Rajko Burchardt - Kommentare
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Alle Kommentare von Rajko Burchardt
Ein Berlinfilm ohne Berlinklischees im Jahr eins nach "Victoria". Der desolate Zustand des hauptstädtischen Wohnungsmarktes bildet den ökonomischen Rahmen seiner von Heimatsehnsüchten erzählenden Geschichte – ausgerechnet die als Immobilienverwalter arbeitende und anderen Menschen Heimatversprechungen erfüllende Hauptfigur scheint mit diesen Sehnsüchten Schwierigkeiten zu haben. Die Begegnung zwischen ihr und einem aus Osteuropa stammenden Geschwisterpaar verschafft der Handlung Antrieb, der Verwalter organisiert den Geflüchteten eine Wohnung, die Figuren geraten in komplizierte Schieflagen des Begehrens. Was der Film damit anstellt, ist hochinteressant: Das aus unterschiedlichen Interessen geschlossene Zweckbündnis einerseits als Freiheitsutopie, die jede der Figuren auf Selbstverwirklichung hoffen lässt, anderseits als Ausdruck eines Machtverhältnisses, in dem Solidarität und Egotrip schwer zu unterscheiden sind. Jan Krüger macht es sich mit solchen Uneindeutigkeiten nicht einfach. Seine Figuren sind zwiespältig und komplex, ihre Motive stehen mit- und gegeneinander im Raum, ohne vorschnell aufgelöst zu werden. Das großartige Schlussbild muss daher in der Schwebe bleiben. Heimat, vermittelt es, kann nah und fern zugleich sein.
Washington, Wildnis, Waldhütte: Das ist sowohl der Spielort des Films als auch die zurückliegende Bewegung seiner Hauptfigur Ben, einem nunmehr allein erziehenden Vater von sechs Kindern. Die Familie besitzt weder Strom noch fließend Wasser, aber ausreichend linksautoritäre Literatur, um sich ihre zivilisationsflüchtige Zeit bei Lagerfeuer und Mondlicht mit Rezitationen zu vertreiben. Gut gehen kann das nicht. Die Kinder stellen den Vater irgendwann in Frage, die romantische Aussteigerfantasie bekommt Risse. Und weil Drehbuch und Regie das alles nur in ständigen Gegensätzen und Zuspitzungen denken möchten, geschieht bei einer Spontanrückkehr in die Gesellschaft das Unvermeidliche. Mit der überfälligen Einsicht, dass Vater Ben ein egozentrisches Arschloch ist, das seine Kinder vorführt, drangsaliert und sowieso nichts von Antifaschismus verstanden hat, fühlt sich der Film jedoch sehr unwohl. Die berechtigte Problematisierung löst sich bald in Wohlgefallen auf, am Ende tanzt und trällert die ganze Familie zu "Sweet Child o' Mine" an einer Felsenklippe herum! Premiere feierte "Captain Fantastic" natürlich in Sundance, wo derart verlogene Indie-Sülze seit jeher ihren festen Platz hat.
[...] "Herzstein" verzichtet darauf, solche Eindrücke der isländischen Alltags- und Landschaftstristesse in einen unmittelbaren psychologischen Zusammenhang mit den inneren Konflikten der Figuren zu bringen. Sie stehen auf eine raue, poetische Art für sich, entschieden setzt Regisseur Guðmundsson auf Understatement statt Aufdringlichkeit. Anders als viele schwul-lesbische Jugendfilme, die mit allzu bewährten Erzählmustern hantieren, überlässt "Herzstein" die Zuschauer_innen weitgehend sich selbst. Seine Geschichte und ihre Figuren wagen sich vor ins Ungewisse. Bevor der Film auf einen vielleicht etwas zu buchstäblichen großen Knall hinausläuft, vermittelt er eine Ahnung davon, wie Coming-of-Age-Kino aussehen könnte, das zu allen Seiten offen ist.
