Framolf - Kommentare

Alle Kommentare von Framolf

  • 7 .5
    über Rebirth

    ++ Leichte SPOLER ++

    {Vor der Sichtung des Films: „Rebirth“ klingt unseriös. Danger, Danger!}

    Ein Freund aus alten Tagen schenkt seinem Kumpel die Teilnahme an einem ganz speziellen Event. Fans von 'The Game' (1997) wissen, dass eine derartige Prämisse unweigerlich der Auftakt zu wundervollen Ereignissen bilden wird...

    {Während der Sichtung des Films: Das ist unseriös. Oh, warte... Wird da vorne gefummelt?}

    Angekommen an dem Ort, an dem die besagte Veranstaltung stattfinden soll, prasseln auf den Protagonisten zunächst viele Eindrücke, Worte und Gefühle ein; kurz darauf kommt alles, wie es offenbar kommen muss: Er realisiert, dass das Abenteuer längst begonnen hat und er nun wohl oder übel mitspielen muss. Viele Teilnehmer wären vermutlich schon im ersten Raum (nach der Gruppenversammlung), der an ein Kino erinnert, hängen geblieben und hätten dort erstmal einige Stunden verbracht. Nicht so der Protagonist, der im Zeitraffer durch die Szenerie wandert, die an das eine oder andere Horrormaze in einem Freizeitpark erinnert.

    Karl Mueller erzählt in seinem Mysterythriller 'Rebirth' von einem erzwungenen Selbstfindungstrip, dessen Ende zynischer kaum sein könnte. Während zunächst die rätselhafte Konstellation und die fast schon morbide Atmosphäre zu überzeugen vermögen, verkommt die Handlung gegen Ende hin zu einer zynischen Farce. Dadurch entsteht zwar ein deutlicher Bruch mit dem vorherigen Geschehen, doch immerhin werden dadurch auch Möglichkeiten für ein paar satirische Spitzen eröffnet. In diesem speziellen Fall wäre sicherlich auch ein alternatives Ende interessant, in dem gewissermaßen das Gegenteil der präsentierten Geschehnisse erzählt wird. Doch immerhin weist auch der Schluss, der letztlich gewählt wurde, einen gewissen Reiz auf.

    {Nach der Sichtung des Filmes... Ach, scheiß drauf! „Rebirth! Rebirth! Rebirth! Re...“}

    KURZFAZIT

    Mysterythriller mit überschaubarer Kreativität auf der einen, aber dichter Atmosphäre und einem gewissen Biss auf der anderen Seite.

    PS: „Rebirth! Rebirth! Rebirth!“

    38
    • 5 .5

      Es wird mal wieder etwas Zeit für Ketzerei – auch auf die Gefahr hin, dass mir diese Wertung um die Ohren fliegen wird. :D

      Eines ist klar: Viele von John Carpenters Filmen haben eine derart klare Handschrift, dass man die Urheberschaft auch dann erkennen könnte, wenn man nicht wüsste, wer dafür verantwortlich zeichnet. Ganz besonders die Filmmusik, aber auch der Erzählstil zaubern seinen Fans regelmäßig ein gewisses Carpenter-Feeling auf den Bildschirm. Im Fall von 'The Fog' kommen dazu noch ein paar liebevoll umgesetzte Effekte und eine Atmosphäre, die gerade in den 80er und 90er Jahren eine enorme Wirkung entfalten konnte. Aber darin liegt auch schon der untote Hund begraben. Auch wenn derlei Eindrücke und Wertungen immer subjektiv sind: Gealtert ist 'The Fog' in dieser Hinsicht bestenfalls mittelmäßig. Zwar entfaltet dieser Film nach wie vor einen schrulligen Charme, allerdings lebt dieser eher von seinen nostalgischen Komponenten als von seinem Gruselfaktor. Ganz gewiss gibt es unzählige schlechtere Horrorfilme, aber ob 'The Fog' ins alleroberste Regal der Horroklassiker gehört, ist dann doch eher Ansichtssache.

      KURZFAZIT

      Nostalgischer Horrortrip, der ein paar Jahrzehnte später überwiegend von seinem Retrofaktor lebt.

      38
      • 7 .5

        Würde man eine Liste mit den am häufigsten verwendeten Filmtiteln erstellen, wäre 'The Stranger' wohl mit ziemlicher Sicherheit unter den Top 100. In den folgenden Zeilen soll es um Thomas M. Wrights düster-grimmige Version von 2022 (Australien) gehen, deren Drehbuch von wahren Begebenheiten inspiriert wurde.

        Zwei innerlich ausgebrannte Männer, die auch äußerlich einige gemeinsame Merkmale aufweisen, freunden sich miteinander an und legen in der Folgezeit eine beachtliche Strecke abseits der gesetzlich erlaubten Pfade zusammen zurück. Doch auch wenn die beiden vieles zu verbinden scheint: Ihre Begegnungen finden in keinster Weise auf Augenhöhe statt. Eine gewisse Asymmetrie ist von der ersten Minute an zu spüren. Etwas bedrohliches liegt von Anfang an in der Luft und ist förmlich greifbar.

        Thomas M. Wright inszeniert dieses ungleiche Psychoduell (über das aber nur einer der beiden Männer so richtig im Bilde ist) äußerst behutsam und baut langsam aber stetig eine Kulisse auf, deren atmosphärische Schlinge sich immer enger zieht. Rasante Handlungsfortschritte sucht man hier vergeblich. Stattdessen geraten die Protagonisten, aber auch das Publikum, langsam, aber unaufhaltsam in einen Strudel, aus dem es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt. 'The Stranger' ist einer jener Filme, die trotz ihrer relativen Handlungsarmut ein recht hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordern, um die grimmige Stimmung zu voller Geltung kommen zu lassen. Insofern ist auch die Zielgruppe dieser Produktion recht klar umrissen: Wer großen Wert auf eine packende Atmosphäre legt und ein Mindestmaß an Geduld aufbringen kann, ist hier klar im Vorteil gegenüber jenen Zuschauern, denen eine rasante Umsetzung oder ein schneller Handlungsfortschritt wichtig sind.

        Wer traut sich, diesen Fremden kennenzulernen?

        7 - 7,5 Punkte.

        KURZFAZIT

        Düster - Bitter – STRANGER!

        36
        • 6 .5
          Framolf 09.02.2023, 07:58 Geändert 10.02.2023, 05:23
          über ARQ

          Ein Mann und eine Frau wachen auf, werden überfallen und sterben. Sie wachen wieder auf, werden überfallen und...

          Zeitschleifenfilme sind und bleiben ein Kuriosum innerhalb der cineastischen Populärkultur, da hier oftmals Gesetzmäßigkeiten gelten, die sie deutlich von „konventionellen“ Geschichten abheben. Tony Elliotts Science Fiction Kammerspiel 'ARQ' hält sich auf eine besonders ungewöhnliche Weise an die aristotelische Einheit aus Zeit, Ort und Handlung. Die beiden letztgenannten Kategorien liegen auf der Hand, doch in Bezug auf die Zeit werden die Erfordernisse gleichzeitig bedient und missachtet. Dauert sie nun endlos oder nur wenige Stunden? Kann man innerhalb der Handlung altern oder nicht? Fragen wie diese werden (wie bei vielen anderen Genrevertretern) zwar auch hier nicht beantwortet, aber dafür bekommt man eine temporeiche Handlung geboten, die kurzweilig erzählt wird. Auch wenn man mit Geschichten wie dieser ganz sicher nicht für Drehbuch-Innovationen in Erinnerung bleiben wird, reicht das minimalistische Konstrukt locker für solide Unterhaltung aus. Zumindest ein paar kleinere Überraschungen hält das Skript allerdings doch parat. Insofern kann man als Fan von Zeitschleifenfilmen durchaus mal eine Sichtung riskieren.

          Gerade noch 6,5 Punkte.

          KURZFAZIT

          >>Live. Die. Repeat.<<
          Okay, falscher Film; aber irgendwie auch doch nicht.

          34
          • 7
            Framolf 08.02.2023, 06:05 Geändert 05.01.2024, 05:18

            Oscar Madness Film 326 (1 Nominierung)

            ++ Enthält SPOILER ++

            Eine Frau tritt unbefugt eine „Probefahrt“ mit einer Straßenbahn an und wird kurz darauf Zeugin übergriffigen Verhaltens. Sie hadert mit sich, ob sie eingreifen soll; was also wird passieren?

            Auf gewitzte Weise und mit einem verschmitzten Augenzwinkern erzählt Eirik Tveiten in der oscarnominierten Tragikomödie 'Nattrikken' eine kleine Anekdote über den alltäglichen Terror, dem unzählige Menschen (nicht nur aus Minderheiten) regelmäßig ausgesetzt sind, sowie über das Gefühl der Hilflosigkeit, mit dem viele Zeugen zu kämpfen haben. Die „Lösung“, die hier angeboten wird, wird sich nur schwer auf andere Fälle übertragen lassen, deutet aber immerhin an, dass es manchmal auch Strategien geben kann, die man anfangs vielleicht gar nicht auf dem Zettel hat.

