Patrick Reinbott - Kommentare

Alle Kommentare von Patrick Reinbott

  • 8
    über Suburra

    Sieben Tage verbleiben bis zur Apokalypse. Die Texttafel, mit der Stefano Sollima seinen Film „Suburra“ eröffnet und die Handlung dabei im Jahr 2011 verortet, deutet gleich zu Anfang darauf hin, dass am Ende dieses Countdowns nicht nur irgendein großer Knall, sondern gleich das Ende der Welt sowie allen Lebens folgen soll. Bis es soweit ist, geht es dem italienischen Regisseur zuvor aber explizit um die in seinem Heimatland vorherrschende Endzeitstimmung, die er mit überaus cineastischem Gespür auf inszenatorischer und erzählerischer Ebene als atmosphärisch greifbaren Zustand heraufbeschwört.
    Nachdem Sollima in der Vergangenheit durch seine Beteiligung an Produktionen wie der Mafia-Serie „Gomorrah“ umfassende Erfahrungen als Genre-Regisseur sammeln konnte, gewährt er in „Suburra“ wenig überraschend ebenfalls einen Einblick in dieses Milieu. In der Handlung, die der Regisseur über 135 Minuten hinweg mit komplexer Vielschichtigkeit ausbreitet und durch ausgiebige Verstrickungen ineinander verflechtet, beschäftigt sich Sollima aber nicht nur alleinig mit der organisierten Kriminalität und den mafiösen Strukturen der Unterwelt Roms. Durch die Berücksichtigung sowie Betrachtung sämtlicher Gesellschaftsschichten entwirft der Regisseur mithilfe der Buchvorlage des Richters Giancarlo De Cataldo und des investigativen Journalisten Carlo Bonini vielmehr eine ernüchternde, bittere Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Italiens, dessen politisch aufgeheiztes Klima sowie gesellschaftliche Stimmung des Aufruhrs und der Proteste stetig im Hintergrund der Ereignisse des Films mitschwingen.
    Gleichermaßen ambitioniert wie anspruchsvoll führt Sollima mit mehr als einer Handvoll entscheidender Figuren durch die Geschichte, um nach und nach Querverbindungen, Überschneidungen und Konflikte zwischen ihnen zu stricken, die sich schließlich zu einem realistischen, düsteren Gesamtporträt vereinen. Aufhänger der Geschichte ist ein Handlungsstrang rund um den Politiker Filippo Malgradi, der sich außerhalb seines Familienlebens mit Frau und Kind gerne mit Edelprostituierten und Drogen in anonymen Hotelzimmern vergnügt. Eine seiner Verabredungen, bei der er sich zwei Frauen kommen lässt, nimmt allerdings ein tragisches Ende, als eine der Frauen, die noch dazu minderjährig ist, an einer Überdosis stirbt. Nachdem der Politiker die Beseitigung der Leiche der anderen Prostituierten namens Sabrina überlässt, ruft die einen Freund an, der ihr behilflich sein soll.
    Dieser kriminelle Herumtreiber, der von allen nur „Stecher“ genannt wird, ist wiederum ein Familienmitglied der Anacletis. Der von Manfredi Anacleti geleitete Zigeuner-Clan zeichnet sich durch seine besonders brutalen Methoden aus und will bei den ganz großen Geschäften der anderen Mafia-Familien mitmischen. Als Malgradi schließlich von dem „Stecher“ mit belastenden Beweisen erpresst wird, beauftragt dieser den unberechenbaren Kleinkriminellen Aureliano damit, den Bruder von Manfredi Anacleti einzuschüchtern und abzuschrecken. Über den Geschehnissen scheint außerdem ein älterer Mann zu stehen, dessen Name nur als „Samurai“ bekannt ist und der als Bindeglied zwischen sämtlichen Kriminellen Roms zu vermitteln scheint, wobei er selbst auf ein gewaltiges Bauprojekt abzielt, für das er ein entscheidendes Votum von Malgradi benötigt und zudem Konflikte zwischen den verschiedenen Mafia-Familien so gut wie möglich in Schach halten muss.
    Über die erste Hälfte des Films erweist sich „Suburra“ als nicht gerade einfach zugänglich. Es dürfte für viele eine Weile dauern, bis man als Zuschauer alle Figuren für sich einordnen kann und ihre Beziehungen zueinander erkennt. Sollima erweist sich jedoch durchwegs als begnadeter Geschichtenerzähler, der sämtliche Einzelschicksale schlüssig in Einklang bringt und ebenso virtuos zwischen den verschiedenen Handlungssträngen hin- und herwechselt. So entsteht inmitten der brillant gefilmten Einstellungen, die Rom als dauerverregneten Abgrund zeigen, in dem die Nacht scheinbar nur selten dem Tag weichen will, und den tranceähnlichen Kompositionen der französischen Electro-/Dreampop-Band M83 ein begnadet formvollendeter Hybrid aus Neo-Noir, Mafia-Thriller, Sittengemälde und Polit-Drama.
    Indem der Regisseur impulsive Junkies der Unterschicht, Edelprostituierte, die sich beruflich nur in der Oberschicht Italiens bewegen, korrupte Politiker, labile Gangsterbosse, unterkühlte Mittelmänner und skrupellose Auftragskiller miteinander in Verbindung bringt und Beziehungen bis in die obersten Bereiche des Staates sowie den Vatikan spinnt, findet „Suburra“ nicht nur zu vereinzelten Spannungsmomenten, die sich in kompakt verdichteten Höhepunkten und gewalttätigen Zuspitzungen entfalten. Sollima zeichnet darüber hinaus ein von der Realität geprägtes Bild der italienischen Gesellschaft, in der sich klaffende Abgründe, eiskalte Machenschaften, mörderische Kalkulation und rücksichtslose Intrigen durch sämtliche Bereiche der Gesellschaft ziehen und schließlich am letzten Tag in der Geschichte des Films, an dem eine Art der Apokalypse stattfindet, nichts als abstoßender Pessimismus übrig bleibt, der dem Zuschauer wie kaltes Gift durch die Adern strömt.

    14
    • 7

      Ob es ihn völlig kalt ließe, ein Familienmitglied nach dem anderen unter die Erde bringen zu müssen, fragt Clover ihren Vater Aubrey. Der Grund dieses Satzes liegt im Tod von Clovers Bruder Harry verborgen, der durch eine Schrotflinte zu Tode kam. Zuvor fand auf der Farm, die der Vater seinem Sohn vermachen und ihm somit die gesamte Verantwortung übertragen wollte, eine Feier statt, bei der Harry von seinem Kumpel James tot im Badezimmer aufgefunden wurde. Clover erfährt von diesem Vorfall erst im Nachhinein, denn die Farm hat sie schon vor Jahren verlassen, um ein Studium der Tiermedizin zu beginnen und anschließend eine Karriere als Tierärztin einzuschlagen.
      Zu Beginn von Hope Dickson Leachs Langfilmdebüt „The Levelling“ kehrt die junge Frau notgedrungen an den Ort zurück, den sie vermutlich für immer hinter sich lassen wollte. Die ländliche Infrastruktur des weitläufigen Farmgrundstücks, das kürzlich von einer Flut erschüttert und in sichtliche Mitleidenschaft gezogen wurde, darf dabei als Metapher für das Familiengefüge der zentralen Figuren betrachtet werden. Neben dem Tod von Harry, bei dem die Meinungen zwischen einem unglücklichen Unfall und einem beabsichtigten Suizid auseinandergehen, hat Clover in Abwesenheit vor Jahren auch schon ihre Mutter verloren, wobei ihr Vater scheinbar stets darum bemüht ist, der Thematik des Sterbens und des Verlusts aus dem Weg zu gehen.
      Den drängenden Fragen seiner Tochter, die den eigenen Vater nur mit dessen Vornamen anspricht, kann Aubrey aber kaum noch ausweichen. Als es gilt, die Beerdigung des Verstorbenen zu arrangieren und gleichzeitig das zukünftige Schicksal der Farm auszuhandeln, die finanziell vor dem absoluten Bankrott steht, sieht sich Clover bei ihrer Rückkehr mit unbeantworteten Fragen, verschütteten Geheimnissen und unausgesprochenen Vorwürfen konfrontiert, die sich vor der Protagonistin auftürmen. Die wackligen Handkameraaufnahmen, die gelegentlich in die karge Szenerie der flachen, verschmutzten Ländlichkeit einbrechen, verdeutlichen dabei zusehends die unruhige, zerbrechliche Stimmung, die wie ein trister Nebelschleier über den Ereignissen hängt und droht, alles in Düsternis einzuhüllen.
      Durch das eindringliche Schauspiel von Ellie Kendrick und David Troughton, die Tochter und Vater überwiegend isoliert voneinander verkörpern und stumme Zweifel sowie innere Konflikte auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen, inszeniert die Regisseurin ein langsames Familiendrama, das im Kern von der Unfähigkeit zur Kommunikation geprägt wird. Auch wenn dieses Motiv schon in zahlreichen Filmen aufgearbeitet wurde und sich „The Levelling“ bezüglich der Handlungsstruktur, die auf einen klaren Höhepunkt am Ende hinausläuft, kaum von dramatischen Werken dieser Art unterscheidet, gelingt Leach ein ebenso differenzierter wie emotional mitreißender Umgang mit der schweren Last, die auf den Persönlichkeiten ihrer Figuren liegt.
      Ohne eindeutige Gewichtung der Schuld, die es für Clover und Aubrey in gemeinsamen Gesprächen und Auseinandersetzungen zu ergründen gilt, zeichnet die Regisseurin ein zurückhaltendes und trotzdem vielschichtiges Porträt dieser kaum mehr intakten, zerbrochenen Familie. Zu sich selbst und damit auch zu einer gewissen Gemeinsamkeit können die verbliebenen Familienmitglieder in Form von Vater und Tochter nur finden, wenn sie nicht aufhören, die Toten kommentarlos ruhen zu lassen, alte Wunden wieder aufkratzen, damit neue, beständigere Haut nachwachsen kann und sich eingestehen, dass der vergebungsvolle Schritt aufeinander zu wichtiger ist als die kalte, verbitterte Flucht voreinander. Im bewegenden Finale, in dem sich der prasselnde Regen synchron zu den Tränen der Hauptfiguren über eine Wiese ergießt und die Tochter ihren eigenen Vater kurz zuvor verzweifelt sucht, indem sie zum ersten Mal in diesem Film mehrfach „Daddy“ nach ihm ruft, lässt Leach den Zuschauer zumindest durch diesen ersten Schritt einen kleinen Funken Hoffnung schöpfen.

      8
      • 6 .5

        [...] Im Gegensatz zu fiktionalen Filmen wie Requiem for a Dream, Trainspotting - Neue Helden, Spun oder Heaven Knows What, die ebenfalls die Thematik des verheerenden Drogenmissbrauchs behandeln, fehlt in Black Metal Veins die allerletzte Distanz zwischen Zuschauer und Geschehen. In den oftmals klaustrophobisch wirkenden Szenen, die ausschließlich in Innenräumen gefilmt wurden, schildert der Regisseur den massiven Drogenkonsum in all seinen Facetten. Vielfach wiederholte Nahaufnahmen von Spritzen, die in Venen eingeführt werden, hält er ebenso ausführlich fest wie die Gesichtsausdrücke und körperlichen Reaktionen der Junkies, wenn diese immer wieder für eine kurze Zeitspanne in eine andere Welt zu entschwinden scheinen. Eine Form von Glorifizierung oder Verherrlichung findet in Valentines Film neben der anfänglichen Texteinblendung, die ausdrücklich vor den Auswirkungen des Konsumierens von Drogen warnt, aber zu keinem Zeitpunkt statt. Der Regisseur nutzt die für ihn bekannten Stilmittel, welche durchaus als kontrovers und fragwürdig betrachtet werden dürfen, viel mehr für ein immer wieder ins Bizarre verfremdete Porträt von Menschen, die zwischen stumpfer Monotonie, körperlichem und geistigem Extremverfall sowie offen ausgelebter Todessehnsucht zu tragischen Sklaven ihrer eigenen Sucht geworden sind. Mit aggressiven, frenetischen Jump Cuts, Unschärfeblenden und einem Sound-Design, bei dem sich tiefes Rauschen und kurze Einspieler von Black-Metal-Bandproben abwechseln, kreiert Valentine inmitten der authentischen Aufnahmen den surrealen Eindruck eines unangenehmen Traums oder Trips, der den Betrachter unfreiwillig fast schon zum Komplizen der Protagonisten macht und die abschreckende Wirkung der Drogen erfahrbar werden lässt. [...] Den deprimierenden, lähmenden Grundton, der sich aus der teilnahmslosen Lethargie der Junkies ergibt, durchbricht Valentine jedoch im späteren Verlauf gelegentlich durch Einstellungen, die vom aktiven Eingreifen des Regisseurs zeugen. Neben der ohnehin bewusst überstilisierten Machart sind einige Szenen gegen Ende, in denen auf brutalste Weise über die Stränge geschlagen wird, eindeutig gestellt. Der sinnlose Dauerrausch der Protagonisten, der hierbei in Bewusstlosigkeit sowie anschließender Vergewaltigung mit blutigen Folgen ausartet, könnte als bittere Kulmination aufgefasst werden, hinterlässt jedoch viel mehr den Eindruck von unstillbarem, verwerflichem Sensationalismus, der sich aus der Natur dieses Regisseurs scheinbar nicht entfernen lässt.