Das brachliegende Detroit kann eine sehr unheimliche Kulisse sein (siehe zuletzt "It Follows"), für Horrorfilme eignet sich die von der größten Segregation in den USA bestimmte Geisterstadt mit ihren maroden Strukturen, verfallenen Gebäuden und leergefegten Straßenstrichen ganz besonders. Zwar ebenfalls in Detroit, aber leider auch komplett im Innern eines Hauses spielt Don't Breathe. Leider, weil das Innere in keiner Beziehung zum Äußeren steht, jedenfalls in keiner besonders reizvollen, und der Film mit seinem Home-Invasion-Szenario nicht eine Sekunde lang etwas Interessantes anstellt. Bequemerweise weicht der Reiz der Geschichte, die Unverfrorenheit der Protagonisten nämlich, einen blinden alten Mann um Schlaf, Nerven und Geld zu bringen, der ungleich langweiligeren Gewissheit, dass dieser blinde alte Mann auch gar nichts Besseres verdient hat. Für einen Gruselstoff, der mancherorts gar zur Rettung des Genres hochgejazzt wurde, ist das eine ziemlich feige Prämisse. Und so lässt sich den anhaltenden Trends des gegenwärtigen Horrorfilms, seinem ewig gleichen Geisterbrimborium, der Lautstärke, Willkür und Mutlosigkeit nicht einmal dieser kleine gefeierte Überraschungshit entgegensetzen.
Zufrieden scheint mit diesem Film niemand zu sein. Fans des je nach Auflage bis zu 1500 Seiten dicken Romans sind sich einig, dass eine mit 180 Minuten Laufzeit schon quantitativ unzureichende Adaption seiner epischen, ja sogar kosmischen Geschichte kaum gerecht werden könne. Und auch den Vertrauensvorschuss buchunkundiger Zuschauer mache die Verfilmung zunichte, weil ihr Schlussakt nichts von dem einlöse, was die ungleich stärkere erste Hälfte verspreche. "Stephen Kings Es", so das Verdikt beider Gruppen, habe das gleiche Problem wie viele, wenn nicht alle Versuche, Kings Worte in bewegte Bilder zu übersetzen: Das Ergebnis reiche an den meisterlichen oder eben wahrscheinlich meisterlichen Roman allenfalls in wenigen Details heran. Damit wäre im Prinzip alles gesagt, gäbe es nicht doch einige Gründe, die ABC-Produktion gegen manche Einwände zu verteidigen. [...]
Cape Fear
13th wird's, hoffe ich jedenfalls.
Wenn es allerdings stimmt, dass Selma letztes Jahr den Unmut der Academy auf sich zog, weil er so böse, böse mit dem lieben, lieben Präsidenten Lyndon B. Johnson umging, dann wird es Ava DuVernay vielleicht auch diesmal wieder schwer haben. Ihr neuer Film macht erst recht keine Gefangenen (no pun intended).
[...] Mit den Darstellungskonventionen einer Metropole, deren Geschichten entweder als von falschem Glanz erstrahlte Lügen verkauft oder in ausgestellt karge Betroffenheitsästhetik gezwängt werden (und damit nicht unbedingt näher an irgendeiner Wahrheit liegen), hat "Tangerine L.A." nichts zu tun. Im ästhetischen Zugriff des ausschließlich auf iPhones gedrehten Films präsentiert sich Los Angeles als orangefarben durchfluteter Alternativentwurf mit grellem Smartphone-Look. Das erinnert zwar an Instagram-Bilder, deren automatische Filter noch hässlichste Aufnahmen schick aussehen lassen möchten, hat aber zugleich einen faszinierend verunstaltenden Effekt: Bekannte Locations wie der Santa Monica Boulevard sehen hier so unwirklich aus, dass man sie in Abwandlung einer Victor-Herbert-Operette als "Mystic merry toyland" besingen muss – wodurch der Film dieser queeren Stadt so nahe kommt wie seit "Hustler White" kein anderer mehr. [...]
[...] Das aus allerhand Genreklischees rekrutierte Bösewichtarsenal des Films reicht von Schergen der italienischen Mafia bis zur Yakuza – und irgendwie kämpft hier, was der Vergnüglichkeit sehr zuträglich ist, sowieso jeder gegen jeden. Die Titelfigur wirkt in diesem Kräftemessen verbrecherischer Energien wie ein fatales Verbindungsstück: Sie agiert als selbstermächtigte Vergeltungsinstanz, deren gezieltes Eingreifen in ein aus den Fugen geratenes Wertesystem ihrerseits neue kriminelle Formen produziert. Der Punisher trägt hier auch nicht sein berühmtes Erkennungsmerkmal, den Totenkopf, auf der Brust, sondern scheint mit blassem Gesicht und herausstehenden Wangenknochen selbst eine Personifizierung dieses Symbols zu sein. Das frühere Leben als Polizist ist der nunmehr namenlos und totgeglaubt in der Kanalisation hausenden Figur sichtbar ausgetrieben. Stünden ihre Taten nicht auf der gleichen Stufe wie die ihrer Gegner, könnte man sie vielleicht bemitleiden. Doch selten wirkte das von derartigen Ambivalenzen befreite Porträt eines Comichelden so angemessen wie hier.