            Wer Kurzfilme hauptsächlich wegen ihres oftmals pessimistischen Grundtons meidet, könnte an 'Nattrikken' aber womöglich Freude haben.

            KURZFAZIT

            Schelmischer Kurzfilm über Diskriminierung und Zivilcourage.

            34
            • 6 .5
              Framolf 07.02.2023, 06:32 Geändert 16.03.2023, 04:33

              Oscar Madness Film 325 (1 Nominierung)

              Es gleicht der Quadratur des (Kr)Eises, einen Text über den oscarnominierten animierten Kurz(stumm)film 'Ice Merchants' zu verfassen, ohne dabei wesentliche Teile des Inhalts zu verraten und ohne bei der Interpretation auf's Glatteis zu geraten. Ganz lässt es sich wahrscheinlich nicht vermeiden, deshalb nur ein ganz kurzer Einwurf dazu:

              Einem Mann und seinem Sohn wird durch äußere Umstände die ohnehin schon sehr fragile Lebensgrundlage entzogen. Im freien Fall befinden sie sich schon lange, doch nun droht auch noch der Verlust der einzigen Absicherung.

              Mit den Bereichen Umwelt, Klima, Familie, Arbeitsalltag, Isolation und Verlust werden hier gleich mehrere Themenkomplexe angeschnitten und zu einer Erzählung verwoben, deren Ende mehrere Lesarten zulässt. Bei der visuellen Gestaltung verlässt sich Joao Gonzalez auf seine ganz eigene Handschrift wodurch seine Eishändler und deren Umgebung eine unverkennbare Note erhalten.

              KURZFAZIT

              Stilsicher und ausdrucksstark.

              31
              • 5
                Framolf 06.02.2023, 06:06 Geändert 16.03.2023, 04:32

                Oscar Madness Film 324 (1 Nominierung)

                Geschmacklos, poetisch oder beides zugleich?

                Basierend auf Ereignissen, die 1917 rund um eine verheerende Explosion in Halifax stattgefunden haben (sollen), wird die Geschichte eines Seemannes erzählt, der aufgrund der Druckwelle rund zwei Kilometer weit geschleudert worden sein soll, ohne dabei sein Leben zu verlieren. In ihrem animierten Kurzfilm 'The Flying Sailor' zeichnet Amanda Forbis – im wahrsten Sinn des Wortes – diese Begebenheit nach und zeigt, wie einige Szenen aus seinem Leben am inneren Auge des Matrosen vorbeiziehen. Ein Teil dieser Rückblenden wird bemerkenswerterweise durch reale Videoaufnahmen statt Zeichnungen illustriert. Wenn man so möchte, ist also die Existenz seiner Katze verbrieft, während die gezeichneten Ereignisse durchaus auch Seemannsgarn sein könnten. Die Inszenierung wurde augenscheinlich dem skurrilen Charakter dieser Geschichte angepasst und übersetzt die besagten Geschehnisse in eine angemessene Bildsprache. Der Lohn dafür: Eine Oscarnominierung im Jahr 2023 in der Kategorie Bester animierter Kurzfilm.

                KURZFAZIT

                Kuriose Kurzgeschichte für cinephile Landratten.

                27
                • 7 .5
                  Framolf 05.02.2023, 06:44 Geändert 16.03.2023, 04:32

                  Oscar Madness Film 323 (1 Nominierung)

                  Ein Ungeheuer treibt vor der Küste sein Unwesen. Eine Gruppe tapferer Seefahrer stellt sich diesem entgegen und wird es nach einer folgenschweren Attacke gegen den Kapitän notfalls auch bis ans Ende der Welt jagen. Was schon in 'Moby Dick' ganz hervorragend geklappt hat, sollte doch auch hier kein Problem sein.

                  Vermittelt wird den jüngeren Zuschauern der Wert einer angemessenen Medienkompetenz sowie ein kritischer Umgang mit Autoritäten (besonders solchen von zweifelhafter Legitimation). Darüber hinaus werden eine gesunde Aufgeschlossenheit gegenüber unbekannten Dingen sowie ein gewisses Grundvertrauen in Bezug auf neue Bekanntschaften propagiert. Letzteres ist durchaus in Einklang mit der zuvor genannten Skepsis zu bringen, denn unter dem Strich läuft die Botschaft daraus hinaus, dem gesunden Menschenverstand zu vertrauen und nicht zwingend alles zu glauben, was in Büchern steht oder vom König verlautbart wird.

                  Visuell erinnert 'Das Seeungeheuer' stellenweise an ein Computerspiel. Speziell die Nasen wirken bei manchen Figuren etwas klobig, die Kulissen hingegen erscheinen in vielen Szenen umso detailreicher. Auch wenn das Skript auf überwiegend altbekannten und bewährten Schifffahrtsrouten segelt, fällt der Unterhaltungsfaktor mehr als passabel aus. Gräten hoch für 'Das Seeungeheuer'!

                  KURZFAZIT

                  Oscarnominiertes Seefahrerabenteuer mit Kopf und Herz für die ganze Familie.

                  36
                  • 5 .5
                    Framolf 04.02.2023, 08:04 Geändert 16.03.2023, 04:32
                    über Rot

                    Oscar Madness Film 322 (1 Nominierung)

                    ++ Enthält fiese SPOILER sowie miese Metaphern und Wortspiele ++

                    Pixar nimmt sich nach Titeln wie 'Alles steht Kopf', 'Coco' oder 'Soul' einmal mehr ein abstraktes Thema zur Brust und bereitet es familiengerecht auf. Kinder und Jugendliche bekommen eine Coming of Age Story mit zahlreichen phantastischen Elementen, erwachsene Zuschauer werden durch diverse popkulturelle Elemente aus der Zeit um die Jahrtausendwende (Boygroup, Tamagotchi, „antike“ Handys etc.) sowie eine Reihe von Metaphern bei Laune gehalten. Letztere kommen nicht gerade subtil daher, wenn beispielsweise von der Blüte der roten Pfingstrose, dem roten Panda und diversen ähnlichen bildhaften Vergleichen gearbeitet wird. Zwar findet man somit eine halbwegs poetische Sprache, um diverse Alltagssorgen (der meist barschen Mutter und entsprechend verunsicherten und schamhaften Tochter) während der Pubertät zu umschreiben, in der Gesamtheit wirkt das Konstrukt jedoch nicht ganz so rund und ausgefeilt wie in den vorgenannten Titeln. Im Boxsport würde man wohl davon sprechen, dass durchaus einige gezielte Haken gesetzt werden, wirklich entscheidende Wirkungstreffer bleiben jedoch aus. Auch wenn an mehreren Stellen bissige Spitze ihren Eingang in die Handlung finden, wirkt das Finale, auf das die Handlung zusteuert, dann doch eher profan. Und während die Protagonistin sich längst mit dem roten Panda arrangiert hat (und darauf hofft, dass die Zugeständnisse ihrer Mutter keine Lippenbekenntnisse bleiben), warten einige ihrer Mitschüler immer noch darauf, dass ihr Bus endlich Richtung Pubertät abfährt.

                    Für eine Oscarnominierung in der Sparte Bester Animationsfilm im Jahr 2023 reicht es aber dennoch.

                    Für die Songs der Boygroup zeichnen Billie Eilish und ihr Bruder Finneas O'Connell verantwortlich. Letzterer nahm diese drei Mu... Musikstücke (sorry für's Stottern!) zusammen mit vier anderen Musikern dann auch auf.

                    KURZFAZIT

                    Der rote Bär erinnert letztlich an eine Variation von 'Teen Wolf' mit anderen Mitteln.

                    29
                    • 8
                      Framolf 03.02.2023, 01:49 Geändert 16.03.2023, 04:31

                      Oscar Madness Film 321 (1 Nominierung)

                      ++ Leichte SPOILER ++

                      Alice Rohrwacher ('Glücklich wie Lazzaro') entführt das Publikum in ein katholisches Mädcheninternat. Wenn den Schülerinnen nicht gerade Angst vor der Hölle gemacht wird (etwa weil sie gerade einen profanen Schlager mit schändlichen Texten gesungen haben), dürfen sie an Weihnachten gerne auch für die örtlichen Anwohner beten; aber selbstverständlich nur, wenn diese auch einen angemessenen Obolus bereithalten. Dieser sollte keinesfalls zu mickrig ausfallen. Aber Vorsicht: Sollte er zu üppig sein, lästern die Nonnen auch ganz gerne mal über Verschwendungssucht! Essen und Geld sind jedenfalls knapp in dieser Einrichtung. Zum Glück bringt jemand auch mal einen leckeren Kuchen vorbei. Der wird den armen Kindern aber schmecken!

