Martin Canine - Kommentare

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    Martin Canine 10.05.2021, 20:00 Geändert 10.05.2021, 21:15

    EINLEITUNG

    "Die Geburt einer Nation" lässt das Filmliebhaberherz bluten.
    Ihr habt gehört, dass dieses berüchtigte Werk zum einen zu den wichtigsten Filme aller Zeiten gezählt wird, zum anderen jedoch aufgrund seiner rassistischen Motive bis heute umstritten ist. Aber ihr wisst nicht, welches immense Ausmaß beide Richtungen annehmen, wenn ihr den Film selbst nicht gesehen habt. Ihr wisst nicht, welche ungeheure Mammutleistung in seiner Realisierung steckt, wie unfassbar überlebensgroß und kolossal er daherkommt… und wie zutiefst ekelerregend und hasserfüllt er in seinem Kern doch ist. Er stellt seit nunmehr über einem Jahrhundert Cineasten und leidenschaftliche Filmkenner vor die größtmögliche Herausforderung: wie ist mit einem Film umzugehen, der die gesamte Entwicklung des Kinos und auf seinen Schultern trägt, gleichzeitig aber bis heute als Rekrutierungsfilm in rechtsradikalen Kreisen Verwendung findet?

    KAPITEL 1:
    DIE EMPFÄNGNIS

    Wir schreiben das Jahr 1914.
    Das Medium Film ist bereits seit langem aus kurzen Schnipseln und Einzeleinstellungen herausgewachsen; beginnt, Studiokulissen auf Leinwände zu malen, Kostüme anzuziehen und kurze, oftmals fantastische Geschichten zu erzählen. Es erkennt, dass man mit dieser neuen Spielerei Möglichkeiten der visuellen Darstellung besitzt, die im Theater nicht möglich sind. Regisseure lassen ihrer Fantasie und Kreativität freien Lauf, und wir sehen utopische Darstellungen wie Reisen zum Mond als auch Inszenierungen von realistischen Spannungsmomenten wie Eisenbahnrauben. Dabei waren es vor allem Bilder, die man aus den Köpfen der Regisseure auf Film bannte. In dieser Ära sieht ein italienischer Filmemacher namens Giovanni Pastrone in dem Medium allerdings noch viel mehr. Er dreht kurzerhand einen dreistündigen, mythologischen und geschichtlich angehauchten Film (Anmerkung aus dem Jahre 2021: man hat dieses Genre in seiner Blütezeit, die erst Jahrzehnte später erfolgte, auf dem Namen Sandalenfilm getauft) mit einem seinerzeit aufwändigen, plastischen Set, der in Länge, Erzählstil und Handwerkskunst bei weitem die zweidimensionalen und inhaltlich überschaubaren Ambitionen seiner Kollegen in den Schatten stellt, die sich bis dato gerade einmal in der Ausgestaltung kurzer Prämissen übten und sich dort jedoch gehörig austobten und ausprobierten. Seine visionäre Arbeit war ein Triumph inszenatorischer Schlagkraft, wie man sie nie noch nie sah. Es rückwirkend treffend zu beschreiben erscheint unmöglich - denn man muss sich vor Augen halten, dass es die heute gängigen Begriffe der Filmrezeption noch nicht gab, da schlichtweg noch nichts existierte, das sie erforderlich gemacht hätte. Der erste Grundstein war gelegt… durch "Cabiria".

    Dieser Film gelangte bis nach Übersee auf das Gelände des Weißen Hauses, wo er  noch lange vor jedem anderen cineastischen Werk aufgeführt wurde. Wenngleich dies seinerzeit selbstredend einer Erhebung in den Adelsstand gleichkam, so ist es für das weitere Geschehen der Weltgeschichte viel bedeutender, was parallel passierte: "Cabiria" fand seinen Weg in die Hände des US-amerikanischen Regisseurs D.W. Griffith. Griffith hatte im selben Jahr, nur etwas früher, selbst einen schier unglaublichen Schritt gewagt und mit "Judith von Bethulien" einen einstündigen und groß inszenierten historischen Film veröffentlicht, der in seiner Ausstattung alles sprengte, was die amerikanische Bevölkerung bis zu diesem Zeitpunkt kannte. Schier verschwenderisch und mit einem luxuriösen Umfang war Griffith mit diesem Werk seinen Kollegen meilenweit voraus.

    Das Aufeinandertreffen dieses amerikanischen Regisseurs und dieses italienischen Langwerkes sollte - was zu diesem Moment noch keinem bewusst war - zur Initialzündung des internationalen Kulturphänomens Kino werden. Es sollte nie mehr ein Film gedreht werden, den man nicht auf diese schicksalshafte Begegnung zurückführen kann.

    KAPITEL 2:
    VON SKLAVENHALTERN UND CARPETBAGGERS

    Der amerikanische Bürgerkrieg, auch Sezessionskrieg genannt, wurde von 1861 bis 1865 zwischen den nordamerikanischen Unionsstaaten und den südamerikanischen Konföderierten ausgetragen. Die Südstaaten unterlagen in diesem auch heute noch immer wieder aufgegriffenen Konflikt und wurden nach dessen Ende wieder Teil der Vereinigten Staaten von Amerika. Einer der wichtigsten Gründe des Krieges war die bereits zuvor erfolgte Abschaffung der Sklaverei in den Nordstaaten und die Verweigerung dieses Umbruchs in den Südstaaten. Alleine diese aus heutiger Sicht völlig klare Einteilung von Recht und Unrecht, das Motiv der Befreiung einer leibeigenen und untergeordneten Gesellschaftsgruppe, lässt hier keinen anderen Schluss zu, als sich auf die Seite der Nordstaaten zu schlagen. Ohne dabei allerdings auf die Fehler derselben zu vergessen. Damals wie heute trennen die Nord- und Südstaaten stark unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen, und ungeachtet der Befürwortung der ungemein rassistischen und brutalen Idee, Schwarze als Eigentum zu betrachten, war der Wunsch nach einer eigenständigen Identität und Unabhängigkeit völlig legitim. Auch heute noch sollte man südlichen Stolz und Befürwortung von White Supremacy nicht automatisch gleichsetzen - es gibt auch Leute, die sich spezifisch als Südstaatler identifizieren, und für gleiche Behandlung stehen wie jede vernünftige Person auf der Welt. Mit dem Ende des Sezessionskrieges wurde genau dieser Wunsch nach Eigenständigkeit und Anerkennung der eigenen Tradition jedoch hart niedergeschlagen; nicht nur wurden die Südstaaten von der Union auf dem Papier quasi "geschluckt", einige Nordstaatler breiteten sich auch im Süden aus, um aus der Niederlage Kapital zu schlagen und Erfolg zu suchen, wobei ihnen zugute kam, dass die Konföderierten als Verlierer, die nun "eingegliedert" werden mussten, wenig Selbstbestimmung geltend machen konnten. Genannt wurden diese Nordstaatler "Carpetbaggers", benannt nach den Stofftaschen, die sie meist bei sich trugen.

    Das auch heute noch nur schwer zu ertragende Unrecht, das den Schwarzen widerfahren ist, wiegt freilich um Tonnen schwerer. Dennoch ist ein Verständnis dieser Situation genauso wichtig, um nachvollziehen zu können, warum "Die Geburt einer Nation" in dieser Form zustande kam. Tatsächlich ist diese Problematik sogar später im 1939 erschienenen filmischen Meisterwerk "Vom Winde verweht" noch deutlich spürbar und zeigt, dass der Süden den Verlust seiner Identität immer noch nicht verwunden hatte. Es ist sogar äußerst ungünstig, dass das Ende der Sklaverei und die Eingliederung der Südstaaten bzw. die Unterwanderung des Nordens zeitgleich von Statten gingen. Denn so wurden diese unmittelbar miteinander verknüpft - und die Saat des Hasses konnte gesät werden.

    KAPITEL 3:
    DIE GEBURT

    Während ihr euch die Rekapitulation der Folgen des Bürgerkrieges durchgelesen habt, konnte D.W. Griffith inzwischen in seine eigenen ausufernden Darstellungen Pastrones epische Erzählkunst einfließen lassen und den Film drehen, der alles verändern würde: "Die Geburt einer Nation". Ein Titel, der auf inhaltlicher Ebene kaum zynischer, auf seinen Impakt bezogen kaum treffender hätte gewählt sein können (hierzu später mehr). Nur zu sagen, dass er der erfolgreichste Stummfilm war, dass er nicht am Gelände sondern IM Weißen Haus gezeigt wurde, dass er eine Vielzahl an heute etablierten Filmkniffen erfand - all das wird ihm nicht gerecht. Er ist nicht weniger als der Film, der Filme im heutigen Verständnis erfand. An echten Schauplätzen gedreht, mit einer durchgängigen chronologischen Handlung inklusive parallel verlaufenden Strängen und Zeitsprpngen versehen, einen dramaturgischen Aufbau und Zuspitzungen aufweisend, seine Kamera sinnvoll zur emotionalen Intention einsetzend, eigens komponierte Musik inklusive wiederkehrenden Leitmotiven verwendend - man konnte keinen Film zuvor so beschreiben. Das gab es schlicht und ergreifend nicht. Zusätzlich dazu legte Griffith auf seinen Schwarzweißfilm verschiedene Farbilter, um so die jeweilige Stimmung zu unterstreichen. Wäre die schiere Innovation nicht schon genug der Qualität schlägt der Film zusätzlich noch über die Stränge wie nichts zuvor. Hunderte Statisten, allesamt kostümiert und in etlichen Szenen vorhanden, weitreichende Schlachtsequenzen mit Kanonen und Schießgewehrsalven, endlose Schwadronen an Pferden, Staub und Rauch wirbeln umher und lassen das Gezeigte unheimlich echt wirken. Griffith erreichte bereits 1915 ein Niveau, an dem sich selbst die größten Monumentalfilme aus den 50ern und 60ern zu messen hatten. Sie konnten, wenn sie richtig gut waren, dieses Level vielleicht erreichen, es aber nie überbieten und ihm nichts drastisch Neues mehr hinzufügen. Auf künstlerischer Ebene hat der Filmemacher einen Sprung von gefühlt 30 Jahren hingelegt. Er zog das Medium Film mit einem Schlag eigenhändig in die Zukunft. Und es zahlte sich aus: selbst nach allen Filmen, die sich von nun an mit dieser imposant hoch türmenden Messlatte konfrontiert sahen, blieb "Die Geburt einer Nation" der erfolgreichste Stummfilm aller Zeiten. Fraglich ist, ob sich ohne ihn Filme auch auf dieselbe Weise überhaupt entwickelt hätten. Vermutlich nicht und gewiss hätte es sich Jahrzehnte hinausgezögert, bis man annähernd dort gewesen wäre. Filme begleiten heute unser tägliches Leben und das schon von Kleinauf. Sie existieren nicht nur in sich geschlossen, sondern beeinflussen unsere Sprache, Gestik und Mimik. Es hätte auch ganz anders kommen können, wenn Griffith hier nicht unerfüllbar hohe Ansprüche an sich selbst gestellt hätte.

    KAPITEL 4:
    IM SÜDEN NICHTS NEUES

    "Die Geburt einer Nation" handelt von zwei Familien, den Stonemans und den Camerons, die eine gute Freundschaft pflegen und sich gegenseitig besuchen. Die Besonderheit: die Stonemans sind Nordstaatler unter der Leitung eines Kongressabgeordneten, der Patriarch der Camerons ist hingegen ein südstaatlicher Plantagenbesitzer. Die Beziehung der Familien bekommt durch den Sezessionskrieg allerdings Risse, denn die Söhne beider Familien ziehen für gegenüberliegende Seiten in die Schlacht. Und trotz der Grundfeindschaft ihrer Länder endet die Freundschaft nicht wirklich. In einer unheimlich ergreifenden Szene erkennt einer der Coleman-Brüder auf dem Schlachtfeld in einem gerade angeschossenen Unionssoldaten seinen Freund Stoneman, und hält inne, nur um dann selbst erschossen zu werden. Sie sterben Arm in Arm. Ein Moment, den auch "Im Westen nichts Neues" nicht erschütternder hätte zeigen können. Unterdessen trägt Benjamin Coleman (im weiteren Verlauf des Filmes der "Protagonist") ein Bild von Elsie Stoneman, die er innig liebt, bei sich in der Tasche, um es durch den Krieg zu schaffen.

    Es wird aus heutiger Sicht gehörig überraschen, aber "Die Geburt einer Nation" vertritt deutlich eine Antikriegshaltung. Immer wieder wird deutlich sowohl in symbolischen Bildern als auch durch Zwischentitel mit Nachdruck die Sinnlosigkeit des Kriegsgeschehen unterstrichen. Es wird gezeigt, dass sich auf beiden Seiten Menschen und keine Monster befinden (hierzu sei jedoch vorgegriffen, dass hauptsächlich weiße Charaktere agieren -  das wird später noch wichtig werden). In der ersten Hälfte des Filmes steht der Bürgerkrieg im absoluten Mittelpunkt und durch seine deutliche Einstellung zu eben diesem erscheinen zunächst vor allem der unreflektierte und wenig thematisierte Umgang mit der Sklavenproblematik der Südstaaten und die Besetzung weißer Schauspieler mit schwarzer Schminke als das Hauptproblem des Werkes. Das muss zwar auch angekreidet werden, lässt sich aber zunächst durch Naivität und einen schrecklich veralteten Zeitgeist erklären. Man könnte dennoch meinen, das Werk hätte sein Herz am richtigen Fleck. Doch dieser Eindruck könnte falscher kaum sein, denn nach dem Krieg…
    ...folgt die Reconstruction-Ära.

    KAPITEL 5:
    DIE NACHGEBURT

    Der erste Teil des Filmes endet mit dem Attentat auf Abraham Lincoln - einer Szene, in der mehrere parallele Blickwinkel (Lincoln, der Attentäter und Benjamin und Elsie im Publikum der Theateraufführung) auf einen gemeinsamen Höhepunkt hinauslaufen. Wir haben den ersten Fall eines Spannungsaufbaus in einem Film. Lincoln wurde zuvor, obwohl er gegen den Süden kämpfte, als gnädige und positive Figur inszeniert, der verlangte, dass man trotz deren Niederlage die Verlierer mit Respekt und als gleichwertige Mitbürger behandle.

    Nach seiner Ermordung versinken die Südstaaten im Chaos und bekommen die Niederlage zu spüren - und der Film offenbart seine garstige, widerwärtige Fratze ein für alle Mal. Und das mit einer unverblümten Gehässigkeit wie man sie damals wie heute selten zu sehen bekommt. Ungehobelte, lüsterne Schwarze und "Mulatten" fallen über das Land her, gierig nach Macht und Sex. Die weißen Südstaatler werden aus Urteilen und von Wahlen ausgesperrt und können sich nicht dagegen wehren, was mit ihrem Land geschieht ("Die arme weiße Minderheit" ist eine tatsächliche und ernst gemeinte Texteinblendung). Die Einführung einer gemischtrassigen Ehe wird so dargestellt, dass sich bei der Verkündung die schwarzen Anwesenden mit verschrobenem Blick und sichtbaren Hintergedanken zu den weißen Frauen umdrehen. Zweimal wird im Film eine von einem Nicht-Weißen ausgehende Vergewaltigung an einer Weißen versucht - einmal treibt es die Frau in Folge in den Suizid. Stoneman, der nach Lincolns Tod zum mächtigsten Mann des Landes wird, stellt einen "Mulatten" mit dem sehr makaberen Namen Lynch als rechte Hand ein - dieser wird als psychotischer, gewalttätiger Perversling inszeniert. Tatsächlich weigert sich Benjamin jedoch bereits, bevor dies ersichtlich wird, ihm die Hand zu reichen. Im Kongress benehmen sich die Schwarzen unzivilisiert und ohne Manieren, ziehen sich die Schuhe aus und werfen essend und trinkend die blanken Füße auf den Tisch. Der Film geht davon aus, der bloße Anblick eines Schwarzen im Anzug wäre so absurd und grotesk, dass wir das als Verhöhnung empfinden und Abneigung entwickeln.