[...] Daniel Myrick und Eduardo Sánchez wollten, das bekräftigten sie immer wieder, einen Horrorfilm drehen, der dem Genre seine Unheimlichkeit zurückgibt. Sie hielten herkömmliche Strategien der Angsterzeugung und nicht zuletzt die Möglichkeiten des darstellbaren Grauens für ausgereizt, worin ihnen die flächendeckende und vielleicht auch unausweichliche Ironisierung des Horrorkinos 1999 Recht gab. Der entscheidende Schritt des Films war deshalb nicht seine (schnell widerlegte) Behauptung, das Publikum habe es jetzt mit tatsächlichem Horror zu tun. Bahnbrechend war vielmehr die Simulation der an diese Behauptung gekoppelten Authentizität: Den Bildern von "The Blair Witch Project" lag eine Vertrautheit zugrunde, in der sich der Horror des auf 16 mm und Video gedrehten Materials unmittelbar konkretisieren konnte. Es ging nicht darum, Panik und Hysterie der Darsteller für bare Münze zu nehmen, sondern sich von ihnen infizieren zu lassen. Eine Erfahrung, der jede Formschönheit abträglich hätte sein müssen. [...]
[...] Zwei einfache Kurven deuten zu Beginn von "The Survivalist" an, wie es zum augenscheinlichen Zusammenbruch der Zivilisation kam. Die eine zeigt das Wachstum der Weltpopulation, die andere den Anstieg der Erdölgewinnung. Als letztere zu sinken beginnt, dauert es nicht lang, bis die erste nachzieht. Mehr erfährt man nicht, mehr braucht man auch gar nicht zu erfahren. Die wirksamsten Dystopien vermeiden Erklärungen über den Zustand unserer Welt, lassen sich nicht leichtfertig in ideologiekritische Rezeptionsmuster zwängen. Entscheidend ist weniger, wie es zum Tag X kam, als vielmehr, was nun mit ihm anzustellen ist. An simplem Bescheidwisserkino hat das eindrucksvolle Regiedebüt von Stephen Fingleton kein Interesse. [...]
[...] Dass Frauen im Leben der ewigen Highlander-Jungs nur eine untergeordnete Rolle spielen können, hat zweierlei Gründe: Ansehen zu müssen, wie alternde Geliebte früher oder später ihren unsterblichen Beschützern verloren gehen, macht ein Leben in Isolation unausweichlich, und die ständige Bedrohung durch andere Mitspieler vereitelt familiäre Harmonie ohnehin. Daraus ergibt sich eine unmissverständliche Homoerotik, die "Highlander" freilich nur andeutet. Auf dem Polizeirevier, wo MacLeod der Enthauptung eines Gegners in einer Tiefgarage bezichtigt wird, fragt man ihn, ob er schwul sei (im Original weniger schmeichelhaft: "Are you a faggot?"). Lässig erwidert er dem Polizisten, dass dieser vielleicht nur "ein hübsches Stück Arsch" suche. Tatsächlich erinnert das gegenseitige Aufspüren der verbliebenen Unsterblichen an geheimen, meist urigen Orten an schwules Cruising. Die 1992 produzierte TV-Serie zum Film hat diese Lesart noch verstärkt, wenn die Unsterblichen die Anwesenheit ihresgleichen schon beim Betreten eines Raums spüren – und ihnen vielsagende Blicke zuwerfen. [...]