                      Selten wurden bissige Satire und Kritik derart unscheinbar verpackt wie in 'Le Pupille'. Gerade im Bereich der cineastischen Kirchenkritik geht es ja gerne mal grobschlächtig zu, doch Alice Rohrwacher gelingt einmal mehr das Kunststück, Prosa und Lyrik auf ihre ganz eigene Weise zu einer Mischung zu vereinen, die sich mit Worten nur schwer beschreiben lässt. Ihre Filme können auf den ersten Blick vielleicht trocken wirken, aber gerade deshalb durch kleinste Details eine relativ große Wucht entfalten – sofern man sich darauf einlassen möchte. Fast schon schelmisch fällt das mehrschichtige Ende dieser kleinen Geschichte aus, wenn die Mädchen in einem Weihnachtslied die Moral von dieser Geschichte zusammenfassen – oder auch nicht; aber irgendwie doch.

                      KURZFAZIT

                      Poetisch und hintergründig. Rohrwacher eben.

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                      • 8
                        Framolf 02.02.2023, 06:40 Geändert 16.03.2023, 04:43

                        Oscar Madness Film 320 (1 Auszeichnung)

                        Lebhaft bebilderte Kurzdoku über zwei indische Tierpfleger, die erfolgreich zwei Elefantenbabys großziehen konnten, was grundsätzlich als schwieriges Unterfangen gilt. Abseits der Kerngeschichte, die hier erzählt wird, werden immer wieder Bilder der offenbar enorm artenreichen Fauna gezeigt, die auf ein ebenso spektakuläres wie auch gefährliches Umfeld hinweisen. Bei den Elefantenfütterungen fallen immer wieder auch Essensreste an, die sich ganz offenkundig auch andere tierische Gäste wie Affen oder Wildschweine schmecken lassen. Diese wiederum können durchaus auch mal Raubkatzen anlocken. Ein gefundenes Revier für Filmemacher also.

                        Wie in so vielen anderen oscarnominierten Dokumentationen der letzten Jahre konzentriert man sich auch hier auf die Präsentation eines Mikrokosmos und verliert dabei die Vermittlung von übergeordneten Informationen ein wenig aus den Augen. Zwar werden auch hier die tierischen Zöglinge massiv vermenschlicht, da dies aber nicht aus dem Off geschieht, nimmt es nicht ansatzweise dieselben fragwürdigen Züge wie in zahlreichen Disney-Produktionen an. Überhaupt stellt sich die Frage, inwieweit sich Tiere, die in frühester Kindheit in menschliche Obhut gelangen, ihre natürliche Wildheit bewahren können. Dass diverse humane Verhaltensweisen übernommen werden, erscheint dabei fast schon zwangsläufig. Dass eine Pflegerin nach dem Verlust eines Kindes Gefühle und Eindrücke in ein Elefantenbaby projiziert, das ihr zur Pflege überlassen wurde, erscheint ebenfalls nicht allzu weit hergeholt.

                        Durchaus thematisiert wird die oftmals problematische Nähe von menschlichen Siedlungen zu tierischen Habitaten, die gerade in Indien oftmals auf beiden Seiten zu Tragödien führt. Ob es die Emotionalisierung braucht, die hier immer wieder durchblitzt, sei dahingestellt, aber abgesehen davon kann sich diese Kurzdoku durchaus mit diversen anderen Beiträgen desselben Formats messen, die in den vorherigen Jahren für einen Oscar nominiert wurden.

                        KURZFAZIT

                        Elefantöse Kurzdoku über ein indisches Tierpflegerpaar.

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                        • 7
                          Framolf 01.02.2023, 07:40 Geändert 16.03.2023, 04:31

                          Oscar Madness Film 319 (1 Nominierung)

                          ++ Leichte SPOILER ++

                          Ist das noch Wissenschaft oder schon Extremsport?

                          Filmemacherin Sara Dosa schneidet aus einem riesigen Fundus an Archivmaterial eine Dokumentation zusammen, deren Komposition man in der Form noch nicht oft gesehen hat. Dabei erzählt sie die Geschichte von Katia und Maurice Krafft, die zusammen weit über hundert Vulkane weltweit bereist haben (teilweise auch mehrfach) und nicht zuletzt auch durch ihre unkonventionellen Methoden berühmt wurden. Sie wagen sich besonders nahe an Lavaströme heran und legen Strecken zurück, vor denen die meisten anderen Expeditionsteilnehmer - zumeist aus guten Gründen - zurückschrecken (eine Extrembeispiel ist Maurices Fahrt in einem Gummiboot durch einen extrem säurehaltigen See). Dadurch gewinnen sie mitunter Daten und Bilder, deren Erhebung ihren Kollegen häufig vorenthalten bleibt. Der theoriebezogenen Wissenschaft liefern sie somit einen großen Fundus an Rohmaterial, was offenbar auch ihr größtes berufliches Vermächtnis zu sein scheint. Beide leben regelrecht für ihre Leidenschaft für die Vulkanologie und haben auf diesem Fundament sogar ihre Ehe begründet. Zumindest lassen sie es so verlautbaren.

                          Katia und Maurice sind aber nicht nur Pioniere in der Erhebung bestimmter Daten (indem sie beispielsweise Sonden ganz nahe an Kratern oder Lavaströmen platzieren), sondern auch geschickte Medienprofis. Während Katia Fotos von den jeweiligen Expeditionen macht, hält Maurice bewegte Bilder fest. Gegebenenfalls werden Szenen von ihrer Arbeit auch in mehreren Takes gedreht, was Filmemacherin Sara Dosa sogar ausdrücklich aus dem Off ansprechen lässt. Besonders Maurice hat immer wieder selbstironische Sprüche parat, während Katias Mimik oft Bände spricht, wodurch die beiden auch gern gesehene Gäste in Talkshows sind. Beide wissen sich eben auch selbst zu inszenieren. Oder um es etwas pointierter zu formulieren: Zwanzig Jahre später wären die beiden vermutlich von einem österreichischen Getränkehersteller gesponsert worden.

                          Jedenfalls erscheint das Leben der beiden geradezu prädestiniert für eine Dokumentation wie diese. Sie suchen oftmals ganz bewusst die Gefahr (was sie wiederholt auch explizit aussprechen) und haben ihren eigenen Tod bei einer dieser Unternehmungen schon mehr oder minder eingepreist. Dieses Gebaren macht sie zu einer Art Rockstars der Szene, was ihnen in manchen Fällen aber auch besonderes Gehör verschafft, wenn sie etwa vor bevorstehenden Ausbrüchen warnen und dadurch zahlreiche Menschen evakuiert werden können (sofern sich die örtlichen Behörden nicht als beratungsresistent erweisen).

                          Man hat es hier also mit ambivalenten Persönlichkeiten zu tun und Sara Dosa tut gut daran, dies auch genau so zu zeigen. Das Ergebnis ihrer oscarnominierten Dokumentation bewegt sich irgendwo zwischen 'Free Solo' (Jimmy Chin und Elizabeth Chai Vasahelyi), 'Isle of Man TT' (Richard de Aragues) und Werner Herzogs 'Grizzly Man', in denen es ebenfalls um Personen geht, die für ihr Lebensthema Grenzen überschreiten und sich selbst in Gefahr bringen. Die Motive und Hintergründe der Akteure sind in allen genannten Fällen unterschiedlich. Hier sind es die Wissenschaft, die Liebe sowie die Lust am Abenteuer. Zumindest wird es so kolportiert. Bebildert wird diese Geschichte mit spektakulären Aufnahmen von Vulkaneruptionen verschiedenster Art und hier und da werden auch ein paar weiterführende Informationen mit eingewoben. Zwar gibt es nicht die eine Kategorie, in der 'Feurige Liebe' über alle Maßen aus der Masse an Dokumentationen herausragt, doch aus der Kombination dieser mitunter doch recht ausgefallenen Zutaten ergibt sich explosive Mischung, die vielen Zuschauern nachhaltig im Gedächtnis bleiben dürfte.

                          KURZFAZIT

                          Cineastische Dokumentation einer ganz besonders feurigen Ehe.

                          35
                          • 7 .5

                            Japanuary 2023 - Film 8 / 8

                            Fünf Zentimeter pro Sekunde. Das ist in vielen Fällen die ungefähre Geschwindigkeit, in der sich Jugendliche, die sich zueinander hingezogen fühlen, aufeinander zubewegen (können). Oftmals sind sie abhängig von äußeren Umständen, die sie selbst nicht beeinflussen können (wie beispielsweise einem Umzug der ganzen Familie in eine andere Region) und nicht selten braucht man auch eine gewisse Gelassenheit, um Sticheleien von Mitschülern als pubertäres Geschwätz abtun zu können.

