzeugend fand wie sein Debüt.

                                                  Ich werde mir "The Northman" sicherlich anschauen, alleine die Bilder von Blaschke werden es wert sein.

                                                  Edit: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Björk hat Jahre nach "Dancer..." noch ein Filmprojekt mit ihrem damaligen Mann gedreht. Ok, mein Fehler.

                                                  1
                                                  • 8
                                                    TommyDeVito 01.09.2020, 17:08 Geändert 01.09.2020, 17:38

                                                    Nicholas Rays eindringliches und wieder einmal mit kraftvollen Farben und Breitwandbildern gefilmtes Melodram "Bigger than life" basiert auf einer brisanten Geschichte, die sich 1948 zugetragen hat und einige Jahre später (1955) in einem Zeitungsartikel des "New Yorker"-Magazins dokumentiert wurde, woraus innert bemerkenswert kurzer Zeit das Drehbuch entwickelt wurde.

                                                    Die Prämisse ist simpel: Ein Familienvater, der durch zwei zehrende, aber für den Lebensstandard notwendige Jobs Schwächeanfälle und Schmerzattacken erleidet, wird mit dem vermeintlichen Wundermittel Cortison behandelt. Seine Familie hat schon kurze Zeit später mit den Nebenwirkungen, das heisst dem kaum wiederzuerkennenden Familienoberhaupt zu kämpfen.

                                                    Neben der kritischen und mutigen Darstellung des Umgangs mit psychischen Krankheiten und der Thematisierung von Fehlbehandlungen durch blasierte Mediziner kann "Bigger than life" auch als harsche Blossstellung und teilweise Überhöhung der amerikanischen Leistungsgesellschaft gesehen werden.

                                                    Wenn Lehrer Ed Avery (fesselnd: James Mason) zu Beginn der Medikation zunehmend aus dem Stereotyp des amerikanischen Familienvaters heraustritt, dann entblösst Nicholas Ray durch Eds unbändige Lebenslust das in Automatismen und Routine festgefahrene US-Familienleben.

                                                    Und wenn Ed später seinen Sohn und auch die Eltern seiner Schulkinder zu grenzenlosem Pflichtbewusstsein, Gehorsam und Leistungsstreben anpeitschen will, dann wird der Lebensstil des auf Arbeit, Konsum und Oberflächlichkeit fokussierten Mittelstandes ad absurdum geführt.

                                                    9