[...] In den Actionthrillern des nicht zufällig seit den ausgehenden 1990er-Jahren florierenden südkoreanischen Kinos geht es immer wieder um Korruptions- und Verschwörungsgeschichten, denen ein tiefes Unbehagen gegenüber wirtschaftlicher Macht eingeschrieben ist. Bösewichte treten als vom Nepotismus begünstigte Firmenmogule oder Vertreter derselbigen auf, die grundsätzlich in dubiose Machenschaften verstrickt sind. Ihre Handlungen offenbaren einerseits konkrete Nachwehen der Asienkrise, scheuen andererseits aber keine genregerechten Überhöhungen dieser Ängste. Das auf unterbezahlte Polizisten und sich in Gewerkschaften organisierende Arbeiter angestimmte Loblied führt in "Veteran – Above the Law" dennoch nicht an Überhöhungen vorbei. Zuletzt bricht der Film seine großen Themen auf ein privates Duell herunter, das bei aller Freude an beeindruckenden Stunts vor allem höllisch weh tut – ein angemessenes Gefühl für einen Film, unter dessen anfänglichen Heiterkeiten infernalische Abgründe liegen.
Schlimmer geht's wirklich nicht mehr.
Keiner.
Zur Gruselparade: bitte scrollen.
[...] Ein individueller figuraler Blick formt die Welt dieses Films, der darüber die Beschränkung seines Animationsstils erklärt: Zu sehen ist, was zu sehen wichtig ist – und was das Bild gerade so zu einem Bild macht. Die (digitale) Zeichnung konzentriert sich folglich aufs Bildzentrum, das lediglich entscheidende Details erkennbar werden lässt. Hintergründe offenbaren nichts als weiße Flächen, in die sich Linien und Ränder verlaufen, und selbst wesentliche Details geben nur angerissen preis, was offenbar keines Striches zu viel bedarf. Der interessante Effekt dieser Reduktion ist ein in seiner Schlichtheit bestechend schöner Film, der Animation nicht als pittoresken Weltentwurf, sondern als Medium visuell- und erzählästhetisch entscheidender Bildinformationen versteht. [...]
Hier scheint ja schon wieder der gleiche Mimimi-Reflex zu greifen wie beim Text über den neuen Dolan-Schmolan.
Von mir jedenfalls großen Respekt für diese aufwendige Cannes-Berichterstattung und ihre ausgewogenen Urteile. Wenn man Filmkritik nicht als Bestätigung dessen begreift, was man eh schon zu wissen glaubt, lässt sich da viel mitnehmen. Danke Jenny.
Ich mach dann mal den Spielverderber. Drögester Arthausmainstream, der komischerweise als Horrorfilm verkauft wird, genau das aber offenbar keineswegs sein möchte. Einige gelungene Rural-Gothic-Momente bleiben isoliert, weil sich die forcierte Authentizität des Settings (und vor allem der parodistisch anmutenden Sprache) lieber einem kuriosen Realismus verschreibt. Hat mich stellenweise an Antichrist erinnert, mit dem Unterschied, dass der ein Meisterwerk ist und The Witch allenfalls gern eines wäre. Die Infotafel im Abspann sorgt dann noch für einen echten Lacher.
Clouds of Sils Maria ♥
Kristen Stewart ♥ ♥
the gaffer ♥ ♥ ♥
Die Vorstellung, dass der durchschnittliche bildungsbürgerliche Kulturconnaisseur sowie zufällig durchs TV-Programm switchende homophobe oder sonstige reaktionäre Fernsehzuschauer plötzlich bei cruisenden Schwulen landen, die sich in Großaufnahme ihre Schwänze blasen, finde ich schon irgendwie toll.
Arte. ♥
[...] Karyn Kusama spinnt in "The Invitation" eine Komplizenschaft mit dem Publikum, bei der schon ein harmloses Lächeln die nächste Irritation auslösen könnte. Man hat nach "Æon Flux" und "Jennifer's Body" keinen Film von ihr erwarten dürfen, der zumindest über zwei Drittel hinweg derart meisterlich auf seine atmosphärische Fragilität vertraut. Sie weiß genau, dass die unheimlichsten Geschichten solche sind, die keine Eile brauchen, und reizt das selbst in einfachen Worten und Bewegungen der Figuren gesäte Unbehagen über den zu erwartenden Knall so gekonnt aus wie es zuletzt nur einem Ti West gelang. Weil der Film dem Publikum mit Logan Marshall-Green zudem einen Hauptdarsteller an die Hand gibt, dessen einnehmendes Spiel sich ebenso wenig in die Karten schauen lässt wie seine intelligente Regie, geht man ihm bereitwillig auf den Leim. [...]