                            Mit Phänomenen wie diesen beschäftigt sich Makoto Shinkai in seinem episodisch inszenierten Drama, das allerdings dennoch kein „klassischer“ Episodenfilm ist. Denn die einzelnen Segmente hängen hier nicht nur mittelbar oder unmittelbar zusammen, sondern erzählen drei verschiedene Kapitel einer zusammenhängenden Geschichte. Der Stil der Inszenierung erinnert ein wenig an eine Zugfahrt, bei der man immer wieder mal für längere Zeit die Augen schließt. Man sieht eine Hügellandschaft vorbeiziehen, schließt ein Weile die Augen und findet sich plötzlich in der Nähe eines Sees wieder; aber trotz aller Unterschiede der beiden Szenarien handelt es sich um eine zusammenhängende Strecke. Zumindest für den Passagier in diesem fiktiven Beispiel. Ein anderer Fahrgast ist vielleicht auf einer anderen Route unterwegs und kommt zwar am See vorbei, aber niemals an den besagten Hügeln.

                            Diese Überlegung mag vielleicht profan klingen, aber sie dürfte zumindest ein möglicher Ansatz für eine spoilerfreie Beschreibung der Ereignisse in diesem Coming of Age Drama sein. Wir alle legen unterschiedliche Lebenswege zurück, aber ein paar verbindende Strukturelemente dürfte es für die meisten von uns geben – auch wenn deren konkrete Ausprägung völlig unterschiedlich sein mag. Shinkai stellt den Weg zu einer (erwiderten) Liebe als eine Verkettung von Ereignissen dar, in die oftmals mehr Personen eingebunden sind als nur das betroffene Paar – und manchmal können schon wenige Sekunden oder eine kleine mimische Regung darüber entscheiden, ob es zu einer Erwiderung kommt oder nicht. Das mag banal klingen (und ist es womöglich auch), aber so ist eben das Leben. Ironischerweise werden genau solche Sachverhalte in Animes (im Vergleich zu so manchen Realverfilmungen) oftmals besonders anschaulich festgehalten

                            Ach ja, fünf Zentimeter pro Sekunde sind wohl auch die Geschwindigkeit, mit der Kirschblüten zu Boden segeln sollen; aber darum geht es hier sowieso nur im übertragenen Sinne.

                            KURZFAZIT

                            Wehmütiger Blick zurück in die Jugendzeit.

                            33
                            • 6 .5
                              Framolf 30.01.2023, 06:49 Geändert 16.03.2023, 04:30

                              Oscar Madness Film 318 (1 Nominierung)

                              'Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten' – selten war ein Titel so selbsterklärend wie im Fall von Alejandro Ganzález Iñárritus autobiographisch geprägten Dramas von 2022. Dass autobiographisches Erzählen zwangsläufig mit einem hohen Maß an Selbststilisierung einher geht, liegt auf der Hand. Iñárritu treibt es hier jedoch in einem Ausmaß auf die Spitze, wie man es bisher nur selten gesehen hat. Ausgehend von den drei Hauptelementen des Filmtitels kann man sich dem Kern seiner Inszenierung (auch und gerade durch einige bewusste Überinterpretationen) womöglich angemessen nähern. Ein Versuch:

                              BARDO

                              „Bardo“ lässt sich aus dem Italienischen mit „Barde“ übersetzen und weist auf einen Dichter oder Sänger hin, der (oftmals auch mit kunstvollen Arabesken) auf poetische Weise Geschichten oder Lobpreisungen zum Besten gibt. Bardo verweist auch auf eine Stadt in Polen (Iñárritu hat bei einem polnische Regisseur studiert) sowie auf das größte archäologische Museum Tunesiens (Geschichte und kulturelles Erbe spielen in diesem Film eine herausragende Rolle). Zwar sind diese beiden Konnotationen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht intendiert, jedoch fassen sie durchaus passend den Charakter dieses Werkes zusammen. Eine sehr viel größere Rolle spielen dürften jedoch die sechs mit Bardo betitelten Bewusstseinszustände, die im Zusammenhang mit verschiedenen Yoga- und Meditationstechniken stehen. Verkürzt formuliert lassen sich diese wie folgt beschreiben:

                              Shinay-Bardo: Zustand des Wachbewusstseins.
                              Milam-Bardo: Traumzustand.
                              Samten-Bardo: Selbstgewahrwerdung.
                              Tschikhai-Bardo: Zustand des Sterbens.
                              Tschönyi-Bardo: Trennung von Körper und Seele nach dem Tod.
                              Sipa-Bardo: Wiedergeburt.

                              ++ SPOILER ++

                              Besonders die ersten fünf der genannten Zustände werden im Verlauf der Handlung detailliert und intensiv durchlaufen. Ob auch das Sipa-Bardo thematisiert wird, liegt im Auge des Betrachters und ist letztlich Gegenstand der eigenen Interpretation. Überhaupt fällt die Gestaltung des Endes ambivalent aus und eröffnet mindestens zwei Deutungsmöglichkeiten. Eine der beiden Lesarten lässt sich im Sinne des Tschönyi-Bardos einordnen (sinngemäß: Die vom Körper getrennte Seele begibt sich in Richtung der nächsten Ebene), die andere fällt deutlich handfester aus spielt auf die Zerrissenheit des Protagonisten zwischen Mexiko und den USA an (er begibt sich auf den Weg nach Norden und lässt dabei seine familiären Wurzeln hinter sind). Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass überdies noch weitere Interpretationsmöglichkeiten im Raum stehen; diese wären von den hier angestellten Überlegungen schließlich unbenommen.

                              ++ SPOILER ENDE ++

                              DIE ERFUNDENE CHRONIK

                              Mag sein, dass sich viele der gezeigten Ereignisse so oder so ähnlich zugetragen haben mögen (oder das Geschehen auf der Leinwand zumindest von realen Ereignissen inspiriert ist), in chronologischer Reihenfolge werden sie jedoch ganz sicher nicht erzählt, worauf bereits der Filmtitel hinweist. Vielmehr weist die Struktur des Drehbuchs den Charakter einer Spiegelung auf, die sich am ehesten mit einem Zerrspiegel vergleichen lässt. Motive, die den Beginn der Erzählung dominieren, tauchen an deren Ende erneut auf – jedoch nicht in streng identischer oder umgekehrter Reihenfolge, sondern eher lose angeordnet.

                              EINE HANDVOLL WAHRHEITEN

                              Diese während der Handlung mehrfach thematisierten Motive (wie der Verlust Matteos, der medizinische Notfall im Zug, der „sprunghafte“ Gang durch die Ödnis oder die mehrfach eingeschobenen geschichtlichen Überlegungen) bilden den Ausgangspunkt zu traumartigen Sequenzen, aber auch realistisch dargestellten Episoden. Iñárritu möchte ganz offensichtlich nicht viel über einzelne Etappen aus seiner Biographie berichten, sondern vielmehr das Publikum an seinen Gedanken, Überlegungen, Ängsten und inneren Dämonen teilhaben lassen. Dabei geht es um seine Zerrissenheit zwischen seiner Heimat und seiner Wahlheimat (Mexiko und USA), sein ethnisches Erbe (Amerika und Europa), das Verhältnis zu seiner Ehefrau und seinen Kindern sowie um deren ambivalentes Verhältnis zu Belangen der eigenen Identität. Speziell Mexiko und die Vereinigten Staaten scheinen ihn gleichermaßen zu faszinieren und abzustoßen, Europa scheint er (bzw. sein lyrisches Ich) überwiegend Verachtung entgegenzubringen. Selbst sein Verhältnis zum Leben scheint gespalten zu sein. Gleich in der ersten Einstellung des Filmes sieht man einen Schatten, der Assoziationen zu seinem (Anti)Helden Birdman hervorruft. Die Schattengestalt versucht wiederholt den Absprung gen Himmel, kehrt nach anfänglichen Erfolgen allerdings schnell wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurück und versucht es erneut.

                              Darius Khondji (Kamera) fängt diese Versuche kreativ und auf technisch sowie handwerklich allerhöchstem Niveau ein und setzt seine Demonstration wenige Augenblicke später in der Krankenhausszene sowie bei der Bebilderung der Schlacht zwischen Mexikanern und US-Amerikanern auf beeindruckende Weise fort. Gerade die Tatsache, dass viele Szenen einen traumartigen Charakter aufweisen, bedeutet einen erheblichen Zugewinn an Gestaltungsmöglichkeiten für ihn, den er mit großer Raffinesse zu nutzen vermag, was ihm am 24.01.2023 eine Nominierung für einen Oscar einbrachte. Fragezeichen wirft jedoch die Fluchtszene in Richtung US-Grenze auf, die einen unvermittelten – durch eine Spiegelung hervorgerufenen – Achsensprung beinhaltet. Ob es sich hierbei um ein bewusstes Stilmittel (mögliche Botschaft: Die Marschrichtung ist egal, es gibt nur den einen Kontinent Amerika) oder einen Goof handelt, bleibt offen.