    Irgendwann reicht es Benjamin damit, was aus seinen Südstaaten wird. Inspiriert von spielenden schwarzen Kindern, welche Angst vor einer weißen, wie ein Geist aussehenden Decke mit zwei sich darunter befindlichen weißen Kinden haben, gründet er eine mit weißen Kapuzen bekleidete Rebellion, die gegen die "Missstände" aufbegehrt und sich mit Gewalt dagegen wehrt: den Ku-Klux-Klan, der sich selbst zu Judikative, Legislative und Exekutive erhebt und die Bestrafung in die eigene Hand nimmt. Der Rassismus des Films gipfelt hierbei in einem heroisch als Statement zelebrierten Lynchmord an einem schwarzen Vergewaltiger - der Leichnahm wird dann Stoneman vor die Tür geworfen. An einer späteren Stelle wird den flüchtigen Camerons von zwei Nordstaatlern geholfen - die Texteinblendung kommentiert dies als "Vereinigung von Norden und Süden durch ihr arisches Geburtsrecht". Einzig und allein das treue schwarze Hauspersonal der Camerons, das selbst gegen die "bösen Schwarzen" mit rebelliert, wird als sympathisch, wenngleich komödiantisch dargestellt.

    Der Film beeindruckte rassistische Extremisten so stark, dass sie die bereits wieder vergessenen weißen Kapuzen selbst anzogen - der Ku-Klux-Klan erlebte eine Renaissance. Es wäre zwar wohl auch ohne den Film zu organisierten, rassistisch motivierten Gewaltakten gekommen, aber das Werk bot eine klare Orientierungshilfe und Inspiration, die das Ganze noch strukturierter geschehen ließ. 

    Umso überraschender ist es, dass es als belegt gilt, dass D.W. Griffith kein überzeugter Rassist war. Dies geht aus mehreren Biografien sowie Memoiren seiner Kollegen, vor allem seiner Lienlingsdarstellerin Lillian Gish (die hier die Rolle der Elsie übernimmt und als erste Schauspielerin im heute gebräuchlichen Sinn angesehen wird - und sie spielt gut und überraschend subtil), hervor. Viele seiner Aussagen lesen sich heute zwar mit unglaublicher Naivität - etwa, dass er sich immer gut um die Schwarzen gekümmert habe und von daher kein Rassist sein könne - das Ganze im Kontext einer Zeit zu sehen, in der man sich öffentlich auch für die körperliche Züchtigung Schwarzer aussprechen konnte, ohne dafür angefeindet zu werden, hilft aber womöglich dabei, annähernd begreifen zu können, wieso er den Rassismus schier nicht wahrnahm. Seine eigenen späteren Werke setzten sich gar gegen Ungerechtigkeit ein und gelten als außerordentlich progressiv für ihr Erscheinungsdatum. Das Entstehungsjahr von "Die Geburt einer Nation" würde den verklärten Blick auf die Konföderiertenseite, das Blackface oder sogar eine verharmlosende bzw. heroische Darstellung des Ku-Klux-Klan als Retter des Südens an sich begründen - Tatsache ist jedoch, dass der Film weit darüber hinaus geht und sich aktiv hetzerisch betätigt sowie ein Bild von Schwarzen zeichnet, das dem von Juden in nationalsozialistischen Werken nicht unähnlich ist - und das mit einer Aggressivität, die ihresgleichen sucht. Und das war, mit Verlaub, kein Kind dieser Zeit. Es ist schier kaum zu glauben, dass jemand ein so menschenverachtendes Bild nach dem Schema "Parasiten und Retter in der Not" zeichnet, ohne daran selbst zu glauben. Oftmals wird vermutet, dass seine späteren Werke wie "Intoleranz" aus 1916, sein zweitwichtigster Film, zur Besänftigung der Kritik entstanden sind. Dagegen spricht jedoch, dass Griffith zeitlebens darauf bestand, dass "Die Geburt einer Nation" unproblematisch wäre und die Proteste zudem keinerlei Einfluss auf das positive allgemeine Meinungsbild hatten. Es wird retrospektiv manchmal darauf hingewiesen, dass es bei der Veröffentlichung von "Die Geburt einer Nation" zu eben solchen kam. Das ist zwar wahr, sie gingen ihrer Zeit jedoch neben dem überschwänglichen filmischen Durchbruch des Werkes nahezu unter. Bis in die 1960er Jahre war es gesellschaftlich akzeptiert, den Film ohne das Wort "aber" als den besten aller Zeiten zu bezeichnen. Immerhin wurde aber erwirkt, dass der Werktitel "The Clansman" in "The Birth of a Nation" umgeändert wurde. Es deutet tatsächlich alles darauf hin, dass Griffith die zugrunde liegende literarische Vorlage ohne darüber nachzudenken haargenau verfilmte und einfach nicht verstand, was genau sie eigentlich aussagt, auch Jahre später wieder. Weil er sich schlichtweg überhaupt nie Gedanken zu Politik jedweder Art gemacht hat. Und das ist in Anbetracht der unglaublich demütigenden Darstellungen zumindest aus heutiger Sicht kaum mehr, oder besser gesagt gar nicht zu verstehen. 

    EPILOG

    D.W. Griffith's "Die Geburt einer Nation" aus 1915 und Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" aus 1935 werden wohl ewig die beiden Filme bleiben, die Filmliebhaber an meisten an ihre Grenzen bringen. Unbestreitbar gehören sie zu den historisch wichtigsten Filmen aller Zeiten - ersterer war gar der Urknall der Filmgeschichte allgemein - und sind zudem, da sind sich alle einig, auch aus heutiger Sicht zwei der beeindruckendsten Werke überhaupt. Und zeitgleich stehen sie epitomisch für die Möglichkeit der Kunst, nicht nur das Gute, sondern auch das abgrundtief Böse zu verbreiten. Dabei gehen sie sehr unterschiedlich vor: wo "Die Geburt einer Nation" die Gewalt und den Hass des Ku-Klux-Klans ohne Scham bebildert und als heroisch feiert, ist "Triumph des Willens" gerade deshalb so erschreckend, weil er diesen wesentlichen Teil der Nazi-Ideologie ausspart. Was von beiden gefährlicher ist, ist schwer zu sagen. Und wenn man solche Filme bewertet… dann können schon die Gewissensfragen aufkommen: kann man solche Filme lieben? Oder sie umgekehrt hassen? Kann man aus Liebe und Hass den Durchschnitt errechnen, obwohl es beiden nicht gerecht wird? Eine endgültige, allgemeine Antwort gibt es nicht. Aber diese Filme wurden gedreht. Und sie haben viel geleistet, um für immer ihren festen Platz zu haben. Leider sind sie für das Falsche eingestanden.

    Und das Filmliebhaberherz blutet.

    10
    • 9 .5

      Roger Ebert meinte einmal über Werner Herzog, dass seine Spielfilme immer etwas Dokumentation und seine Dokumentationen immer etwas Fiktion beinhalten. Damit hat er den Kern der Sache präzise getroffen. Seine Filme schauen sich selten an wie inszenierte Produktionen. Er hält die Kamera zumeist auf das Geschehen und lässt es sich entfalten, wobei er ein außergewöhnlich gutes Auge dafür hat, was beeindruckend aussieht. Damit ist nicht gemeint, dass er à la Stanley Kubrick mit klinischer Perfektion durchstrukturierte, oder aber wie der Regisseur eines großen Leinwandepos über alle Maßen sensationelle Szenenbilder heraufbeschwört. Stattdessen hält er oft inne und bewundert, was ihm über den Weg läuft. Die vielleicht bestaussehende, einnehmendste Szene, die er gefilmt hat, ist die Fahrt zu Draculas Schloss in "Nosferatu - Phantom der Nacht". In dieser hat er nichts weiter getan, als die Natur zu filmen, die er dabei passierte - Wasserfall, Erde, Bäume. Nicht etwa aus besonders fotogenen Einstellungen, sondern so, als wäre man direkt vor Ort und würde vorbeischlendern. Dies sind die dokumentarischen Momente seiner Spielfilme. Umgekehrt beschwört er wiederum oftmals künstlich Situationen herauf, die in dieser Form nie stattgefunden haben, um der Wahrheit in seinen Dokumentation mehr Ausdruck zu verleihen.

      Dabei ist Herzog eines, auch in seinen Spielfilmen, ganz entschieden nicht: ein Geschichtenerzähler. Er stellt uns zunächst eine Prämisse vor, diese beinhaltet zumeist bereits den Löwenanteil des klassischen Filmemachens, den wir in seinen Werken zu sehen bekommen, und setzt mit dieser eine Reihe von Bildern, Ereignissen und Entwicklungen in Gang, denen er dann folgt. Ziehen viele filmischen Stücke ihre Kraft gerade aus ihren klar ersichtlichen narrativen Kunstgriffen, ihren Höhen und Tiefen, Figureneinführungen, Wendepunkten und Zuspitzungen, lassen sich Herzogs Filme treiben und fahren das rasante Tempo, das wir gewohnt sind, herunter, um einfach nur zuzusehen.

      Tatsächlich entlarvt diese Art des Filmemachens auch, wie künstlich manche Dialoge klingen. So gibt es sehr früh in "Cobra Verde" eine Szene, in der in einer Bar ein Gespräch zwischen der Titelfigur und dem überraschend jungen Besitzer stattfindet. Der Dialog über ein völlig weißes Land aus Eis und Schnee würde in jedem Golden Era Hollywoodfilm völlig natürlich klingen. Man kommt nicht drumherum, zu verspüren, er wirke in dem überaus authentisch aussehenden Film umso artifizieller. Die Szene macht deutlich, dass wir Glaubhaftigkeit nicht daran festmachen, wie realistisch etwas tatsächlich ist, sondern, wie realistisch es im jeweiligen filmischen Universum wirkt. Noch hervorgehoben wird das, als Klaus Kinski auf das Gespräch eingeht. Vielleicht, weil wir ihn auch außerhalb des Filmes kennen und wissen, dass er, gelinde gesagt, zu Theatralik neigt. Vielleicht auch, weil er von seinen Zeilen felsenfest überzeugt scheint, und nicht wie sein Gegenüber schauspielert. Aber ihm glauben wir den Dialog mehr.

      Kinski verkörpert (gerade bei einem Film Werner Herzogs, der immer nach Leuten suchte, die am besten gar nicht erst spielen mussten, wohl das treffendste Wort) in "Cobra Verde" den gleichnamigen brasilianischen Banditen des 19. Jahrhunderts, der von einem Zuckerrohrplantagenbesitzer als Aufseher für seine Sklaven eingestellt wird. Als er dessen Töchter schwängert und seine Identität preisgibt, will dieser einen Weg finden, ihn wieder loszuwerden. Er schickt ihn nach Afrika, um dort weitere Sklaven einzuholen, in der Annahme, er würde es wie seine Vorgänger nicht schaffen und sterben. Allerdings erweist sich Cobra Verde als geschickt und charismatisch, und kann den Auftrag ausführen, während er selbst bald zum bekannten Mann in Afrika wird.

      So lautet die Prämisse des Werkes, nach welcher der Stein erst in Rollen gerät und sich die Begebenheiten eine nach der anderen entfalten. Seine extrem riskante und heikle Thematik fasst Herzog ohne Samthandschuhe an und zeigt ein Bild von Afrika, dessen Herrscher ihre eigenen Leute als Sklaven anbieten, was von den Weißen dankend angenommen wird. Die Figur des Cobra Verde wird dabei völlig ohne Sympathie- oder Hassmomente inszeniert. Tatsächlich ist der Film in dieser Hinsicht gänzlich kalt-distanziert und lässt keinerlei Moral, weder in die eine noch die andere Richtung, durchblitzen. Der Dokumentarfilmemacher in Herzog übernimmt das Zepter und hält die Kamera fest auf das Geschehen fixiert, ohne dabei eine allzu personenfixierte Erzählweise einzunehmen. Es kommt nie das Gefühl auf, dass wir selbst an der Seite Cobra Verdes stünden oder gar dieser wären, sodass wir uns zu keinem Zeitpunkt mit ihm identifizieren, gleichzeitig blickt der Film auch nicht antagonistisch auf ihn herab, er kontrastiert sein Verhalten auch nicht. Was er jedoch deutlich zeichnet, ist, dass wir bereits einer Ära beiwohnen, in der sich der Sklavenhandel auf dem absteigenden Ast befindet. Vor diesem Hintergrund spielt sich das Geschehen ab. Und Cobra Verde ist dabei, vielleicht überraschend, vielleicht auch nicht, ein Mann, der den Schwarzen, egal ob Herrscher oder Sklave, auf Augenhöhe begegnet. Er ist nicht dumm und weiß genau, dass ihm die Schwarzen nicht unterlegen sind - das trifft eher auf die Weißen zu, die ihn in diese Positiok brachten. Er ist dennoch ein Opportunist und nutzt den Sklavenhandel zu seinem persönlichen Vorteil. Interessant, wenngleich überaus unangenehm, ist das Bild der Frau, das dargestellt wird. Die meiste Zeit über verhalten sich sämtliche Männer, Cobra Verde mit eingeschlossen, unheimlich objektifizierend, reißen die Frauen buchstäblich an sich, wann immer es ihnen gefällt, und nicht nur zum Vergnügen, sondern explizit, um sie zu schwängern. Dennoch bildet der Protagonist im Verlauf des Filmes ein Heer von Amazonen aus, denen er Respekt und keine Vorbehalte entgegenbringt und die er als Kriegerinnen ernst nimmt.

      "Cobra Verde" stellt die fünfte und letzte Zusammenarbeit Herzogs mit Kinski dar. Berüchtigterweise war es der Dreh zu diesem Film, der die beiden letztlich entzweite, was insofern bemerkenswert ist, als dass diese Hassliebe die unter wesentlich schwierigen äußeren Bedingungen gedrehten "Aguirre, der Zorn Gottes" und "Fitzcarraldo" überstand, obwohl dort bereits nicht nur die Fetzen, sondern auch Kugeln flogen. Bei diesen beiden Epen waren es vor allem die Schauplätze im Dschungel, die die Dreharbeiten des Independent-Teams strapazierten und eine Unzahl an unvorhersehbaren Kompikationen hervorriefen, was mit Kinskis ohnehin leicht reizbaren Gemüt freilich keine gute Kombination abgab. Wie auch "Woyzeck" und "Nosferatu" ist "Cobra Verde" allerdings ein Film, der relativ barrierefrei hätte abgedreht werden können, wären Klaus Kinskis Psychosen nicht so heftig wie nie zuvor gewesen. Während des Drehs kündigte so der Kameramann, da ihm die Wutausbrüche des Hauptdarstellers zu viel wurden. Zogen die anderen zwei Problemfilme hier sogar ihre Kraft aus der angespannten Situation, da sie sich offensichtlich auf der Leinwand bemerkbar machte, was das Erlebnis intensiver und authentischer machte, würde man der grünen Kobra die unsäglichen Strapazen nicht ansehen. Kinski selbst leistet hier sogar eine seiner beherrschtesten Darbietungen und wird zu einem eher stillen und in sich gekehrten Mann, der nur schwer zu durchschauen ist und niemanden, auch nicht den Zuseher, an sich heran lässt. Man weiß nie, woran man bei ihm ist.