        9
        • 9

          „Tell you what... the truth is... sometimes I miss you so much I can hardly stand it.“

          Gewaltige Gefühlsausbrüche benötigen in Ang Lees „Brokeback Mountain“ kaum Worte, sondern äußern sich in innigen, durchdringenden Blicken und stürmischer Körperlichkeit. Als Ennis und Jack Anfang der 60er Jahre den gleichen saisonalen Job annehmen und einen Sommer lang die Schafherde ihres Vorgesetzten behüten sollen, versprechen die nachfolgenden Monate inmitten des rauen Westens der USA eher spröde Eintönigkeit. Das titelgebende Gebirge in Wyoming entwickelt sich für die beiden jungen Männer jedoch zu einem paradiesischen Rückzugsort, der trotz wechselhafter, mitunter extremer Wetterbedingungen sowie mangelnder Nahrungsvielfalt vorübergehend zur malerischen Postkartenidylle wird.
          Diesen Ausdruck greift der Regisseur später im Film wortwörtlich auf, wenn sich Ennis und Jack wiederholt Postkarten schicken, die der Brokeback Mountain als Motiv ziert. Zu diesem Zeitpunkt sind beide nicht mehr diejenigen, die sich bei der gemeinsamen Arbeitstätigkeit zuvor angenähert haben und der langsam entstehenden Liebe schließlich nachgaben. Lee inszeniert seine Hauptfiguren hierbei als zügellose Opfer ihrer eigenen Leidenschaft. Ennis und Jack sind sich tief im Inneren ihrer wahren Gefühle bewusst, doch die Gesellschaft, aus der sie entstammen und in der sie sich weiterhin bewegen, zeigt keine Toleranz für diese Form der Liebe zwischen zwei Männern.
          In den Bergen Wyomings, wo sie abseits der Außenwelt ungestört für sich sein können, entladen sich die angestauten Emotionen der Protagonisten früh in Situationen, in denen Ennis und Jack förmlich übereinander herfallen. Zwischen ungestümer Zärtlichkeit und ruppigen Raufereien werden sich die Protagonisten dem jeweiligen Gegenüber bewusst, indem sie der Macht ihrer Körper erliegen und sich ausschließlich von Temperament und Sinnlichkeit leiten lassen. Diese gebündelte Leidenschaft gilt es für beide wieder zu unterdrücken, als sie nach dem Ende der Saisonarbeit in ihre getrennten Leben zurückkehren.
          Jahre vergehen, in denen Ennis heiratet und zwei Töchter zeugt, während Jack die Tochter eines reichen Landmaschinenhändlers heiratet und mit ihr einen Sohn bekommt. Jahre, die in Lees Film nur einigen Szenen entsprechen, in denen das starke Liebesgefühl zwischen den Männern unversehrt konserviert und transportiert wird, bis sie sich schließlich wiederbegegnen und erneut kaum voneinander ablassen können. Es ist der einzigartige Kunstgriff der Montage, der dem Kino solche Momente ermöglicht, wie sie in „Brokeback Mountain“ immer wieder vorkommen. Gut 20 Jahre umfasst die gesamte Geschichte, die in diesem Werk knapp 135 Minuten entspricht.
          Lee lässt die Jahre teilweise im Minutentakt an seinen beiden Hauptfiguren vorbeiziehen, doch das Gefühl von unerfülltem Verlangen und stummem Begehren, mit dem sich Ennis und Jack ihren mühsam errichteten Fassaden traditioneller Familienwerte fügen, ist aufgrund der Montage durchwegs unverfälscht spürbar sowie vom fortschreitenden Lauf der Zeit unberührt. Mit eindringlicher Aufrichtigkeit und Bildern von faszinierender Schönheit widmet sich der Regisseur dieser Liebesgeschichte, in der die wahre Liebe zu selten ihren Platz finden darf.
          Auch wenn sich Ennis und Jack zweimal jährlich unter dem Vorwand verabreden, sie seien nur alte Freunde, die sich zum Fischen treffen, wagen sie sich in ihrem Verhältnis nicht über diese wenigen Begegnungen heraus. Die grundlegenden Motive des Western-Genres, die sich im Aussehen der wie Cowboys gekleideten Figuren, ihrem Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit sowie den weitläufigen Landschaftspanoramen spiegeln, unterläuft Lee dabei mit schmerzlicher Tragik. In „Brokeback Mountain“ bleibt die Liebe und der damit einhergehende Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit zwischen zwei Menschen unerfüllt, da Ennis und Jack in den starrförmigen Normen einer Gesellschaft gefangen sind, aus der sie eigentlich ausbrechen wollen und zugleich dem festen Glauben sind, sich dieser unter allen Umständen anpassen zu müssen.
          Heath Ledger und Jake Gyllenhaal haben selten besser geschauspielert als in diesem Film, doch neben den Hauptdarstellern ist es vor allem der Regisseur, der das Wesen der Liebe so kraftvoll und sensibel beschwört, wie es in den wenigsten Hollywood-Filmen der Fall ist. Der nach unterdrückten, aufgestauten Gefühlen in seinen Figuren forscht, wenn diese alleine mit einem Drink an der Bar oder im Diner vor einem Stück Kuchen das Haupt unter ihren Cowboyhüten senken, um sich zu verstecken. Und der selbst nach verpassten Chancen, falschen Entscheidungen und unlösbaren Konflikten an eine Liebe glaubt, die auch durch einschneidende Hindernisse wie den Tod irgendwie fortbestehen kann, obwohl es sie nicht geben darf.

          „I wish I knew how to quit you.“

          22
          • 7

            Die überforderte Rastlosigkeit, mit der sich die von Alice Lowe gespielte Ruth durch „Prevenge“ bewegt, wirkt nicht nur echt, sondern stammt vermutlich direkt aus der Lebensrealität der Hauptdarstellerin, Regisseurin und Autorin des Films. Während den Dreharbeiten, die gerade einmal 11 Tage umfassten, befand sich Lowe selbst im siebten Monat ihrer Schwangerschaft. Ein rund 70-seitiges Drehbuch hatte sie zuvor in nur einer Woche wie im Fieberwahn geschrieben. Dieser Entstehungsprozess, der von getriebener Spontanität, beschleunigten Drehbedingungen und persönlichen Belastungen geprägt war, ist dem fertigen Werk deutlich anzumerken und wirkt sich ganz entscheidend auf den ungestümen Charakter von „Prevenge“ aus.
            Schon der Auftakt, in dem die hochschwangere Ruth ein Geschäft betritt, in dem Vogelspinnen, Echsen und andere Reptilien in Terrarien zum Verkauf stehen, entwickelt durch die unruhige Kameraführung sowie Nahaufnahmen von verschiedenen Tieren ein Gefühl der Enge und Bedrängung. Das Gespräch, das die Hauptfigur mit dem Besitzer des Ladens führt, nimmt nach Minuten des Unbehagens allerdings ein ebenso jähes wie schockierendes Ende, als Ruth dem Mann mit einem Messer hinterrücks die Kehle durchtrennt.
            Es ist die erste, aber bei weitem nicht letzte Person, die ihr in diesem Film zum Opfer fällt. In „Prevenge“, der unkonkret zwischen tiefschwarzer Komödie nach britischer Art, halluzinatorischem Slasher und tragischem Charakterdrama pendelt, mordet Ruth nicht etwa nach eigenem Gewissen, sondern auf Anweisung ihrer ungeborenen Tochter. Die kindliche, hohe Stimme, die aus ihrem Bauch direkt durch ihren Kopf zu geistern scheint, ist das einzige, was offenbar noch zu Ruth durchdringt. Isoliert und verloren wirkt sie in der Wohnung, die sie sich früher mit ihrem Partner und Vater des Babys geteilt hat, bis dieser durch einen Kletterunfall ums Leben kam.
            Enthüllt wird die Tragödie um dessen Tod nur stückweise, in vagen, gelegentlich aufblitzenden Rückblenden, die über den Verlauf des Films verstreut sind und sich somit passend in den oftmals verunsichernden Handlungsfluss einfügen. Auch wenn dieser primär von Ruths Tötungsserie bestimmt wird, in der sich trockene, zynische Dialoge mit kaltblütigen, realistischen Morden abwechseln, schwingt im grotesken Ton von „Prevenge“ auch immer eine existenzialistische Schwere mit. Lowe, die Martin Scorseses „Taxi Driver“ als wesentliche Inspirationsquelle für ihr eigenes Werk benannte, verkörpert und inszeniert die Protagonistin einerseits als psychotische Killerin, bei deren Handlungen nie vollends ersichtlich wird, ob tatsächlich die Stimme ihres ungeborenen Babys zu ihr spricht oder ob sie womöglich von schizophrenen Wahrnehmungsstören befallen ist.
            Andererseits betont die Regisseurin ebenso die verzweifelte Opferposition, in der sich Ruth im siebten Monat ihrer Schwangerschaft befindet. Sicherlich von persönlichen Erfahrungen geprägt vermittelt sie einen Eindruck davon, wie es sich als schwangere Frau anfühlt, von etwas im eigenen Körper aus der allgemeinen Wahrnehmung verdrängt zu werden. Die stechenden Blicke, die sich nur noch auf den kugelrunden Bauch richten, der übervorsichtige Umgang, durch den man wie ein rohes Ei behandelt wird und die gesteigerte Aufmerksamkeit auf das ungeborene Kind, die die eigene Persönlichkeit zunehmend in den Hintergrund rückt und irgendwann fast vollständig verschwinden lässt. All diese Empfindungen vermischen und verdichten sich unbequem im Hintergrund in Lowes eigenwilliger Horror-Komödie, die immer wieder deutliche Bezüge zu Filmen wie „Rosemary’s Baby“, „Possession“ oder, speziell in der furchteinflößenden finalen Einstellung, „Invasion of the Body Snatchers“ erkennen lässt.
            Wenngleich „Prevenge“ aufgrund des leicht repetitiven Handlungsverlaufs manchmal in Eintönigkeit zu verfallen droht und Lowe aufgrund ihrer stürmischen, übereilten Herangehensweise nicht immer die richtigen Töne zwischen schriller Groteske, scharfer Satire und einfühlsamer Tragödie trifft, verfügt der Film aufgrund der Atmosphäre, die mit fiebrigen Schnittfolgen, surrealen Einstellungen und dem gelungenen Synthie-Score des Electro-Duos Toydrum regelmäßig ins Traumartige verfremdet wird, über eine nachhaltige Sogwirkung, durch die sich Lowes, im wahrsten Sinne des Wortes, furiose Kopfgeburt noch eine ganze Weile im Kopf des Zuschauers verankert.