                              Doch zurück zur Handlung. Mehrere Szenen erwecken den Eindruck, als wären sie explizit für Personen aus dem näheren Umfeld des Autorenfilmers konzipiert worden. Manche erinnern an einen augenzwinkernden Gruß an langjährige Weggefährten, andere an eine Art der Rechtfertigung gegenüber Familienmitgliedern. Für eingefleischt Fans des Regisseurs mögen derlei Einblicke in die Gedankenwelt von Interesse sein, für unbeteiligte Zuschauer stellt sich jedoch wiederholt die Frage nach einem möglichen Erkenntnisgewinn. Zar garniert er seine Erzählungen mit zahlreichen ironischen Spitzen über sich selbst und ganz besonders über sein Werk, doch der Kern der Inszenierung liegt ganz eindeutig in der Zentrierung auf sein lyrisches Ich.

                              Oder mit anderen Worten: Diesen Film hat Iñárritu offenkundig für sich selbst und seine Liebsten gedreht und dabei allenfalls am Rande an sein Publikum gedacht; erst recht nicht das aus Europa. Dies ist sein gutes Recht, er sollte sich jedoch nicht wundern, wenn der Applaus dafür eher verhalten ausfällt – was er vermutlich aber schon eingepreist haben wird.

                              KURZFAZIT

                              Meditatives Kino zwischen Selbstinszenierung, Selbsttherapie und Selbstzurschaustellung. Zwar poetisch verfremdet, aber für alle Rezipienten außerhalb seines engsten Umfeldes von überschaubarem Informationswert.

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                                Framolf 29.01.2023, 07:33 Geändert 16.03.2023, 04:30

                                Oscar Madness Film 317 (1 Nominierung)

                                Eigentlich ist die Geschichte mit dem Titel 'The Martha Mitchell Effect', die Anne Alvergue in das Format einer (oscarnominierten) Kurzdokumentation zu pressen versucht, viel zu komplex, um sie in nur rund 40 Minuten erzählen zu können. Die Krux an der Sache: Um die Aussagen der Zeitzeugen, von denen die O-Töne stammen, richtig einordnen zu können, sollte man zumindest über einen gewissen Grundstock an Vorkenntnissen verfügen. Zu Wort kommen hier auch Elefanten im Porzellanladen wie H. R. Haldeman und John Dean. Gerade letzterer dürfte dazumal durchaus Interesse daran gehabt haben, Martha Mitchells Rolle höher zu hängen, als sie tatsächlich war, wodurch er als Zeitzeuge nur bedingt verlässlich erscheint. Wer die besagten Vorkenntnisse jedoch bereits aufweist, wird nur relativ wenig Informationen aus Anne Alvergues Kurzdokumentation ziehen können. Sowohl in der Presse als auch literarisch und cineastisch wurde der vorliegende Stoff aus mannigfachen Blickwinkeln bearbeitet.

                                Alan J. Pakula befasst sich in 'Die Unbestechlichen' (1976), dem Abschluss seiner Paranoia-Trilogie, ausführlich mit Carl Bernstein, Bob Woodward und der damals noch namenlosen „Deep-Throat“-Quelle. Oliver Stone legt 1995 mit 'Nixon' ein Werk aus Sicht des Präsidenten nach und bezieht dabei auch die allermeisten übrigen relevanten Akteure in Washington mit ein – unter ihnen auch Martha Mitchell (dargestellt von Madeline Kahn). Ein weiterer cineastischer Meilenstein erfolgte 2008 mit Ron Howards 'Frost/Nixon' über die mittlerweile legendäre vierteilige Interviewserie David Frosts, auf die auch in Alvergues Dokumentation kurz Bezug genommen wird. Nach Peter Landesmanns Politthriller 'The Secret Man' (2017) über Mark Felt (auch hier spielt John Mitchell eine Rolle) sollte 2022 schließlich Robbie Pickerings Miniserie 'Gaslit' veröffentlicht, die aktuell so etwas wie die Benchmark der fiktionalen Bearbeitung von Martha Mitchells Rolle im Watergate Skandal darstellen dürfte. In dieser augenscheinlich akribisch recherchierten filmischen Aufbereitung von diversen Sachverhalten, von denen einige auch in Anne Alvergues Kurzdoku angerissen werden (wie etwa der fragwürdige Arztbesuch, die Misshandlung zu Einschüchterungszwecken oder Marthas fortschreitende soziale Isolation) werden zudem auch mittels der Rolle John Mitchells die bestehenden Querverbindungen zu Richard Nixon und den Einbrechern im Watergate Hotel gezogen. Gerade in Bezug auf den PotUS und sein engste Umfeld fallen Betrachtungen wie die von Oliver Stone oder Robbie Pickering dann doch sehr viel differenzierter aus, als das hier der Fall ist.

                                Einige Beispiele: Über Nixon wird hier gesagt, dass seine Präsidentschaft auf Hass basierte, was ganz sicher nicht von der Hand zu weisen ist. In innenpolitischer Hinsicht dürften an Aussagen wie dieser keinerlei Zweifel bestehen. John Ehrlichmans (seines Zeichens selbst einer der maßgeblichen Akteure im Watergate Skandal) Aussagen von 1982 und 1994 lassen in dieser Hinsicht ganz besonders tief blicken. In außenpolitischer Hinsicht jedoch fällt das Urteil sehr viel komplexer aus. Zwar lässt sich ihm der Ausbruch des Vietnam-Krieges nicht anlasten, die Eskalation in Laos und Kambodscha fällt aber letztlich unter seine Verantwortung – auch wenn die These im Raum steht, dass Henry Kissinger für eine noch sehr viel verheerende Kriegsführung geworben haben soll (vgl. 'Nixon'). Auf der anderen Seite trug Nixon jedoch immerhin (wohl auch aus taktischen und praktischen Überlegungen) zu einer Entspannungspolitik gegenüber der UDSSR und vor allem China bei.

                                Martha Mitchells Rivalität zu Pat Nixon und der mediale Wettstreit der beiden Politikergattinnen bleibt hier gänzlich unerwähnt. Etwas fragwürdig erscheint überdies die wiederholte Betonung der Liebe zu ihrem Ehemann. Wenn man den detaillierten Schilderungen aus 'Gaslit' glauben darf, war zur Zeit von dessen Entlassung bereits ordentlich Sand im Getriebe. Fast schon wie Geschichtsklitterung erscheint der lapidare Hinweis, die Entfremdung ihrer Tochter habe ihr das Herz gebrochen. Das mag zwar durchaus der Wahrheit entsprechen, hat aber dem Vernehmen nach bei der Tochter derart gravierende und tiefsitzende Ursachen, dass man diese getrost mit einer kurzen Erwähnung hätte würdigen können. Wenn auch nur die Hälfte dessen stimmt, was aus Martys Kindheit und Jugend überliefert ist, lässt sich das Bild der liebenden und fürsorglichen Ehefrau nur schwerlich aufrechterhalten.

                                'The Martha Mitchell Effect' liefert eine kompakte und streiflichtartige Übersicht über einen Fall, der bereits vielfach und aus zahlreichen Blickwinkeln medial bearbeitet wurde. Jedoch stellt sich die Frage, ob eine Kurzfilmdokumentation tatsächlich das Mittel der Wahl für einen derart komplexen Sachverhalt sein kann. Dabei erinnert Anne Alvergues Herangehensweise ein wenig an den Versuch, eine Zeitungsreportage mittels eines einzigen Tweets auf den Punkt zu bringen. Vielleicht ist auch gerade das die große Errungenschaft dieser Doku. Dann jedoch stellt sich die Frage, weshalb hier zwar einiges über Martha Mitchell als Person, jedoch nur wenig über den nach ihr benannten Effekt erzählt wird. Zwar bleibt es dem Publikum überlassen, selbst Verbindungen zu aktuelleren Fällen zu ziehen, da ebendieser Effekt jedoch auch die Strategie einer Informationssteuerung beinhaltet, ist diese Herleitung nur extrem schwer zu bewerkstelligen. Der Martha Mitchell Effekt an sich jedenfalls lässt sich bis heute in zahlreichen Ländern beobachten. Gustl Mollath, Rudolf Schmenger, Tina Feser, Heiko Feser, Marco Wehner und Frank Wehrheim dürften hierzulande zu den prominenteren Opfern derartiger Auswüchse gehören. Vielleicht fühlen sich ja andere Filmemacher dazu aufgerufen, an Anne Alvergues Dokumentation anzuknüpfen. Potenzial für weitere Dokumentationen – vielleicht auch im Miniserienformat – dürfte reichlich vorhanden sein.

                                KURZFAZIT

                                Kompakte, aber unterkomplexe Zusammenfassung einer Thematik von hoher Relevanz.