      Werner Herzog bietet hier einen immens bildgewaltigen Film, wobei einige der afrikanischen Tänze und Gesangsdarbietungen sowie die Ausbildungssequenzen der Amazonen teilweise sogar an Massenszenen großer Hollywoodproduktionen erinnern. Der Palast des afrikanischen Königs wurde gar eigens als Set für den Film erbaut. Allerdings unterscheidet sich hier Herzogs Herangehensweise erheblich von jenen eines klassischen Monumentalfilmes, da er die wuchtigen Momente nicht als punktgenau stilisierte Bildkompositionen, sondern als stiller Beobachter des Geschehens festhält. Dadurch kitzelt er aus den visuellen Eindrücken eine im Kino nur selten vorkommende Haptik heraus. Staub, Erde und Hitze kann man förmlich auf der eigenen Haut spüren, Einrichtung und Kleidung haben fühlbare Texturen und Masse. Einstellungen aus der brasilianischen wie der afrikanischen Stadt fangen regelmäßig Zufallseindrücke ein; die Gegend wirkt echt und auf hoch ästhetische Weise unästhetisch. Es ist Herzogs größte Glanzleistung, das nicht Kunstvolle zur Kunst zu erheben, das Außergewöhnliche im nicht Außergewöhnlichen zu finden - und seinen Blick auf uns zu übertragen. So folgt "Cobra Verde" seiner Titelfigur durch gleichermaßen spektakuläre wie unspektakuläre Episoden, die von Herzog jedoch ähnlich roh und unkünstlich auf Film gebannt werden, und von daher, trotz seines narrativen Rahmens, echt und halbdokumentarisch erscheinen. Und das ist Werner Herzogs große, individuelle Handwerkskunst.

      12
      • 3
        Martin Canine 18.04.2021, 17:40 Geändert 19.04.2021, 02:29

        Wer hat sich, als er "FernGully" angesehen hat, nicht auch gedacht: "Das war schon ganz gut, aber jetzt bitte das Ganze nochmal mit dem einzig wahren Glücksbärchi-Feeling als lange Folge einer Kika-Serie, dafür mit etwas weniger Message und kaum Interaktionen"?

        In "FernGully 2 - Die magische Rettung" wird die Figur des Elferich Pips, der im ersten Film die Rolle des von sich selbst eingenommenen Machos einnahm, anstelle des Menschen Zak zum Protagonisten erhoben. Er hat das Leben in FernGully mittlerweile satt und sieht einem wenig aufregenden, stets gleich ablaufenden Alltag entgegen. Sein größter Spaß ist, wenn er mit seinen Kumpels, den Beetle Boys, Christa und den anderen Bewohnern einen Streich spielen kann. Eines Tages kommen zwei Wilddiebe in den Regenwald und entführen drei kleine Babytiere, um diese zu verkaufen. Unter der Führung von Flughund Batty, der als entflohenes Labortier als einziger schon im Reich der Menschen war, machen sich Pips und die Beetle Boys auf in die Stadt, um die Kleinen zu retten.

        Das klingt als Handlung erstmal akzeptabel. Nicht sonderlich prickelnd, aber akzeptabel. In der Umsetzung dieser schlittert "FernGully 2" aber, mit Verlaub, nur um Haaresbreite an der totalen Vollkatastrophe vorbei. Man kann der Direct-to-Video-Fortsetzung ihre weniger detailreiche Optik aufgrund des wesentlich geringer angesetzten Budgets wohl kaum zum Vorwurf machen, und mit Fernsehserien der 90er Jahre kann sie in der Hinsicht immer noch mithalten. Viel schwerer wiegt hingegen, was man inhaltlich aus dem spannenden Dschungelabenteuer mit nachhaltiger Botschaft gemacht hat. Ein derart auf Teufel komm raus auf kindgerecht getrimmter Film kommt einem selten unter. Angefangen von der Einführung der drei stark dem Kindchenschema entsprungenen Babytiere, die mal reden können, mal nicht, zieht sich ein Schleier von Friede, Freude, Eierkuchen, buntem Glitzer, Feenstaub und Wundertüten durch das gesamte Geschehen. 

        Das Schurken-Duo besteht aus einem großen, muskulösen und bedrohlichen Fiesling, sowie einem kleinen, dicken und tollpatschigen Dummkopf - ironischerweise ist letzterer der Boss der Beiden. Gerade dieser wird im Laufe des Films zu seinem größten Problem: etwa ein Drittel der Laufzeit verbringt das Werk damit, mit dieser Figur allerlei ach so lustigen Schabernack zu treiben. Der Bösewicht verliert seine Hose (natürlich mit rosa-weiß gepunkteter Unterwäsche drunter), veranstaltet ein Chaos im Raum als er irgendeinen Gegenstand sucht, bekommt eine Spinne in seine Pofalte, zielt mit einer Schrotflinte auf am Boden krabbelnde Käfer oder kommt nicht an seine Geldbörse, weil sie viel zu hoch an einem Ast hängen geblieben ist und hüpft nun unbeholfen unter diesem herum (während er besagte Unterhosen trägt) - nonstop, über den ganzen Film hinweg, bis hin zum großen Finale. Es ist die Art von Humor, von der ein viel zu naiv-gutmütiger Vater oder Großvater annimmt, sie wäre für ein Kind das Größte überhaupt, während sich dieses in Wahrheit Action, Spannung und etwas frechere Gags wünscht.

        Ein weiterer nicht unerheblicher Teil der Geschichte wird damit gefüllt, dass Pips und die Beetle Boys in der Welt der Menschen - die Reise führt sie zu einem Rummelplatz - so viel Spaß haben, dass sie immer wieder vergessen, weshalb sie eigentlich hier sind. Er freundet sich inzwischen mit einem Menschenmädchen vom Zirkus an, welches ihn - entgegen der festgelegten Regeln des ersten Films, laut denen Menschen nur durch einen Zauber in der Lage sind, Elfen wahrzunehmen - sehen kann. Das lässt bei Batty selbstredend alle Alarmglocken läuten - anstatt die Rettungsaktion durchzuführen, werden Pips und seine Kumpels stattdessen immer sorgloser und scheren sich nur darum, so viel Vergnügen wie möglich zu haben. Und dann auch noch mit einem Menschen.

        Batty ist über weite Strecken das einzige Überbleibsel des ersten Teils und verhält sich seinem etablierten Charakter entsprechend plausibel. Sein Argwohn vor den Menschen und seine Furcht davor, wozu diese fähig sind (wir erinnern uns an detailreiche Schilderungen von Grausamkeiten wie Drähte im Kopf, Elektroschocks, Vivisektionen, in der ungekürzten Version seines Liedes zudem Behandlungen mit Farbe und Zigarettenrauch, die unter anderem zu Leisteninfektionen geführt haben) treiben sein Handeln immer noch an. Das Aufeinandertreffen mit Zak hat ihn in dieser Hinsicht nicht enttraumatisiert, aber immerhin dafür gesorgt, dass er mittlerweile schneller akzeptiert, dass es selbst unter Menschen auch hin und wieder selten gutherzige Ausnahmen gibt. Er ist die einzige Figur, die nicht wie eine Blaupause, sondern wie ein tatsächlicher Charakter herüberkommt - und der Grund, warum der Film, wie eingangs erwähnt, keine komplette Bruchlandung erlebt.

        Allerdings macht der Film nichts mit ihm. Er wirkt die gesamte Zeit auf allen Ebenen überqualifiziert, als würde man einen ausgebildeten Opernsänger in eine trashigen Garage-Rock-Band stecken. Er agiert logisch, zeigt echte Emotionen und bleibt stets in-character. So ist er die einzige der Hauptpersonen, die bis zuletzt entschlossen bleibt, die Tierbabies zu retten und eigenhändig Manöver ausführt, wenn die anderen zu beschäftigt mit Sichamüsieren sind, wobei er überaus mutig agiert. Laut eigener Aussage hat er "natürlich Angst vor den Menschen", trotzdem oder gerade deswegen geht er auf diese Mission. Ihm werden dennoch vom Drehbuch immer wieder kleine Schusseligkeiten untergeschoben, vermutlich, weil er auf dem Papier eher Pips zur Seite stehen sollte als selbst der große Held zu sein - was kolossal schiefgegangen ist, denn es werden ihm Figuren beiseite gestellt, die entweder gar nicht mit ihm interagieren oder sich verhalten, als litten sie unter schwerster Demenz. Würde Batty die Babys nicht immer wieder erwähnen, Pips würde auch nach Jahren nicht auf die Idee kommen, nach ihnen zu suchen, weil er sie einfach fortlaufend vergisst. Christa kommt im Film zwar vor, bleibt jedoch in FernGully und taucht somit nur am Rande des Geschehens auf. War sie in der Vorgängergeschichte mehr oder minder die inoffizielle Anführerin des Trios, so ist sie hier nur halbes Beiwerk, deren Rolle etwa so groß ist wie die des schon aus dem ersten Teil bekannten Varans (der dort nur eine Szene, dafür aber eine eigene Musiknummer von Tone Lōc bzw. Frank Zander spendiert bekam, hier aber zum wiederkehrendem Nebencharakter und augenscheinlich besten Kumpel Christas geworden ist). Sie ist also nicht vorort, um das neue Team beisammen zu halten; Pips und Battys Chemie ist inzwischen derart non-existent, dass jeder mehr oder weniger seinen eigenen Weg geht.

        Dabei hätte man das Ganze durchaus auch halbwegs vernünftug gestalten können. Man stelle sich z.B. vor, Zak käme seine Freunde in FernGully besuchen, und gerade als er da wäre, findet die Entführung statt. Das Trio um Batty, Zak und Christa würde sich dann gemeinsam auf die Rettungsreise machen, während Pips zuhause auf den Wald aufpasst. Zum einen wäre die Chemie der Figuren gewährleistet (es wäre sehr interessant gewesen, zu sehen, wie sich nach den Ereignissen des ersten Films die Freundschaft der beiden männlichen Protagonisten entwickelt hat) und man würde sich zum anderen nicht ewig und drei Tage damit aufhalten, dass eine von ihnen andauernd abgelenkt wird - Zak ist in dieser Welt aufgewachsen, Batty denkt nur schlecht von ihr, und obwohl Christa von den Menschen fasziniert ist, ist sie dennoch ein starker Charakter, der die richtigen Prioritäten kennt. Stattdessen würden sie tatsächlich ein Abenteuer bestreiten, diesmal jedoch in der Stadt. Es blieben zwar immer noch andere Baustellen, aber immerhin wäre das Grundgerüst da gewesen. In dieser Form jedoch… bleibt es eine Enttäuschung auf beinahe sämtlichen Ebenen. 

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        • Martin Canine 15.04.2021, 16:26 Geändert 15.04.2021, 16:45

          Ich hätte noch
          1. Die blinde schwertschwingende Frau (toller deutscher Titel)
          2. Balzac und die kleine chinesische Schneiderin (chinesisch-französische Koproduktion)
          3. Ame & Yuki - Die Wolfskinder
          4. Hana-Bi
          5. Dolls
          6. Brother
          7. Vampire Princess Miyu

          Und ich weiß halt nicht, inwiefern Akira Kurosawa-Filme, Hayao Miyazaki-Filme oder Filme zu bekannten Animeserien als Perlen zählen. Sonst würde ich die auch noch vorschlagen.

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            Martin Canine 15.04.2021, 15:41 Geändert 15.04.2021, 15:55

            (Es folgen Spoiler zur Charakterentwicklung der Figuren)

            "My name is Batty
            The logic is erratic
            Potato in a jacket
            Toys in the attic"

            Es ist offiziell: "Batty Rap" ist das süchtig machendste Musikstück irgendeines Animationsfilms der 90er Jahre. Völlig von Sinnen überschlägt sich Batty Koda darin mit den Schilderungen, was ihm im Versuchslabor, aus dem er gerade entkommen ist, alles zustieß. "Red wires! Green wires! Stuck 'em right through me!" heißt es da. Es sind trotz des schrägen, rockigen Beats unschöne und grausame Dinge, die dem armen Flughund widerfahren sind, hektisch und schizophren werden sie dennoch nicht ganz unfunky dargebracht. Auf dem Soundtrackalbum dauert der Track knapp 3 Minuten und es wird noch um einiges detaillierter, aber das hätte das G-Rating, welches ohnehin schon mehr als großzügig ist, gesprengt, weshalb im Film davon nur etwa eine zu hören ist. Das Lied stellt den Charakter von Batty Koda und seine Einstellung zu den Menschen vor. Er ist erfüllt mit Furcht - und Hass. Der Flughund ziert übergroß das Cover der DVD, er überragt bei weitem die Figuren Zak und Christa - die, anders als er, auch im deutschen Titel Erwähnung finden. Vergleicht man das verschiedene Promomaterial stellt sich die Frage: ist Batty Koda nun ein Sidekick oder gar die alleinige Hauptfigur, während die anderen beiden Gestalten nur Nebenfiguren darstellen? Die Antwort ist: Batty, Christa und Zak bilden ein klassisches "Goldenes Trio", bei dem sich Einer ohne die Gegenparts der zwei Anderen nicht völlig entfalten könnte.

            "FernGully" handelt vom gleichnamigen, von winzig kleinen Elfen bewohnten Reich, das inmitten des Regenwaldes liegt. Vor vielen Jahren lebten Elfen und Menschen zusammen im Einklang; nachdem der finstere Geist Hexxor allerdings FernGully zu zerstören drohte, verließen die Menschen den Wald und haben die Existenz der magischen Wesen vergessen. Die Elfen hingegen glauben, dass Menschen seit damals ausgestorben wären und erzählen sich Geschichten über die damalige Zeit. Hexxor wurde letztlich besiegt und in einen Baum gebannt. In der Gegenwart gibt es eine junge Elfe namens Christie, welche von der alten Märchen über die Menschen fasziniert ist, und die Welt jenseits ihres Waldes erkunden will. Bald darauf kommt der gerade aus dem Labor entflohene Batty ins magische Reich gekracht, der aufgebracht von seinen traumatischen Erlebnissen bei den Menschen und ihren Experimenten erzählt, was Christie jedoch nicht von ihrem Faible für diese abbringt. Tatsächlich begegnet sie später den Menschen - diese stehen mit einer riesigen Baumsägemaschine vor dem Regenwald und wollen diesen abholzen. Der Waldarbeiter Zak wird dabei fast von einem umfallenden Baum getroffen - und wird durch einen Versprecher von Christie, die eigentlich beabsichtigte, ihm durch Magie die Fähigkeit zu geben, Elfen zu sehen, auf ihre Größe geschrumpft. Zak wird mit Beisterung von Christie und sehr zum Missfallen von Batty in die Welt von FernGully eingeführt, während er selbst vorgibt, versucht zu haben, die Maschine aufzuhalten. Diese fällt inzwischen jenen Baum, in dem Hexxor gebannt wurde, und befreit diesen.