            9
            • 6

              Will man sich die Handlungsmuster der bisherigen Marvel-Studios-Comicverfilmungen etwas vereinfacht vor Augen führen, genügt der Vergleich des Blicks auf eine Landkarte mitsamt Wegmarkierung. Für gewöhnlich entsprechen die Geschichten der überwiegend gleichförmig gefertigten Filme einer Marschroute von A nach B, die relativ stringent und geradlinig ohne Umwege beschreitet wird. Als Marvel-Formel wird dieses Konzept bezeichnet, dem sich Millionen von Zuschauern nach all den Jahren mit einer Sicherheit hingeben können, durch die sie Film für Film genau das bekommen, was sie sich von jedem neuen Werk aus der Produktionsschmiede von Kevin Feige erwarten.
              „Thor: Ragnarok“, der mittlerweile 17. Film des Marvel Cinematic Universe und zugleich dritte Solo-Auftritt des Donnergotts, dürfte abseits erwartungsgemäßer MCU-Normen im Vorfeld hauptsächlich aufgrund der Wahl des Regisseurs für milde Furore gesorgt haben. Mit Filmen wie „What We Do in the Shadows“ oder „Hunt for the Wilderpeople“ hat sich Taika Waititi in der Vergangenheit gewissermaßen als humoristischer Auteur behauptet, der durch seine spezielle Form von schrägen Offbeat-Einlagen, trockenhumorigen Dialogen und schwarzhumorigem Biss eine weit verbreitete Zuschauerschaft für sich gewinnen konnte.
              Die Frage, die sich im Zusammenhang mit Waititis Beteiligung an einem Marvel-Film ergab, lautete daher, wie ausgeprägt der neuseeländische Regisseur seinen eigenen Stil in eine Produktion retten konnte, deren Verantwortliche dafür bekannt sind, eigenwillige Filmemacher radikal einzuschränken und strikt an vorgegebene Bedingungen zu binden. Die Antwort auf diese Frage fällt erfreulich und ernüchternd zugleich aus.
              Betrachtet man den Film erneut wie eine mit Markierungen gekennzeichnete Wegbeschreibung von A nach B, dann entspricht Waititis Verständnis für das Erzählen einer Geschichte eher einer chaotischen Wanderung, die mit Weggabelungen und Abzweigungen gespickt ist. Was an „Thor: Ragnarok“, in dem es im Kern wieder einmal darum geht, dass ein ganzer Planet dem Untergang geweiht ist, auffällt, ist der Hang des Regisseurs, lineare Handlungsmuster zu verweigern und sich gleichzeitig verschrobenen Abschweifungen hinzugeben.
              Im ersten Film der „Thor“-Reihe bestand der Humor noch darin, den titelgebenden Superhelden in absurde Situationen zu verwickeln, die vor allem durch die Unterschiede zwischen Thors Heimatplaneten Asgard und den Gepflogenheiten der Menschen auf dem Planeten Erde für amüsante Momente sorgten. In „Thor: Ragnarok“ gerät der Donnergott nun überwiegend durch seine eigenen Aussagen und Handlungen zum Zentrum des Humors, indem Waititi das komödiantische Potenzial von Hauptdarsteller Chris Hemsworth so offensiv befeuert wie kein Regisseur vor ihm. Der 34-jährige Australier präsentiert sich nicht nur mit größeren Oberarmen als je zuvor, sondern auch mit einer Hingabe für alberne, dem Slapstick zugeneigte Ausreißer und Dialogkomik, die durch den Einsatz von Improvisation regelmäßig bewusst versch(r)oben wirkt.
              Waititis Dringlichkeit, lieber eine reinrassige Komödie als einen ernstzunehmenden Superheldenfilm zu inszenieren, überträgt sich neben der Hauptfigur aber auch auf beinahe alle anderen Figuren dieses Films. Thors Bruder Loki, der in der Vergangenheit noch zu den großen Bösewichten zählte und sich lediglich durch Tom Hiddlestons Charisma nach und nach als eine Art Anti-Held entpuppte, dient dem Regisseur beispielsweise ebenfalls als reiner Spielball, mit dem Waititi die streitsüchtigen Brüder aufeinanderprallen, gemeinsam agieren oder in verspielter „Tom and Jerry“-Manier gegeneinander intrigieren lässt.
              Im zweiten Drittel des Films strandet Thor schließlich auf dem Schrottplaneten Sakaar, auf dem er nicht nur auf die von Tessa Thompson mit verschlagenem Verve gespielte Valkyrie trifft, die sich neben ihrer Tätigkeit als Kopfgeldjägerin unentwegt besäuft, sondern vom Herrscher des Planeten, den Jeff Goldblum exzellent als Jeff Goldblum spielt, als Gladiator in eine Arena verbannt wird. In diesen Szenen, die zu den besten des Films zählen, vergisst man fast vollständig, dass die Göttin des Todes Hela auf Asgard droht, den gesamten Planeten zu unterwerfen und ihr dort errichtetes Königreich weiter auszubreiten. Unglücklicherweise ist „Thor: Ragnarok“ letztendlich aber immer noch ein Film, der inhaltlich in eine grobe MCU-Schablone eingepresst werden musste. Neben überflüssig eingestreuten Verbindungen zu anderen Superhelden führt dieser Umstand zu einem massiven Zwiespalt zwischen Waititis eigenwilligen Comedy-Ambitionen und der weitestgehend düster angelegten Rahmenhandlung.
              Da sich der Regisseur viel lieber auf Gags stürzt, die er aus knallig übersteuerten Farbexplosionen der verschiedenen Settings, charmant entworfenen Kreaturen und dem menschlichen Figurenpersonal destilliert, verkommt sämtliches Konfliktpotenzial der Handlung zum immer wieder absichtlich sabotierten Dauergelage. Dramatische Zwischentöne, die Waititi gelegentlich anschlägt, werden im darauffolgenden Moment schlagartig wieder von der nächsten Pointe verdrängt, was beispielsweise sämtliche Szenen auf Asgard mit der, von Cate Blanchett immerhin herrlich fies gespielten, Gegenspielerin zum unbeholfenen Lückenfüller-Material degradiert.
              Das Dilemma der Marvel-Produktionen, selten bis nie einen erinnerungswürdigen oder überhaupt würdigen Bösewicht zu kreieren, wiederholt sich somit auch in diesem Film. Dass Waititi von Anfang an verdeutlicht, dass hier dramaturgisch so gut wie gar nichts auf dem Spiel steht, macht das 130-minütige Werk innerhalb des MCU zwar zu einem erfreulich kurzweiligen Ausreißer voller gelungener Einzelmomente in Form von charmanten, teilweise wirklich lustigen Gags, markanten Nebenfiguren, exzessiv gestalteten Schauplätzen und einer grundsätzlichen Freude am ausgelassenen Fabulieren. Durch die am Rande stets erkennbare, formelhafte Handlungsstruktur, die der Regisseur nie vollständig mit seiner anarchischen Attitüde aufzubrechen vermag, fühlt sich „Thor: Ragnarok“ trotzdem wieder nur wie ein frischer Kompromiss an, der nicht vollends geglückt ist und Zuschauer unbedingt daran erinnern soll, was für einen Film sie sich gerade ansehen.

              15
              • 5

                [...] In dieser Hinsicht legen Regisseur Arne Feldhusen (Stromberg: Der Film) und Drehbuchautorin Mizzi Meyer mit der ersten Episode einen eindrucksvollen Auftakt hin, der die gewohnten Markenzeichen der Serie wie trockenen Humor, verschrobene Situationen und ernste Untertöne, welche mitunter existenzialistische Facetten berühren, in sich vereint. In Sind Sie sicher? verschlägt es Schotty in eine Consultingfirma, wobei der Tatortreiniger bei seiner Ankunft über den Beruf der Unternehmensberatung wenig bis gar nichts weiß. Als er die Überreste eines Mitarbeiters beseitigen will, der sich an seinem Arbeitsplatz die Pulsadern durchgeschnitten hat, wird Schotty vom Chef der Firma in ein Gespräch verwickelt, das recht schnell ungemütliche Ausmaße annimmt. Mit genüsslichem Humor und gleichzeitig abschreckender Präzision führt die Episode sowohl den Tatortreiniger als auch den Zuschauer in eine eiskalt durchkalkulierte Geschäftswelt, in der der Mensch längst zur austauschbaren Einheit verkommen ist und selbst die Minuten, die für den Gang zur Toilette benötigt werden, als variabel einteilbares Zeitguthaben verwaltet werden. Daneben entspinnt sich im Kern der Episode ein unterhaltsames Psycho-Duell zwischen dem Chef des Unternehmens, der Schotty scheinbar einem seiner Evaluationsverfahren unterzieht, und dem Tatortreiniger, der sich nicht sicher ist, ob er im Auftrag seines eigenen Chefs von dem Unternehmensberater geprüft wird oder ob dieser nur ein sadistisches Spiel mit ihm treibt. Im Gegensatz dazu entpuppt sich die zweite Episode Özgür direkt im Anschluss als herbe Enttäuschung, die den fortlaufenden Abwärtstrend dieser sechsten Staffel einleitet. An einem Tatort in einer ländlichen Ferienpension trifft Schotty auf die hochschwangere Besitzerin Silke Hansen, die ihr erstes Kind bereits in der darauffolgenden Woche erwartet. Nachdem die Autorin anfangs bemühte Verweise auf die komplexen Ansichten und Differenzen zwischen den verschiedenen Geschlechtern auffährt, scheitert die Episode schließlich an einem Diskurs über die Bedeutung von Namen im Kontext der heutigen Gesellschaft. Die zentrale Pointe besteht folglich nur darin, dass die deutsche Pensionsbesitzerin ihr Kind Özgür nennen will, um es in der von Vorurteilen geprägten Gesellschaft von vornherein zu etwas Besonderem zu machen. Trotz des Auftritts von Gastdarstellerin Sandra Hüller (Toni Erdmann) verkommt Özgür so zu einer müden, auf Episodenlänge ausgedehnten Debatte, die weder zu einem zielführenden Ergebnis kommt, noch durch humorvolle Einschübe aufgelockert wird. Ebenso blass und enttäuschend ist auch die dritte und letzte Episode Schluss mit Lustig, in der Schotty im Kleinkunstverein bei der Beseitigung von Überresten einer Party einem Mann begegnet, der sich als Clown über die Runden schlägt. Als er Schotty erstmals einen neuen Teil seines Programms vorführt und von diesem in extrem direkter Art mitgeteilt bekommt, dass er seinen Beruf wohl verfehlt hat, stürzt er in eine tiefe Sinnkrise. Von nun an liefern sich Schotty und der Clown wechselnde Wortgefechte, in denen sich die beiden Männer nach und nach mit der Bestimmung ihres eigenen Lebens sowie der Zufriedenheit ihrer Berufung auseinandersetzen. Trotz vereinzelt humorvoller Momente versinkt auch diese Episode zu schnell in repetitiven Dialogscharmützeln, die eine klare Dramaturgie vermissen lassen und am Ende zu einem eher unvollendeten Abschluss führen. [...]

                2
                • 7

                  [...] Schon der Einstieg in die erste Staffel von This Is Us gibt dem Zuschauer einen unmissverständlichen Eindruck davon, was ihn in den folgenden 18 Episoden erwartet. Begleitet werden die anfänglichen Montagen aus dem Leben verschiedener Menschen von Sufjan Stevens‘ Song Death with Dignity. Wer mit den Stücken des amerikanischen Singer-Songwriters vertraut ist, weiß, dass dieser in der Lage ist, über die Länge eines einzelnen Songs hinweg tiefsitzende Gefühle freizusetzen, die einen noch eine ganze Weile nach dem Hören verfolgen. Stevens‘ Kompositionen sind daher ideal dazu geeignet, emotionale Höhepunkte, auf die ein Film oder eine Serie nach behutsamen Entwicklungen zusteuert, mit einer Wucht zu unterlegen, die den Betrachter mitten ins Herz trifft. Die von Showrunner Dan Fogelman (Danny Collins) erdachte Serie zählt hingegen nicht zu jenen Produktionen, die durch subtile Charakter- und Handlungsentwicklungen zu rar gesäten Momenten voller Trauer und Schmerz, aber auch Hoffnung und Glück führen. This Is Us zielt vielmehr in beinahe jeder einzelnen Szene auf den maximal möglichen Effekt ab und verlangt dem Betrachter als Tour de Force wechselhafter Stimmungslagen die gesamte Bandbreite an spürbaren Gefühlen und Reaktionen ab. [...] Es sind bittere Schicksalsschläge, verheerende Tragödien, harte Dramatik und als Kontrast dazu süßlicher Kitsch in Form von sanften Wendungen sowie hoffnungsstiftenden Dialogen, womit die Autoren Zuschauer bereits in den ersten beiden Episoden dieser ersten Staffel konfrontieren. Einen unbeschwerten Zugang zu This Is Us werden nur diejenigen finden können, die durchaus angebrachte Abneigungen gegenüber den dargebotenen Stereotypen und Klischees ablegen und sich ganz dem gefühlsbetonten Rhythmus dieser Familiensaga hingeben. [...] So sehr sich die Serie mit ihren vielen Montagen, in denen die Gefühle des Zuschauers mithilfe von Akustikgitarren-Melodien, Nahaufnahmen von Tränen, die langsam über Wangen von Gesichtern rollen, oder einem Lächeln, das sich selbst in hoffnungslosen Situationen als trostspendender Hoffnungsschimmer abzeichnet, förmlich herausgepresst werden sollen, als zutiefst manipulativ aufdrängt, so wirkungsvoll ist dieser Ansatz in zahlreichen Einzelmomenten, die den Zuschauer mitreißen, aufwühlen oder selbst immer wieder zu Tränen rühren. Mit der Unterstützung eines exzellent aufspielenden Ensembles, das sich mühelos mit dem Cast zahlreicher geliebter sowie prämierter Serien-Schwergewichte messen lassen kann, entwickelt This Is Us gerade aufgrund der vermehrt naiven Erzählweise, die frei von jeglichem Zynismus und in vorbildlich konstruierter Manier dem Gefühlvollen, Leidenschaftlichen, Deprimierenden und Optimistischen zugleich verschrieben ist, ein bewegendes Panoptikum von Stimmungen und Geschichten. Geschichten, die an den unschätzbaren Wert der kleinen Momente des Alltags plädieren, an denen es festzuhalten gilt, die ein fürsorgliches Miteinander als höchste Konstante lobpreisen, die selbst unmögliche Distanzen und Hindernisse überwindet, und die inmitten des regelmäßigen Chaos, das unser Leben manchmal darstellt, dazu anhalten, diejenigen am meisten zu schätzen, die uns in sämtlichen Lebenslagen so selbstlos zur Seite stehen. [...]