Es gibt im Kino keinen mächtigeren Ausdruck als den Blick. Er sagt, wie es nicht ohne Grund heißt, mehr als tausend Worte, weil Figuren erst durch ihn tatsächlich zueinander in Beziehung gesetzt werden. Todd Haynes ist mit "Carol" von einem souveränen, an Douglas Sirk geschulten melodramatischen Erzähler endlich auch selbst zum Meister der Liebesgeschichte gereift. Blicke gewinnen in seinem dezidiert queeren Kino dadurch an Bedeutung, dass sie Ausdruck (homo-)erotischen Begehrens sind, aber auch fatale Konsequenzen haben können, vor allem in einer so lustfeindlichen Zeit wie den 1950er Jahren, deren Repressalien der Film leise miterzählt. "Carol" ist weniger üppig ausgestattet als frühere Arbeiten von Todd Haynes, in denen seine weiblichen Hauptfiguren auch am Üppigen zu ersticken drohten (Julianne Moore leidet in "Safe" sogar tatsächlich unter Atemproblemen), was einen guten Grund hat: Die von Cate Blanchett und Rooney Mara gespielten Liebenden müssen nicht erst aus opulenten Käfigen ausbrechen, um sich zu finden – den unmissverständlichen Blicken ihrer ersten Begegnung ist die Selbstverwirklichung schon eingeschrieben. Haynes erzählt das mit einer visuellen Kraft, der kein anderer Film 2015 gewachsen war. Ein instant classic.
Benjamin Murmelstein war Mitglied des von den Nationalsozialisten errichteten Judenrates in Wien und der letzte "Judenälteste" im Konzentrationslager Theresienstadt. Regisseur Claude Lanzmann traf Murmelstein 1975 in Rom, um ihn für seine Arbeit am Dokumentarfilm Shoah zu interviewen. Dass das Material keine Verwendung in der neuneinhalbstündigen Chronik des Holocausts fand, hatte nicht mit den aufschlussreichen und als Zeitzeugendokument unschätzbar wichtigen Gesprächen, sondern seinem kontroversen Protagonisten und dem noch heute hitzig geführten Diskurs um die Repräsentanten der Judenräte zu tun. Benjamin Murmelstein gibt sich in "Der Letzte der Ungerechten" als hocheloquenter Mann, der die Widersprüche seiner Person und Funktionen nicht aufzulösen, aber zu verteidigen versucht. Er verstand sich als "tragikomische Gestalt" und Marionette, die ihre eigenen Fäden gezogen habe, aber doch unfähig gewesen sei, tatsächlich etwas zu verändern. Kein Detail entging dem unerbittlichen Fragensteller Lanzmann bei dieser Begegnung, die er knapp 40 Jahre später zu einer filmischen Wiedergutmachung verarbeitet hat. In der letzten Einstellung legt er seinen Arm um Murmelstein und spaziert davon. Es ist die größte kleine Geste des vergangenen Filmjahres.
David Zellners "Kid-Thing" endete mit dem verstörenden Bild eines Mädchens, das im Erdboden verschwindet, "Kumiko, die Schatzjägerin" kriecht in eine Höhle, aus der sie ein VHS-Band von "Fargo" buddelt. Die auf vermeintlich wahren Ereignissen basierende Räuberpistole der Gebrüder Coen nimmt Kumiko für bare Münze und reist von Tokio nach Minneapolis, um dort jenen Geldkoffer zu finden, den Steve Buscemi im Schnee vergrub. Als Verfilmung einer urbanen Legende ist diese Geschichte natürlich ebenso gelogen wie "Fargo", doch empfindet sie die prekäre Erfahrungswirklichkeit ihrer Protagonistin einfühlsam und vorurteilsfrei nach. "Fargo", sagt ihr der – nicht zufällig – von David Zellner gespielte Deputy in einer wichtigen, nämlich der letztmalig Rettung in Aussicht stellenden Szene, sei nur "ein regulärer, normaler Film". Kumiko allerdings scheint das Kino als ein besseres Leben zu empfinden, selbst wenn sie das Durcheinander von filmischer und subjektiver Realität mit ebendiesem begleichen muss. Sehr bedauerlich, dass diesem Wunderwerk hierzulande bislang sowohl Kino- als auch Heimkinostart verwehrt geblieben sind.