            "FernGully" hat das Image eines Ökofilms und positioniert sich klar im Kampf gegen die Rodung des Regenwaldes, wobei er in eine ähnliche Kerbe wie später "Prinzessin Mononoke" oder "Avatar" schlägt. Dies tut der Film aber so geschickt, dass jungen Zuschauern vordergründig ein mitreißendes, audiovisuell wunderschönes Fantasyspektakel geboten wird, welches ihnen die richtigen Werte dabei ganz automatisch und natürlich vermittelt. Es fällt ausgesprochen leicht, mit der richtigen Seite zu sympathisieren. Dabei ähnelt der Film in seiner Machart nicht unbedingt den Werken von Disney, dessen Renaissance-Phase gerade umheimlich erfolgreich angelaufen ist, sondern eher den Herzensprojekten eines Don Bluth. Die Gestaltung erinnert weniger an einen klassischen Epos als an ein spannendes Abenteuer; Liebe steht weniger im Zentrum als Zusammenhalt und Freundschaft; die gesungenen Lieder erinnern weniger an die klassischen Musicalnummern einer "Arielle" als an fetzige zeitgenössische Pop-, Rock- und Rapsongs der 90er, die sich in manchen Fällen auch durchaus etwas Sex Appeal erlauben (Tone Lōc im Englischen und Frank Zander im Deutschen mit einer Delivery, die so kratzig ist, man könnte sie als Schleifpapier verwenden).

            Der wahre Grund, warum "FernGully" aber so gut funktioniert, ist das Zusammenspiel seiner Helden. Die Dynamik dieses Trios geht weit über das hinaus, was man aus anderen Animations- und Fantasyfilmen kennt, selbst jene, die aus dem Hause Disney stammen.

            Die Szene, in der Batty und Zak, die sich mit Christa zu unterschiedlichen Zeitpunkten anfreundeten, zum ersten Mal aufeinandertreffen, setzt den Ton für den gesamten weiteren Film: beide bekämpfen sich sofort. Mit der Begründung, "Christa vor dem Monster zu beschützen". Und dieses Verhalten ergibt Sinn. Für Zak erinnert die (aus seiner geschrumpften Sicht) menschengroße Fledermaus an ein Ungeheuer, wie man es aus Film und Fernsehen kennt. Für Batty SIND Menschen jedoch solche Ungeheuer, die seinesgleichen foltern und töten, was er am eigenen Leib erfahren und wer weiß wie oft gesehen hat. Es ist durchaus logisch, dass jeder der beiden erst einmal Lebensgefahr sieht, als er den anderen bei seiner Freundin sieht. Christas Rolle ist es, dafür zu sorgen, dass die beiden trotz Widrigkeiten am selben Strang ziehen. Die im positiven Sinne neugierige, abenteuerlustige Elfe, die beiden anderen etwas bedeutet - und der die anderen ebenso etwas bedeuten - ist der Grund, warum es überhaupt so etwas wie eine zusammengehörige Gruppe gibt.

            Jeder andere Film würde solche Spannungen so auflösen, dass beide Charaktere im Laufe der Handlung in gleichem Tempo ihre Vorurteile abbauen und am Ende der Handlung als Freunde darstehen. "FernGully" hingegen opfert hierbei fast schon seine Dramaturgie, bietet aber einen viel plausibleren und weniger vorhersehbaren Verlauf der Hass-Freundschaft. So legt Zak bereits innerhalb weniger Minuten vollkommen seine negativen Gefühle ab, Batty braucht dagegen nahezu den kompletten Film. Auch das ist durchaus eine logische Entwicklung: ab dem Zeitpunkt, an dem Zak die Fantasywelt mit ihren Eigenheiten und Bewohnern als Realität akzeptiert, und auch sieht, dass so etwas wie menschengroße, lebende Flughunde dazu gehören, gibt es für ihn auch keinen Grund mehr, hier irgendetwas Negatives zu empfinden. Für Batty hingegen bedeuteten Menschen nie etwas anderes als Schmerz, jeder einzelne Kontakt endete in Qualen. Warum sollte es hier anders sein? Tatsächlich versucht er zu Beginn, Zak aktiv in Gefahr zu bringen bzw. gibt sich Mühe, besagte Gefahren nicht abzuwenden (etwa, als er fast vom Varan gefressen wird). Später, im weiteren Verlauf, rettet er Zak allerdings, ganz nach dem Motto "Jetzt ist dieser Typ schon wieder in Gefahr. Ich sollte ihm nicht helfen, aber tu's halt."

            Der Moment, in dem zwischen den beiden wirklich alles ins Reine kommt, spielt sich hingegen relativ antiklimaktisch sogar noch vor der Vorbereitung zum finalen Showdown ab, als Zak erstmals allen Elfen in FernGully die Wahrheit beichtet, um sie vor der drohenden Gefahr zu warnen: er selbst hat aktiv an der Rodung des Waldes teilgenommen und die Zerstörung mitverantwortet. Man würde nun davon ausgehen, dass Batty mit einem "Ich hab's doch gewusst!" reagiert und ihm auch den Rücken kehrt, und erst, als Zak im Finale zu Gunsten der Elfen kämpft, sieht, dass er doch auf der richtign Seite steht. Tatsächlich ist er jedoch nach Zaks Offenbarung der Einzige, der nach vorne tritt, ihm auf die Schulter klopft und sagt, dass er doch für einen Menschen gar nicht so übel ist. Er sieht, dass Zak bereut, dass er sich geändert hat und dass er sein eigenes Ansehen aufgegeben hat, um die Elfen rechtzeitig zu retten. Es hat lange gedauert, das Vertrauen zu gewinnen, aber das Auseinandersetzen mit der unschönen Wahrheit war es letztlich, dass das geschafft hat.

            "FernGully" kann durch seine schön gezeichnete Landschaft, seine Botschaft, seinen Abenteuergeist und unheimlich im Ohr bleibende Musik (unter anderem von Tim Curry, Elton John und Sheena Easton, die aber von den Beiträgen von Robin Williams und Tone Lōc überschattet werden) auftrumpfen. Das, was ihn aber wirklich über den Status des soliden Zeichentrickspaßes  hinaus zu einem wirklich guten Filmerlebnis macht, ist dann doch, wie er das Motiv des Goldenen Trios angeht.

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            • 1. Du hast die Wahl: Urlaub auf einem Clubschiff oder auf einem Segelboot?
              Clubschiff. Ich hab stark ausgeprägten Bewegungsdrang und brauche viel Platz, außerdem glaube ich, dass mir das vom Feeling mehr gibt als ein Segelboot.

              2. Selbstgekochtes oder Fertiggericht?
              Selbstgekochtes. Hab zwar erst letzte Woche mit dem Kochen von schwierigeren Gerichten angefangen, mich aber gleich an einer Jambalaya versucht, die mir sehr gut gelungen ist.

              3. Eine Bank wurde überfallen und eine aufgebrachte Menschenmenge fordert dich auf, den Dieb aufzuhalten. Deine Reaktion?
              Ich halte den Dieb auf, versteck einen der großen weißen Säcke mit dem fetten schwarzen $-Zeichen irgendwie, bring den Rest zurück, werde als Held gefeiert und hol ihn mir dann später wieder.

              4. Hast du schon einmal Applaus bekommen?
              Als Kind beim Karaoke-Singen.

              5. Ein Date und du, ihr versteht euch bestens, dann beichtet dir dein Gegenüber eine Geschlechtsumwandlung, wie reagierst du?
              Ich hab einmal gesagt, dass das für mich ein Nogo wäre, und ja, es würde Überwindung kosten, aber… puuuh.
              Wobei die Komponenten "ich" und "Dates" sich sowieso schwer kombinieren lassen.

              6. Schlagzeug oder Klavier?
              Klavier.
              Aber noch besser: geiles 90s Drum Sample Kit im Stil von Darkchild oder Max Martin.

              7. Ein Türsteher verweigert dir und deiner Begleitung den Einlass. Wie reagierst du?
              Ich trete ihn mit einem Trinity-Kick durch die Wand. Dann wache ich aus dem Tagtraum auf, fluche und gehe weg.

              8. Ein romantischer Abend, was könnte dir dabei die Stimmung verderben?
              Das Leben.

              9. Wem oder was kannst du zu keiner Zeit widerstehen?
              Br'er Fox, Maltesers und einem guten Popsong. Am besten in Kombo.

              10. In der 1. Klasse allein verreisen oder Tickettausch und Holzklasse zu zweit?
              Alleine verreisen stell ich mir öde vor. Ich nehm die Holzklasse zu zweit.

              11. Hotel oder Campingplatz?
              Hat beides was für sich. Ist wirklich hart. Kommt auch wirklich drauf an mit wem. Mit einer guten Gesellschaft der Campingplatz. Alleine das Hotel.

              12. Bevorzugst du den Wald, Dschungel oder die Wüste?
              Den Wald.

              13. Wo würdest du lieber leben: auf dem (dann kultivierten) Mars oder im Mittelalter?
              In einer von der Realität völlig entfrendeten, romantisierten Version des Mittelalters.

              14. Würdest du lieber einen Bestseller schreiben oder die Hauptrolle in einem Blockbuster spielen?
              Ich bin deutlich lieber die kreative Kraft hinter einem Projekt als selbst im Rampenlicht. Trotzdem würde ich lieber für einen Film als für ein Buch bekannt sein.

              15. Hast du schon einmal geträumt jemand ermordet zu haben? Falls ja: wie fühlte sich das für dich an?
              Überraschenderweise nicht, obwohl ich, wenn ich mal träume, meistens einen ziemlichen Scheiß zusammenträume^^

              16. Jemand wird in der Bahn angepöbelt: fühlst du dich verpflichtet zu helfen?
              Einerseits ja, andererseits wäre ich aber wahrscheinlich wäre ich aber zu feige, weil ich Angst hätte, selbst etwas abzubekommen.

              17. Lieber ein süßes Gebäck oder ein scharfes Essen?
              Scharfes Essen. Ich liebe scharfes Essen. Ich mag auch Süßkram, aber bin in Gebäckform gar nicht soooo wild darauf.

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                Martin Canine 14.04.2021, 17:49 Geändert 15.04.2021, 00:55

                Es gibt eine Szene in "Once Upon a Time in Hollywood", relativ am Anfang des Films, in der Stuntman Cliff Booth seinen besten Freund, den ehemaligen Fernsehstar Rick Dalton, nach Hause fährt, nachdem dieser merkt, dass er in seiner Karriere als großer Hollywoodschauspieler seinen Zenit bereits überschritten hat. Er setzt ihn in seiner luxuriösen, riesigen Villa ab, neben der erst kürzlich die Polanskis eingezogen sind, und fährt danach selbst heim - wie wir sehen in einen kleinen Wohnwagen irgendwo im nirgendwo, den er sich mit seinem Hund teilt. Der starke Kontrast der beiden Lebensstile sticht in dieser einen Sequenz mehr heraus als im gesamten restlichen Film - und hinterlässt uns mit gemischten Gefühlen. An der engen Freundschaft der beiden ist nicht zu zweifeln, und beide Charaktere sind bis zu einem gewissen Grad Sympathieträger, deren Probleme wir über weite Strecken sehr ernst nehmen. Und dennoch, die Dissonanz des Weinenden, im Überfluss Lebenden und des stets cool gelaunten, relativ Armen hat eine gewisse Zynik.

                1969 stehen beiderlei Karrieren vor dem Ende. Der von Leonardo DiCaprio gespielte Rick Dalton war in den 50ern einst der Held der Western-TV-Serie "Bounty Law", in der er den Kopfgeldjäger Jake Cahill verkörperte. Nach der letzten Staffel dieser - sie soll wohl desaströs geendet haben - sowie ein, zwei Kinohits wird er jedoch nur mehr als One-Off-Gaststar in neuen Fernsehsendungen besetzt, in denen er den Schurken spielt, der am Ende stets besiegt wird. Der harten Realität, dass er als alternder Schauspieler allmählich Platz für die nächste Generation machen muss, kann er sich vor allem nicht mehr entziehen, als er ein Angebot aus Europa bekommt, der Held in italienischen Produktionen zu werden (Ricks Ablehnung gegenüber "Spaghetti-Western" macht es auch schwierig, einzuschätzen, wie sehr der leidenschaftliche Italo-Filmfan Quentin Tarantino seine eigene Figur tatsächlich mag). Dass man in Hollywood mehr seinen immer noch bekannten Namen vermarktet, um junge aufstrebende Darsteller als Stars aufzubauen, während seine eigene Leistung in den Hintergrund rückt, wird ihm sehr offen unterbreitet. Natürlich aber leckt sich die europäische Filmindustrie nach einem Hollywoodstar die Finger, denn ein bekannter Darsteller aus Übersee bedeutet immer noch Prestige (zudem ist Europa bis heute weit weniger schnelllebig als die USA und vergisst nicht so rasch, was einmal den Status der Popularität erlangt hat). Es ist aber eben nicht mehr Hollywood.

                Die Karriere von Brad Pitts Charakter Cliff Booth nahm hingegen ein Ende, als dem Stuntman wegen Mordes an seiner Frau der Prozess gemacht wurde. Der Tod dieser, die zu ihrem Mann ein schlechtes Verhältnis pflegte und ihn dauernd schikanierte, wurde nie geklärt, da sich die beiden zum Todeszeitpunkt alleine auf einem Boot befanden. Er wurde freigesprochen, dennoch hält sich der allgemeine Konsens, der manchmal rüpelhaft offene und mitunter auch sehr grobe Cliff wäre der Täter gewesen (der Film selbst klärt die Schuldfrage nie auf - wir sehen in einer Rückblende nur, dass seine Frau mit Cliff streitet, er jedoch völlig ruhig bleibt, während er gerade an einer Harpune herumschraubt). Rick schwört auf ihn als Double, was der einzige Grund ist, weshalb er überhaupt noch hin und wieder Stunts ausführen darf, doch selbst bei Ricks Auftritten wird er spätestens seit einem Kampf mit Bruce Lee am Set von "The Green Hornet" kaum mehr eingesetzt. Stattdessen hat ihn Rick als Chauffeur oder gelegentlichen Handwerker eingestellt, um ihm noch etwas Arbeit zu verschaffen.

                Obwohl nun beide gerade den Moment kurz vor dem Tiefpunkt in ihrer jeweiligen Sparte zu spüren bekommen, wirkt es sich doch bei beiden gänzlich anders. Ricks Fall vom gefeierten Superstar, den jedes Kind kennt, von der Ikone der Popkultur, zum Mann aus der zweiten Reihe fühlt sich hier ungleich tragischer an als Cliffs Fall vom Setmitarbeiter zur Hilfskraft, wenngleich zweiterer deutlich tiefer landet als sein Kumpel. Wenn man einmal einen derartig hohen Status an Ruhm erlangt hat wie Rick, dann geht man darin völlig auf, und fühlt sich seines Lebens entrissen, wenn er nachlässt. Zu wissen, dass man einst Millionen bewegte und jedem im Bewusstsein war, dass Leute zu dir aufsahen und wie du sein wollten, und man jetzt nur mehr einer unter vielen ist, die ihre Glanzzeit hinter sich haben - das schmerzt und lässt verzweifeln. Eine Angst dabei ist vor allem, dass sich die Leute gar nicht mehr an einen erinnern. Doch noch ist Rick an einem Punkt, an dem er zwar bereits auf Absturzkurs ist, jedoch noch alles daran setzt, das Ruder herumzureißen. Am anderen Ende des Spektrums steht seine Nachbarin Sharon Tate, die gerade durch ihre Filmrollen als Nebendarstellerin erstmals einen kleinen Geschmack des Ruhms bekommt. Die Leute erkennen sie noch nicht auf der Straße, kennen aber bereits die Filme, in denen sie mitwirkte. Sharon Tate war der Inbegriff eines aufstrebenden Stars. Es sollte leider bekanntermaßen anders kommen.