                  9
                  • 6 .5
                    über Creep 2

                    Eine kleine Warnung vorab: Wer Patrick Brices "Creep" von 2014 noch nicht gesehen hat und den Film unbedingt möglichst unvoreingenommen sehen möchte, sollte die nachfolgende Kritik zu "Creep 2" lieber auslassen und erst mit Kenntnis von Teil 1 lesen.

                    Mit seiner angenehm verunsichernden Horror-Groteske „Creep“ hauchte Regisseur Patrick Brice dem totgeglaubten Found-Footage-Film zumindest etwas neues Leben ein. Das minimalistische Zwei-Personen-Stück, in dem Multitalent Mark Duplass und Brice selbst die Hauptrollen übernahmen, fügte der abgenutzten, verwackelten Low-Budget-Ästhetik des Subgenres auf der inszenatorischen Ebene keine wirklich neuen Impulse hinzu. Durch die Vermengung von schrägem Offbeat-Humor, psychologischen Spannungen, offensiven Schockmomenten und absurden Einlagen schufen Brice und Duplass, die das Drehbuch gemeinsam ausarbeiteten und während den Dreharbeiten viel improvisierten, aber trotzdem einen eigenwilligen Hybrid verschiedenster Stimmungslagen, der in erster Linie durch seine garstige Unberechenbarkeit überzeugen konnte.
                    Der drei Jahre später veröffentlichten Fortsetzung „Creep 2“ geht im Voraus logischerweise der Überraschungseffekt rund um die von Duplass gespielte Figur abhanden. Selbst diejenigen, die den Vorgänger nicht gesehen haben sollten, bekommen in einem wunderbar beklemmenden Prolog umgehend demonstriert, dass sich hinter der Fassade der sympathisch auftretenden Hauptfigur ein geisteskranker Serienmörder verbirgt. Brice setzt in seinem Sequel trotz erneut altbewährter Found-Footage-Optik stattdessen neue Schwerpunkte der urkomischen und zugleich absurden Unvorhersehbarkeit, indem er von Anfang an mit offenen Karten spielt und das psychopathische Spiel des Killers auf eine neue Ebene hebt.
                    An die Stelle von Videofilmer Aaron aus Teil 1, dessen Name nun Duplass‘ Figur angenommen hat, tritt in „Creep 2“ ebenfalls eine Videofilmerin namens Sara. Die junge Collegestudentin will Geld für die Graduate School ansparen, indem sie Videos für eine YouTube-Webserie namens „Encounters“ dreht. Hier folgt Sara Verabredungen von Fremden, die sie über die berühmte Anzeigenwebsite „Craigslist“ kennenlernt, um den meist verschrobenen Kontaktpersonen ihre ausgefallenen Wünsche vor der Kamera zu erfüllen.
                    Aufgrund der miserablen Klickzahlen ihrer Videos möchte die Studentin das Projekt mit einem letzten Video beenden. Für das große Finale folgt sie der Einladung von Aaron, der ihr 1000 Dollar anbietet, wenn sie ihn 24 Stunden lang für eine Dokumentation filmt. Nachdem die Videofilmerin in Aarons Haus eintrifft, entwickelt sich „Creep 2“ rasend schnell zu einer regelrechten Achterbahnfahrt durch die instabile Psyche des Serienmörders, wenn Aaron Sara direkt zu Beginn ihres Kennenlernens gesteht, dass er 39 Menschen auf dem Gewissen hat und nur das Töten seinem Leben einen Sinn verleiht.
                    Der Grund für Aarons Hilferuf scheint hingegen nicht darin zu bestehen, die junge Frau zu seinem 40. Opfer machen zu wollen, sondern mithilfe einer Dokumentation über sein tiefstes Inneres einen Ausweg aus seiner derzeitigen Sinnkrise zu finden. Durch die Kombination von Aarons Midlife-Crisis und Saras raschem Einverständnis, das sicherlich auch daraus resultiert, dass sie dessen Aussagen als Hirngespinste eines schrägen Vogels abstempelt, gerät das Sequel verstärkt zur schwarzen Komödie.
                    Im Rahmen eines Podcast-Gesprächs bezeichnete Brice „Creep 2“ als seine persönliche Variante von Sam Raimis „Evil Dead II“, was sich vor allem hinsichtlich des offensiveren Humors bemerkbar macht, der sich der inhaltlichen Struktur des Vorgängers bis ins kleinste Detail bewusst ist und dessen Plot-Mechanismen verdreht und überhöht. Schockmomente erzeugt der Regisseur auf geradezu subversive Weise prinzipiell nur noch über Jumpscares, die so antiklimatisch eingesetzt werden, dass sie jegliche Wirkung verlieren.
                    Das Sequel fokussiert sich viel eher auf das Zusammenspiel zwischen Duplass, der hier schauspielerisch erneut sämtliche Register zieht und noch unkontrollierter als im Vorgänger agiert, sowie Desiree Akhavan, die mit ihrer Performance geschickt verwischt, ob Sara von Aarons psychopathischer Ausstrahlung angezogen wird und sich ebenfalls auf die dunkle Seite ziehen lässt oder alles nur für einen irren Scherz hält. Einem irren Scherz mit bösen Pointen, der ständig eine andere Richtung einschlägt und potentielle Spannungen unentwegt in abstruser Komik explodieren lässt, kommt auch „Creep 2“ gleich, der den Vorgänger sinnvoll bereichert und gespannt auf den bereits angekündigten „Creep 3“ warten lässt, den Brice im Stil von „Army of Darkness“ vollends aus dem Ruder laufen lassen will.

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                      Die besinnliche Weihnachtsstimmung zu Beginn von „Black Christmas“ wird schnell von etwas überschattet, das der Betrachter nicht zu Gesicht bekommt, sondern aus dessen Perspektive verfolgt. Regisseur Bob Clark eröffnet sein Werk mit Bildern eines festlich geschmückten Hauses, die zusätzlich von klassischen Weihnachtsliedern begleitet werden. Neben den bunten Lichterketten und den prägnanten Melodien von „Silent Night, Holy Night“ oder „Jingle Bells“ werden die Feierlichkeiten einer weiblichen Studentenverbindung parallel von jemandem infiltriert, der sich unbemerkt einen Weg in das Innere des Hauses bahnt.
                      Schon der Auftakt von „Black Christmas“ erweist sich stilistisch wie atmosphärisch als dicht komponierter Höhepunkt eines Films, der sich zum Mitbegründer eines der bedeutendsten Subgenres des Horrorfilms entwickeln sollte. In beunruhigenden POV-Einstellungen drängt Clark den Zuschauer in die Position des Unbekannten, der mit beängstigender Bestimmtheit durch Teile des Hauses schleicht, bis ihm eine der Studentinnen schließlich in die Falle geht und durch Plastikfolie ihr grausames Ende findet.
                      Nachdem der Rest der jungen Frauen in Unkenntnis über den Tod einer ihrer Freundinnen zudem von einem bizarren Telefonanruf in Angst und Unsicherheit versetzt wird, was der Regisseur prägnant veranschaulicht, indem die Kamera in Nahaufnahmen an den Gesichtern der Studentinnen entlangfährt, ist längst ein beeindruckend inszeniertes Klima des intensiven Horrors entstanden. Über die gesamte Laufzeit hinweg erweist sich „Black Christmas“ fortlaufend als regelrechte Blaupause des weitreichend bekannten Slasherfilms, in der sämtliche Elemente und Markenzeichen, die anschließend unzählige Male kopiert oder leicht variiert wurden, zu erkennen sind.
                      Die Faszination von Clarks Film besteht jedoch darin, wie unverbraucht die einzelnen Versatzstücke ineinandergreifen und mit was für einer stilsicheren Souveränität dieser einflussreiche Grundstein, obwohl das Subgenre hier gewissermaßen noch in den Kinderschuhen steckt, bereits einen absoluten Höhepunkt markiert. Obwohl der Regisseur die vergleichsweise unblutigen Mordsequenzen behutsam verstreut und viel Zeit mit den Ermittlungen der eingeschalteten Polizei sowie den weiblichen Figuren der Studentenverbindung verbringt, thront der gesichtslose, psychopathische Killer als bedrohliche Präsenz über dem Großteil der Szenen.
                      Durch spielerisches Geschick kombiniert Clark ikonische Bausteine wie den psychotischen Telefonterror oder das „Final Girl“, das als einzige überlebt und dem Killer schlussendlich die Stirn bieten muss, ästhetisch versierte Kamerafahrten, die Flure und Räume der Studentenverbindung mit langsamer Spannung aufladen, sowie die Gestalt des Killers als identitätslosen Schrecken, der in repressiver Manier als Eindringling in die Unversehrtheit der Frauen auf den Dachboden verbannt ist. Trotz der einige Jahre zuvor ins Leben gerufenen, italienischen Gialli, die sicherlich ebenfalls ihren Anteil zur Formung des Slasherfilms beitrugen, wie er heutzutage wahrgenommen wird, markiert „Black Christmas“ ein beeindruckendes Frühwerk des Subgenres, in dem effektive Zutaten puren Horrors sowie ikonische Bausteine derart aufregend kombiniert werden, als wäre es tatsächlich das allererste Mal.

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                      • 7

                        [...] In seiner Romanverfilmung Lady Macbeth drückt Regisseur William Oldroyd die anfängliche Ohnmacht seiner zur unentwegten Passivität verdammten Protagonistin vorwiegend durch die Inszenierung aus, indem er sie in einzelnen Szenen wiederholt an den äußeren Rand der Einstellungen drängt. [...] Lady Macbeth wird regelmäßig von solchen auffällig komponierten Einstellungen dominiert. In diesen fängt Oldroyd ein vordergründig minimalistisches Ereignis mit statischer Gelassenheit ein und setzt dabei mit kleinen Details wie ein Lächeln, das sich für Sekundenbruchteile auf einem Gesicht in der Ecke des Raumes abzeichnet, oder ein schweres Röcheln aus dem unsichtbaren Nebenraum des Bildabschnitts für einen kurzen Moment ganze Schwälle von Emotionen in den ansonsten kühlen, reduzierten Schauplätzen frei. [...] Gemeinsam mit dem fantastischen Schauspiel von Hauptdarstellerin Florence Pugh (The Falling), die nach ihrer Leistung in diesem Film sicherlich einer noch größeren Karriere als gefragte Schauspielerin entgegenblicken dürfte, inszeniert der Regisseur die Geschichte gleichermaßen als feministisch geprägtes Befreiungsmanifest, in dem Katherine mehr und mehr zur dominierenden Größe innerhalb des Anwesens heranwächst, wie als zunehmend bedrohliche Betrachtung wechselhafter Machtverhältnisse. Während bereits der Titel des Films eine offensichtliche Verbindung zu den Werken von William Shakespeare andeutet, entwickelt sich Lady Macbeth durch das präzise Ausloten von zwischenmenschlichen Abgründen, unstillbarem Verlangen und rasender Eifersucht zu einer bitteren Tragödie shakespearschem Ausmaßes, in der kaltblütige Morde und schwere Intrigen das zerrüttete Porträt moralisch verwerflicher Seelengräber vervollständigen. [...]