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                                  Framolf 28.01.2023, 07:23 Geändert 28.01.2023, 07:24
                                  über Luck

                                  Mit der Verfilmung des Glücks auf einem Niveau, das Eltern und Kinder gleichermaßen anspricht, hat sich Peggy Holmes (Regie) keine leichte Aufgabe vorgenommen. Das Ergebnis kann sich jedoch (im wahrsten Sinn des Wortes) sehen lassen. Unternommen wird dabei der Versuch, einen abstrakten Sachverhalt in konkrete Bilder zu kleiden, wie man es in so ähnlicher Form bereits aus 'Alles steht Kopf' kennt. Zwar wird hier inhaltlich nicht ganz so hoch gegriffen, man hebt sich aber dennoch wohltuend von vielen Konkurrenten ab. Nach einer kurzen Exposition in Form einer Rahmenhandlung wird eine regelrechte Parade an verschiedenen Glücks- und Unglücksbringern aufgefahren. Vom Penny über das Kleeblatt bis hin zum Glücksschwein ist dabei so ziemlich alles vertreten. Gezeigt wird, wie das Glück zu den Menschen gelangt, womit sich Holmes und ihre Crew bereits deutlich von den Konzepten manch anderer Studios absetzen. Entscheidend sind hier weder harte Arbeit noch adlige Herkunft, sondern völlig andere Faktoren. Mag sein, dass sich der pädagogische Wert dieses Ansatzes in Grenzen hält, allerdings wird hier in dieser Hinsicht auch kein übermäßig zweifelhafter Einfluss auf das junge Publikum ausgeübt, was man ganz sicher nicht von allen Studios behaupten kann.

                                  Humor- und phantasievoll folgt man der Protagonistin und einer schwarzen Katze zunächst in eine Art Glücksverteilungszentrum und später in die Unglückszentrale. Das Spiel mit diversen Symbolen bereitet den Autoren ganz offenkundig große Freude und es wird regelrecht auf die Spitze getrieben. In Sachen Humor werden zwar nicht die ganz großen Geschütze aufgefahren, aber es werden Zuschauer verschiedener Altersklassen bedient.

                                  Eine besondere Erwähnung verdient der Animationsstil, der zumindest in manchen Facetten enorm stilsicher wirkt. Zwar wird auch hier gerne das Kindchenschema bemüht, doch abgesehen von den Köpfen wirken die körperlichen Proportionen bei einem Teil der Figuren (aber ganz sicher nicht bei allen) verblüffend realitätsgetreu – zumindest im Vergleich zu vielen anderen Animationsfilmen. Stark stilisiert ist die visuelle Gestaltung der Charaktere natürlich trotzdem, aber ein eigenständiges Gestaltungskonzept ist klar erkennbar.

                                  KURZFAZIT

                                  Ansprechende Geschichte, verpackt in schönen Bildern.

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                                    Eigentlich müsste man schon vor den Filmtitel eine Spoilerwarnung setzen. Ein Familienvater begibt sich mit Frau und Kind in den Urlaub, wo er mit den beiden eine Bootsfahrt zu einer Insel unternimmt. Aufgrund des halbwegs unkonventionellen Handlungsaufbaus wäre normalerweise relativ lange unklar, in welche Richtung sich die Geschichte bewegt; wäre da nur nicht der Filmtitel. Natürlich sieht man ein Unglück für die besagte Familie schon früh am Horizont aufziehen, doch welcher Art es wohl sein würde, wäre bei einem anderen Filmtitel zunächst eher unklar.

                                    Nach einem ausgiebigen Auftakt ist diesbezüglich die Katze jedenfalls endgültig aus dem Sack und mit ihr ist irgendwie auch die Luft raus. Staunt man anfangs noch ob so mancher Entscheidungen des Protagonisten, ist sein Verhalten ab einem gewissen Punkt kaum noch nachvollziehbar. Stresssituation hin oder her, sich zusätzlich zu der ohnehin schon verfahrenen Situation sich selbst noch weiter in die Bredouille zu bringen, muss man erstmal schaffen.

                                    Insgesamt bietet die Handlung einen steten Wechsel aus spannend inszenierten Momenten und kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der Hauptfigur. Da erstere überwiegen und sich auch die Kulissen sehen lassen können, gestaltet sich 'Erpressung' dann doch recht kurzweilig. Zumindest auf der guilty pleasure Schiene funktioniert dieser Thriller dann doch ganz passabel.

                                    KURZFAZIT

                                    Durchschnittlicher Thriller mit Licht und Schatten.

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                                      Japanuary 2023 - Film 7 / 8

                                      Yoshihiro Moris Beziehungsdrama 'Wir konnten nicht erwachsen werden' beginnt an einem Punkt, der bei der Handlung der allermeisten anderen Produktionen erst weit nach dem Abspann liegen dürfte: Das Ende einer Beziehung bedeutet hier den Anfang der Erzählung. Die Wege des Protagonisten und seiner Freundin trennen sich hier im wahrsten Sinn des Wortes (nämlich an einer Straßenkreuzung). In der Folgezeit wird in zahlreichen Rückblenden (in chronologisch umgekehrter Reihenfolge) beleuchtet, wie der Protagonist an diesen Punkt gelangt ist.

                                      Auf fast schon meditative Weise wird dabei immer tiefer in die Erinnerungen des Hauptcharakters eingetaucht. Dabei treten einige neue Erkenntnisse zutage; die allermeisten von ihnen sind recht nah am realen Leben, während auf allzu aufmerksamkeitsheischende Handlungselemente weitgehend verzichtet wird. Mehrere kleinere Episoden werden den allermeisten Zuschauern womöglich aus ihrem eigenen Leben bekannt vorkommen. Die Geschichte in ihrer Gesamtheit wirkt dadurch relativ geerdet. Wer auf ganz große Gefühle oder gar Thrill aus ist, wird aber wahrscheinlich enttäuscht werden.

                                      KURZFAZIT

                                      Beziehungsdrama im 'Memento'-Stil.

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                                        Framolf 25.01.2023, 00:57 Geändert 25.01.2023, 07:53

                                        Japanuary 2023 - Film 6 / 8

                                        (Wie es der Zufall will, habe ich jetzt tatsächlich innerhalb weniger Tage gleich drei japanische Filme zum Themenkomplex Missbrauch, Manipulation und Rache erwischt. Und das, obwohl ich mir alle drei Filme komplett ungespoilert angeschaut habe (habe nur aufgrund des Communityschnitts ausgewählt). Da es auch in 'Hell Dogs' um Rache und Manipulation geht, ergibt sich – unbeabsichtigt - fast schon eine kleine Themenliste aus meiner diesjährigen Japanuary-Aktion. :-) Sachen gibt’s...)

                                        ++ Mini-SPOILER ++

                                        Eine junge Frau spricht einen Mann in einer Bar an und fährt mit zu ihm nach Hause. Ryuichi Hirokis 'Ride or Die' beginnt wie ein unkonventionelles Liebesdrama oder ein Erotikthriller und löst dieses Versprechen auch im weiteren Verlauf ein; jedoch auf eine völlig andere Weise als es zunächst den Anschein hat.

                                        Erzählt wird eine Geschichte über körperlichen und seelischen Missbrauch, Liebe und Abhängigkeit, Verlangen und Aversion sowie Partnerschaft und Hilflosigkeit. Statt einfacher Schwarzweißmalerei dominieren hier die Zwischentöne; und zwar bunte Grautöne, wenn man so möchte. Denn auf der einen Seite ist hier vieles trist und aussichtslos, auf der anderen Seite blühen zwei der Charaktere unter diesen Rahmenbedingungen aber auch erst so richtig auf. Doch auch ihr Verhältnis zueinander ist komplex und von einer Mischung aus Zuneigung und Manipulation geprägt. Gebrochene Biographien produzieren eben häufig auch andere gebrochene Biographien. Eine der beiden Protagonistinnen hat eine traumatische Vergangenheit hinter sich, doch in gewisser Weise hinterlässt sie auch selbst eine Schneise der Verwüstung. Die andere der beiden ist auf der Suche nach etwas, von dem sie offenbar selbst nicht genau weiß, was es ist.

                                        In einer Handlung, die irgendwo zwischen 'Thelma & Louise' und 'Bonnie und Clyde' angesiedelt ist, gehen die beiden auf einen Roadtrip, der aber eigentlich eine Flucht ist. Flucht vor den Behörden, vor den eigenen Angehörigen, vor den Zwängen der Gesellschaft, aber auch vor sich selbst bzw. dem eigenen Alltag. Dabei erinnern beide an tragische Westernhelden, die bereits einen Bauchschuss erlitten haben und mit den Geiern über sich in die untergehende Sonne reiten. Kann ihre Reise ein (zumindest für sie) glückliches Ende haben? Und wünscht man das den beiden überhaupt? Gerade die zweite Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Ebenso wie die Überlegung, welches Ausmaß an Macht und Kontrolle man anderen Menschen zugestehen möchte und welchen Preis die eigene Freiheit wert ist (was sich nochmal durch das Abwägen zwischen emotionaler und physischer Freiheit verkompliziert). Man kann aber auch all diese Überlegungen beiseite schieben und einfach nur eine Mischung aus Thriller und Drama über zwei junge Frauen auf der Flucht auf sich wirken lassen. Sinn macht beides.