                "Once Upon a Time in Hollywood" ist Tarantinos erste Milieu- und Charakterstudie. Gab es zuvor schon Werke in seiner Filmografie, die sich weniger durch Handlung als durch ein Zusammentreffen interessanter Figuren auszeichneten, kann man seinen neunten Film keinesfalls mit einem "Death Proof" vergleichen. So gibt es zum einen zwar ebenfalls keine durchgehende Handlung, dafür aber viele Szenenwechsel statt eines kammerspielartigen Settings, zum anderen stehen Tarantinos Protagonisten erstmals nicht nur für sich selbst, sondern sind Epitome des Wandels einer Ära: Golden Age Hollywood wird von New Hollywood abgelöst. Die fantastische Traumfabrik weicht harten und pessimistischen Inhalten, Spielen mit bzw. Brechen von altbekannten Formeln, und einem unbestreitbaren Einfluss des europäischen Kinos auf die amerikanische Filmlandschaft. Die Szenen, die wir aus der fiktiven Bounty-Law-Serie zu sehen bekommen, sind in ihrer Machart letztlich noch Relikte einer Zeit, die gerade dabei ist, völlig in den Ruhestand zu gehen. George Spahn, dessen Ranch als Schauplatz unzähliger Alt-Hollywood-Streifen diente, ist ein alter Mann, der nicht mehr viel von der Welt um ihn herum mitbekommt. Währenddessen ist Roman Polanski nach seinem Riesenerfolg mit dem unkonventionellen Horrorfilm "Rosemary's Baby" zum gefragtesten neuen Stern am Filmhimmel geworden. In den Straßen tummeln sich mittlerweile die Hippies, die mit der Künstlichkeit des alten Kinos wenig anfangen können und nach Echtheit streben.

                Man warf Tarantino mitunter vor, einen inhaltslosen Film gedreht zu haben. Tatsächlich jedoch ist er zwar storyarm, aber kann sogar mit ziemlich viel Inhalt aufwarten, wenn man einen genaueren Blick darauf wirft, wie er anhand seiner episodenhaft erzählten kurzen Anekdoten und Ereignisse nicht nur die Charaktere, sondern auch den Zeitgeist sowie das Leben und Arbeiten innerhalb Hollywoods einnehmend charakterisiert. So ist der Film für einen langen Zeitraum auch das mit Abstand am wenigsten brutale Werk Tarantinos, da sich sein Geschehen nahezu ausschließlich auf oder um Filmsets abspielt (den Mangel an Blut während ca. 97% des Films holt er jedoch alles an einer anderen Stelle wieder deutlich auf). Dabei sind die intensivsten Momente jene, in denen wir DiCaprios Rick Dalton direkt beim Dreh zusehen, und mitbekommen, wie sich der ziemlich unsichere, oftmals stotternde Faded Star vor unseren Augen plötzlich in einen skrupellosen Schurken verwandelt. Dies ist so gut gespielt und gefilmt, dass man für einen Moment vergisst, dass die Szenen nur Teil eines Films im Film sind und richtig gehend herausgerissen wird, wenn ein Texthänger passiert oder der Take zu Ende geht. Tatsächlich wünscht man sich da, man könnte die komplette Episode der fiktiven Serie sehen.

                Auch Brad Pitts Charakter Cliff Booth kann mit einer wahnsinnig atmosphärischen Szene auftrumpfen. Und zwar, als er ein junges Teenagermädchen per Anhalter mitnimmt und sie zu ihrem Zuhause führen soll: der Spahn-Ranch, wo sie mit ihren Freunden lebt. Wir als Zuschauer wissen, dass es sich hierbei um die Manson Family und bei dem von dem Mädchen mehrmals erwähnten Charlie natürlich um Charles Manson handelt. Booth kennt Spahn vom früheren Filmdreh und merkt sofort, dass da etwas nicht stimmt. Das gesamte Aufeinandertreffen hat man das Gefühl, dass sich auf sehr dünnem Eis bewegt wird. Cliff lächelt und ist selbstbewusst und zynisch wie eh und je, während die Kommune ein großes Geheimnis um Spahn macht, zu dem sie Cliff keinesfalls lassen wollen, obwohl sie selbst dabei auch überaus ruhig bleiben. Die Spannung zwischen dem Stuntman und der Familie, bei deren Zusammentreffen keiner zum anderen sagt "ich traue dir nicht, du hast hier nichts zu suchen", offensichtlich beidseitig jedoch genau das voneinander gedacht wird, steigt dabei ins Unermessliche und wird zu einer klassischen "Nägelkauer"-Sequenz.

                "Once Upon a Time in Hollywood" war einer von Tarantinos von der Kritik meistgelobten Filme, der in zahlreichen Top-Ten-Bestenlisten auftauchte und für 10 Oscars nominiert war, von denen er 2 gewinnen konnte (Hauptdarsteller Brad Pitt als bester Nebendarsteller und bestes Szenenbild). Zeitgleich war er auch einer seiner wenigen Filme, welche das Publikum eher verhalten aufgenommen hat. Dies mag vor allem daran liegen, dass es anders als bei seinen am euphorischsten rezipierten Filme wenig gibt, an dass sich eine Zuschauerschaft, die sich für die Geschichte Hollywoods im Wandel der Zeit als Hauptthema nicht unbendingt begeistert, halten kann. Es gibt keinen befreiten Sklaven, der seine Frau retten will, keine Verratene, die sich für das Massaker an allem, was ihr liebt und wichtig war, rächen will. Wir sehen keinen Tag voller Gewalt und Drogen aus der Sicht der verschiedenen Akteure, und nicht einmal ein Ein-Raum-Krimi, bei dem der Verräter ermittelt wird, wird uns geliefert. Nein, "Once Upon a Time in Hollywood" ist in seiner Erzählung sehr geradlinig und spitzt sich auch nicht zu seinem Höhepunkt zu - dieser trifft mehr oder minder unvermittelt ein. Wir verfolgen unsere Figuren größtenteils bei ihrem Alltag, welcher sich nunmal in der Welt von Film und Fernsehen abspielt. Wenn man diesen Alltag, auch in Anbetracht seines popkulturhistorischen Hintergrunds, ohnehin schon wahnsinnig interessant findet, dann wird man ein wahres Fest vorfinden - tarantinotypisch auch mit unzähligen Anspielungen an die Geschichte und die Kunst des Filmemachens, vor und hinter den Kulissen. 

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                  Martin Canine 11.04.2021, 17:39 Geändert 12.04.2021, 00:56

                  Eines Tages schmeißt er sie einfach raus. Nach 18 Jahren der Ehe, die sie, auch als es sich schon abzeichnete, dass es furchtbar kriseln würde, noch aufopferungsvoll zu kippen versuchte. Sie weiß, dass die Ehe nicht mehr glücklich ist, trotzdem liebt sie ihren Mann. Auch, wenn er Affären hat. Auch, wenn er sie keines Blickes mehr würdigt. Auch, wenn er in ihr die Frau nicht mehr sieht. "Ich tue alles" sagte sie noch am Vorabend, als das Paar gerade von einer Preisverleihung zugunsten seiner erfolgreichen Anwaltskarriere heimkam. Er öffnete ihr die Wagentür und forderte sie auf, sein Auto zu verlassen. Das war gestern. Heute zerrt er sie gewaltsam aus der Luxusvilla, die beide bis dahin bewohnten; seine neue Freundin und eine Armee an teuren Markenkleidern im Schlepptau. Die Türe schnappt vor ihrer Nase zu, ihre Sachen sind bereits in einen Transporter geladen worden. Es wäre ihr Hochzeitstag gewesen. Stattdessen wurde er zum Todestag von Mrs. Simmons-McCarter, der aufopferungsvollen Hausfrau und Ehegattin, und zum Geburtstag von Helen, der wütenden, schwarzen Frau.

                  So beginnt für uns Helens Geschichte. Es ist eine Geschichte des Loslassens, der Findung einer unabhängigen Identität, des Mit-sich-selbst-und-der-Welt-ins-Reine-Kommens. Der schwierigste Punkt ist jedoch das erneute Zulassen von Liebe und Intimität. Nach diesem Schlag wieder jemandem Vertrauen entgegenzubringen. So sträubt sie sich vehement gegen die Gefühle, die in ihr aufkommen, als sie den Spediteur Orlando trifft, das exakte Gegenteil ihres Ehemanns Charles: zuvorkommend und sanftmütig, weit weniger karriereorientiert, dafür das Leben und was es zu bieten hat genießend. Hat sie ihr Gatte so sehr vereinnahmt, dass ihre alleinige Rolle die Frau an seiner Seite war, so lässt ihr Orlando ihre eigene individuelle Persönlichkeit und ihr eigenes Leben, in dem er jedoch gerne einen Platz fände. Und doch schafft sie es nie, sich zu befreien und verweigert es, ihn emotional an sich heranzulassen. Zunächst aus Angst, jemand, der ihr viel bedeute, könnte sie erneut verletzen. Dann, weil sie merkt, welchen enormen Platz Charles in ihrem Leben einnahm, sodass sich ihre Verbindung zu ihm trotz seiner Misshandlungen nie völlig auflösen würde. Nach 18 gemeinsamen Jahren geht das auch schwerlich. 

                  Trotzdem ist der Film keine Liebesromanze. Er ist ein Charakterdrama, das die verschiedenen Etappen in Helens Kampf des Wiederaufrappelns bebildert. Dazu gehören emotionale, persönliche und berufliche Entwicklungen. Der erste Schritt ist die Abhärtung. War sie zuerst emotional und finanziell gänzlich abhängig, verändert sie sich bald darauf zu einer starken und stolzen, völlig selbständigen Frau, die für sich alleine sorgen kann. Die jedoch auch einen besonders soliden Schutzpanzer um sich aufbaut, den niemand durchdringen kann. Der nächste und vermutlich noch schwierigere Schritt ist nun, diese Schale zu entfernen und die Welt, vor allem die männliche, wieder an sich herantreten zu lassen, dabei jedoch dieselbe Stärke und Unabhängigkeit zu bewahren, die sie sich erarbeitet hat.

                  Die Rolle der Helen wird brillant von Kimberly Elise verkörpert. Sie schafft es, ihrer Figur eine Seele und eine kraftvolle, vielschichtige Persönlichkeit zu verleihen, und sie oft rein mit ihrer Mimik - ein Glänzen in den Augen, ein Beben der Lippe - zu einer wahren Naturgewalt aufsteigen zu lassen. Sie ist zu Beginn des Films weniger verletzlich als verletzt - ein wichtiger Unterschied. Eine Frau, die gebrochen wurde, die aber nicht zerbrechlich wirkt. Und die in der Phase, in der sie nach Abrechnung sehnt, mit ihrem schieren Stolz und ihrer Entschlossenheit bei ihrer Forderung nach dem ihr zustehenden Respekt einen großen Baum entwurzeln könnte. Eine derart einnehmende Präsenz und Überzeugungskraft hat sich auf der Leinwand selten entfaltet.

                  "Das verrückte Tagebuch": ein denkbar schlechter deutscher Titel für die feine Tragikomödie "Diary of a Mad Black Woman". Und eine denkbar schlechte Vermarktung, mit Titel, Trailer und Covermotiv auf eine schrille Travestie-Comedy-Nummer a la "Big Mamas Haus" schließen zu lassen. Ziert das deutsche DVD-Artwork eine Aufnahme von Tyler Perry in auffälliger Drag-Kostümierung, der eine Pistole links von dem flippig schiefen und knallig violetten Schriftzug irgendwohin außerhalb des Bilds richtet, zeigte das Original-US-Poster eine zarte, lilafarbene Blüte, die sich nach unten hin in die Silhouette Helens mit gesenktem Blick verwandelt. Ein größerer Kontrast lässt sich kaum finden.

                  Des Rätsels Lösung, warum hier augenscheinlich zwei verschiedene Filme beworben werden, trägt einen Namen: Madea. Tyler Perry schlüpft hier in die Rolle der resoluten, kein Blatt vor den Mund nehmenden Großmutter; ein Comic Relief, der gut auch einem Hanna-Barbera-Cartoon oder Jerry-Lewis-Film entsprungen sein könnte und in einer derart seriösen Charakterstudie erstmal etwa so gut hineinpasst wie eine Scheibe Chorizo-Salami in einen vegetarischen Bohneneintopf. In den USA ist Perrys Kunstfigur etwa so bekannt wie Sacha Baron Cohens Borat oder im Deutschen Hape Kerkelings Horst Schlämmer. Zunächst für sein Bühnenstück "I Can Do Bad All By Myself" erdacht fand sie auch als Nebenfigur in seinem nächsten Werk einzug, welches schließlich als "Das verrückte Tagebuch" erfolgreich verfilmt wurde. Bei einem Budget von unter 6 Millionen Dollar konnte die Independentproduktion in den USA über 50 Millionen Dollar einspielen und Platz 1 der Kinocharts erreichen - da der Film auch weltweit nur über 50 Millionen Dollar einspielte, sieht man, was für ein rein amerikanisches Phänomen er war. Nach dem Erfolg ihres Kinodebüts wurden noch etliche Madea-Filme verfasst (davon nur zwei weitere ins Deutsche übersetzt und nur ein weiterer im hiesigen Heimkino veröffentlicht), die sich um die ruppige Rentnerin drehen.

                  Trailer und Aufmachung legen nahe, es handle sich bei "Das verrückte Tagebuch" um eine Klamaukkomödie, in deren Zentrum Madea steht, die ihrer Enkelin hilft, welche dem Film ein wenig Ernst verleiht. In Wahrheit verhält es sich genau andersherum: das Werk behandelt Helens Geschichte in aller Ernsthaftigkeit und filmisch hervorragend umgesetzt… bis auf 20% der Laufzeit, in denen Madea eine wahre Slapstickrevue zum Besten gibt. Nun ist es aber nicht nur so, dass sie dem Film einen Spritzer an leichtem Humor verleiht, wie es in Tragikomödien häufiger der Fall ist. Nein, sie scheint aus einem völlig anderen Filmuniversum zu entspringen. Sie ist bis ins Extreme überzeichnet und sprengt die Grenzen des Realistischen mit einer Selbstverständlichkeit, dass man sich fragt, ob es sich hier nicht um einen als Tyler Perry verkleideten Looney Tune handelt… der sich wiederum als Madea verkleidet hat.