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                        • 7 .5

                          Wer Terrence Malicks Wunderwerk „The Tree of Life“ einmal gesehen hat, wird gewisse Szenen aus dem Film vermutlich nie wieder vergessen haben. Neben den faszinierenden Themen und der alles überstrahlenden Hingabe, mit der der Regisseur sein Werk in einer meisterhaften Bildgewalt inszenierte, dürfte es vor allem die ebenso berüchtigte wie umstrittene „Schöpfungssequenz“ sein, die sich beim Betrachter nachhaltig einbrennt. Zusammen mit der Special-Effects-Legende Douglas Trumbull, der an Filmen wie „2001: A Space Odyssey“ und „Blade Runner“ beteiligt war und den Malick extra für „The Tree of Life“ aus dem Ruhestand zurückgeholt hatte, schuf der Regisseur eine betörende, hypnotische Symphonie von Bildern und Tönen. In dieser führt Malick bis an den Ursprung des Universums zurück und zeigt die Entstehungsgeschichte der Erde und der ersten Lebensformen mit einer gewagten Mischung aus wissenschaftlichen Ansichten sowie religiösen Zitaten, bei der sich Auszüge aus dem Buch Hiob neben computeranimierten Dinosauriern einfinden.
                          Was manche als größenwahnsinnigen Fremdkörper innerhalb der eigentlichen Handlung abstempelten, gerät in Malicks Dokumentation „Voyage of Time: Life’s Journey“, die der Regisseur erstmals bereits in den 70er Jahren realisieren wollte, zum Hauptthema des Films. Auch wenn der überaus zurückgezogen lebende, öffentlichkeitsscheue Regisseur im Verlauf seiner Jahrzehnte umfassenden Karriere bis zur Veröffentlichung von „The Tree of Life“ im Jahr 2011 nur eine Handvoll Filme drehte, könnte man Malick seitdem fast schon als Workaholic bezeichnen. Mit „To the Wonder“, „Knight of Cups“ und „Song to Song“ hat er von 2011 bis 2017 drei weitere Spielfilme gedreht, die allesamt von einem radikalen Stil geprägt waren, der überwiegend nur noch glühende Verehrer des Ausnahmeregisseurs erreichten.
                          Seine Dokumentation „Voyage of Time: Life’s Journey“, die vermutlich irgendwann dazwischen in zwei verschiedenen Fassungen fertiggestellt wurde, markiert in der längeren, 90-minütigen Version allerdings noch einmal so etwas wie die verdichtete Essenz der Schlüsselmotive aus Malicks Schaffen und gleichzeitig eine ausgiebige Erweiterung der „Schöpfungssequenz“. Bis auf das nachträglich eingefügte, eher überflüssige Voice-over von Cate Blanchett, deren kurze Stimmeinsätze in gewohnt sinnsuchender Manier an eine Mutter gerichtet sind, die als Mutter Erde aufgefasst werden darf, lässt der Regisseur ausschließlich die Bilder für sich sprechen.
                          Es sind erneut Bilder, wie man sie womöglich noch nie gesehen hat. Ein weiteres Mal hat sich Malick Unterstützung von Trumbull und zusätzlich Dan Glass geholt, der an den Special-Effects der „Matrix“-Trilogie beteiligt war, um Impressionen zu kreieren, in denen das künstlich Erschaffene auf verblüffende, nahezu untrennbare Weise mit dem Realen verschmilzt. Wie ein leidenschaftliches, neugieriges Kind gibt sich der Regisseur hierbei dem Wunder des Lebens hin, das er einerseits retrospektiv aus der endlosen Schwärze des Nichts entstehen lässt und andererseits auch in der Gegenwart ergründet, wo die Kamera an Obdachlosen vorbei durch Armenviertel führt und spät im Film über das pulsierende Lichtermeer einer Großstadt schwebt.
                          An den gewaltigen Kontrasten zwischen der weitläufigen Kargheit sowie bedächtigen Ruhe aus grauer Vorzeit und dem zivilisierten Treiben der Neuzeit ist Malick ebenso interessiert wie an kleinen Details, an denen er im Gegensatz zu den zahlreichen Totalen immer wieder verweilt. Wie ein Magier, hinter dessen Tricks man als Zuschauer nie kommt, inszeniert er sein Werk als sinnliche Abfolge audiovisueller Kunststücke, auf die sich Malick-Skeptiker aufgrund der schwelgerischen Natur vermutlich erneut nur schwer über die gesamte Laufzeit einlassen können.
                          Reduziert auf die pure Kraft der Bilder und Töne, ohne irgendeine Form von Handlungsstruktur, Dialoge oder gezielt vor der Kamera eingesetzte Schauspieler, ist „Voyage of Time: Life’s Journey“ eine majestätisch zelebrierte, mit sinnlicher Hingabe vollführte Huldigung und zugleich Erkundung des Lebens und der Schöpfung, die ihren eigenen Schöpfer wiederum weiterhin als einen der größten Poeten des Kinos ausweist, der in Bildern träumt, in Tönen denkt und mit der Zusammenführung von beiden Elementen unvergleichliche Leinwand-Gedichte zaubert.

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                          • 7 .5

                            [...] Sichtlich teilnahmslos und doch wie eine Abhängige doppelklickt sich Ingrid Thorburn zu Beginn des Films durch ein gepostetes Instagram-Foto nach dem anderen, um den Frauen, der sie auf der Online-Plattform folgt, ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Ingrid betrachtet die Personen hinter den Profilen nicht mehr nur wie herkömmliche Menschen, die einem jederzeit auf der Straße begegnen könnten, sondern wie höhergestellte Lebensformen, denen die junge Frau so nah wie möglich kommen will. [...] Bereits mit diesen anfänglichen Szenen legt Spicer die grundlegenden Themen seines Werks offen. In Ingrid Goes West setzt sich der Regisseur mit Celebrity-Obsession, Gefahren des Personenkults sowie den Mechanismen moderner Social-Media-Technologien auseinander. Gerade Letzteres wird zum Schlüsselelement dieses Films, der ebenso treffsicher wie drastisch aufzeigt, wie den Nutzern größtmögliche Nähe zu ihren Idolen vorgetäuscht wird, während naive Träume und hohe Erwartungen bei einer realen Begegnung plötzlich wie Seifenblasen zerplatzen würden. [...] Die Versuche der Protagonistin, in Venice auf ihr großes Idol zu treffen und eine Freundschaft mit Taylor zu schließen, inszeniert Spicer durch die gelungene Vermischung leichter Fremdschäm-Momente und bissiger Verwicklungen als schwarze Komödie, die immer stärker in noch dunklere Gefilde abzurutschen droht. Als es Ingrid mithilfe einer gezielten Manipulation gelingt, ein freundschaftliches Verhältnis zu Taylor und ihrem Künstler-Ehemann Ezra aufzubauen, pendelt Ingrid Goes West fortlaufend zwischen einer treffsicheren Zeitgeist-Satire, in der künstlich aufrechterhaltene Fassaden, verzweifelte Notlügen und illusionäre Vorstellungen zur sicheren Katastrophe führen, und einem einfühlsamen Drama, das seine Figuren nicht nur vorführt, sondern genauso ernst nimmt. Aubrey Plaza (Life After Beth), die vermutlich noch nie besser gespielt hat als hier, verleiht ihrer unberechenbaren, ständig zwischen unterschiedlichsten Stimmungslagen schwankenden Hauptfigur dabei ebenso bizarre Wesenszüge wie einen überaus tragischen Kern. Durch diesen entpuppt sich Ingrid schließlich als einsame, verletzte Frau, die in ihrer tiefen Verzweiflung nur nach jemandem sucht, bei dem sie ihr eigenes Dasein vergessen und sich wieder verstanden fühlen darf. Als genauso geglückte Besetzung erweist sich Elizabeth Olsen (Wind River), die in der Rolle von Taylor Sloane zunächst typische Ideale der glatten, oberflächlichen Social-Media-Prominenz verkörpert, bis auch bei ihrer Figur irgendwann die Maske fällt. Als präzises, unterhaltsames und zugleich erschütterndes Porträt einer Internet-Kultur, die der Regisseur als giftigen Albtraum der labilen, aufmerksamkeitssüchtigen sowie mitunter bedauernswerten Menschen hinter den Nutzerprofilen interpretiert, möchte man „Ingrid Goes West“ spätestens nach seiner eindringlichen Schlusspointe, die mit vergnüglicher Boshaftigkeit im Gedächtnis bleiben wird, sein Herz schenken. Am besten per Doppelklick, dann direkt weiter zum nächsten Post. [...]

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                            • 7 .5

                              [...] Mithilfe von Interviews, in denen Heather, Lisa und Daniel vor der Kamera Tätigkeiten und Erfahrungen aus ihrer beruflichen Vergangenheit schildern, entwirft die Regisseurin ein diskussionswürdiges, zwiespältiges Bild einer Nation, die sich im Besitz einer mächtigen Technologie befindet, den moralisch vertretbaren Umgang damit aber nicht beherrscht. Kennebeck geht es dabei weniger um die blanken Zahlen der durch Präventivschläge verursachten Todesopfer, die vorwiegend unter der Amtszeit von Barack Obama als 44. Präsident der Vereinigten Staaten entstanden sind. Viel mehr rückt sie in ihrer Dokumentation menschliche Einzelschicksale in den Vordergrund, um die Auswirkungen des Drohnenkriegs auf zwei verschiedenen Seiten zu beleuchten. Anhand der drei Whistleblower, die sich jeweils mit unterschiedlichen Konsequenzen ihrer Taten auseinandersetzen müssen, finden so abstrakte Prozesse wie beispielsweise ein aus der sicheren Distanz ausgeführter Militärangriff, bei dem auch kleine Kinder vor den Augen ihrer Eltern von Bombenexplosionen zerfetzt werden, ein zutiefst humanistisches Gegengewicht. Die Regisseurin entwirft auf der Seite der amerikanischen Whistleblower brüchige Porträts vernarbter Seelen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, durch die sie auch Jahre nach dem Quittieren ihres Dienstes noch von Bildern und Tönen verfolgt werden, denen sie tagtäglich ausgesetzt waren. Genauso geht es aber auch um Schuldgefühle und den damit einhergehenden Drang, eine Form von Absolution für vergangene Handlungen zu ersuchen, um das eigene Gewissen zumindest ein Stück weit zur Ruhe kommen zu lassen. Einen eindringlichen Umgang mit dem Schicksal der Betroffenen findet Kennebeck auch auf der Gegenseite, wenn die Regisseurin Lisa bei einer Reise nach Afghanistan begleitet, wo sich die Air-Force-Veteranin mit Überlebenden von Drohnenschlägen trifft. Auch in diesen Szenen, in denen unter anderem ein Mann zu Wort kommt, der durch Angriffe eines seiner Beine verloren hat, führt die Dokumentation erneut von äußerlich sichtbaren Schäden zu inneren Befindlichkeiten, die vom Verlust eines Teils der Seele zeugen. Anstelle einer Verdammung moderner Technologien stellt National Bird - Wohin geht die Reise, Amerika? somit eher einen Appell an den verantwortungsbewussten Umgang mit dieser dar und erweist sich aufgrund des ständigen Bezugs zu Einzelschicksalen als Plädoyer für eine auf humanistische Aspekte bedachte Betrachtungsweise, bei der der Wert des Menschen über abstrakte Prozesse, bürokratischen Irrsinn oder rücksichtslose Kurzschlussentscheidungen gestellt werden sollte. [...]