                                        7 - 7,5 Punkte.

                                        KURZFAZIT

                                        Vom Westernkino inspirierte Geschichte über zwei junge Frauen auf der Flucht vor der Polizei.

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                                          Framolf 24.01.2023, 06:21 Geändert 24.01.2023, 07:24

                                          Japanuary 2023 - Film 5 / 8

                                          In den allermeisten Wäldern kann man abseits der Wege nur wenige hundert Meter weit blicken – wenn überhaupt. Nicht anders verhält es sich im Wald der Liebe. Wohl niemand auf diesem Planeten dürfte ausnahmslos alle einzelnen Facetten kennen und verstehen, auf denen sich Liebes- oder gar Abhängigkeitsverhältnisse begründen lassen. Autorenfilmer Sion Sono nimmt sich in 'The Forest of Love' eines besonders skurrilen Falles an, der offenbar lose durch wahre Ereignisse inspiriert wurde (was aber bekanntlich eine der schwächsten Formen von Verankerung in der Realität darstellt).

                                          + Leichte SPOILER ++

                                          Er erzählt dabei eine Geschichte über Verletzlichkeit und Manipulation und lotet dabei das (Un)Gleichgewicht von Abhängigkeit und Verantwortung aus. Wie so oft im Leben lässt sich diese Geschichte in einer Kurzversion (im Fall von 'The Forest of Love' in einer Fassung von 151 Minuten Laufzeit) als auch etwas ausschweifender erzählen. Sonos Langversion mit klangvollen Titel 'Deep Cut' weist mehr als zwei Stunden zusätzliches Material auf und schildert im Miniserien-Format die Ereignisse um zwei Schülerinnen, die nach einem dramatischen (und für sie traumatischen) Auftakt an einen manipulativen Heiratsschwindler geraten, während zugleich ein Serienkiller sein Unwesen treibt. Der Verdacht steht im Raum, dass der besagte Hochstapler, der sich als CIA-Agent, Hollywood-Star, Wall Street Ikone und Musikstar in Personalunion(!) ausgibt, mit den Todesfällen in Verbindung stehen könnte. Daher schicken sich drei junge Männer an, einen Film über den Fall zu drehen und erhoffen sich zugleich, ihn im Rahmen der Dreharbeiten überführen zu können.

                                          Auf dieser Prämisse baut Sono eine irrwitzige Geschichte über einen Wichtigtuer auf, der von außen betrachtet wie eine Witzfigur wirkt, im persönlichen Kontakt durch seine manipulative Art aber eine verheerende Wirkung zu entfalten vermag. Sowohl im sprichwörtlichen als auch im buchstäblichen Sinne gelingt es ihm durch eine Mixtur aus Schmerz und Energie, den Willen mehrerer Menschen zu brechen und sie an sich zu binden. Er stiftet sie auf diese Weise zu Dingen an, die konträr zu ihren bisherigen Verhaltensweise sind, lässt sich abgesehen von Körperverletzung und Hausfriedensbruch aber bei keinen Verbrechen erwischen. Kein einfaches Unterfangen, unter derartigen Bedingungen einen potenziellen Kapitalverbrecher zu entlarven.

                                          Sono nutzt dieses Konstrukt, um einen Kriminalplot mit Überlegungen zu den Themen Liebe, Macht und Manipulation (auf verschiedenen Ebenen) zu verknüpfen und bringt dies ganz nebenbei durch zahlreiche Shakespeare-Referenzen auch noch mit seiner Leidenschaft für das Theater, das Medium Film und sogar für die Musik in Einklang. Das Ergebnis ist ein Stück Filmmagie der kauzigen, aber durchaus beachtenswerten Art. Trotz der opulenten Laufzeit verliert sich der 'Deep Cut' nicht in Belanglosigkeiten, sondern leuchtet – streckenweise auch auf satirische Art – Winkel der Psyche aus, die ebenso bedauernswürdig wie unwirtlich wirken. Das Ergebnis lässt sich nur schwer in Worte fassen. Im Grunde muss man es selbst erleben („sehen“ wäre hier untertrieben). Aber man muss es eben auch erleben wollen (bzw. sich darauf einlassen wollen).

                                          6,5 Punkte mit leichter Tendenz nach oben.

                                          KURZFAZIT

                                          Sion Sono lotet einmal mehr die Grenzen der Psyche, aber auch die (s)eines Medium aus. 'The Forest of Love: Deep Cut' ist nicht nur eine fast schon transzendentale Erfahrung, sondern auch eine Liebeserklärung an das Medium Film. Erleben statt einfach nur ansehen, lautet hier das Motto.

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                                          • 6

                                            Japanuary 2023 - Film 4 / 8

                                            In 'Sexual Drive', einem japanischen Episodenfilm von Kôta Yoshida, werden drei Geschichten erzählt, in denen dieselben inhaltlichen Kategorien eine gewichtige Rolle spielen und die zudem durch eine personelle Überschneidung miteinander verbunden sind. Konkret geht es in allen drei Geschichten um ein thematisches Dreieck aus Essen, Begierde und Übergriffigkeit. In Bezug auf die Nahrung spielen sowohl ein Fertiggericht und abgepackte Kastanien als auch ein Lieferdienst sowie die vermeintlich besten Ramen der Stadt eine Rolle. Selbst gekocht wird hier bezeichnenderweise gar nicht. Sämtliche maßgebliche Figuren geben hier sprichwörtlich die Kontrolle ab und müssen gezwungenermaßen hinnehmen, was ihnen vorgesetzt wird. Bequemlichkeit kann also durchaus mit Genuss verbunden sein, jedoch zu dem Preis, womöglich nicht mehr Herr der Lage zu sein. Denn wer kann schon mit allerletzter Sicherheit die Hand für sämtliche Inhaltsstoffe ins Feuer legen, ohne sich zu verbrennen? Analog dazu verhält es sich auch mit den Ereignissen, die den Damen und Herren im Rahmen dieser Erzählungen widerfahren. Selbst die einzige Person, die alle Zügel in der Hand zu halten scheint, kocht hier nur mit Wasser; wenn überhaupt.

                                            Essen und Lust werden in 'Sexual Drive' (ein Titel, der nebenbei bemerkt durch Kôta Yoshida in einem doppelten Wortsinn verwendet wird) in eine enge assoziative Verbindung zueinander gesetzt, die aber – so viel kann man vorab verraten – in überwiegend destruktiven Bahnen verläuft. Zwar nimmt auch hier das Verlangen seinen Ursprung in der Sinnlichkeit, doch in geregelten Bahnen verläuft in diesen drei Episoden so gut wie gar nichts. 'Sexual Drive' lässt sich so gesehen also auch als filmische Antithese zu Filmen wie 'Chocolate' begreifen. Zwar wird die Suppe hier nicht neu erfunden, für einen etwas ungewöhnlichen Blickwinkel wird aber allemal gesorgt.

                                            6 – 6,5 Punkte.

                                            KURZFAZIT

                                            Essen und Lust werden hier auf eine etwas andere Art zueinander in Beziehung gesetzt.

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                                            • 8

                                              Japanuary 2023 - Film 3 / 8

                                              Alles könnte so schön sein. Zwei Schwestern beziehen mit ihrem Vater ihre neue Unterkunft irgendwo im Nirgendwo. Das kleine Häuschen ist idyllisch gelegen, jedoch tragen sich dort auch mystische Ereignisse zu, denen es für die beiden natürlich auf den Grund zu gehen gilt. Beste Voraussetzungen also für einen abenteuerreichen Sommer. Doch die Mutter der beiden liegt im Krankenhaus, weshalb sich die Töchter große Sorgen machen. Trost, Hoffnung und Zuspruch finden sie zwar auch durch ihren Vater und ein paar wenige andere Menschen, in allererster Linie jedoch in der Natur.

                                              Hayao Miyazaki (Regie) greift in 'Mein Nachbar Totoro' diverse Motive aus der literarischen Romantik auf und personalisiert die Rätselhaftigkeit der Natur und stilisiert diese als einen Ort der Ruhe und des Ursprünglichen, aber auch als einen, dem es mit Respekt zu begegnen gilt, wenn man nicht unnötig in Gefahr geraten möchte. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, schließlich lassen sich viele vermeintliche Gefahren und Unsicherheiten am besten weglächeln. Nichtsdestotrotz ist Achtsamkeit in vielen Fällen ein besserer Ratgeber als Übermut und Rücksichtslosigkeit. Denn wer der Natur und ihren Bewohnern mit Aufgeschlossenheit, freundlicher Ehrfurcht und vielleicht sogar Hilfsbereitschaft begegnet, darf auch darauf Vertrauen, Kraft aus ihr ziehen zu können, so die Kernthese dieser Verfilmung.