                  Das Irre daran ist: Madea ist tatsächlich eine überaus witzige Figur. Perfektes Timing für Gags und eine unbändige Lust an anarchischer Komik machen ihre Szenen zu absoluten Brüllern. Zudem ist sie ein sehr sympathischer und auch überraschend weiser Charakter, der Helen trotz seiner grotesken Art und Weise immer wieder Denkansätze gibt und Recht und Unrecht besser einschätzen kann als manch andere ernsthafte Figur. So sieht sie etwa, dass Helens Cousin Brian seiner drogensüchtigen Frau Debrah eher hätte helfen sollen, von diesen wegzukommen, als sie hinauszuwerfen und die gemeinsame Tochter ohne Mutter dastehen zu lassen. Auch Helen hilft sie, ihren Stolz zurück zu gewinnen - nicht aber ohne mit einer aus dem Nichts hergezauberten Kettensäge auf Charles' Einrichtung loszugehen, da Helen "die Hälfte seines Besitzes" zustünde. 

                  Was in Tyler Perrys Kopf vorging, als er seinem eleganten, intensiven und über weite Strecken inspirierenden Drama, dessen Drehbuch er auch verfasste, die comichafte Figur der Madea hinzufügte, wird wohl nur er selbst wissen. Für sich allein genommen sind beide Komponenten außerordentlich gut gelungen. Sie zusammen im selben Film zu sehen fühlt sich jedoch surreal an. Man kann allerdings nicht einmal so recht sagen, dass es dem Werk dadurch an Qualität mangle: der Haupthandlung wird von Madeas Präsenz nichts an Feinheit genommen, und in der zweiten Hälfte, als sich die tragischeren Ereignisse der Story häufen, tritt sie nur mehr sehr vereinzelt auf und lässt der Geschichte genügend Platz. Ist sie jedoch zu sehen, bringt sie massenhaft gute Laune mit und schafft es gerade durch ihre Überdrehtheit, vortrefflich zu unterhalten, auf dieselbe Weise, auf die auch ein "Looney Tunes: Back in Action" wahnsinnig lustig ist. Man lacht.

                  Letzten Endes kann man nicht wirklich sagen, dass hier irgendwelche Aspekte schiefgelaufen wären - und dennoch kann das Zusammenspiel des einfühlsamen Dramas um die Selbstfindung einer verstoßenen Frau und der chaotische Comic Relief des Sidekick- und Mentor-Charakters mitunter schon befremdlich wirken.

                  PS: Dass Perrys Darstellung in Drag vonstatten geht, hat nichts damit zu tun, dass man Madea so wenig ernstnehmen kann. John Travolta hat sich z.B. auch perfekt in "Hairspray" eingefügt. Es geht hier rein darum, dass die Figur nach Toon Logic funktioniert, der restliche Film jedoch um Glaubhaftigkeit bemüht ist.

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                  • Martin Canine 16.12.2020, 02:27 Geändert 16.12.2020, 15:51

                    Für mich krankt die Reihe in erster Linie an J.K. Rowlings Unfähigkeit, innerhalb von Spielfilmlänge eine Geschichte zu erzählen, die mit den nötigen Details geschmückt ist, um lebendig zu wirken. Man darf nicht vergessen, dass die Harry Potter-Bücher allesamt dicke Wälzer sind, in denen sie ausgiebig Zeit hatte, durch Füllerszenen und Nebenhandlungen Welt und Charaktere zu etablieren. Gute Drehbuchautoren haben diese Romane dann so zurechtgestutzt, dass dieser Tiefgang und Zauber, sowie das Gefühl, die Welt sei tatsächlich real weil so detailreich, noch erhalten blieb - in späteren Teilen unter David Yates, den ich für einen hervorragenden Regisseur für diese Atmosphäre halte, ging der Fokus von der Magie weg und die sozialen und persönlichen Konflikte traten wirklich glaubhaft in den Vordergrund. Bei den fantastischen Tierwesen merkt man, dass J.K. Rowling durchaus so eine Geschichte erzählen will. Es geht um neue Zauberergesellschaften, die anders als die britische funktionieren, und es gibt erneut eine soziale Frage, die das Volk spaltet und sie so verleitet, die falsche Seite zu wählen. Grindelwald ist in dieser Hinsicht sogar deutlich interessanter als Voldemort. Der baute seine Herrschaft auf Angst vor seiner Person und blankem Hass auf Muggel auf. Grindelwald hingegen manipuliert geschickt, in dem er den Zauberern das Gefühl gibt, den Grund für ihre Probleme zu erkennen und sie zu verstehen. Vor Grindelwald soll kein Zauberer Angst haben (bei Voldemort mussten selbst die treuesten Anhänger um ihr Leben bangen), sondern er erschafft ein Feindbild, vor dem sich die Zauberer fürchten sollen - die Muggel. Das ist auch der Grund, weshalb ich Teil 2 besser als Teil 1 finde - seine Art ist gefährlich, weil subtil und Zauberern gegenüber scheinbar sogar positiv. Eine ganz andere Art der Bedrohung.

                    Das Problem dabei ist, dass sich die Filme selbst vergleichsweise klein anfühlen. Wo man bei Harry Potter stets das Gefühl hatte, einen Ausschnitt aus einer riesengroßen komplexen Historie zu sehen, wirken die Tierwesen sehr direkt und in sich geschlossen. Sie erzählen ihre durchaus interessante Geschichte schnörkellos und ohne Umwege, vermutlich weil Rowling nicht weiß, wie sie die Ereignisse in 2 Stunden reinstopfen soll - deshalb spart sie die scheinbar unwichtigen Details aus, die aber für das Vermitteln einer groß angelegten Welt und der Annäherung an die Haupt- und Nebencharaktere (außer dem bereits gut gezeichneten Grindelwald) dann doch wieder wichtig gewesen wären. Stattdessen hätte man die Handlungen etwas stutzen oder noch besser einfach längere Filme drehen können - wenn Marvel 3 Stunden verpulvern darf, sollte es bei einem inhaltlich reichhaltigen Blockbuster kein Problem sein.

                    Tatsache ist jedoch... die Schwächen würden alle weit weniger auffallen, wären die Filme nicht in der Welt von Harry Potter angesiedelt. Eine Reihe, die von Anfang an durch ihre enorme Vielschichtigkeit und ihre vielen funktionierenden Ebenen (als moderner Epos, Rassismusparabel, Coming-of-Age-Film, Schauermärchen, Kostümfilm, Drama,...) bestochen hat und die verschiedenen Elemente im Laufe nur noch anreichern konnte. Verglichen mit einem x-beliebigen anderen Fantasyfilm hat insbesondere Teil 2 durch seine politische Dimension, die dabei aber immer gekonnt im Genrekleid bleibt, immer noch einiges zu bieten. Seien wir ehrlich: vor allzu viel Tiefgang strotzt auch ein Narnia, ein Alice im Wunderland und trotz seiner brillanten epischen Aufarbeitung auch ein Herr der Ringe nicht. Harry Potter ist genreübergreifend innerhalb der Filmwelt ein Werk mit einem einzigartig komplexen und funktionierenden Abbild einer Parallelwelt sowie einem Übermaß an glaubhaften Charakteren, deren Persönlichkeitsbild durch eine Reihe einschneidender Erlebnisse und problematischer Umstände geprägt ist. Man hatte bei Harry Potter das Gefühl, einen Blick in eine tatsächlich existierende Welt mit ihren Bewohnern zu erhaschen. Das ist bei den Tierwesen (warum musste man diese Reihe überhaupt so nennen? Das passt spätestens beim zweiten Teil doch gar nicht mehr) nicht mehr gegeben. Nichtsdestotrotz sind sie wirklich gut gemachte und durchwegs unterhaltsame Fantasyfilme und taugen auch als leichte und interessante Ergänzung zum Universum des Hauptwerks. Sie haben halt insbesondere das Problem, im übermächtigen Schatten der Mutterreihe Harry Potter zu stehen - und dagegen kommen sie in diesem Leben nicht mehr heran.

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                      • Ich habe diesen Text heute Vormittag als Thread auf Twitter gepostet, aber ich finde, ich sollte ihn als Ehrerbietung vor dem Genie Morricones auch hier veröffentlichen. Das bin ich diesem Mann, dessen Musik mich seit ich ein Filmfan geworden bin begleitet, schuldig.

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                        "R.I.P. Ennio Morricone

                        The greatest film soundtrack composer there ever was. 

                        Everybody knows his legendary Sergio Leone movie themes from "Once Upon a Time in the West", "The Good, the Bad and the Ugly" and "Once Upon a Time in America". Even if you have never seen the movies, maybe not even heard of them, you know these melodies. They have grown to be world famous pieces of music far beyond the works they originate from. OUATITW's theme has even become synonymous with the Wild West itself. But he also wrote scores for a huge variety of other movies, both underrated European productions and American film classics, which includes works as different as Dario Argento's giallos, John Carpenter's horror thrillers and Brian de Palma's gangster films. For the soundtrack of the movie "Butterfly" starring her, he composed the wonderful ballad "It's Wrong For Me to Love You" for it-girl Pia Zadora, in which she surprised with surprisingly emotional singing, all to a beautiful, bittersweet tune. In the 21st century, Quentin Tarantino re-used several of Morricone's long forgotten melodies from films that went under the radar and got even more obscure over time. As a result, songs like "Rabbia a Tarantella", "L'Arena" or "The Verdict" now rank among his most popular works. Among these songs, whose legacy wouldn't begin until 30 years later, is today's song of the day, "Un Amico". Originally composed for the 1973 Italian crime thriller "Revolver", it was introduced to a wider audience in 2009, when it was used in Tarantino's "Inglourious Basterds". While his signature works were ignored by the Academy back in the days, mostly because they did better in Europe & only gained a big status in the US over time, his soundtracks for "Days of Heaven", "The Mission", "The Untouchables", "Bugsy" & "Maléna" were all Oscar nominated. But it was not until 2016, 55 years after he started composing movie soundtracks, that he would finally win the most important award of the movie industry. His chilling, atmospheric score for "The Hateful Eight" eventually earned him an Oscar. Ennio Morricone's art was creating music that worked both within the context of the movies and outside of it. He was one of the few film composers whose works you can listen to on their own in virtually any mood. They often play like first class instrumental pop and rock songs. Ennio Morricone's style of composing music was extremely distinctive. His ways of using guitars, harmonicas, even jaw harps, next to a classical orchestra, not to mention his habit of using percussion in otherwise symphonic pieces, made his style immediately recognizable. I own an Ennio Morricone compilation plus the Tarantino soundtracks he's featured on. I think it's time to put them in the CD player and blast them out loud, to paint the world with pictures of mysterious western heroes, lonely mobsters and images of flies burnt into retinas.

                        R.I.P. Ennio Morricone

                        Your notes brought a layer of emotions to movies that words and pictures could not always provide.
                        Your wonderful music will live on, and so will you in all our memories."

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                        • Ich komm ja etwas zu spät aber:
                          Niemand. Disst. Kukmarda.
                          Der hat mehr Coolness in den verschränkten Armen als die meisten in ihrem gesamten Körper, ihrer Musiksammlung und ihrer Garderobe zusammen.

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                          • Dass Kovu, Nick Wilde, José Carioca und Panchito Pistoles keine Chance hätten, war ja eh klar, aber Simba hätte ich schon gerne da oben gesehen.

                            Ich muss zugeben, Aladdin habe ich erst dieses Jahr zum ersten Mal gesehen. Fand ihn sehr stark. Dschinni war sympathisch, mir in einigen Szenen teilweise aber schon ein wenig zu hektisch (der schlägt Mushu oder Timon da teilweise um Längen).

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                            • Martin Canine 20.06.2019, 23:24 Geändert 29.06.2019, 22:18

                              Der Originalfilm ist für mich ein Heiligtum. Audiovisuell, dramaturgisch, thematisch und in seinen Charakteren.

                              Und ganz ehrlich: ich glaube, man ist hier wirklich liebevoll und respektvoll mit dem Stoff umgegangen. Für mich persönlich wird er wohl nicht an das Original herankommen, aber einer neuen Generation wird er vermutlich den Zauber bieten können.

                              Allerdings lebt der Film von einem der besten Soundtracks aller Zeiten, mit den wunderschönsten Liedern , die die Filmlandschaft zu bieten hat. Diese Lieder zu covern ist nahezu unmöglich und schon gar nicht mit demselben Gefühl.

                              Aber: Beyoncé. Ist. Eine. Wucht.

                              Diese Frau ist längst mehr als eine Popsängerin. Die Tage, wo sie mit "Crazy in Love" und "Beautiful Liar" (sehr gute) Ohrwürmer interpretierte sind vorbei. Sie ist eine teilweise fast schon in den Avantgarde wandernde Künstlerin mit starker Vision geworden. "Lemonade" ist eines der zehn besten Alben des Jahrzehnts und zurecht von Rolling Stone derart gepriesen worden. Ein Werk, dass den strukturellen Schmerz von Millionen anhand der Geschichte einer afroamerikanischen Frau anschneidet. Schneidet wortwörtlich zu nehmen.

                              Gerade deshalb war ich mir nicht sicher ob sie heute noch die richtige Wahl ist. 2008 hat sie noch aktiv Pop-Balladen gesungen, da hätte ich sie rasch ausgesucht, allerdings war es fraglich, wie sie dies heute bewältigen würde. Aber verdammt nochmal: wie unheimlich viel Gefühl sie in diese paar Sekunden schon steckt. Diese Frau kann wahnsinnig gut singen. Hat sie schon auf unzähligen Liedern bewiesen. Das ist Dusty-Level. Dionne-Level. Aretha-Level.

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                              • Ach du Scheiße.
                                Ach du große Scheiße.

                                Doris Day war für mich eine Heldin meiner Kindheit, eine der wenigen, die nicht animiert waren, und ihre Filme somit die vielleicht ersten aus dem alten Hollywood, die ich zu sehen bekam.

                                Ihre drei Komödien als Teil des Dreiergespanns Day-Hudson-Randall ("Bettgeflüster", "Ein Pyjama für zwei" und "Schick mir keine Blumen") sowie der turbulente "Spion in Spitzenhöschen" gehören zu meinen meistgesehenen Filmen überhaupt. "Ein Hauch von Nerz" lernte ich ebenfalls über die Jahre lieben, später stieß mit "Eine zuviel im Bett" noch eine weitere Screwballkomödie zu den Evergreens in meinem DVD-Player hinzu. Erst vor Kurzem habe ich "Was diese Frau so alles treibt" erstmals gesehen, der mich ebenfalls lauthals zum Lachen gebracht hat. Mit "Mitternachtsspitzen" und "Der Mann, der zu viel wusste" bewies sie, dass sie auch ernsthafte Rollen in Thrillern bewältigen konnte. Dennoch sind es für mich ihre lustigen Rollen mit viel, viel Charakter, die das volle Ausmaß ihrer Fähigkeiten zeigen.

                                Diese Ausstrahlung, diesen sympathischen Charme gab es nicht noch einmal und wird es auch nie wieder geben. Doris Day war ein Unikat, das jeder Rolle einen unverwechselbaren Stempel aufdrücken konnte. Ihre Mimik - vor Allem ihr "Oh!" bei negativen Überraschungen - werden mir immer im Gedächtnis bleiben. Schrullig, stark, irgendwas zwischen kindlich und reif, und bei all dem sehr nahbar, so waren ihre Figuren.

                                Danke für dein tolles Vermächtnis. Warst einfach super.