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                                [...] An einer konventionellen Kriminalgeschichte ist Dumont allerdings ebenso wenig interessiert wie an einem subtilen Porträt des damaligen Klassenkampfs. Der Regisseur legt sämtliche Figuren in seinem Film als schräg überzeichnete Karikaturen an, für die er typische Gewohnheiten und Eigenarten der jeweiligen Milieus auf extreme Weise ins Lächerliche verzerrt und optische Erscheinungsbilder als knallige Klischees abbildet. So artikulieren sich einzelne Mitglieder der Brufort-Familie neben ihrem ungepflegten Äußeren wie grunzende Tiere, während die van Peteghems mitunter seltsame Ticks aufweisen und in hohen Tönen regelmäßig der Hysterie verfallen. Auch an den beiden Ermittlern, die unverkennbar als Laurel-und-Hardy-Spiegelbild angelegt sind, lässt der Regisseur kein gutes Haar, wenn der dickere Inspektor wiederholt durch die Dünen der Bucht rollt, weil ihm das Laufen so schwer fällt. Als groteskes Panorama einer eigentümlichen Welt, in der gewöhnliche Normen vollständig ausradiert werden, ruht sich Dumont jedoch zu sehr auf den Macken und Absonderlichkeiten der von ihm entworfenen Figuren aus. Nach einem gleichermaßen irrwitzigen wie irritierenden Auftakt scheint der Regisseur nicht verstanden zu haben, dass ein Witz nicht unbedingt besser wird, je länger man ihn erzählt. Der satirisch-parodistische Blick auf eine gespaltene Gesellschaft, mit der von der Vergangenheit aus ein Bogen zur Gegenwart geschlagen werden soll, verkommt viel zu schnell zur quälend in die Länge gezogenen Nummernrevue, die angesichts der Gesamtlaufzeit von zwei Stunden fast schon zur Zumutung für den Zuschauer wird. Trotz malerischer Einstellungen, vereinzelt bissiger Zuspitzungen, bei denen Dumont innerhalb der verschiedenen Familien schließlich Kannibalismus und Inzest zum Vorschein bringt, und einem mehr als motivierten Ensemble, das sich mit sichtlicher Spielfreude in die markant überzeichneten Rollen stürzt, entwickelt sich Die feine Gesellschaft zur regelrechten Geduldsprobe. Zwischen einer willkürlich eingeschobenen Liebesgeschichte im Stil von Romeo und Julia, Slapstick-Einlagen, die schier endlos oft wiederholt werden, und einer gesellschaftskritischen Aussage, die im Verlauf des Films neben dezent surrealistischen Höhepunkten gegen Ende unentwegt um sich selbst kreist, verliert sich Dumont in selbstzweckhaft ausgestellter Skurrilität, bei der jegliche Wirkung geradezu in Rekordzeit verpufft. [...]

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                                  [...] Das englischsprachige Debüt von Bustillo und Maury erweist sich trotz bemühter Bezüge zu Hoopers Vermächtnis als überwiegend miserabler Etikettenschwindel, der hauptsächlich an einem grauenhaft konstruierten Drehbuch scheitert. [...] Nach einem brutalen Aufstand, bei dem einer kleinen Gruppe von Patienten zusammen mit einer als Geisel genommenen Krankenschwester die Flucht gelingt, entwickelt sich Leatherface fortlaufend zu einem reißerischen Road-Movie, dem jeglicher Fokus auf Hoopers kraftvollen Mythos endgültig abhandenkommt. Dem Regie-Duo, das in der Vergangenheit in gemeinsamen Arbeiten vor allem durch bildstarke Horror-Impressionen auffiel, gelingt es nur in einigen wenigen Szenen, dem katastrophalen Drehbuch prägnante Einstellungen zu entlocken, die durch rücksichtslose Härte, handgemachte Gore-Effekte oder verspielte Bizarrheit bestechen. Ansonsten ist Leatherface kaum mehr als eine lieblos abgespulte Variante von Neo-Grindhouse-Trips wie beispielsweise Rob Zombies The Devil’s Rejects, den sich der Drehbuchautor offensichtlich zum Vorbild nahm. Nicht nur der von Stephen Dorff (Somewhere) mit sadistischer Hingabe verkörperte Texas Ranger erinnert an Zombies Werk, sondern auch die nihilistische Atmosphäre, bei der die Frage nach der Identität von Jed Sawyer, dem zukünftigen Leatherface, zwischen verkommenen, mordlüsternen oder unberechenbar psychopathischen Figuren zum uninspiriert in die Länge gezogenen Rätselraten verkommt, das schlussendlich von einem vorhersehbaren, müden Twist aufgelöst wird. Als unentschiedene, zerfahrene Origin-Story einer die Zeit überdauernden Horror-Ikone, die ihren Schrecken gerade dadurch entfaltet, dass sie sich nicht konkret psychologisieren lässt, erweist sich Bustillo und Maurys Film spätestens im hilflosen Finale, das verzweifelt Horror-Mechanismen des bisherigen Franchise kopiert, als ein auf ganzer Linie gescheitertes Machwerk, das seinen Titel nicht verdient hat. Höchste Zeit, das Franchise ebenso wie seinen in diesem Jahr verstorbenen Schöpfer zu Grabe zu tragen. [...] Dieser zerfahrene, unentschiedene Mix aus klischeehaftem Psychiatrie-Wahnsinn, psychotischem Road-Trip, gnadenlosem Rache-Inferno sowie bitterer Nihilismus-Parade ist eine der lausigsten Horror-Gurken des bisherigen Filmjahres. [...]

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                                    [...] Sämtliche Figuren, die ausnahmslos als überzeichnete Stereotypen dargestellt werden, dienen dem Regisseur dabei für ein ausgelassenes Spiel mit den Regeln und Konventionen des Horror-Genres, die Mcg nach dem Drehbuch von Brian Duffield (Jane Got a Gun) exzessiv bedient, schräg verdreht oder ins Absurde übersteigert. Mit dem subtilen Feingefühl eines Vorschlaghammers kommt The Babysitter als schamlose Horrorkomödie daher, für die inhaltliche Kohärenz, ein sorgfältiger Spannungsbogen sowie rationale Logik gegen kurzweiliges Tempo sowie grenzdebil zelebrierten Irrsinn eingetauscht werden. Ausgelegt für ein eher jüngeres Zielpublikum, an das sich die grelle Inszenierung mitsamt ausgefallener Kameraeinstellungen, flotter Montagen, prägnanter Songs sowie hipper Oberflächenreize richtet, droht der Film bisweilen durch sein bonbonbuntes Flair als reiner Style-Overkill zu verglühen. McG garniert den rasanten, hibbeligen Handlungsfluss allerdings oft genug mit schwarzhumorigen Splatter-Explosionen, bei denen das oftmals recht derbe Ableben der Figuren teilweise durch morbide Zufälle ausgelöst wird, dämlich-spaßigen Dialogen und einem sympathischen Protagonisten, der sich in feinster Kevin-allein-zu-Haus-Manier gegen die ebenfalls unreifen Widersacher zur Wehr setzt. Als überdrehte Parodie, die sich dem eigenen Charakter als spaßige Kreation jederzeit bewusst ist, sowie Hommage an den oftmals ebenfalls nicht allzu ausgeklügelten Slasherfilm der 80er überschreitet The Babysitter seine mit gut 85 Minuten optimal bemessene Halbwertszeit somit selten. Dabei sollte der Zuschauer nur nicht den Fehler begehen, den Film auch nur eine Sekunde lang ernst zu nehmen. Selbst seriösere Momente, in denen sich der Regisseur beispielsweise vorübergehend auf Coles Charakter zu konzentrieren scheint und eine klischeehafte Geschichte über den vermeintlichen Außenseiter erzählt, der letztlich über sich hinauswächst und seine Ängste besiegt, laufen bei McGs garstiger Produktion auf scharfkantige Pointen oder unterhaltsame Aussetzer hinaus. Die Oberhand in diesem blutigen Duell zwischen minderjährigen Teenagern behält am Ende also der Zuschauer, der sich dieser gnadenlos überzeichneten sowie rasant nach vorne preschenden Horrorkomödien-Achterbahnfahrt vergnügt hingibt und sich deren debilem Ton ebenso bewusst ist wie der Film selbst. [...]

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                                      [...] Als frustrierter Theaterschauspieler Edward Lionheart, der sich ausschließlich Stücke von William Shakespeare vornahm und dem von einer Kritikervereinigung der Preis für den besten Schauspieler verwehrt wurde, setzt Prices Figur nach vorgetäuschtem Selbstmord zu einem ausgetüftelten Rachefeldzug an, bei dem ein Kritiker nach dem anderen das Zeitliche segnen soll. Das wahlweise Frustrierende oder eben Urkomische an Hickoxs Film besteht darin, dass sich Theater des Grauens vollständig auf dieser simplen Prämisse ausruht und in geradezu haarsträubend redundanter Manier ein mörderisches, blutbesudeltes oder makaberes set piece an das nächste reiht. Wenig überraschend gibt sich Lionheart keinesfalls mit gewöhnlichen Mordmethoden zufrieden, sondern setzt auch bei seinen Auftritten als unverstandener, von den vermeintlichen Toten auferstandener Künstler auf eine möglichst theatralische Inszenierung, bei der er sich weiterhin an sein großes Vorbild William Shakespeare richtet. Inspiriert von den einflussreichen Werken des englischen Dramatikers verwickelt Lionheart seine Opfer in ebenso ausgefallene wie bizarre Aufführungen, an deren Ende für gewöhnlich das qualvolle Ableben des jeweiligen Kritikers als Höhepunkt gesetzt wird. Bei seiner eigenen Inszenierung setzt Hickox dabei auf möglichst schwarzhumorige Einfälle, für die der Regisseur seinem Hauptdarsteller, der sich mit diebischem Vergnügen dem Overacting verschreibt, eine möglichst breite Bühne bereitet. Unter den teilweise hervorragend gefilmten oder mit obskuren Ideen ausgestatteten Einzelszenen sticht so beispielsweise nicht nur ein exzellent choreographierter Fechtkampf zwischen Lionheart und einem der Kritiker hervor, sondern auch eine besonders morbide Variation von Shakespeares Titus Andronicus, bei der ein ahnungsloser Kritiker seine zwei geliebten Pudel zu Pasteten verarbeitet als Festmahl vorgesetzt bekommt. Als schrill überzogenes B-Movie-Spektakel begibt sich der Streifen somit über die gesamte Laufzeit hinweg ohne großartig erwähnenswerten, narrativen Überbau von einem absurden Tötungsakt zum nächsten, was vom Zuschauer definitiv Toleranz für grotesk in die Länge gezogenen Horror-Schabernack erfordert. Neben der wieder einmal alles dominierenden Präsenz von Price besticht Theater des Grauens aber zusätzlich noch durch genüssliche Seitenhiebe gegen von sich selbst eingenommene Kritiker. So ist Lionhearts gnadenloser Rachefeldzug gegen einzelne Personen ebenso ein Frontalangriff auf ein blasiertes Feuilleton, das längst jeglichen Bezug zu den Menschen hinter der Kunst verloren hat und auf zynische Weise daran erinnert wird, was es bedeutet, für die eigene Berufung leiden zu müssen. [...]