                                              Es ist bei Produktionen des Studio Ghibli fast schon müßig zu erwähnen, auf welch hohem Niveau sich die visuelle Gestaltung der Kulissen abspielt. Zwar sind auch die Figuren gewohnt detailverliebt gestaltet, doch der Star der Produktion ist einmal mehr die Flora. Man fühlt sich durch die Bilderwelten regelrecht zu ausgedehnten Wandertouren nach Japan eingeladen, bis man sich vergegenwärtigt, dass es sich womöglich nur um wundervolle Phantasiewelten ohne eine direkte Entsprechung in der realen Welt handeln könnte. Ein größeres Kompliment kann man den Zeichnern eigentlich nicht machen. Doch dies trifft auch umgekehrt zu, wenn die Filmcrew das Publikum mit derart sehenswerten Bildern verwöhnt.

                                              KURZFAZIT

                                              Wunderschöne Bilder und ein inhaltlicher Kern, der europäische und fernöstliche Erzähltraditionen miteinander vereint. Ghibli zeigt sich einmal mehr von seiner besten Seite.

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                                              • 6 .5

                                                Japanuary 2023 - Film 2 / 8

                                                Eine Schülerin rettet einen Kater vor dem fast sicheren Tod. Sein Vater, der Katzenkönig, lässt ihr dafür Geschenke zukommen (nämlich Katzenminze und liebevoll verpackte Mäuse – was auch sonst...?), jedoch nicht ohne Hintergedanken...

                                                Auf den ersten Blick erinnert die Geschichte an Lewis Carrolls 'Alice im Wunderland' und letztlich weisen beide eine vergleichbare Doppelbödigkeit auf. Im übertragenen Sinn geht es in Ghiblis 'Königreich der Katzen' um Persönlichkeitsbildung, die Übernahme von Verantwortung und die Reflexion darüber, inwieweit man sich durch von außen herangetragene Interessen beeinflussen lassen möchte. Die Handlung hängt dabei keineswegs in der Luft, sondern ist über die Figur des Baron Humbert von Gikkingen mit der Geschichte von 'Stimme des Herzens' (1995) verbunden. In gewisser Hinsicht fungiert 'Königreich der Katzen' als Komplementärgeschichte oder als überlanges Postskriptum zur vorgenannten Erzählung, denn hier werden Aspekte nachgetragen, die in der Coming of Age Verfilmung von 1995, die sich vorrangig mit Themen wie Kunst, Kultur und Liebe befasst, nur am Rande abgedeckt werden (können). Zwar wird in 'Königreich der Katzen' nicht ganz dieselbe Tiefe erreicht, unterschätzen sollte man jedoch auch dieses Werk nicht – auch wenn es zu guten Teilen von seinen Phantasmen und Skurrilitäten lebt.

                                                Wie so oft bei Ghibli fallen auch hier die Kulissen in vielen Szenen ganz besonders detailreich aus. Nicht wenige Bilder aus dieser Verfilmung könnte man sich auch ohne mit der Wimper zu zucken an die Wand hängen. Allein dafür gebührt diesem Studio schon allerhöchster Respekt.

                                                6,5 - 7 Punkte.

                                                KURZFAZIT

                                                Metaphernreich, einfühlsam und detailreich bebildert; wie man es eben von Ghibli kennt.

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                                                • 6 .5

                                                  Japanuary 2023 – Film 1 / 8

                                                  Ein Polizist a. D., der zuvor durch sein rabiates Vorgehen auffällig wurde, wird undercover bei einer Yakuza-“Familie“ eingeschleust, wo er zunächst als eine Art Schläfer agieren und Kontakte zur Führungsspitze knüpfen soll, ehe dann der Zugriff erfolgen soll.

                                                  Der Plan liegt also von Anfang an offen auf dem Tisch, was angesichts der schwierigen Durchführbarkeit aber keineswegs zulasten der Spannung geht. Zwar ist die Geschichte fast schon aufreizend nüchtern inszeniert, angesichts des Themas erscheint diese Herangehensweise aber auch durchaus angemessen. Trotz einer eher üppigen Laufzeit von ungefähr 138 Minuten und einer relativ überschaubaren Handlung wirkt die Inszenierung phasenweise ein wenig gehetzt, was sich gegen Ende jedoch ein Stück weit als Trugschluss erweist. Bei der Erzählung werden an mehreren Stellen bewusst Lücken gelassen, die erst später gefüllt werden (teils in Rückblenden, teils verbal). Auf diese Weise wird bereits der Eintritt des Protagonisten in die Mafiaorganisation übergangen, was zunächst etwas ruppig wirkt. Nach einer kurzen Exposition findet sich dieser schon inmitten einer Mission und es wird erst sehr viel später geklärt, wie überhaupt der erste Kontakt zustande kam. Durch derartige Stilmittel kann womöglich zunächst der Eindruck einer gesteigerten Komplexität entstehen, der sich jedoch gegen Ende hin wieder verflüchtigt, wenn die Handlung nach Abdeckung der entstandenen Leerstellen letztlich doch wieder rund wirkt.

                                                  Vieles an der Handlung dieses Mafiathrillers ist purer Durchschnitt, der allerdings wiederholt von spannend umgesetzten Szenen durchbrochen wird. Das Ergebnis kann sich – jedenfalls für Genrefans – sehen lassen, denn 'Hell Dogs' ist unter dem Strich ein (fast) kompromissloser cineastischer Ausflug in die Welt des organisierten Verbrechens. Blutige Unterhaltung ist dabei garantiert.

                                                  KURZFAZIT

                                                  Trocken und humorlos. So wie man sich das Leben in der Yakuza eben vorstellt.

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                                                  • 6 .5

                                                    Ein junger Patriot (Zac Efron) möchte einige Jungs aus seinem Stadtviertel, die in Vietnam dienen (müssen), mit einer symbolischen Geste unterstützen und fasst den Plan, ihnen einigen Dosen Bier aus der Heimat zukommen zu lassen. Doch er möchte seine Tasche nicht einfach einem Soldaten auf Heimaturlaub mitgeben, sondern er hat die Schnaps- bzw. Bieridee, diese persönlich an der Frontlinie abzuliefern. Zusätzlich erschwert wird sein Vorhaben dadurch, dass seine Freunde an verschiedenen Orten stationiert sind und teilweise kein Kontakt zu ihnen hergestellt werden kann. Doch das stachelt den Sportsgeist des naiven, aber mutigen Weltreisenden nur zusätzlich an.

                                                    Regisseur Peter Farrelly ('Green Book') inszeniert diesen irrwitzigen Fall aus dem Jahr 1967 als Mischung aus Komödie und (Anti-)Kriegsfilm. Daraus ergibt sich ein kurzweiliger und stellenweise fast schon heiterer Erzählstil, der allerdings auch deutlich mit der Botschaft kollidiert, die hier vermittelt werden soll. Einerseits werden der Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges ebenso aufgezeigt wie dessen Auswüchse und diverse Gewaltexzesse auf beiden Seiten. Dabei wird auch klar Stellung bezogen gegen das Gebaren verschiedener Akteure, wobei auch die US-Seite nicht geschont wird. Die Autoren geben aber auch klar zu verstehen, dass sich ihre Kritik explizit auf diesen speziellen Krieg bezieht und sich nicht zwingend verallgemeinern lässt. So gesehen handelt es sich hier bei eher um einen Anti-Vietnamkriegsfilm als um einen allgemeingültigeren Antikriegsfilm.

                                                    Überhaupt beißen sich die kritischen Passagen in diesem Film wiederholt mit einigen Sequenzen, in denen der Krieg fast schon als großes Abenteuer dargestellt wird. Heitere Episoden werden personalisiert dargestellt (man sieht, wie der Protagonist diese oder jene - teils auch heikle - Situation durchlebt), drastische Szenen hingegen werden - zumindest teilweise - entweder anonymisiert aus der Ferne dargestellt (beispielsweise als Rauchsäule, die nach einem Bombeneinschlag aufsteigt) oder eher lapidar arrangiert (mit komödiantischen Elementen oder beschwingter Musik und dergleichen). Auf diese Weise ergibt sich ein Film, der durch das Bemühen der Regie, zwei unvereinbare Gegensätze unter einen Hut zu bringen, weder Fisch noch Fleisch ist. Seinen Unterhaltungszweck dürfte diese Verfilmung bei vielen Zuschauern durchaus erfüllen. Farrelly bemüht sich erkennbar um einen unterhaltsamen Erzählstil und er kann in handwerklicher Hinsicht auch eine recht gelungene Inszenierung vorweisen. Doch auch wenn die Geschichte an sich skurril klingt und sich daher auf den ersten Blick auch für einen etwas lässigeren Erzählstil anbietet, wirkt das Gesamtergebnis an manchen Stellen etwas unrund.

                                                    KURZFAZIT

                                                    Vermutlich gut gemeint, aber der Spagat zwischen Unterhaltung und inhaltlicher Positionierung gelingt nur bedingt.

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