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                                  Martin Canine 11.05.2019, 14:56 Geändert 11.05.2019, 16:49

                                  ¡Ay, caramba!
                                  Wenn “Drei Caballeros” seinen Rausch lateinamerikanischer Rhythmen, farbkräftiger Bilder und einladender kultureller Besonderheiten erst einmal startet, steuert das Package Movie darauf zu, eine der intensivst spaßigen Erfahrungen zu werden, die das Haus der Maus jemals hervorgebracht hat. Was zunächst noch mit einer (losen) Struktur beginnt entblättert sich nach und nach zu einem schwungvollen, impulsiven Trip aus Eindrücken Brasiliens und Mexikos, denen man sich kaum entziehen kann. Am Ende wird sich der reinen Sinnesstimulierung gänzlich hingegen und von der Schneise der Verwüstung, die man lauthals und mit Vergnügen hinterlassen hat, nichts aufgeräumt.

                                  Alles beginnt damit, dass Donald Duck ein Geburtstagspaket von seinen südamerikanischen Freunden (wer das wohl sein kann?) bekommt, das der cholerische Enterich natürlich auch prompt öffnet. In dem Päckchem befinden sich drei in Papier gehüllte Geschenke; im ersten von ihnen eine Rolle mit Filmen, über die sich unser gefiederter Held sofort stürzt. Mit dem Öffnen von Geschenk Numero 2 beginnt aber erst das eigentliche Spektakel - denn jetzt treten die Absender des Pakets in Erscheinung, und nehmen Donald (und uns) auf eine kunterbunte Reise mit, die zunehmend in Richtung Wahnsinn zusteuert.

                                  Einen regelrechten Glücksgriff haben die Macher bei der Erschaffung der beiden Figuren José Carioca und Panchito Pistoles gelandet. Diese hinterlassen einen derart bleibenden Eindruck, dass es kein Wunder ist, dass sich um sie auch heute noch in versteckten Kreisen ein kleineres Following gebildet hat. Papagei José aus Brasilien kommt als klassischer, eleganter Gentleman daher, der stilvoll und besonnen in vollen Zügen genießt, was das Leben zu bieten hat. Hahn Panchito ist dagegen das blanke Chaos. Wild brüllend, mit Revolvern in die Luft ballernd, laut, schnell, aufge- und überdreht, ist er beinahe schon die zweite Seite derselben Medaille - nichts da mit Gelassenheit, er haut durchwegs - mit Verlaub - voll auf die Kacke. Obwohl sich prämissenbedingt keine Momente zutragen, in denen die zwei Vögel ernste Situationen zu bewältigen hätten, gehören sie doch zu den besten und erinnerungswürdigsten Figuren, die Disney hervorgebracht hat. Gemeinsam mit Donald funktioniert die Chemie und Dynamik zwischen ihnen unglaublich gut - jeder von ihnen hat einen eigenen Charakter, trotzdem ergänzen sie sich, ganz wie bei einer richtigen Freundschaft. Was sie verbindet ist maximale Lebensfreude. Ihr Zusammenspiel trägt den Film enorm - denn ab dem Zeitpunkt, als das Geschehen in einer surrealen, audiovisuellen Flut mündet, sind es vor Allem die zwei Flügelträger, die das Konstrukt aneinander haften lassen. So wie jeder wilde Trip ist auch dieser eben mit guten Freunden am Besten. Dementsprechend sind auch die ersten 20 Minuten, in denen mehr oder minder lediglich kurze Cartoons ohne unsere Helden zu sehen sind, auch mit Abstand die Schwächsten des Werkes (in Sachen Kurztrickfilmen haben die Looney Tunes immer noch die Nase vorn, wohingegen Disney bei Langfilmen allen anderen weit voraus ist und ab den 80ern einige Fernsehunterhaltungskanonen verzeichnen konnte). Man bekommt in diesen dennoch solides Entertainment geboten.

                                  Danach kommt das multikulturelle Fest erst so richtig in Fahrt. Zunächst führen der Hahn und der Papagei Donald (quasi ein Stand-In für den Zuschauer) in die Bräuche, Landschaften und Musik ihrer Länder ein und tragen somit einen faszinierenden Einblick bei, der es schafft, Interesse und Freude am Ausland zu wecken. Das kann der Film bis in die Neuzeit hinein für sich verzeichnen, und somit multikulturellen Zusammenhalt vermitteln, den wir heute mehr als alles andere brauchen. Gegenseitiges, grenzübergreifendes Miteinander ist hie die Norm - so muss es nie wieder zu den Umständen kommen, die den Film ursprünglich erforderlich machten. Dieses Kennenlernen der Kultur trennt sich dann immer weiter auf, lässt irgendwann eine erkennbare Narrative komplett außen vor und verwandelt sich in einen Schwall aus überwältigend berauschenden Sequenzen. Zu diesem Zeitpunkt ist eine reguläre Struktur auch nicht mehr von Nöten - wir haben das Feeling Lateinamerikas bereits aufgesaugt, und lassen es über unseren Verstand gießen, und diesen zum Rhythmus tanzen.

                                  Es ist eigentlich ein Makel, dass Panchito und José trotz Popularität in ihren jeweiligen Heimatländern jahrelang kaum weitere Verwendung in größeren Werken fanden und sich ansonsten mit sporadischen Gastauftritten in disneyschen TV-Serien zufrieden geben mussten - das Segment dieses Films um die Piñata schleicht sich außerdem immer wieder in Zusammenschnitte und Best ofs. Erst 2018 (!) erschien eine (merklich anders animierte) eigene Serie um die “Drei Caballeros”, und somit endlich mal die Würdigung, die sie verdienten. Was ihnen immer bleibt, ist dieses filmische Event, und das kann ihnen keiner nehmen.

                                  “We’re Three Caballeros
                                  Three Gay Caballeros
                                  They say we’re birds of a feather
                                  We're happy Amigos
                                  No matter where he goes
                                  The one, two, and three goes
                                  We're always together”

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                                  • 5 .5

                                    Mann oh Mann. Was war “Hangover” 2009 für ein Koloss. Zu sagen, dass der Film eine Hitkomödie war, würde ihm nicht gerecht werden. Er wurde zu einem popkulturellen Phänomen, der die Filmlandschaft seiner Zeit deutlich prägte und etliche (zumeist verzichtbare) Ripoffs und Trittbrettfahrer mit sich zog - “21 and Over”, “Project X” oder “Stichtag” wären in dieser Form wohl so nie zustande gekommen. Eine Zeit lang wurde es im Deutschen gar zum Trend, Komödien ohne direkten Bezug Titel zu verpassen, die das Wort “Hangover” beinhalten - so wurde aus “Girl Walks into a Bar” hierzulande “Hangover in L.A.” und “Ready or Not” hieß plötzlich “Ready For Hangover”. Auch, dass die großartige Rockstarsatire “Get Him to the Greek” kurzerhand zum “Männertrip” erklärt wurde, wird wohl am Plot von Todd Phillips’ Signature Movie liegen. Das alles sind zwar nicht unbedingt Indizien für einen guten Film, sehr wohl aber welche für einen, der einen gewissen Stellenwert für seine Epoche einnimmt. Es ist aber auch so, dass er verdammt gut war.

                                    “Hangover” war derart innovativ in der Entwicklung seiner Geschichte, ein Blackout aufzuarbeiten, der Gestaltung seiner Figuren und der Skurrilität seiner sich daraus ergebenden Situationen, dass nahezu jeder Satz und jede neue Entwicklung überraschen konnte. Wie vor ihm Filmklassiker wie “Ein Fisch namens Wanda”, “Ein Ticket für Zwei” oder “Falsches Spiel mit Roger Rabbit” war er eine Komödie, welche zwar maximalen Witz bot, dabei aber auch filmisch auf voller Ebene überzeugte. Genauso sehr, wie wir über Alans Merkwürdigkeiten lachen, so sehr waren wir auch auf die Auflösung all der vielen bizarren Vorkommnisse gespannt. An einigen Stellen konnte er gar regelrecht fesseln. Die Ambitionen gingen deutlich über Lachsalven hinaus - obwohl es diese zuhauf gab.

                                    “Hangover 2” war da schon umstrittener. Die Geschichte des erfolgreichen Vorgängers wurde nahezu eins zu eins kopiert, lediglich Details wurden abgewandelt (Las Vegas verwandelte sich in Bangkok, fehlende Zähne digitierten zu einem Tattoo und ein Tiger und ein Baby fusionierten zu einem Äffchen). Die Unvorhersehbarkeit, die eine der Hauptqualitäten des Vorgängers war, war gänzlich futsch und ins Gegenteil umgekehrt. Und dennoch: der Film war auch mit wenig inhaltlicher Innovation ein enormes Feuerwerk an Gags. Auch, weil sie sich mehr trauten: alles war wilder, exzessiver und anarchischer. Nicht mehr ganz so grotesk wie im ersten Film, dafür häufig punktgenau voll auf die Zwölf. Am Ende enttäuschte er als reiner Unterhaltungsfilm nicht, lediglich in seiner Narrative.

                                    In Zeiten, als erfolgreiche Filmreihen oftmals gemolken und in unnötig langen Franchises künstlich aufgebläht wurden - war es überraschend, dass man die kommerziell extrem gut dastehende Saga um Alan, Stu und Phil mit dem dritten Teil beenden wollte. Noch überraschender war es, dass man dies auch einhielt. Man sagte von Haus aus, diesmal gäbe es keinen Filmriss, sondern ein bombastisches Ende: “Hangover 3” sollte ein episches Finale bieten - und schaufelte sich sein eigenes Grab.

                                    Nach der Kritik am zweiten Film, anders als der Anfang der Reihe inhaltlich nichts zu bieten, wollte man vermutlich mit dem Ende der Trilogie völlig neue Wege einschlagen und eine größer angelegte Geschichte erzählen, vergaß dabei aber allzu oft, dass der Erfolg des Reihe immer schon vor allem in ihrem Humor lag. Den Beginn des Filmes kann man fast schon als katastrophal bezeichnen. Auf einen Gefängnisausbruch, dessen zentrale Hommage an einen der größten Kultfilme der 90er Jahre jeden Cineasten erfreuen sollte, allerdings nichts Lustiges beinhaltet, folgen zwei besonders unangenehm schockierende Szenen: zuerst stirbt eine Giraffe on-screen durch Alans Idiotie einen unnötig grausamen Tod (wir erinnern uns: Teil 2 konnte Herzen mit einem süßen Äffchen gewinnen), danach folgt eine Beerdigung seines Vaters, auf der er seiner Mutter beiläufig den Tod wünscht. Beide Szenen lassen den vormals liebenswerten Sonderling deutlich unsympathischer wirken und setzen einen besonders negativen Grundton. Wenig später wird er bei einer Intervention die Haushälterin seiner Familie schikanieren. Kurz darauf setzt der eigentliche und ungewöhnlich ernste Plot ein: Doug wird von einem Drogenbaron entführt, und das Wolfsrudel beauftragt, Mr. Chow ausfindig zu machen, der ihn mehrere Millionen ausfindig zu machen.

                                    Mittlerweile ist einiges an Spielzeit vergangen und man kann sagen, dass der Film alles andere als leichten, lockeren Witz zur Schau stellte. Je nach Szene zu provokant oder aber zu seriös und düster wird “Hangover 3” eingeleitet und kann erst ab diesem Zeitpunkt eine wirklich gute Zeit einleiten. Dies gelingt vor Allem durch eine Entscheidung, die den Film wirklich aus der Misere zieht: Mr. Chow von einer Nebenfigur zum Antagonisten bzw. Antihelden zu befördern. Denn anders als Alan ist Chow nie als Sympathieträger konzipiert und kann sich viel mehr erlauben. Er tut furchtbare Dinge, lacht dabei und zelebriert diese förmlich. Er ist die pure Anarchie in Person, brutal, pervers und beleidigend, und dabei immer überaus gut gelaunt und überdreht. Es macht Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie er die Welt in Brand steckt und dabei sagt, wie witzig es ist, wenn Leute sterben. Chow darf das. Dagegen war eine von Alans Stärken immer, eigentlich alles gut zu meinen und es aufgrund seiner Eigenartigkeit immer komplett zu vermasseln, ohne sich selbst der Tragweite seines Handeln bewusst zu sein. Er tat einem wirklich leid, als Phil ihm im zweiten Teil im Streit sagte, nicht sein Freund zu sein. Der neue Alan tut einem wohl kaum wirklich leid - spätestens wenn er bei Melissa McCarthy mit einsteigt, ihre im Rollstuhl sitzende Mutter zu beleidigen.

                                    Trotzdem sind solche Szenen im weiteren Verlauf rar gestreut. Denn dort nehmen rasante Verfolgungsjagden, waghalsige Stunts und spritzige Situationskomik den meisten Raum ein. Auch Alan darf plötzlich wieder der unbeholfene Typ sein, der in den härtesten Situationen die dämlichsten Ideen hat. So schießt er Fotos von Phil, als dieser an Abgrund hängt und fragt mitten bei einem Einbruch ausführlich, woher sein Kumpel sein T-Shirt hat. Das sind die Momente, die Alan immer schon richtig lustig machten. Er hat überhaupt kein Gespür dafür, wann etwas angebracht ist und wann nicht, ohne sich dabei irgendetwas Böses zu denken. In der zweiten Hälfte kann “Hangover 3” stellenweise sogar zu einem richtigen Kracher werden und bietet über lange Strecken hinweg einige Lacher. Das liegt auch daran, dass das Tempo deutlich angekurbelt wird und der ernste Gangstergeschichte weniger Platz eingeräumt wird.

                                    Alles in allem wollte Todd Phillips seine “Hangover”-Trilogie mit einem Knall beenden, stolpert darüber aber, indem er seinen luftig leichten Humor gegen zu viel dunkles Material eintauscht. Ab und an ist der Film nahezu gemein und extrem schadenfroh, was noch nie der Kern der Reihe war - stattdessen gab es sogar zeitweise herzerwärmende Momente, wie den “beste Freunde”-Song. Es kommt ihm bei seinem viel böseren Witz Chow soweit zugute, dass er all das verkörpert, dabei aber nur diese Eigenschaften besitzt, und sich so anders als seine Protagonisten nie zu verantworten braucht. Man soll ihn nie mögen - nur sein Chaos genießen. Und das klappt vortrefflich.

                                    PS: Das Highlight kommt kurz nachdem der Abspann eingesetzt hat.

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                                      • Perfekte Vibes aus der ersten "Kill Bill"-Szene und der zweiten Hälfte von "Death Proof". So extrem gehypet. Brauche mal wieder Tarantino-Feeling.

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                                        • Erstmal so wtf, muss aber nach reinlesen sagen, dass es mir doch auf den zweiten Blick ganz gut gefällt. Lädt ja direkt ein, hier wieder etwas aktiver zu werden.

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                                          • Muss mir echt mal wieder aktuelle Filme ansehen. Kurzzusammenfassung, was seit 2013 so passiert ist, anyone?

                                            "Black Panther" passt, zumindest was ich so mitbekommen habe, perfekt in den amerikanischen Zeitgeist, tippe daher fast auf den. Statements kommen immer gut an.

                                            Jedenfalls war "Shallow" einer der besten Song des letzten Jahres und einer der besten des Jahrzehnts generell. Da der Song z.B. bei Rolling Stone zum zweitbesten Song 2018 gekürt wurde, stehen die Chancen nicht schlecht, war außerdem ein Mega-Hit und wird von daher wohl kaum übergangen werden.