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                                        über Jungle

                                        Ein euphorischer Entdeckerdrang und das schier unaufhaltsame Verlangen danach, immer tiefer in bislang unergründete Gebiete der Erde vorzustoßen, sind die ausschlaggebenden Faktoren, von denen sich Yossi Ghinsberg nach Bolivien treiben lässt. Entgegen dem Willen seiner Eltern, die für den aus Tel Aviv stammenden 21-Jährigen lieber eine akademisch geprägte Laufbahn vorgesehen haben, folgt dieser stattdessen seinen innersten Impulsen, nach denen er sich viel mehr als Abenteurer betrachtet. Von Ghinsbergs realen Erlebnissen inspiriert erzählt Greg McLean in seinem Film „Jungle“ aus dem Leben dieses Menschen, der die ganze Welt bereisen will und sich dabei nicht einmal von lebensgefährlichen Hürden abhalten lässt.
                                        McLean, der bislang im Horror-Genre als Filmemacher aktiv war und zuletzt durch den menschenverachtenden Totalausfall „The Belko Experiment“ unangenehm in Erinnerung blieb, überrascht mit diesem Werk ein weiteres Mal. „Jungle“ entfaltet sich von Beginn an als geradezu altmodische Abenteuer-Geschichte, für die sich der Regisseur zunächst sehr viel Zeit lässt. Ungefähr die gesamte erste Hälfte des Films behandelt das Verhältnis zwischen Yossi und seinen beiden neu gewonnenen Freunden Marcus und Kevin, die er kurz nach seiner Ankunft in Bolivien kennenlernt.
                                        Nachdem das Trio einige unvergessliche Tage und Nächte zusammen verbringt, trifft Ghinsberg auf den aus Deutschland stammenden Geologen Karl, der sich der kleinen Gruppe zugleich als Reiseführer in bisher unerforschtes Inka-Territorium anbietet. Mit dem nach anfänglichen Bedenken einstimmig beschlossenen Aufbruch mitten in die Tiefen des bolivianischen Dschungels hängt zugleich eine unheilvolle Vorahnung über den Szenen des Films, die weit im Voraus andeuten, worauf die riskante Reise hinauslaufen wird.
                                        Bis sich „Jungle“ aber schließlich zu einem brutalen Überlebenskampf wandelt, verweilt McLean viel zu lange in erzählerischem Stillstand. Auch wenn es grundsätzlich interessant ist, dass der Regisseur offensichtlich wieder ein deutliches Interesse an menschlichen Figuren zu hegen scheint und den Abenteurern möglichst eigenständige Facetten verleihen will, ist es der von Daniel Radcliffe mit anfangs gewöhnungsbedürftigem, starkem israelischen Akzent verkörperte Ghinsberg, um den sich die zweite Hälfte des Films fast ausschließlich dreht.
                                        Die zuvor in zäher Ausführlichkeit etablierten Figurenbeziehungen erweisen sich somit als überwiegend verschwendetes Potential, sobald die Gruppe durch Stromschnellen voneinander getrennt wird und Ghinsberg fortan im Herzen des Dschungels völlig ohne Erfahrungen oder spezielle Kenntnisse im Umgang mit der unbarmherzigen Natur auf sich allein gestellt ist. Erst in diesen Passagen findet McLean nach den vorherigen Hochglanzbildern, welche die ebenso markante wie raue Handschrift des australischen Regisseurs vermissen lassen, gelegentlich zu einer gewissen inszenatorischen Stärke.
                                        Gerade der Umstand, dass sich ein mit dem Horror-Genre vertrauter Filmemacher dem Prozess des Kampfs um das eigene Überleben annimmt, produziert unweigerlich Aufnahmen, in denen der Regisseur gewissermaßen in seinem Element ist. Neben einem verlässlichen Hauptdarsteller, der mit körperlicher Intensität aufwartet, schildert McLean das drastische Szenario als Abfolge von abstoßenden Zwischenfällen, bei denen Ghinsberg unter anderem einen langen Wurm aus seiner Stirn entfernen muss, täuschenden Halluzinationen, die der Regisseur fortlaufend mit der Realität verschmelzen lässt, und bitterer Unausweichlichkeit, die den Protagonisten auf seinen eigenen Spuren immer wieder im Kreis auf sein Ende zusteuern lässt.
                                        Nichtsdestotrotz wirkt „Jungle“ auch in seiner besseren zweiten Hälfte unausgegoren, wenn sich das Drehbuch von Justin Monjo regelmäßig in unnötigen Rückblenden verirrt, die Ghinsberg auf bemühte Weise tiefer charakterisieren sollen, und vor allem gegen Ende vermehrt auf seichten Kitsch setzt. Da der Film auf einer wahren Geschichte basiert, fällt es dem Zuschauer ohnehin von vornherein nicht allzu schwer, den Ausgang der Geschichte einschätzen zu können. Nach der Sichtung bleibt man trotzdem mit der Feststellung zurück, dass diese Geschichte auch weitaus nüchterner, klischeebefreiter sowie dichter hätte erzählt werden können.

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                                        • 7 .5

                                          [...] Im Gegensatz zu ihren vorherigen Filmen, die in der Regel von schonungslosem, mitunter schmerzhaftem Realismus geprägt waren und keinen herkömmlichen Genres zugeordnet werden konnten, legen die Safdies ihre fünfte gemeinsame Regiearbeit als rastlosen Gangster-Thriller an. Mit der überwiegend nervösen Getriebenheit von Protagonist Connie erscheint Good Time zumindest inhaltlich als Vertreter des klassischen 70er-Jahre-Genrekinos, in dem aufgrund von unentwegten Fehlentscheidungen eine bittere Abwärtsspirale als Konsequenz entsteht. Auch Connie reiht sich mühelos in die Riege jener Figuren dieser filmischen Ära ein, die in hektischen Situationen aus impulsiver Unüberlegtheit handeln und immer tiefer in eine nahezu ausweglose Katastrophe rutschen. Robert Pattinson (Cosmopolis) spielt den optisch verschlagenen New Yorker Kleinkriminellen, dessen Vergangenheit die Regisseure genauso unkonkret halten wie die seines geistig benachteiligten Bruders Nick, herausragend als verdorbenen, naiven Charakter, der für seine Ziele ebenso als perfider Manipulator vorgeht wie er immer wieder kurz davorsteht, seinen eigenen Kopf zu verlieren. Dem Zuschauer bleibt in diesem Zusammenhang selbst überlassen, ob er das Verhalten der Figur als liebevolle, selbstlose Aufopferung für dessen Bruder deutet oder zu dem Entschluss kommt, dass er das Leben von sich und Nick absichtlich erheblich gefährdet und zum noch Schlechteren wendet. Connies gehetzte Odyssee durch das Nachtleben der Millionenmetropole, die von diversen Komplikationen und ständigen neuen Verwicklungen begleitet wird und bei der der Erzählfluss gelegentlich auch radikal ins Stocken gerät, denken die Safdies dabei zuallererst in Bildern und Tönen. Das stellenweise recht altbekannte, konventionelle Handlungsgerüst zerlegen die Regisseure hierbei auf handwerklicher Ebene in Einzelteile, dem das Duo mit betont überstilisierten Mitteln eine fiebrige Energie injiziert. Der durch zahlreiche close-ups und entfesselte Handkameraaufnahmen entstehende Eindruck eines hyperrealistischen Szenarios wird unentwegt durch spiegelnde Reflektionen, fluoreszierende Neonlichter oder befremdliche Schwarzlicht-Impressionen aufgebrochen. Angepeitscht oder eindringlich rhythmisiert werden die virtuos zwischen dreckigem Realismus und grellem Surrealismus schwankenden Einstellungen zusätzlich von Daniel Lopatin. Der unter seinem Künstlernamen besser als Oneohtrix Point Never bekannte Musiker bereichert Good Time mit einem elektronisch-experimentellen Score, der klingt, als hätte man die Synthesizer-Stücke eines John Carpenter (Assault - Anschlag bei Nacht) aus den 80ern unter dem Einfluss aufputschender Drogen neu interpretiert und zu albtraumhaft übersteuerten Kompositionen verzerrt, die unmittelbar sowie geradezu körperlich spürbar in die Ereignisse hereinbrechen. Es ist dieses Gefühl, als würde der gesamte Film immer wieder ungezügelt aus dem Ruder laufen und ebenso hypnotisch wie ekstatisch über den Zuschauer hereinbrechen, den die Safdies als ästhetischen Dauerzustand verstanden wissen wollen und mit dem sie Good Time vor allem für ein Publikum konzipiert haben, das den inszenatorischen Taumel anstelle der erzählerischen Greifbarkeit schätzt. [...]

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                                          • 4

                                            Tomas Alfredsons meisterhafte John-le-Carré-Adaption „Tinker Tailor Soldier Spy“ von 2011 ließ sich neben gewöhnlichen Genre-Zuordnungen wie der des Spionage-Thrillers vor allem als brillant arrangiertes Film-Puzzle auffassen. Die in den 70er Jahren angesiedelte Geschichte eines Doppelagenten innerhalb des britischen Geheimdienstes, der von einem aus dem Ruhestand zurückgeholten Meisterspion enttarnt werden soll, inszenierte Alfredson als analytischen Blick auf einen Berufsstand, dem sich der Regisseur mit unterkühlter Präzision annäherte. Das komplexe, über weite Strecken undurchschaubare Machtspiel zwischen verschiedenen Geheimdienstagenten geriet zur bedrückenden Studie über Einsamkeit und Isolation inmitten vorgetäuschter Maskeraden und doppelter Böden, zwischen denen Alfredson in der vielschichtigen Handlung stets den Überblick bewahrte. Durch geheimnisvoll verschlossene Figuren, eine verschachtelte Erzählstruktur aus Perspektiv- und Zeitwechseln und ein großartiges Gespür für mitreißende Details, makellos ausgestatteten Settings und langsame Enthüllungen ergaben sämtliche Einzelteile in „Tinker Tailor Soldier Spy“ trotz stellenweise fordernder Passagen schlussendlich ein beeindruckendes Gesamtbild, in dem alles Sinn ergab.
                                            Alfredsons neues Werk „The Snowman“, das auf einem Roman von Jo Nesbø basiert, folgt erneut diesem Ansatz des filmischen Erzählens, das eher dem Zusammensetzen eines Puzzles gleicht. Das große Dilemma dieses Films besteht allerdings darin, dass der Zuschauer spätestens gegen Ende auf frustrierende Weise realisiert, dass die einzelnen Puzzleteile schlichtweg nicht zusammenpassen. Nachdem zunächst Martin Scorsese für die Regie der Romanverfilmung vorgesehen war, der jedoch aufgrund terminlicher Überschneidungen keine Zeit fand, übernahm schließlich Alfredson. Dieser erklärte kurz nach der Veröffentlichung des Films in einem Interview, dass es während der Produktion zu erheblichen Komplikationen kam. Da das Studio die Dreharbeiten plötzlich beschleunigen wollte und verbliebene Drehzeit strich, konnten ungefähr 10-15% des Drehbuchs, an dem mit Hossein Amini, Peter Straughan und Søren Sveistrup gleich drei Autoren beteiligt waren, trotz vereinzelter Nachdrehs gar nicht erst gefilmt werden.
                                            Für die Post-Produktion ergab sich somit das Problem, dass entscheidendes Material für die schlüssige Komplettierung des Gesamtwerks fehlte. Thelma Schoonmaker wurde neben Claire Simpson mit der Fertigstellung der vorhandenen Szenen beauftragt, doch selbst Scorseses legendäre Stamm-Cutterin ist an einem gewissen Punkt offenbar an ihre Grenzen gestoßen. Dem Resultat ist dieses wirre Produktionschaos zunächst kaum anzumerken. „The Snowman“ beginnt als atmosphärischer Krimi-Noir im verschneiten Oslo, wo ein psychopathischer Serienmörder überwiegend junge Frauen ermordet und zerstückelt, wobei er am Tatort als eine Art Markenzeichen einen selbstgebauten Schneemann hinterlässt.
                                            Auf den Fall angesetzt werden Harry Hole, der geschätzte aber schwer suchtkranke Hauptkommissar der Osloer Polizei, und seine neue Kollegin Katerine Bratt, die aus Bergen stammt. Aus der dunklen Prämisse entwickelt der Regisseur anfangs mithilfe seines inszenatorischen Könnens, das die eisigen Schauplätze der norwegischen Hauptstadt in stilvolle Trostlosigkeit hüllt, genügend Potential für ein intensives Katz-und-Maus-Spiel, das regelmäßig von der schockierenden Brutalität aus Nesbøs Vorlage erschüttert wird. Erschütternd ist aber eher, wie lückenhaft, uninspiriert sowie unvollständig sich sowohl die Charakterisierung als auch der fortschreitende Kriminalfall entwickeln.
                                            Auch wenn der männliche Kommissar des Films von Michael Fassbender mit routiniert-konzentrierter Zermürbung verkörpert wird, bleibt die Figur des Harry Hole durchwegs ein oberflächliches Mysterium. Abgesehen von lobenden Äußerungen seiner Kollegen wird nie ersichtlich, wieso Hole ein derartiges Genie auf seinem Gebiet sein soll, wenn er den aufkommenden Spuren der Ermittlung eher mühsam hinterher hetzt, während seine neue Partnerin scheinbar mühelos mit ihm Schritt halten kann. Ebenso wenig werden die persönlichen Abgründe des Kommissars ersichtlich, der abgesehen von einigen Aussetzern im Film nie auch nur einen Tropfen Alkohol zu sich nimmt.
                                            In dem zunehmend verwirrenderen Dickicht aus einer öden Krimi-Struktur, die an generische TV-Ware erinnert, verpassten Spannungsmöglichkeiten, die in der überfordert-elliptischen Montage keinerlei Raum zur Entfaltung erhalten, und mehreren Nebenhandlungssträngen, die irgendwann vollständig ins Leere laufen oder fallen gelassen werden, schleppt sich Alfredson letztlich zu einem Finale, in dem „The Snowman“ aufgrund einer konstruierten, wenig sinnstiftenden Auflösung und einem fast schon unfreiwillig komischen Anti-Showdown endgültig zum bruchstückhaften Debakel verkommt. In seiner ursprünglich vorgesehenen, vollständigen Schnittfassung hätte aus dem Film womöglich ein ästhetischer Krimi-Noir-Höhepunkt entstehen können, der neben dem eigentlichen Fall von frustrierten Kindern und unfähigen Eltern erzählt, die sich als Motive immer wieder durch einzelne Szenen dieses übriggebliebenen Torsos ziehen.
                                            So bleibt Alfredsons gescheiterte Vision neben der nach wie vor erkennbaren Handschrift des Regisseurs aber hauptsächlich durch verpasste Chancen, verschnittene Frustrationen und nebensächliche Kuriositäten (Val Kilmers Nebenrolle in diesem Film muss man selbst gesehen haben, um sie glauben zu können) in Erinnerung.