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                                            • Aaaaaalso:
                                              Als Film, als Komödie, sieht das soweit doch ganz gut aus.
                                              Aaaaber:
                                              1. Pokémon-Feeling kommt zu keiner Zeit auf, dieser "wir reisen um die Welt als Freunde, um die Besten zu werden und glauben fest an unsere Träume"-Mythos fehlt.
                                              2. Man merkt, dass der Film nicht japanisch ist. So stellt man sich im Westen Kinderunterhaltung vor, für jemanden, der mit RTLII-Animes aufgewachsen ist, wirkt das erwas befremdlich, im Pokémon-Universum solche Dialoge zu hören.

                                              Wird zwiespältig werden. Werde ich als generellen Film mehr mögen als als Teil des Pokémon-Kosmos.

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                                                Martin Canine 05.11.2018, 12:34 Geändert 05.11.2018, 20:30

                                                “Der Filmemacher Georges Méliès war einer der ersten, der es verstand, dass Filme die Macht besitzen, Träume einzufangen.”
                                                -Zitat aus Martin Scorseses Film “Hugo Cabret”

                                                Es ist kein Geheimnis, dass ich mit der Entwicklung es Mainstreamblockbusterkinos der letzten Jahre alles Andere als zufrieden bin. Ich musste leider Gottes erleben, dass diejenigen Filme, die es schaffen, uns in ein Reich der Fantasie zu entführen, mit geringerer kritischer wie kommerzieller Anerkennung belohnt werden als persönlichkeitsarme, kriechend erzählte Superheldenfilme, welche es zumeist nicht mehr schaffen, den klassischen Heldenmythos und die Ekstase, die die fremden Universen, in denen sie spielen, in uns auslösen, welche uns einst mit den Charakteren mitfiebern ließen, zu übertragen (Ausnahme: “Guardians of the Galaxy” - außerdem können die “X-Men”-Filme als Filme über Diskriminierung absolut überzeugen). Noch heute wird mir bei Roger Eberts Kritik zu “Snow White and the Huntsman” warm ums Herz, da er dessen Kreation einer fantastischen Welt hoch schätzte. Mit ihm starb einer der letzten Leute, die verstanden, welcher Zauber im Kino liegen kann. Denn mir schaudert dabei, wie schlecht der Film im Vergleich zum langatmigen und zu wenig außergewöhnlichen “The Avengers” ankam. Es ist eine Fähigkeit, die dem modernen Blockbuster fehlt, Zauber zu kreieren und sich selbst in diesem zu verlieren. Offenbar will niemand mehr ein Abenteuer erleben. Selbst, wenn in diesen Filmen große Effekte zum Einsatz kommen… bekommt man jemals das Gefühl, dass sich die Filmemacher selbst an ihren Bildern berauschen? Nicht wirklich, und deshalb kann ich es auch nicht. Ich weiß noch, wie es sich anfühlt, sich Fantasiewelten auszudenken - nun hat man endlich die Möglichkeit, durch die immer besser werdenden Visual Effects diese auch tatsächlich bebildern, und keiner tut es.

                                                “Valerian - Die Stadt der tausend Planeten” ist nun kein Hollywoodfilm - genauer gesagt ist er der teuerste jemals gedrehte französische Film - und nichtsdestotrotz stellt er genau die Vision dar, wie man sich vor gut zwanzig Jahren wohl die Filme der Zukunft vorstellte. Das Kino kann uns in Welten führen, die wir in unserer Eigenen nie betreten können - und Luc Bessons Science Fiction-Werk tut es einfach. Ununterbrochen. Szene für Szene.

                                                Die Geschichte spielt in einer riesengroßen Weltraumstadt namens Alpha, in der die Vertreter diverser intelligenter Spezies aus allen Ecken der Galaxie miteinander friedlich im Einklang leben. Wie an jedem Ort gibt es auch dort Verbrechen, für dessen Bekämpfung die zwei AgentInnen Laurelie und Valerian (etwas unglücklich fiel der Filmtitel aus, der im Gegensatz zur Vorlage nur den männlichen Protagonisten im Namen enthält) zuständig sind. Sie führen einen Auftrag aus, Diebesgut zurückzuholen - ein kleines Tier, welches als letztes Exemplar seiner Art gilt. Nach der erfolgreichen Ausführung der Mission erfahren sie vom nächsten Problem: es hat sich im Inneren der Stadt eine radioaktiv verseuchte Masse gebildet, die bei weiterer Ausbreitung alles zu zerstören droht, weshalb sie vernichtet werden muss. Doch bevor noch etwas unternommen werden kann, stürmt eine Gruppe von unbekannter Spezies das Gebäude und stiehlt das zuvor zurückgeholte, seltene Wesen. Die unbekannten Wesen sind dabei allerdings sehr bemüht, niemand zu töten oder auch nur zu verletzen, was freilich Misstrauen in den Agenten weckt - sind vielleicht gar nicht sie die Bösen, und steckt etwas viel Größeres dahinter?

                                                Die Geschichte stellt einen klassischen Plot dar, den man auch aus Politthrillern oder Kriminalwerken kennt, in denen sich ein scheinbar klares Verbrechen als Teil einer größeren Verschwörung erweist, in der das hinterfragt werden muss, das man bislang als Wahrheit akzeptierte. Aber wow, mit welcher Kreativität man dieses Konzept umsetzen kann! Bei der Adaption der Geschichte wird vom Grundkonzept nichts eins zu eins kopiert, es wird durch Ideen angereichert, die den Film von sämtlichen seiner Genrekumpanen unterscheiden. Das Diebesgut wird hier beispielsweise geholt, in dem man sich in eine andere Dimension begibt - wobei sich der Körper allerdings zeitgleich in der einen Welt bewegt, während die andere betrachtet wird, und durch eine Maschine ausschließlich der Arm durch eine Art Portal greifen und Gegenstände zwischen den Paralleluniversen hin und herschieben kann. Solche Szenerien, die eine vollkommen eigene Zukunftstechnologie, oder aber Verhaltensweisen und Fähigkeiten anderer Spezies zeigen, machen einen großen Teil von “Valerian” aus. Der archetypische, bestechliche Informant besteht hier aus drei schrulligen Außerirdischen, die jeweils nur einen Teil der Information wissen, um so einer möglichen Drohung zu entgehen. In diesem Werk überzeugt selbst eine erotische Tanzvorführung (dargebracht von Popstar Rihanna) mehr durch den ständigen Formwandel der Figur, der rhythmisch und ästhetisch eingesetzt wurde, um nahezu sämtliche Vorlieben zu bedienen, mehr durch Ideenreichtum als durch Sex. Selbst ein Schuss ist nicht gleich ein Schuss - hier fliegen die glänzend silbernen, runden Kugeln auf den Gegner, bleiben haften und ziehen andere Kugeln an, die den Widersacher dann durch ihr Gewicht zu Boden ziehen.

                                                Dabei sieht jedweder Moment des Filmes so aus, als wäre er direkt aus unseren schönsten Träumen entsprungen. Erfüllt von Details und mit Liebe in jedem Millimeter setzt Autorenfilmer Luc Besson alle Hebel in Bewegung, um ein so berauschendes Erlebnis zu garantieren wie nur irgend möglich. Er kann neben den Wachowskis zu den Science Fiction-Filmemachern ihrer Generation gezählt werden, die mit der größtmöglichen Leidenschaft an ihre Werke herangehen. Man merkt seine unheimliche Faszination und Ambition daran, das überwältigendste Spektakel jenseits unserer Vorstellungskraft zu erschaffen - und es auch selbst zu genießen. Alleine die zunächst paradiesische Eröffnungsszene, in welcher eine tropische Insellandschaft gezeigt wird, bestehend aus leuchtend türkisem Wasser, zartrosa Muschelhäuser, tiefblauem Himmel, und cremefarbenem Sand ist in seiner Farbkomposition derart schön gestaltet, wie man es seit “Avatar” nicht mehr gesehen hat (nur, dass “Valerian” der weit bessere Film ist). Der Untergang dieser Idylle, deren Ökosystem und dessen naturverbundener Lebensstil seitens der Bewohner mit wenigen Gesten deutlich vermittelt werden (etwa werden Perlen gefischt, wobei die gefangenen Perlen vervielfältigt und wieder zurückgelegt werden, um keine Ressourcen zu verschwenden), wird durch ebenso gekonnten Einsatz von Farben umso erschreckender, wenn plötzlich dunkelgraue Rauchschwaden und knallorangenes Feuer den Himmel durchbrechen und die geradezu gegenteilig aussehende Planetenoberfläche langsam verschlingen.

                                                Bereits hier wird deutlich, dass Luc Besson es versteht, die heutigen Möglichkeiten des CGI sinnvoll zu nutzen, um künstlerisch und nicht nur inflationär visuell zu beeindrucken. Profan ist es, von Effekten zu sprechen. Das CGI ist Luc Bessons Farbe und Pinsel, in denen er Welten malt, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. In “Valerian” kommen wir aus dem Staunen nicht mehr hinaus. Und der Film gönnt sich in seiner Gestaltung, die den Sinnen schmeichelt, keine Pause. Die Stadt Alpha ist geprägt von unzähligen Details, die man großteils mit bloßem Auge gar nicht erfassen kann, und bietet sogar eine gewisse Infrastruktur. Sie ist aufgeteilt in verschiedene Gebiete, die sich allesamt so unterscheiden, dass sie den Bedürfnissen der dort vorwiegend beheimateten Arten entsprechen. Vor Allem in einer Verfolgungsszene kommen diese Sektoren visuell beeindruckend zu Tragen. Wie in jedem halbwegs größeren Gebiet existiert auch hier ein kriminelles Pflaster, in welchem die ansonsten herrschende Utopie nicht zutrifft: ein luxuriös ausgestattetes Bordell mit Zwangsprostituierten spielt im Mittelteil eine gewisse Rolle, auch den Verzehr menschlichen Hirns will sich dort mancher in surrealem Prunk lebender Götze nicht abgewöhnen. Bis auf Einzelversagen herrscht auf Alpha allerdings exakt die absolut einheitliche Gleichberechtigung, die man sich wünschen würde. Science Fiction ist der oftmals düsterere, ältere Bruder von Fantasy, hier ist er genauso fantasievoll und oftmals aber hoffnungsvoller hinsichtlich Harmonie und Einklang der sozialen Gruppen. Hingegen fokussiert der Film jedoch individuelle Fehlentscheidungen. Die Frage nach Verantwortung und Schuld wird mit laufender Dauer des Werkes ein immer größeres Thema von “Valerian”, und es wird geschafft, sich zeitgleich für Moral bzw. gegen Kollateralschäden auszusprechen und dem Widersacher trotzdem nicht eindimensionale, sondern nachvollziehbare Beweggründe zu verleihen.

                                                Der Star und Aufhänger des Filmes, Cara Delevingne, ist vom ersten Moment an mehr als nur ein schauspielendes Model. Ihre Rolle der Laureline stellt wie zuvor Jennifer Lawrence’s Katniss Everdeen die wahre feministische Idealfigur ihrer Zeit sein: sie ist ganz selbstverständlich stark, gleichauf mit jedem Mann, ohne es erst erwähnen zu müssen. Wie es eigentlich sein sollte, muss dieser Umstand nicht erst vom Film hervorgehoben werden. Sie besitzt Witz, Charisma, Charakterstärke und ist auch in der Lage, sich physisch und mit Esprit zu wehren. Ihre Stärke ist auch Sensibilität, sodass sie immer die nötige Weichheit behält, um gefühlvoll zu bleiben und nicht zu einer stumpfen “Badass-Chick”-Karikatur zu verkommen. Auch Dane DeHaan als Titelheld Valerian meistert den Spagat zwischen einer mehr als willkommenen Rückkehr zu den jugendlichen, männlichen Heldenfiguren früherer Jahrzehnte - so erinnert er an Marty McFly oder auch den jungen James Bond von Sean Connery - und einer modernen Dekonstruktion desselben Typs, da er nun von einer klugen und mutigen Frau herausgefordert wird, die absolut imstande ist, ihm mindestens ebenbürtig gegenüberzustehen und durch Schlagfertigkeit gut kontert. Die Chemie zwischen den Figuren stimmt grandios. Jegliche Annäherung erscheint gänzlich natürlich und korrekt - von Anfang an wissen wir, dass da etwas zwischen den Charakteren funkt. Auch, wenn Valerian es sagt, wir wissen nur nicht, wie ernst er es meint, dass er mit Laurelie zusammen sein will. Ein Playboy war er früher, das wissen wir, trotzdem scheint er für seine Partnerin mehr zu empfinden - aber trotzdem funktionieren sie verschieden. Probleme und Unterschiede der Charaktereigenschaften der zwei blendet der Film nicht aus, sondern spricht sie konkret an. Dieses Team wird hineingeworfen in eine Mission, in der jeden Moment alles passieren kann. Wie bei einem Schweizer Armeemesser klappt immer ein neues Wunder aus jeder dunklen Ecke hervor und kann uns stets überraschen. Und wir wissen bereits seit “African Queen”, dass gerade Abenteuerfilme - und im Grunde ist “Valerian” nichts Anderes, da die Figuren auf einer Odyssee quer durchs Weltall hetzen - geeignet sind, Beziehungen aufzubauen. Denn desto mehr man gemeinsam durchgemacht hat, desto mehr schweißt es zusammen.

                                                Wir können letzten Endes festhalten, dass “Valerian - Die Stadt der tausend Planeten” als Musterbeispiel dafür angesehen werden sollte, wie in den späten 2010er Jahren Filme mit hohem Budget - wenn man so will, “Mainstreamfilme” - auszusehen haben. Der Film bedient sich aller Stärken und Möglichkeiten der Moderne - nicht nur gelingt es ihm mit Bravour die neue Technik zu nutzen, er bedient sich auch der neu gewonnenen Option, Figuren und Handlungssträngen der Popkultur Symbolcharakter zu verleihen, während man früher hier klar die Trennlinie zwischen Arthouse und Blockbuster setzte - er badet aber auch überschäumend und mit kindlicher Euphorie und Liebe in dem ursprünglichen Gedanken der Kinowelt, Träume festzuhalten. Vielleicht ist er sogar einer der großartigsten Science Fiction-Filme aller Zeiten, auf jeden Fall aber in seiner Generation.

                                                Georges Méliès wäre verzaubert gewesen, hätte er “Valerian” sehen können.

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                                                • Ich hab nur aufgrund der Doppeldeutigkeit des 3. Teil Probleme. Die anderen gehen doch vollkommen klar. Endlich mal wieder richtige Titel, nicht nur "lassen wir das The weg", "setzen wir den Titel in Plural" oder "schreiben wir den Namen der Protagonisten aus".

                                                  Hier wird gleich klar, dass es ein Abenteuerfilm wird. Würde gerne wieder mehr in dieser Richtung sehen, anstatt des hundertsten Marvelsuperheldenfilms. Back to the 90s und 2000s. Auch, wenn mich der erste Avatar nur bedingt überzeugt hat, bin ich da jetzt sogar zuversichtlicher geworden.

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                                                  • Martin Canine 27.10.2018, 10:39 Geändert 27.10.2018, 13:48

                                                    So. Das reicht. Ich verlange jetzt ein Drawn Together-Revival, nur, um denen mal gehörig auf den Kopf zu scheißen, die zu blöde sind, diese Art von Humor zu verstehen. Die Simpsons-Macher hätten einfach diese paar Gestalten ignorieren sollen und wie immer weiter machen sollen. Es hat 30 Jahre lang geklappt, warum wegen so ein paar Fatzken, die sich für echte Probleme ohnehin einen Scheiß interessieren, einknicken?

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