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                                            • 2

                                              [...] Tatsächlich ist der Streifen das von vielen Seiten wahlweise verlachte oder gehasste Debakel, das Friedkins einflussreiches Original nicht nur auf abstruse Weise weiterdenkt, sondern in Form von Denkmalschändung fast schon der Lächerlichkeit preisgibt. [...] Nachdem sämtliche Spuren ausgerechnet nach Afrika führen, wo Pater Merrin viele Jahre zuvor einen Exorzismus an einem afrikanischen Jungen durchgeführt hat und ständige Heuschreckenplagen die Gegend heimsuchen, kippt Exorzist II - Der Ketzer endgültig in Gefilde einer blanken Farce. Grundsätzlich ist es lobenswert, dass Boorman den Vorgänger nicht 1:1 kopieren und stattdessen eine eigene Form von Mythologie etablieren wollte. Aufgrund von hilflos überforderten Schauspieldarbietungen, schlecht aufbereiteten Schauplätzen, die durchwegs als billige Kulissen zu erkennen sind, sowie vollkommen grotesken Spezialsequenzen, bei denen der Regisseur beispielsweise wiederholt in die Ego-Perspektive einer zu groß gewachsenen Heuschrecke wechselt, wirkt der Film trotzdem die meiste Zeit über wie eine schrille Parodie, die ungewollt aus dem Umstand entstanden ist, dass hier auf allen Ebenen rein gar nichts zusammenpasst und funktioniert. Gerade im Vergleich zum Vorgänger, dessen nachhaltige Schockwirkung darin bestand, den Schrecken möglichst abstrakt sowie unbegreifbar zu behandeln, verliert sich Boormans gnadenlos gescheiterte Fortsetzung in unnötiger Entmystifizierung, deplatzierten Erklärungen und schamlos überzogenem Spektakel, das dem ohnehin absurden Szenario jeglichen Schrecken entzieht. Selbst die musikalischen Klänge von Ennio Morricone sowie potentiell vielversprechende Schauspieler wie Richard Burton (Jackpot) und Max von Sydow (Die drei Tage des Condor) erscheinen letztendlich wie versehentlich eingesetzte Komponenten in einem Konstrukt, das von Anfang an zum Einstürzen gebracht werden soll. [...]

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                                                über Tampopo

                                                [...] Der Regisseur verwandelt die Herausforderung einer perfekten Ramen-Portion in einen spielerisch inszenierten Spießrutenlauf, bei dem Tampopo von ihrem Lehrer Goro nicht nur einem Ausdauertraining à la Rocky unterzogen wird, sondern auch die vielfältigen Ansätze und Methoden der Konkurrenz studieren muss, um die ideale Zubereitungsformel für ihren eigenen Imbiss zu finden. Von seinem eigentlichen Haupthandlungsstrang aus verliert sich Itami jedoch regelmäßig absichtlich in skurrilen Abschweifungen, interessanten Nebenschauplätzen und anziehenden Momenten. Immer wieder folgt die Kamera beispielsweise in der eigentlichen Szene plötzlich einer neuen Figur, um schließlich eine völlig neue, eigenständige Zwischenepisode zu formen. In diesen von der zentralen Handlung losgelösten Passagen dreht sich aber weiterhin alles rund um das Thema Essen, das der Regisseur ebenso kreativ wie stellenweise verblüffend sowie überaus witzig in verschiedenste Ereignisse und gesellschaftliche Schichten einbettet. So sehr die Haupthandlung von Tampopo und ihrem Ramen-Imbiss auch von der knisternden Chemie zwischen den Figuren sowie einem vergnüglich geknüpften Spannungsbogen getragen wird, entwickelt sich der Film erst durch kleine Details am Rande der eigentlichen Geschichte und damit einhergehenden Einzelszenen zu einem vor Einfallsreichtum nahezu platzenden Juwel. In einer unterhaltsamen Sequenz, in der einer Gruppe japanischer Frauen vorgeführt wird, wie auf westliche, vornehme Art Spaghetti möglichst leise aufgerollt und gegessen werden sollen, persifliert und unterwandert Itami fest eingeschriebene Tischmanieren und Gepflogenheiten unterschiedlicher Kulturen, sobald ein Europäer an einem nahegelegenen Tisch beginnt, seinen Teller Spaghetti unter lautstarkem Schlürfen zu leeren. In anderen Episoden verehrt der Japaner das Essen wiederum nicht nur als einfachen Bestandteil des Lebens, sondern viel mehr als lebensdurchdringende Konstante, die tief mit dem Menschsein verwurzelte Instinkte sowie Triebe beherrscht und ergänzt oder schließlich sogar als finaler Übergang zwischen Leben und Tod fungiert. Wenn Schlagsahne, Salz und Zitronen zum gemeinsamen Liebesspiel verwendet und Eidotter sinnlich zwischen den Mündern zweier sich Liebender hin und her jongliert wird oder sich eine Frau noch einmal vom Sterbebett erhebt, um ihrer Familie ein letztes Abschiedsgericht zu kochen, findet Tampopo jene Art von unvergesslichen Bildern, die das Cineastische auf einzigartige Weise mit dem Genussvollen verschmelzen. [...]

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                                                • 8

                                                  [...] Baumbach, der seit einer Weile gerne als neuer Woody Allen (Der Stadtneurotiker) bezeichnet wird, inszeniert die Befindlichkeiten der Meyerowitz-Familie als Abfolge von ausschweifenden Dialogfeuerwerken, die der Regisseur in schwungvoll gefilmte sowie geschnittene Handlungsorte und Situationen einbettet. In großartigen Passagen wie zum Beispiel der Restaurantbesuch von Harold und seinem anderen Sohn Matthew, der von Verwechslungsmissverständnissen und Zahlungsuneinigkeiten begleitet wird, entfaltet sich Baumbachs gesamte komödiantische Bandbreite, die der Regisseur mittlerweile souverän zwischen dezenten Fremdschammomenten, schwungvoller Situationskomik und trockenhumorigen Wortgefechten beherrscht. Ähnlich wie Der Tintenfisch und der Wal, für den Baumbach autobiographische Bezüge seiner eigenen Familiengeschichte in das Drehbuch miteinarbeitete, ist auch The Meyerowitz Stories ein Film, in dem der Regisseur hinter den urkomischen Momenten sowie stellenweise ungeschönt zur Schau gestellten Neurosen und Macken der Charaktere zum verletzten, gebrochenen Innenleben der Meyerowitz-Familienmitglieder vordringt und vielschichtige Einzelporträts der bedeutendsten Figuren anfertigt. [...] Hin- und hergerissen zwischen genereller Verwirrung und Unklarheit über die persönlichen Verhältnisse innerhalb des durchaus komplizierten Familiengeflechts, deutlicher Sehnsucht nach klärenden Gesprächen sowie zwischenmenschlichen Spannungen entwickelt sich die Geschichte des Films schließlich zu einem ebenso gefühlvollen wie empathischen Zugeständnis an die menschlichen Facetten der Figuren. [...] So erweist sich The Meyerowitz Stories spätestens gegen Ende als einer der humanistischsten Filme im Schaffen des Regisseurs. Schlussendlich hebt Baumbach die menschliche Tragweite der Handlungen seiner Figuren über deren humorvolle Eigenarten empor und erzählt im Kern vom Triumph der Mitmenschlichkeit über familiär vorherbestimmte Bahnen, die doch nur in Einsamkeit und ins sichere Scheitern führen würden. [...]

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                                                  • 7 .5

                                                    [...] Nach seinem Regiedebüt Bone Tomahawk, der als staubtrockener, fast schon provokativ langsam erzählter Spätwestern beginnt und in einem bitterbösen Finale explodiert, für das sich der Regisseur in Gefilde des Kannibalenfilms vorwagt, ist es nun Zahler, der Vaughn zu einer der imposantesten Rollen in dessen bisheriger Karrierelaufbahn verholfen hat. Bereits die ersten Szenen des Films genügen dem Schauspieler, um seine Hauptfigur als stoische Präsenz anzulegen, hinter deren Fassade tiefe Aggressionen zu brodeln scheinen. Nachdem der von Vaughn gespielte Bradley Thomas zu Beginn nicht nur aufgrund der ökonomischen Lage von seinem Job als Mitarbeiter in einer Kfz-Werkstatt entlassen wird, sondern direkt im Anschluss herausfindet, dass ihn seine Frau Lauren seit drei Monaten betrügt, weiß sich der Hüne von einem Mann nicht anders zu helfen, als mit der blanken Faust auf die Scheiben von Laurens Auto einzuschlagen. Von dem Fahrzeug lässt er erst wieder ab, als es einem halben Schrotthaufen gleicht, um anschließend mit seiner Frau das klärende Gespräch zu suchen. Nach diesem scheint das Paar einer rosigeren Zukunft entgegenzublicken, die aus weiblichem Nachwuchs, einem schicken Eigenheim und inniger Zweisamkeit besteht, sobald Bradley von seinen Botengängen als Drogenkurier, die er mittlerweile für einen kriminellen Bekannten ausführt, nach Hause zurückkehrt. Trotz der USA-Flagge, die Zahler in frühen Szenen wiederholt in Bradleys Vorgarten einfängt, stellt sich Brawl in Cell Block 99 recht bald als ein Film heraus, in dem das Streben nach dem amerikanischen Traum sowie die Verwirklichung sehnlichst erhoffter zweiter Chancen im Leben nur noch mit brutalster Gewaltanwendung vereinbar sind. [...] Zahler, der neben dem filmischen Handwerk unter anderem auch als Musiker und Schriftsteller tätig ist, folgt in seinem zweiten Film einem ähnlich literarischen Ansatz, von dem auch schon sein Regiedebüt geprägt war. Über die üppige Laufzeit von knapp 135 Minuten hinweg entfaltet sich Brawl in Cell Block 99 als beeindruckend konzentrierter Slow Burner, für den der Regisseur sichtlich Wert auf behutsamen Spannungsaufbau sowie Bradleys Persönlichkeit legt. Das bullige Erscheinungsbild des Ex-Boxers wird gelegentlich von Momenten aufgebrochen, in denen Vaughn das tragische Innenleben seiner Figur zum Vorschein bringt, welches aus wehmütigem Bedauern besteht, sobald Bradley endgültig realisiert, dass er nur noch das Schlimmste verhindern kann und trotzdem auf ein unausweichliches Ende voller fataler Konsequenz zusteuern wird. Die raue Stimmung des Films, die an den harten, unironischen Tonfall des 70er-Jahre-Exploitation-Kinos erinnert und lediglich von einigen zynischen Einlagen aufgelockert wird, steigert sich über Genre-Versatzstücke des abgründigen Charakterdramas sowie knallharten Gefängnisthrillers letztlich zu einer beispiellosen Eruption aus ultrabrutal verknappten Auseinandersetzungen, lautstarken Knochenbrüchen, zertrümmerten Körperteilen und zermatschten Gesichtern. Dabei verwendet der Regisseur eine Art der realistischen, markdurchdringenden Gewaltdarstellung, die im aktuellen Filmgeschehen höchstens mit den Werken von Jeremy Saulnier (Blue Ruin) vergleichbar ist, der die hässliche, vollkommen abscheuliche Fratze des Wesens der Gewalt ähnlich fulminant offenzulegen weiß wie Zahler. [...]

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